Schwarzseher in roten Roben

Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über den EU-Grundlagenvertrag von Lissabon

Heil der obersten Richterschaft, so denken hierzulande viele, was wäre Deutsch­land bloß ohne den nüchternen Patriotismus des Bundesverfassungsgerichts? Das arme Deutschland wäre den grotesken Spielchen korrupter Politiker_innen vollends aus­ge­setzt, eine ganz gewöhnliche Bananenrepu­b­lik ohne durchgreifendes Rechtsstaatsprin­zip. Aber gottlob, es gibt das Grundgesetz, wenn auch nur als Quasi-Verfassung, und li­be­rale Justizbeamt_innen, die über die ver­bürg­ten Grundrechte aufmerksam wachen, denkt sich der gemeine Patriot und heimliche Deutsch­landfan. Es ist sicher nicht zuviel gesagt, dass in Deutschland viele Leu­te lieber das Bundesverfassungsgericht wäh­len würden, als die Kanaillen des Deutschen Bundestages. Und nicht ganz zu un­recht. Denn weit wirksamer als das Auf und Ab parteiischer Gesetzgebung hat die kontinuierliche Rechtspflege dieses unabhängigen obersten Gerichtes die bun­desdeut­sche Rechtsgeschichte seit 1951 geprägt. In beinahe 7000 Einzel­entschei­dungen und über 133.000 Kam­merbeschlüssen wurden Gesetze aus dem Parlament und Bundesrat und deren Auslegung beeinflusst – bestätigt, für nichtig erklärt oder außer Kraft gesetzt. Durch die besondere Stellung des Gerichtes, allein, einzig und ein­zelinstanzlich über die Auslegung des Grund­­­gesetz­tex­tes zu verfügen, der wiederum al­le anderen deut­­schen Rechtstexte fol­gend bindet, kommt den Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes eine einzigartige Auslegungsvormacht zu, wenn es um den Ein­fluss auf den weit verzweigten juristischen Instanzenzug vom kleinsten Kreisgericht bis zum Bundesgerichtshof geht. Kaum ein_e Richter_in noch Politiker_in wür­de es derzeit wagen, die Urteile dieser obersten Richterschaft in Frage zu stellen.

Von dieser einzigartigen Machtbasis aus, die eine wohlwollende liberale Öffentlichkeit nur noch verstärkt, ist das Bundesverfassungsgericht integraler Bestandteil des deutschen Staates. Und aus dieser zentralen Funktion wird auch verständlich, warum dem Urteil des Gerichtes im Zusammenhang mit der Zustimmung zum Vertrag von Lissabon (EU-Grundlagenvertrag bzw. -reformvertrag) (1) soviel Bedeutung zukommen musste, dass selbst der Bundespräsident zögerte, die deutschen Zustimmungsgesetze zur längst getätigten Ratifikation zu unterzeichnen.

Sechs Klagen gegen den Vertragsschluss waren anhängig, die das Bundesverfassungsgericht für entschei­dungswürdig erachtete. Nicht ganz uneigennützig, wenn man bedenkt, dass der Vertrag von Lissabon in der ursprünglichen Form eine Quasi-Verfassung für Europa werden sollte und damit faktisch eine Relativierung des deutschen Grundgesetzes als obersten Rechtstext bedeutete, also direkt die Machtbasis des Bundesverfassunsgerichtes betraf, es geradezu in verstärkte Konkurrenz zum Europäischen Gerichtshof setzte. Und dementsprechend trocken und konservativ fiel das Urteil am 30. Juni dann auch aus. Einig Europa? Von wegen! Zwar sehe das Grundgesetz nach Artikel 23 einen europäischen Integrationsprozess vor, was es Deutsch­land prinzipiell erlaube, zwischenstaatliche Verträge in dieser Form abzuschließen. Aber das Übertragen von Hoheitsrechten, welche unmittelbar die Souveränität der Bundesrepublik beträfen, könne nur in Form der vertraglich gebundenen Einzelermächtigung stattfinden und müsse jeweils in deutsche Gesetze überführt werden. Dabei sehen die Richter durchaus einen, wenn auch bloß summarischen, Zugewinn an Demokratie über die neuen Einspruchsrechte der einzelnen Mitgliedsstaaten. Nicht jedoch ein Europäisches Parlament, dass über freie und gleiche Wahlen zustande käme und so eine „Unionsbürgerschaft“ begründen könne, die als neue Legitimationsbasis den Volkssouverän der einzelnen Staaten ersetzen würde. Insbesondere die vereinfachten Ent­scheidungsverfahren, welche der neue Vertrag vorsieht, sind den Richter_innen dabei ein Dorn im Auge.

