Sonderzug ins Tierreich (Teil 2)

Zur Kritik der Soziobiologie

Wie wenig erkenntnisfördernd die sog. „Sarrazin-Debatte“ der letzten Monate auch war, so hat sie immerhin gezeigt, wie verbreitet und akzeptiert biologistische Erklärungsmuster noch immer sind. Dass Sarrazin mit seinen „Thesen“ über den Kinderreichtum der „Unterschicht“ und die angeblich erbliche Dummheit bei Mi­grant_innen an eine gut 200jährige Tradi­tion eugenischen Denkens anknüpft, habe ich im letzten Heft gezeigt.

Hier soll nun die Entwicklung der letzten Jahrzehnte betrachtet werden. Denn obwohl nach den Erfahrungen der NS-Rassenpolitik und der Massenvernichtung „unwerten Lebens“ in den KZ´s die eugenische Theorie und Praxis gründlich diskreditiert schien, war damit das biologistische Denken keineswegs aus der Wissenschaft verbannt: Mit der in den 1970er Jahren entstehenden Soziobiolo­gie wurde der Diskurs auf neuer Ebene wieder aufgenommen. Eben diese soll hier genauer betrachtet werden.

Zurück zur Natur!

Soziobiologie ist die Wissenschaft von der biologischen Grundlage jeglicher Form des sozialen Verhaltens bei allen Arten von Organismen einschließlich des Menschen.“ So formulierte es der US-amerikanische Biologe Edward O. Wilson, der den Begriff mit seinem 1975 erschienenen Buch „Sociobiology: The New Synthesis“ populär machte. Die Soziobiologie ist also ein Sonderzweig der Biologie, der (anknüpfend an Evolutionsbiologie, Verhaltensforschung und Genetik) das Sozialverhalten von Lebewesen unter biologischen Gesichtspunkten untersucht.

An diesem Minimalprogramm ist noch wenig auszusetzen. Dass alles menschliche Verhalten biologische Grundlagen hat, dass man einen Körper braucht, um sich irgendwie verhalten zu können, ist schließ­lich eine banale Feststellung. Das von Wilson formulierte Maximalprogramm weist aber in eine andere Richtung, wenn er meint: „Der Übergang von einer rein phänomenologischen Theorie zu einer fundamentalen Theorie wird der Soziologie erst möglich sein, wenn das menschliche Gehirn in seinen neuronalen Zusammenhängen vollständig erklärt ist (…) Erkennen und Wahrnehmung werden sich als Schaltkreise verstehen lassen (…) Hat sich die neue Neurobiologie erst einmal die Psychologie einverleibt, wird sie der Soziologie ein dauerhaftes Netz aus übergeordneten Prinzipien bescheren.“ Die Biologie soll also der Soziologie die nötige Basis liefern: Nur so könnte man dazu kommen, nicht mehr nur zu beschreiben, was Menschen tun, sondern auch zu erklären, warum sie es tun – die Gründe dafür seien also im Wesentlichen biologisch. Die Lücke zwischen Minimal- und Maxi­mal­programm wird dabei per Kurzschluss überbrückt: Menschliches Verhalten hat eine bio­logische Basis, also ist es auch nur biologisch zu erklären.

Die Logik hinkt. Schließlich ist die Basis einer Sache noch nicht die Sache selbst. Zudem ist das menschliche Verhalten nicht nur biologisch, sondern auch durch die noch grundlegenderen Gesetzmäßigkeiten der Physik bedingt – erklären lässt es sich mit diesen nicht. Nehmen wir z.B. die Vorgänge bei einer Parlamentswahl: Diese stehen natürlich ganz im Einklang mit den Gesetz­mäßigkeiten der Schwerkraft und der Thermodynamik. Aber auch wenn man noch die Quantenmechanik dazunimmt, lässt sich damit nicht sinnvoll erklären, warum z.B. die FDP bei den letzten Landtagswahlen so schlecht abgeschnitten hat. Anders gesagt: Nur weil menschliches Verhalten physikalische und biologische Grundlagen hat, lässt es sich noch nicht aus diesen ableiten.

