Scheiternde Staaten

Nach dem Ende des Ost-West-Kon­fliktes ist das „Ende der Geschichte“ (Fukuyama, Francis: The End of History and the Last Man, 1992), der kapi­ta­lis­ti­sche Welt­friede, ausgeblieben. Im Ge­genteil: mi­li­ta­­risierte Gewalt und Kriege nehmen zu, die Rüs­tungs­­aus­ga­ben welt­­weit steigen wie­­der und im­mer mehr vor­­mals zivile Be­reiche wer­­den mit dem mili­tä­rischen Sek­tor ver­knüpft und für des­sen Zie­le miss­­brau­cht. Dies äu­ßert sich nicht in ers­ter Linie im an­ste­hen­den Krieg ge­gen den Iran und Be­satz­ung und Wi­­­der­stand in Irak und Af­­­gha­ni­stan, son­dern in der mittlerweile bei­­­­nahe alltäglichen Entsendung von „Mi­­­litär­beratern“, in Polizeimissionen in der sog. „Dritten Welt“, in „Friedens­mis­sionen“, Katas­trophenhilfe und EU-fi­nan­zierten Mili­täraktionen der Afri­ka­nischen Union in Afrika. (Karte S. 12/13)

Kampf um Ideologien

Der Kampf der Ideologien war also nicht die dominante Triebfeder krieger­ischer Außenpolitik. Viele sehen im Kapitalis­mus selbst eine Tendenz bzw. Notwendig­keit zum Imperialismus, da sich nur durch Er­schließung und Unter­werfung neuer Gebiete die Widersprüche des Kapi­ta­lis­mus kompensieren und sich die Wider­sprüche gegen den Kapitalismus nur durch einen äußeren Feind bezwingen ließen. Die dauerhafte Absicherung des sog. sozialen Friedens, einer eklatanten Un­gleichheit macht den Aufbau re­pressiver Organe notwendig, die vorder­gründig gegen diesen äußeren Feind ge­richtet sind, der nach Innen integrierend, einigend wirken soll. Diese These scheint von der Gegenwart be­stätigt zu werden. Auch in der Aufteilung der Welt in Staaten und der damit ver­bun­de­nen Exis­tenz mi­li­tärisch-indus­trieller Kom­plexe lässt sich eine ihnen in­ne­­wohnende Kriegs­­­­­gefahr aus­machen. Ein Staat wird sou­verän, indem er die Gewalt mo­no­po­lisiert und eine Ar­mee zu sei­ner Ver­teidigung aufstellt. Er schafft Institutionen des Krieges, die er auch nicht auflöst, wenn seine terri­toriale In­te­grität nicht mehr gefährdet ist, also ein An­griff feindlicher Truppen aus­ge­schlos­sen ist. Genau dies ist gegenwärtig in Deutsch­land der Fall, wo eine faktische Aufrüstung unter dem Begriff „Um­struk­turierung“ stattfindet, indem eine schwer­fällige Verteidigungsarmee ohne Fähigkei­ten zur Führung von An­griffs­kriegen zu einer hoch spezialisierten, flexiblen Inter­ventionsarmee umgebaut wird.

Neue Gefahren?

Wie werden Aufrechterhaltung und Ausbau gewaltträchtiger, anti-demo­kratischer Strukturen mit ihren immensen Kosten begründet? Die Ver­teidi­gungs­po­li­tischen Richtlinien (VPR) Deutschlands und die Europäische Sicherheitsstrategie (ESS) der EU machen wie auch die Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) der USA neue Gefahren in den sog. „schei­ternden Staaten“ aus, die als Terroris­mus, organisiertes Verbrechen, Ver­brei­tung von Klein- und Massen­ver­nichtungs­waffen und Migration (sic!) auch die post-industriellen, vermeintlich gefestigten Staaten bedrohen würden. Deshalb gelte es, in diesen Staaten und ganzen Regionen zu intervenieren und eine neue Ordnung auf­zu­bauen. Bis­her wurden sol­che Am­bi­tionen durch das Völ­ker­recht be­schränkt. Die Ver­einten Na­tio­nen (UN) wur­den nach dem 2. Welt­krieg ge­grün­det, einer­seits sicherlich um die Staaten als mäch­tigste Akteure der Welt­politik zu eta­blieren, andererseits aber auch um eine Vermittlungs- und Kontrollinstanz zu schaf­fen, um weitere Kriege im Welt­maß­stab zu verhindern. Das den UN und dem Völker­recht zugrunde lie­gen­de Sou­verä­ni­täts­prinzip erlaubte es nur in zwei Fällen, andere Staaten anzugreifen: Zur Selbstver­teidi­gung, oder wenn von diesen eine Gefähr­dung des Weltfriedens ausginge bzw. dies zu­mindest vom Sicherheitsrat als Organi­sation der mächtigsten (Atom-)Staaten so interpretiert wurde.

