Sackgasse Sozialdemokratie!?

Ein guter Sozialist, man glaubt es nicht, ist der, der mit dem Staate bricht!

Diese Widersprüche, in die sich die alte Garde der Parlamentssozialisten unaufhörlich verwickelt, in Verbindung mit dem Drängen der jüngeren Generation, ohne Rücksicht auf das revolutionäre Mäntelchen Opportunitätspolitik sans phrase zu treiben, zeigt mir, wie die Krise in der Sozialdemokratie enden wird: mit dem Siege der Nationalsozialen und schrankenlosen Kompromißler über die hin- und herschwankenden Altmarxisten, die schon immer Opportunisten waren, aber es weder sich noch den Massen eingestehen wollten. Und das wird gut sein. Es gibt eine offene und eine schleichende Lüge. Ich ziehe die offene vor.“ (Gustav Landauer, Die Krise in der revolutionären Bewegung, in: Sozialist, 18. Juni 1898)

Sag mir, wo Du stehst?

Da geht doch was!? Die soziale Frage kehrt nach Deutschland zurück und erregt die Gemüter. Und mit ihr kommen auch die Ideologien wieder. Wer sind diese MontagsdemonstriererInnen, die doch nicht nur montags auf den Straßen waren? Protestler, Revanchisten, enttäuschte GewerkschaftlerInnen, Ostlerinnen oder Nationalisten, Politikverdrossene, Arbeiter, Arbeitslose oder Revolutionäre? Sind sie, weil sie die soziale Frage stellen, schon Sozialisten? Weil sie oft national argumentieren, gleich National-Sozialisten? Oder sind es alles SozialdemokratInnen, weil sie gegen eine staatliche Lösung und für eine staatliche Lösung der sozialen Frage eintreten? Ein Defizit wird sehr schnell deutlich: Wer wo steht und warum, weiß kaum jemand. Es gibt ein riesiges Problem in der politischen Bildung. Sowohl was die Auseinandersetzung mit Geschichte als auch ihre Aktualität betrifft. Daß faschistische Gruppierungen hier und da – unbemerkt und unerkannt, mit Zustimmung und Applaus – mitlaufen, ist schlichtweg unerträglich!

Der Fall: SPD!

Im Zentrum der vielerorts auf den Straßen geäußerten Kritik steht die Reform der sozialen Sicherungssysteme durch die regierende sozialdemokratische Partei. Und hier beginnen die Widersprüche. Nach der Logik der parlamentarischen Demokratie, die sich im Wahlverhalten der gutbürgerlichen Positionen wiederfindet, darf mensch ja kein böses Wort über den allgemeinen Verfall der Sozialdemokratie verlieren, insoweit er/sie zumindest an einer positiven Lösung der sozialen Frage interessiert ist. Das mache nur den politischen Gegner stark. Die Christlich-Konservativen. Und mit deren Wiederübernahme der Macht im deutschen Staat droht die aktuell sozialdemokratische Reform zum Quadrat. Wirklich wollen kann das nur der wahre Besitzstandswahrer, die konservative Haltung eben. Klassisch parlamentarisches Dilemma. Wer dabei insgeheim an eine alternative Partei denkt, in Form einer „neuen“ SPD, an die PSG (Partei für Soziale Gleichheit) oder an die PDS gar, gibt sich Illusionen hin. Neue Parteien haben’s schwer und außerdem steht hinter dem „neu“ meist nur allzu Bekanntes. Der Aufstieg der Grünen Partei zeigt lediglich, der Weg zur Macht dauert mehr als ein Jahrzehnt und die programmatischen Kosten sind enorm. Darüber hinaus genügt ein Blick in die Parlamente anderer Staaten, um festzustellen, dass die Entwicklung des modernen Staates überall eng verknüpft ist mit der Geschichte und Institutionalisierung zweier großer Parteiorganisationen, so eng dass sich mensch zuweilen an die DDR-Verhältnisse erinnert fühlt: Kein höherer Beamter ohne das entsprechende Parteibuch.

Neben dem gespürten Unbehagen ist es aber die eigene Widersprüchlichkeit, die die Leute auf die Straße treibt: Sie ziehen gegen ihre einzige parlamentarische Alternative zu Felde, die zugleich auch ihre einzige politische ist und bleibt.