Aber eben dies versucht die Soziobiologie, Wilsons Kurzschluss folgend. Lebewesen (so die Ausgangsthese) verhalten sich so oder so, weil sich dieses Verhalten in der Evolution durchgesetzt hat. Die Hauptfrage ist demnach, inwiefern ein Verhalten „adaptiv“ ist, also Vorteile bei der Weitergabe des Erbguts mit sich bringt. Dies setzt voraus, was eigentlich erst noch zu beweisen wäre, dass die betreffenden Verhaltensmuster genetisch bedingt sind. Der amerikanische Biologe Richard Dawkins (der viel dazu beigetragen hat, die soziobiologische Sicht populär zu machen) spricht in diesem Zusammenhang vom „egoistischen Gen“: Die Gene haben kein anderes Ziel, als sich zu reproduzieren, und bringen darum ihre jeweiligen „Überlebensmaschinen“ dazu, sich diesem Ziel entsprechend zu verhalten.

Schwule Moleküle

Nun sollte man den soziobiologischen Begriff von „Egoismus“ nicht mit dem Alltagsgebrauch des Wortes verwechseln. So gilt für Dawkins jedes Verhalten als egoistisch, wenn es dem Überleben der Gene dient: „Es ist wichtig, sich darüber klar zu werden, dass die oben gegebenen Definitionen von Altruismus und Egoismus sich am objektiven Verhalten orientieren und nicht an Intentionen. Ich beschäftige mich nicht mit der Psychologie der Motive (…) Meine Definition fragt nur nach, ob der Effekt einer Handlung darin besteht, die Überlebenschancen des mutmaßlichen Altruisten beziehungsweise des mutmaßlichen Nutznießers zu verringern oder zu vergrößern.“ Dawkins´ These, nur egoistisches Verhalten sei evolutionär erfolgreich, läuft also auf einen Zirkelschluss hinaus – wenn das Verhalten nicht erfolgreich wäre, könnte es ja nicht als egoistisch gelten.

In seinem Buch „The Selfish Gene“ versucht Dawkins nun, anhand idealtypischer Modelle genauer zu bestimmen, unter welchen Bedingungen sich die Gene weitervererben oder eben nicht. So will er z.B. erklären, wie altruistisches Verhalten mit dem „Egoismus“ der Gene in Einklang zu bringen ist. Wie das geht, demonstriert Dawkins mit folgender Rechnung: „Ein Gen für das selbstmörderische Retten von fünf Vettern würde in der Population nicht zahlreicher werden, aber ein Gen zum Retten von fünf Brüdern oder zehn Vettern würde dies sehr wohl. Damit ein selbstmörderisch egoistisches Gen erfolgreich ist, muss es mehr als zwei Geschwister (…) oder mehr als vier Halbgeschwister (…) retten und so weiter.“ Schließlich liegt die Wahrscheinlichkeit, dass die Geschwister das gleiche Gen in sich tragen, bei 1:2, bei Halbgeschwistern bei 1:4 usw. Mindestens so viele müssen also gerettet werden, damit es sich für das Überleben des Gens auszahlt.

Die Rechnung ist zwar hanebüchen, aber Dawkins ist nur konsequent: Schließlich gilt ihm ein Verhalten nur dann als altruistisch, wenn es die Überlebenschancen des Individuums verringert, also wirklich tendenziell selbstmörderisch ist. Das Gen für „selbstmörderischen Altruismus“ bleibt aber dennoch reine Spekulation – auch wenn es sich in dieser Weise durchsetzen könnte, heißt das noch lange nicht, dass es tatsächlich existiert.