In den letzten Jahren fanden dennoch völkerrechtswidrige Angriffskriege auf Jugoslawien und Irak statt, an denen sich bspw. USA, Deutsch­land, Frank­reich, Großbritannien … beteiligten. Diese Akteure zeigten offen ihren nachlassenden Respekt vor dem Völkerrecht und stellten die Be­deutung der UN immer mehr in Frage. Um der drohenden Mar­gi­na­li­sierung zu entgehen, kündigte Kofi Annan nun eine Änderung des Völker­rechts an, welche dazu führen wird, dass zukünftig alle Inter­ventionen vom Sicherheitsrat ab­genickt werden und auch sonst als „legitim“ gelten können. Zwi­schen all den Diskussionen um die UN-Reform wird dies eher unbe­merkt, durch die Hintertür gesche­hen. Die Charta der UN wird nicht umformu­liert, sondern per Beschluss mit einfacher Mehr­heit erhält der Begriff Souveränität eine neue Definition, welche besagt, dass ein Staat sie verliert, wenn er in seinem Inneren keine Men­schen­rechte und die Sicherheit der Individuen nicht mehr garantieren kann. Dann obliege es der in­ter­­nationalen Gemeinschaft oder klei­ner­en Gruppen von Staaten, zu intervenieren. Dies wird sicherlich nur geschehen, wenn sich dabei ökono­mische oder strategische Interessen reali­sieren lassen, während vordergründig mit der „Verantwortung zum Schutz“ der Indi­viduen weltweit argumentiert wird.

Souveränität.

Hier geht es jedoch nicht nur um eine perfide neue Legitimationsstrategie für eine neue Runde kolonialer Außenpolitik, sondern auch darum, wie die Welt strukturiert sein soll und welche Rolle Staa­ten dabei spielen. Ihr globaler Ver­bund, die UN, nimmt für sich in An­spruch, zukünftig zu bestimmen, wer souverän ist und wer nicht. Doch in ihren Augen können nur Staaten souverän sein, Individuen niemals. Diese unterliegen lediglich dem Schutz „ihres“ Staates oder der Staatenwelt und begründen ge­gebenenfalls militärische Feldzüge. Das „Scheitern“ eines Staates besteht im Aufbrechen des Gewaltmonopols, das nach dieser Logik zu einem der sog. „Neuen Kriege“ führt. Für die Individuen muss weiterhin Verantwortung über­nommen werden, indem über ihnen von einer fremden Macht ein neuer Staat aufgebaut wird. Die Sicherheit der Bevölkerung wird mit der Souveränität „ihres“ Staates, also der Existenz eines zentralisierten Gewaltapparates gleich­ge­setzt. Basisorganisierte Systeme kollek­tiver Verteidigung werden dabei als Indiz für Souveränitätsverlust interpretiert. Das Individuum darf nicht souverän werden, es bleibt Objekt der Sicherheit, also Ob­jekt von Intervention oder Völ­kermord.

Souveränität bedeutet jedoch auf den Staat bezogen, dass er die Individuen nach seinem Willen organisieren und, etwa für Zwangsdienste, unterwerfen kann, und in einer Vereinbarung zwischen den Staaten, dass er nicht von außen durch Zwang beeinflusst oder angegriffen werden darf. Eine solche Vereinbarung ist aber unter den Individuen notwendig, damit es ihnen möglich wird, ihren Zustand selbst zu bestimmen und zu organisieren, frei zu werden.

Alle gegen Alle?

Nachdem sich der Staat in den letzten Jahrzehnten stark über seine „Wohlfahrts“-Funktion legitimiert hatte, ist dies ein Rückfall in hobbessche (nach Thomas Hobbes) Erklärungsmuster, die davon ausgehen, dass ohne die Monopolisierung der Gewalt in den Händen des Staates automatisch ein Krieg Aller gegen Alle ausbrechen würde. Mit dieser Lüge hat der Staat den Menschen die Souveränität geraubt, und sie begegnet uns bei vielen Diskussionen über den An­ar­chis­mus. Menschliche Unsicherheit re­sul­tiert danach zwangsläufig und allein aus dem Aufbrechen des staat­lichen Gewalt­mono­pols. Andere Ursachen für Elend, wie die massen­haf­te Pro­duk­tion von Kleinwaffen, ein glo­ba­les Konglomerat mili­tärisch-in­dustrieller Komplexe und eine teil­­weise mili­tä­risch und polizeilich durch­­­gesetzte Wirt­schafts­­­ordnung, die auf Kon­kurrenz basiert und damit zwangsläufig massenhaft marginalisierte Menschen pro­du­ziert, werden damit von vornherein aus­ge­­blendet und der gewaltsame Konflikt zum mensch­lichen Urzustand erhoben.

Es ist kein Wunder, dass diese alten wie falschen Begründungen für die Notwen­digkeit des Staates zu diesem Zeitpunkt ei­ne Renaissance erleben, wo seine Mög­lich­keiten, sich über eine soziale Grund­sicherung aller Bürger, über eine Abfeder­ung der Härten des Kapitalismus für die Mit­glieder des Kollektivs zu legitimieren, in der (selbst?-)Auflösung begriffen sind. Es ist ebenso kein Wunder, dass dies mit der verzweifelten Suche nach und Provo­ka­tion von „neuen Bedrohun­gen“, mit Aufrüstung von Militär, Polizei, Geheim­diensten, mit neuen Knästen, Lager­sys­temen für rassistisch eingegrenzt Ausge­grenzte, etwa entlang der EU-Außen­grenzen, sowie öffentlich zelebrierte Fol­terungen wie in Guantanamo und Abu Ghraib einhergehen. Die Regierungen der post-industriellen Staaten sehen die Vor­boten ihres eigenen Scheiterns durch den Ver­lust ihrer wohlfahrtspolitischen Hand­lungs­fähigkeit in den post-kolonia­len Re­gio­nen und reagieren panisch, indem sie sich nicht nur verstärkt über Sicherheit le­gi­timieren sondern auch, indem sie alle ihre Mittel in den Sicher­heitssektor lenken. Kein Wunder: Diese Institutionen or­ganisierter Gewalt werden alles sein, was ihnen bleibt.

maria

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