Der gegenwärtige Niedergang der SPD als ein Zeichen für eine grundsätzliche politische Veränderung in Deutschland? Werden wir Zeugen des historischen Niedergangs der Sozialdemokratie? Darin läge ja auch eine große Chance, die politisch erstarrten Verhältnisse in der Nachkriegs-BRD umzustülpen bzw. für die Ex-DDR’lerInnen, in ihr politisch anzukommen (1). Angesichts der bitteren Erkenntnis jedoch, dass viele Menschen den radikalen Schluß nicht wagen, sondern die Wahl verweigern ohne Perspektive, oder einfach politisch zu anderen sozialdemokratischen Parteien oder nationalistischen flüchten – die PDS ist derzeit zweite Kraft im Osten – wohl eher nicht. Die SPD wird sich wieder stabilisieren. Mit böser Zunge könnte man gar behaupten, mit der Sozialreform bereitet die SPD zielgerichtet ihr Comeback in der Oppositionsrolle vor. Was bleibt? Die immergleiche Wiederkehr ein und desselben Widerspruchs.

Der Verfall der Sozialdemokratie.

Die Regierungsübernahme durch die SPD seit 1998 ist ein Lehrstück in Sachen sozialistischer Geschichte in Deutschland, insofern SozialistInnen mit den Liberalen und Konservativen um die Plätze im Parlament buhlten. Kündigungsschutz, Kinderbetreuung und Rente, 8-Stunden-Tag, Soziales Netz und Organisierung in den Betrieben und Unternehmen – Ziele, für die Menschen sich in Arbeitskämpfen aufgerieben haben, gar getötet wurden – der parlamentarische Arm der gewerkschaftlichen Organisationen wendet sich gegen seine Geschichte. Konnte mensch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch den Glauben hegen, die sozialistische Parlamenterei (Sozialdemokratie) würde mit den kleinen Schritten der rechtsstaatlichen Untermauerung des eigenen Programms den Weg zu einer sozialen Gesellschaft ebnen, zeigt sie heute selbst: Recht wird im Staate gemacht, nicht errungen, und kann deshalb auch jederzeit wieder revidiert werden. Mit dem Erschlaffen der Arbeitskämpfe, mit dem Verlust der revolutionären Perspektive innerhalb der gewerkschaftlichen Bewegung, woran die Sozialdemokratie einen gehörigen Anteil hat, kehren die Gespenster des 19. Jahrhunderts zurück. Dabei ist nicht die Farce gemeint, dass selbsternannte Sozialisten heute tönen, die Ursache der sozialen Probleme liege in der Faulheit Bedürftiger begründet, sondern eben jene Tragödie der sozialistischen Idee, ihre Verwirklichung im Ausbau des modernen Staatsapparats zu suchen. Die ProtagonistInnen eines ähnlichen Dramas lassen sich im übrigen in den Führungsebenen der Kommunistischen Parteien, in den Staatsgeschichten des gesamten „Ostblocks“ finden.

Das Dogma vom modernisierbaren Staat

Durch das offensichtliche Scheitern des sozialdemokratischen Projekts im Ganzen – fernab der, nur dem Namen nach, sozialistischen Parteien – wird eines deutlich: Einer der Geburtsfehler der sozialdemokratischen Idee liegt in dem Glauben begründet, den im frühen 19. Jahrhundert von der Aristokratie beherrschten Beamtenstab durch parlamentarische Kontrolle zu übernehmen, auszubauen und so die durch die Industrialisierung verschärften sozialen Widersprüche aufzuheben. Dabei haben Delegierte und Funktionäre nicht nur die Eigendynamik der einzelnen Institutionen unterschätzt, sondern auch die in sich konservativ, teils auch revanchistische Bürokratie. Jeder künftige Sozialismus, sollte er Gehalt haben, wird an der Aufarbeitung dieser Geschichte nicht vorbeikommen. Das Dogma der Sozialdemokratie, die Religion des Staates, ist zu hinterfragen! Wie sollen gesellschaftliche bzw. gesellige Formationen verfasst sein, so dass solidarisches Handeln, gegenseitige Hilfe und menschliches Miteinander ohne Konkurrenz, Selektion und Ausgrenzung fernab von Burgfrieden und Waffenstillständen möglich werden? Staatlich?