Ähnlich spekulativ argumentieren manche Biolog_innen, um andere menschliche Verhaltensweisen zu begründen, etwa in Bezug auf das flapsig so genannte „Schwulen-Gen“. Da sich Homosexuelle bekanntlich nicht fortpflanzen, ist es schwierig zu erklären, wie dieses fiktive „Schwulen-Gen“ trotzdem vererbt werden kann. Darum verweist die Soziobiologie aufs Tierreich: So gibt es bei vielen Vogelarten so genannte „Nesthelfer“, Tiere also, die auf Fortpflanzung verzichten und dafür anderen Gruppenangehörigen bei der Aufzucht der Jungen helfen. So ähnlich, meinen nun die Biolog_innen, sei es auch bei den Homosexuellen: Die würden sich zwar nicht fortpflanzen, sich dafür aber um die Kinder ihrer (ebenfalls das „Schwulen-Gen“ in sich tragenden) Verwandten kümmern, damit die „Gesamtfitness“ der Gruppe steigern und so indirekt dafür sorgen, dass auch das Gen weitervererbt wird.

Das ist zwar Nonsens, aber immerhin ein gutes Beispiel für die Beliebigkeit der soziobiologischen Argumentation. Beginnen wir bei der Behauptung, wir hätten es bei den tierischen „Nesthelfern“ und der menschlichen Homosexualität mit zwei wesensgleichen Phänomenen zu tun: Hier wird einfach ein menschliches Verhalten ins Tierreich projiziert und dann wiederum glücklich aus der Natur „abgeleitet“. Der Erkenntnisgewinn tendiert dabei großzügig gegen Null: So wie man durch die Beobachtung eines Wolfsrudels nichts über Pelikane lernt, so sagt das Verhalten von Vögeln auch nichts über Menschen aus.

An dieses logisch fragwürdige Manöver schließt sich nahtlos ein zweiter Zirkelschluss an, der sich etwa so zusammenfassen lässt: Lebewesen verhalten sich so und so, weil das Verhalten „adaptiv“ ist – das Verhalten muss adaptiv sein, sonst hätte es sich gar nicht entwickelt. Jede Eigenschaft beweist also schon durch ihre bloße Existenz, dass sie evolutionär vorteilhaft ist. Und mit etwas Mut zur Willkür lässt sich bei jedem menschlichen Verhalten ein solcher Vorteil finden, vor allem wenn man noch so schwammige Konzepte wie die „Gruppenfitness“ ins Spiel bringt.

Unbewegte Beweger

So wie in der soziobiologischen Argumentation menschliche Verhaltensweisen aufs Tierreich projiziert werden, so werden auch phänotypische Merkmale auf den Genotyp projiziert: Ein Lebewesen zeigt diese oder jene Merkmale, weil diese – als codierte Information – schon in seinem Genom enthalten sind. In diesem Sinne handelt es sich bei den „Genen“ um eine gedankliche Abstraktion, die man nicht mit der realen DNA als biochemischem Bestand­teil der Zelle verwechseln sollte. Die Gene werden als „unbewegte Beweger“ gedacht, als erste Ursache der Kausalkette, an deren Ende der fertige Organismus steht.

Passend dazu schreibt z.B. Richard Dawkins die gesamte Naturgeschichte als Geschichte der (von ihm „Replikatoren“ genannten) Gene. Nachdem diese im Urmeer durch chemische Prozesse entstanden waren und sich in steter Konkurrenz weiterentwickelt hat­ten, begannen sie irgendwann, so Dawkins, um sich herum Organismen zu produzieren: „Auf diese Weise mögen die ersten lebenden Zellen entstanden sein. Die Repli­katoren fingen an, nicht mehr einfach nur zu existieren, sondern für sich selbst Behälter zu konstruieren, Vehikel für ihr Fortbestehen.“ Die Organismen erscheinen als bloße Anhängsel des Genoms, wenn Dawkins schreibt: „Sie [die Replikatoren] sind in dir und in mir, sie schufen uns, Körper und Geist, und ihr Fortbestehen ist der letzte Grund unserer Existenz (…) Heute tragen sie den Namen Gene, und wir sind ihre Überlebensmaschinen.“

