Zum Wieso – Weshalb – Warum einer Wandgestaltung
Mitten im Zentrum von Leipzig stolpert so mancher seit zwei Jahren geistig über diesen „extremistischen Farbtupfer“. So jedenfalls wurde das Wandbild Ross Sinclairs, eines schottischen Künstlers, von mehreren Passanten bezeichnet. Auch wenn den meisten auf den ersten Blick nicht klar sein dürfte, was das Bild an dieser Stelle soll, scheint es zu polarisieren
„Mich mit meinem Publikum zu unterhalten, ist mein Ziel […] Und nicht auf eine […] vorübergehende Art, sondern….“
Sehr trist sähe die graue Wand gleich gegenüber dem Nikolaikirchhof aus, wenn nicht dieses comicartige Wandbild in grellen Farben dort prangte. Große schwarze Lettern auf buntem Hintergrund verkünden eine „Anleitung“ für das „REAL LIFE“ – „Das wahre Leben“.
Aber Vorgaben, wie das Leben zu meistern sei, sind die zehn Punkte keineswegs. Vielmehr zieht Sinclair den Betrachter in einen Sog aus Zweifeln. Was soll hier vermittelt werden?
Die Verwirrung, die das Bild erzeugt, erinnert daran, dass wir uns die Frage nach dem Sinn einer Staatsbürgerschaft, einer nationalen Zugehörigkeit oder eines Passes gar nicht mehr stellen.
Es zeigt auch, dass die Einteilung der Welt in politische Einheiten nur ein Konstrukt ist um Herrschaft zu erhalten, Kontrolle auszuüben und dem Einen ein großes Stück vom Kuchen, dem Anderen aber ein kleines zuzuteilen. Dass du nicht als Mensch, sondern über die Nummer in deinem Pass definiert wirst. Dass allein deine Herkunft dich entweder zu einem zivilisierten Menschen oder einem barbarischen Schurken macht.
Die Position, die der Betrachter einnimmt, ist hierbei flexibel. Sie hängt davon ab, ob man es bevorzugt DU SOLLST oder DU SOLLST NICHT zu lesen. Diese Wahl wird einem gelassen. Denn genau das ist der Clou: während man das Gefühl hat, nichts verstanden zu haben, da ja alles offen bleibt, ist man schon dabei Stellung zu beziehen. Auf diese Weise zeigt Ross Sinclair das wirkliche Leben und einige der Entscheidungen, die es bestimmen. (Bitte das Bild jetzt noch mal gründlich lesen oder in die Leipziger Innenstadt pilgern.
„… in einem ehrlichen Versuch, uns alle zusammenzubringen, uns alle auf den Kopf zu stellen und zu schütteln, bis es weh tut.“ (2)
Was ist das „REAL LIFE“? Ist es unser alltägliches Leben, Arbeit, Haushalt, Fernsehen – die Mühsal des Alltags? Oder findet es statt in jenem Lebensstil, den wir in Filmen, im Fernsehen, in der globalen Werbung und Kommunikation vermittelt bekommen? Haben wir uns an diese Bilder derart gewöhnt, dass wir nicht mehr in der Lage sind das Wahre vom Falschen, das Reale vom Fiktiven und dem oft Lächerlichen eines spektakulären Lebens zu unterscheiden?
Ross Sinclair bietet eine mögliche Sichtweise an: „REAL LIFE“ kann irgendwo sein, versteckt in unseren Köpfen. Es könnte eine andere Art zu leben geben. Irgendeine, bei der die Wünsche und Möglichkeiten jedes Individuums verwirklicht werden. Ross Sinclairs „REAL LIFE“ Projekte funktionieren wie Fenster, durch die das Publikum diese anderen Räume betreten kann, Orte, an denen man sich für eine Weile einbildet, wie unsere Lebensweisen auch anders sein könnten. Und da die Kunst Sinclairs vom Dialog und der Denkarbeit des Publikums lebt und sich an die Öffentlichkeit wendet, kann man sich vielleicht auch vorstellen, wie dieser Ort gemeinschaftlich gestaltet werden könnte. Es geht dabei – wie Ross Sinclair sagt – „um uns selbst, […] gegenüber der Welt.“ (2)
Die Thematik des Werkes findet sich nicht nur in diesem Einzelkunstwerk. Während der zurückliegenden sieben Jahre hat Ross Sinclair, 1966 in Glasgow geboren, seine Projekte in vielen verschiedenen Ländern und Kontexten realisiert, an öffentlichen und privaten sowie institutionellen und autonomen Orten. So ließ sich der Künstler 1994 in großen fetten Lettern die Worte „REAL LIFE“ auf seinen Rücken tätowieren. Er betrachtet seine künstlerische Arbeit als ein nachhaltiges Forschungsprojekt – unser gesamtes Lebensumfeld als seinen Fundus. Für sich und andere Künstler arbeitet er an seinem eigenen „REAL LIFE“. Mitte der 70er Jahre fand sich in Glasgow eine Gruppe aus Künstlern, Studenten und Kritikern zusammen, die sich nach und nach eine selbst organisierte Infrastruktur von Ausstellungshäusern, Galerien, Ateliers u.ä. aufbaute. So wird die Utopie durch gemeinsames Handeln konkret und REAL.
Realisiert wurde das Wandbild im Rahmen der Expo 2000, unter Mitarbeit der „Galerie für zeitgenössische Kunst“. Die Anregung dazu lieferten die verblassenden Werbemalereien des alten Regimes, die noch an einigen Häusern in Leipzig zu sehen sind. Allerdings soll hiermit nicht in Nostalgie abgedriftet werden, sondern altvertraute Technik wird benutzt um neue, scheinbar paradoxe Inhalte zu vermitteln.
Die „Anleitung“, die auf den zweiten Blick keine ist, stellt auch einen interessanten Kontrast zu der sie umgebenden Einkaufsmeile Leipzigs dar. Dort, wo mensch eigentlich nichts als die „pure Auswahl“ haben sollte, weist sie darauf hin, dass es wesentlichere Fragen gibt. Zurück bleibt das merkwürdige Gefühl, nicht zu wissen, ob man gerade auf eine Werbung hereinfällt oder ob tatsächlich jemand eine Entscheidung erwartet.
Lasst uns grenzenlos werden!
wanst & hannah r.
(1) bezieht sich auf eine Umfrage in der Nummer vier der Zeitung zum Projekt „Neues Leben“ der Galerie für Zeitgenössische Kunst.
(2) Zitat Ross Sinclair in „Neues Leben“ Nummer vier.