Die Strategie der Machtübernahme

Reduziert man diese Frage auf die reine Machtübernahme eines überkommenen Staatsapparats – und eben das haben Delegierte und Funktionäre oft gemacht – manövriert man sich quasi automatisch in die Zwangslage à la Schröder, keine Alternative mehr zu haben. Von der Spitze der Gewaltenmonopole aus, ist man versucht, sie auch für die eigenen Ziele einzusetzen. Das Zauberwort ist dabei die Reform. Man reformiert den Apparat, führt neue Regeln und Gesetze ein, auch gegen viele Widerstände und am Ende hat man nur den Status quo erhalten. Der moderne Staat dagegen reproduziert sich selbst, man wird abgewählt und der politische Gegner versucht sich in dem gleichen Spiel. Die Arbeitslosigkeit, die Staatsverschuldung und die Unsicherheiten wachsen weiter, die parlamentarische Initiative vermag kaum Einfluß zu nehmen. Und der gutgläubig sozialdemokratische Parlamentarier ist dabei zum Handlanger einer auf Selbsterhaltung fixierten Institution degradiert, deren Reproduktion durch den Ausbau der Monopole immer behebiger verläuft. Persönlicher Ausstieg bedeutet hier nicht mehr oder besser so viel wie die programmierte politische Rente. Derweil sind Staatsautoritäten und das staatliche Gewaltenmonopol im Laufe eines parlamentarischen Lebens ein wenig zugewachsen – na und? Vielleicht bringt‘s ja was … später …

Wie modern ein Staat heute ist …

…läßt sich am Gewaltenmonopol zeigen: Die Monopolisierung der exekutiven Gewalt in staatlicher Hand, ein Relikt der Monarchie, hat die Räuber und Banditen aus den kontrollierten Territorien an die Peripherie verdrängt. Geraubt und gemordet wird aber immer noch allüberall, jetzt nur organisiert und systematisch. Die Wilderer sind weitestgehend verschwunden, stattdessen betreiben Unternehmen staatlich gesegneten Raubbau zu Land, im Wasser und in der Luft; auch die Heere von Staatsbeamten unter Waffen: Armeen, Geheimdienste, Grenzschützer, Zöllner, PolizistInnen, staatliche Sicherheitsdienste wecken kaum ein Gefühl von Sicherheit, außer direkt in den Zentren der Macht.

Ebenso düster ist die Monopolisierung der legislativen Gewalt einzuschätzen. Ehemals dem Gutdünken der Landesfürsten ausgesetzt, wird heute jede bedarfsgerechte Vereinbarung zwischen parlamentarischen Kompromißlern und findigen Winkeladvokaten zerrieben. Recht hat mensch nicht im modernen Staat, Recht kann mensch bekommen … vielleicht, wenn alles gut läuft – na ja es kostet auch … ein wenig. Anstelle der Gleichzeitigkeit mehrerer Rechtsquellen, welche sogar das alte Rom noch kannte, ist das Monopol der judikativen Gewalt im Staatsalphabet getreten, in der Verfassung, deren Ausbuchstabierung größtenteils die Verwaltungsgerichte übernommen haben. Selbst die sogenannte vierte Gewalt, die öffentliche, in die die aufgeklärten Geister der frühen Moderne so viele Hoffnungen setzten, ist im modernen Staat zu riesigen Medienkartellen degeneriert, denen politische Bildung dasselbe wie Staatsbürgerkunde bedeutet. Und nicht selten werden sie dabei von Parteien kontrolliert und gelenkt (2).

Machen wir uns nichts vor, staatskritische und antistaatliche Äußerungen werden nach wie vor verfolgt und bestraft. Es gibt keine Gewaltenteilung, weil der moderne Staat selbst die Klammer und das Monopol über diese drei bzw. vier Gewalten darstellt. Er selbst ist an und für sich totalitär, weil er nur die Unterordnung duldet. Die Rede vom totalitären Staat ist Tautologie, ein Satz ohne Erkenntnisgewinn! Vielmehr sind moderne Staaten bei der Frage der Gewalten nur nach Art und Grad der Repression zu unterscheiden.

Kein bißchen Nationalgefühl!