Wenn man sich die Gene als „Ur-Sache“ allen Lebens denkt, ist dieser Schöpfungsmythos nur die logische Konsequenz. Allerdings schreibt Dawkins der DNA damit Fähigkeiten zu, die sie schlichtweg nicht besitzt. Denn diese ist für sich genommen nur „tote Information“ – wirksam werden kann sie nur innerhalb der Zelle, durch ein komplexes Zusammenspiel aller Zellbestandteile. Außerhalb der Zelle „macht“ die DNA gar nichts. Es ist also unklar, wie sie es angestellt haben sollte, aus eigener Kraft Zellwände und Organismen um sich herum zu konstruieren.

Damit erweist sich auch die Vorstellung von der DNA als oberster Steuerungseinheit des Organismus als Fiktion. So müssen die realen Gene, also jene Abschnitte des DNA-Strangs, die an der Produktion von Proteinen beteiligt sind, eine ganze Reihe von Prozeduren durchlaufen, bis am Ende ein Protein entsteht. Zunächst muss der DNA-Doppelstrang zu RNA aufgespalten werden. Dann wird von der RNA eine „Kopie“ (das so genannte Primärtranskript) gemacht. Diese wird weiter bearbeitet, in Stücke zerlegt, manche Teile aussortiert, der Rest neu geordnet und zusammengesetzt, wobei unterschiedliche Varianten der Neuzusammen­setzung möglich sind – das ursprüngliche Gen ist also nicht nur auf die „Mitarbeit“ der anderen Zellbestandteile angewiesen, sondern auch weit davon entfernt dafür zu sorgen, dass ein bestimmtes Protein gebildet wird. Die Zelle wirkt auch aktiv daran mit, eventuelle „Fehler“ des Genoms auszugleichen, wie sich z.B. bei Experimenten zeigte: So wuchsen aus Eizellen, bei denen (am Aufbau vermeintlich lebenswichtiger Enzyme beteiligte) Abschnitte der DNA entfernt worden waren, trotzdem lebensfähige und offensichtlich gesunde Tiere heran.

Die phänotypischen Merkmale sind also nicht als bloße Widerspiegelung einer im Genotyp enthaltenen „Information“ zu begreifen, sondern eher als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, an dem eine Vielzahl von wechselwirkenden Faktoren beteiligt ist. Nehmen wir nur die Fähigkeit schnell zu rennen: Diese scheinbar so einfache Eigenschaft hängt unter anderem vom Knochenbau ab, von den Muskeln, von der Leistungsfähigkeit von Herz und Lungen usw. Es ist also nicht nur ein Gen, ein Protein, ein Organ daran beteiligt, sondern das Ergebnis „Geschwindigkeit“ ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel einer langen Reihe von Genen, Proteinen und Organen. Zutreffend wäre also höchstens, dass ein Tier in Ermangelung eines bestimmten Gens unfähig zum schnellen Laufen würde (weil ihm z.B. alle Knochen brechen würden, wenn es zu rennen anfängt) – was nicht ganz dasselbe ist wie ein Gen für schnelles Laufen.

Gene machen Krieg

Obwohl der „genetische Determinismus“ also auf wackeligen Beinen steht, ist er als Theorieansatz innerhalb der Biologie und Medizin immer noch vorherrschend. Nicht zuletzt werden entsprechende Forschungsprojekte von privater und staatlicher Seite immer noch überpro­por­tional gefördert. Aber auch die Aussicht auf gute Publicity dürfte die Wis­senschaftler_innen mit­­unter leiten: Meldungen über die Entdeckung angeblich genetischer Ursachen z.B. von „Aggression“ oder „Kriminalität“ sorgen eben für mediale Aufmerksamkeit. Berichte dieser Art wurden in den letzten zwei Jahr­zehn­ten immer wieder von der Presse kolportiert. In den entsprechenden Artikeln nahm meist ein Gen eine zentrale Rolle ein, das an der Produktion des Enzyms Monoaminooxidase-A (MAOA) beteiligt ist. Die These lautete nun, eine Mutation dieses Gens – das so genannte MAOA-L-Gen – könnte die Ursache für Kriminalität sein.