Durch die Abschaffung des Kon­sens­prinzips könne es zu Übertragung von „Kompetenz-Kompetenz“ kommen, sprich zu einer nachträglichen Ver­än­derung der Vertragsbasis ohne die jeweilige Zustimmung jedes Mitglieds­staa­tes. Deshalb sei es erforderlich, sich als Ver­­tragspartner aktiv über die diversen Ein­spruchsrechte einzubringen. Dafür wie­­derum können in der Bundesrepublik nach Ansicht der Richter_innen, nur die demo­kra­­tischen Organe Bundestag und Bun­des­rat in Frage kommen. Das Bundes­ver­fassungsgericht leitet also aus dem europäischen Demokratiedefizit und der Gefahr der Kompetenz-Kompetenz-Übertragung eine erhöhte Aktivität der hierzu­lan­de gewählten Vertreter ab. Das bereits verabschiedete Zustimmungsgesetz und die dazugehörigen Begleitgesetze, die das deut­sche Recht an den neuen Vertrag anpassen sollten, erklärt es gar für nichtig, weil sie diesen weitreichenden Aufgaben nicht gerecht würden.

Am Ende des ellenlangen Urteilstextes ge­langt man schließlich zu der Einsicht, dass die obersten Verfassungsrichter_innen kei­nes­wegs zu den Europa-Euphorikern zählen. Stattdessen nutzte das Gericht die Gelegenheit um klarzustellen, dass es sich in seiner Zu­ständigkeit nicht so einfach beschneiden lasse und im Rahmen der Wahrung der „Ver­fassungsidentität“ den deutschen Volks­souverän auch weiterhin gegen jede fremde Einflussnahme verteidigen werde. Der implizite Vorwurf an Bundestag und -rat, diese Aufgabe durch die schlecht gearbeiteten Zustimmungs- und Be­gleitge­setze zu vernachlässigen, ist offensichtlich, wiedermal. Und die Bundes­re­gierung muss nachsitzen, wiedermal. Es wurde auch schon eine Sitzung Ende August, in­mitten des großen Wahlschattens, anberaumt. Am Ende wird mehr Bürokratie und Arbeit für die Parlamen­ta­rie­r_in­nen stehen und die Erkenntnis, dass die konservative deutsche Richterschaft auch in Zukunft da­rüber wachen wird, dass die Verhältnisse in Deutschland bleiben, wie sie sind. Mehr noch, den politischen Vertretern droht ein juri­stischer Nackenschlag, sollten sie allzu forsch die nationalstaatliche Basis untergraben. Wie es indes in der Vorstel­lungswelt dieses Gerichtes wi­der­spruchslos zusammenpasst, dass eine nicht durch freie und gleiche Wahlen legitimierte, sondern völlig intransparent ernannte Judika­tive (2) gleichzeitig dem Souverän in der Form seiner legitimierten Volksver­treter_innen die Verhältnisse diktieren kann – diesen de­mokra­tie­theoretischen Widerspruch halten die Verfas­sungs­pa­trio­ten locker aus. Wer fragt schon nach dem Zustandekommen der Macht, wenn man sie erstmal hat. Da sind sich dann selbst die feinsinnigen Jurist_innen nicht zu schade, einem ganz gewöhnlichen Nationalismus das Wort zu reden. Und mensch fragt sich, ob die Herren und Damen Zustands­be­wah­­rer unter ihren vor Patriotismus rotgülden schimmernden Roben noch immer das mehr als 150 Jahre alte, muffig deutsch-preußische Korsett tragen. Von dieser staatlichen Institution deshalb eine substanzielle Veränderung der deutschen Zustände zu erwarten, ist nicht nur eine idealistische Illusion, es ist geradezu blau­äugig. Im Gegenteil: Wer hierzulande wirklich etwas bewegen will, wird sich auf kurz oder lang dem Bundesverfassungsgericht gegenüber sehen, bereit den angeblichen und völlig abstrakten Volkssouverän noch gegen jede_n einzelne_n Bürger_in auszuspielen. Zu­min­dest das lernen wir aus Europa: Wer diese deutschen Richter_innen wählen will, wird die Reaktion ernten.

(clov)

 

(1) Der Vertrag ist die mittlerweile dritte modifizierte Version des ursprünglichen „Vertrages für eine Verfassung für Europa“ – der bekanntlich 2005 durch die negativen Ergebnisse der Volksbefragungen in Frankreich und in den Niederlanden scheiterte – und soll die schon 2000 beschlossenen Übergangsverträge von Nizza endlich ersetzen.

(2) Die Verfassungsrichter_innen werden für 12 Jahre abwechselnd von Bundestag und Bundesrat ernannt. SPD und CDU einigen sich seit Anbeginn der Bundesrepublik in geheimen Absprachen über die jeweilige Ernennung. Erstmalig gelang es einer kleinen Partei (GRÜNE/Bündnis 90) 2001 über eine Koalitionsabsprache mit der SPD einen eigenen Verfas­sungs­richter zu bestimmen.

Das ganze Urteil unter:

www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html

Schreibe einen Kommentar