Dies alles wäre zu ertragen und eben nach der Strategie der Sozialdemokratie vorerst zu übernehmen, trüge die staatliche Lösung die revolutionäre Perspektive in sich, jene durch die Industrialisierung ausgelösten sozialen Widersprüche aufzuheben, letztlich den dringlichen Austritt aus der Arbeitsgesellschaft, der Gesellschaft durch Arbeit, wirklich zu bewerkstelligen. Stattdessen bleibt er darauf festgelegt, ist an und in sich reaktionär. Seine Schlagseite ist der Nationalismus. Die parlamentarische Debatte hat noch jede Idealistin eingeschmolzen. Das Gewaltenmonopol ist vom Staat nicht zu zersetzen, Selbstzerstörung ist eben nicht sein Programm. Soweit zum ehemals ‚real existierenden Sozialismus‘, der nicht durch seine Eigenbewegung, sondern durch den Druck von Außen zerbrach. Im Gegenteil politische Handlungsfähigkeit bewahrt der moderne Staat nur durch Ausbau seiner Monopole. Die Richtung ist dabei die falsche. Statt zu schrumpfen und die Freiheit der Menschen Stück für Stück auch freizugeben, wie der Liberalismus suggeriert, wächst er immer weiter aus. Der moderne Staat bleibt Schicksal, oberster Richter, Gott des eingebürgerten Menschen zugleich. Schlimmer noch: Im europäischen Projekt sieht dieser sich sogar dem doppelten Zugriff ausgesetzt! Weit und breit ist von der Selbstbestimmung der Geschichte durch die, die sie betrifft, nichts zu sehen. Die großen politischen Versprechungen, die die Adepten des modernen Staatsprojekts seit seiner Gründerzeit immer wieder gemacht haben, sie bleiben alle uneingelöst. Seine fortgeschrittene Reform dagegen dreht das Zahnrad der Geschichte langsam aber deutlich spürbar zurück! Die Vision des modernen Staats schließlich ist die totale Kontrolle in allen Lebensbereichen, das Ende jedes Freiheitsstrebens. In Deutschland frei nach dem Motto: Ich bin nur Deutscher, sonst nichts!

Macht Schluß!

Es ist dies die unheilbare Kinderkrankheit der Sozialdemokratie, sich seit je her in dem Aberglauben an eine staatliche (Auf)Lösung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu ergehen. Statt die Selbstbestimmung des Menschen zu fördern, seinen Austritt aus der Lohnsklaverei, statt ihre selbstorganisierenden Impulse zu schützen und zu unterstützen, anstatt ihn und sie zur eigenen Freiheit zuzurüsten, hat die Sozialdemokratie jedeN EinzelneN immer fester ans moderne Staatsprojekt gekettet, jeden Ausweg noch verstellt. Seit dem Kriegzuspruch der SPD 1914, seit dem feigen Mord an Liebknecht und Luxemburg, ist der moderne Staat die einzige Wirklichkeit der deutschen SozialdemokratInnen geworden. Spätestens seitdem haben sich Generationen von SozialistInnen in Ost und West einspannen lassen, Hand in Hand mit den Liberalen, Konservativen, mit den Repräsentanten des Kapitals, die Zersetzung der gewerkschaftlichen Bewegung – ob nun sozialistisch, kommunistisch oder anarchistisch – voranzutreiben und Stück für Stück gar zu vollenden. Die Widersprüchlichkeiten der Geschichte geben genug Anlaß, über den Fortgang der sozialen Frage weiter nachzudenken. Daß jenseits des modernen Staatsprojekts nur Barbarei noch lauert, jene alte Lüge, um den Adel zu vereinen und dabei auf die Monarchen einzuschwören, die Unwahrheit dieser These endlich zu erweisen, dafür liegt die Geschichte vor und nicht hinter jedem und jeder Einzelnen. Packt sie an, gestaltet sie, und lasst Euch nicht durchs nationale Gift betäuben!!!

clov

(1) Um Missverständnissen vorzubeugen: Mit Ankommen ist hier nicht gemeint, dass die PDS als Delegation Ostdeutschlands ins Parlament einziehen sollte sondern in einem ganz anderen Sinn, daß endlich ein Austausch darüber möglich wird, was in der Geschichte der sozialistischen Bewegung auf beiden Seiten der Mauer gedacht und letztlich auch gemacht wurde. Unerlässlich dafür ist sicherlich auch die Abkehr von der SED-Nachfolgepartei.
(2) Die SPD selbst ist im letzten Jahrzehnt zu einem der größten Medienunternehmen Deutschlands geworden.

Theorie & Praxis

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