In einer kürzlich veröffentlichten Studie meinten neuseeländische Wissenschaft­ler_innen, Menschen mit dem MAOA-L-Gen hätten eine erhöhte Neigung, sich kriminellen Banden anzuschließen. Nun ist dieses Gen bei ca. einem Drittel aller Männer zu finden, wovon die meisten niemals Mitglied einer Gang waren. Zudem ergebe sich, so die Forscher_innen, die erhöhte Neigung zur Kriminalität erst dann, wenn die betreffenden Personen zusätzlich in ihrer Kindheit misshandelt oder missbraucht wurden. Von der Übermacht der Gene bleibt nur die schöne Schlagzeile.

Es geht hier aber nicht nur um einen Formfehler in der Darstellung der Ergebnisse. Das Problem besteht vielmehr darin, dass komplexe Handlungsmuster wie „Aggression“ oder „Kriminalität“ ebenso als phänotypische Merkmale behandelt werden wie z.B. die grüne oder blaue Augenfarbe eines Menschen. Nur ist „Kriminalität“ kein einheitliches Phänomen – einen Ladendiebstahl und einen Mord verbindet nur, dass es sich bei beiden um sozial unerwünschte und gesetzlich verbotene Verhaltensweisen handelt. Auch „Aggression“ ist keine Eigenschaft, sondern eine Form der Interaktion innerhalb eines sozialen Zusammenhangs. Es ist Unfug, das Ver­halten von Familienvätern, die Frau und Kinder schlagen, mit dem von Streikenden, die mit der Polizei kämpfen, unter den Sammelbegriff „Aggression“ zu packen und dann zu meinen, man hätte ein einheitliches Phänomen vor sich – unter diesem Blickwinkel ließe sich selbst der 2. Weltkrieg als übergroße Kneipenschlägerei verstehen.

Dass dies eine eher absurde Sichtweise ist, fällt auch manchen Soziobiolog_innen auf. Sie variieren das Motiv etwa folgender­maßen: Natürlich gibt es auch andere Gründe, aber ein bisschen Schuld hat auch die Natur. So sagt es z.B. der österreichische Biologe Franz Wuketits: „Vielmehr erklärt sich dieses Ereignis [der 2. Weltkrieg] aus einem Komplex von Faktoren, wozu Demagogie, Indoktrinierbarkeit, Ideologie und ökonomische Unsicherheit gehören. Wäre aber der Mensch von Natur aus gut, ohne jede Neigung zu Aggression und Gewalt, dann allerdings wäre dieses schreckliche Ereignis kaum zu erklären.“

Ein interessanter rhetorischer Winkelzug: Im ersten Satz nennt Wuketits einige ökonomische, ideologische und politische Faktoren, die mögliche Motive für aggressives Verhalten sein könnten. Im zweiten Satz macht er dann (mit der „Neigung zu Aggression und Gewalt“) die Aggression selbst zum Motiv, indem er sie in diese Reihe einordnet. Diese „Beweisführung“ läuft auf eine bloße Floskel hinaus: Aggressives Verhalten kommt eben von der Aggression. Das zu erklärende Phänomen wird also einfach nur verdoppelt – das aggressive Verhalten wird der „Aggression“ als einer im Menschen wirkenden Triebkraft zugeschrieben.

Versuchen wir es mal mit Vernunft: Natürlich können Menschen aggressiv werden (sonst gäbe es tatsächlich keine Kriege). Aber sie werden nicht wegen dieser Fähigkeit zur Aggressivität aggressiv, sondern aus bestimmten Ursachen und Motiven. So muss man z.B. ein Rassist sein, um sich von der Hautfarbe eines entgegenkommenden Passanten zu aggressivem Verhalten bis hin zum Totschlag provoziert zu fühlen. Das Motiv kommt an erster Stelle, die Aggression stellt sich erst hinterher ein, und sie ergibt sich nicht aus den Genen, sondern aus dem sozialen Kontext.

Nicht nur Soziobiolog_innen haben dieses Verständnisproblem. So ist es in der so genannten neorealistischen Schule der Politikwissenschaft üblich, zwischenstaatliche bewaffnete Konflikte aus einer aggressiven „menschlichen Natur“ zu erklären. Diese Argumentation unterstellt nicht nur, dass staatliches Handeln nur den Willen der Untertanen exekutiert. Sie hat damit auch eine eindeutige ideologische Entlastungsfunktion: Wenn Staaten Krieg führen, dann geben sie ihren Untertanen nur Gelegenheit, ihre archaischen Triebe auszuleben, während in Friedenszeiten die staatliche Herrschaft dazu dient, diese (sich etwa in „kriminellem“ Verhalten äußernden) Triebe auf ein sozialverträgliches Maß zu regulieren.

Selbst kluge Menschen wie Albert Einstein und Sigmund Freud konnten sich (in ihrem unter dem Titel „Warum Krieg?“ veröffentlichten Briefwechsel) Kriege nur als Ausdruck eines allgemein-menschlichen Hangs zur Aggression erklären. Auch sie verstanden also nicht, wozu es die Institution der Armee mit ihren Hierarchien, Befehlsketten und harten Disziplinarmaßnahmen braucht: Nämlich um dafür zu sorgen, dass die Soldaten auch dann andere Leute töten, wenn sie selbst gerade nicht wütend sind – also um einen immer möglichen Mangel an Aggression auszugleichen.

Man sieht: Gute Sachkenntnis auf einem Gebiet bedeutet nicht, dass man auch sonst Ahnung hat. Wie Albert Einstein von Physik mögen auch die Soziobiolog_innen viel von Biologie verstehen – das hindert sie nicht, auf gesellschaftlichem Gebiet lieb gewonnene Allgemeinplätze zu reproduzieren und alle möglichen Sachverhalte unhinterfragt einfach als gegeben zu betrachten.

Trennlinien

Solche unhinterfragten Vorannahmen wirken auch auf die vermeintlich „objektive“ wissenschaftliche Arbeit zurück. Sie bestimmen oft genug, welche Gegenstände über­haupt als „interessant“ wahrgenommen werden und mit welchen Fragestellungen mensch sich diesen nähert. So wie wir im Alltag ständig eine Unmenge an Details aus unserer Wahrnehmung ausblenden müssen, um überhaupt etwas Bestimmtes wahrnehmen zu können, steht jede Wissenschaft vor dem Problem, aus den unmittelbaren „Na­tur­gegebenheiten“ alle bloß zufälligen Störfaktoren herauszufiltern, um die eigentlichen Regelmäßigkeiten erkennen zu können.

Mitunter ist es aber schwierig zu entscheiden, was an einem Phänomen wichtig ist. Der menschliche Körper z.B. ist einfach ein komplexes Gebilde, an dem sich durch Wissenschaft und Technik problemlos Millionen von Merkmalen finden lassen – die Frage ist, welche davon irgendwie bedeutungsvoll sind. Rassisten picken sich einfach die Merkmale heraus, die ihnen für ihr Interesse (sich von anderen Men­schengruppen abzugrenzen) nützlich erscheinen. Das heißt nicht, dass sie Recht hätten, sondern nur, dass sie eben Rassisten sind. Es ist z.B. naheliegend, dass sich bei dunkelhäutigen Menschen auch Gene finden lassen, die für ihre Hautfarbe verantwortlich sind. Eine Aussagekraft hat das aber nur, wenn man Rassist ist, also Hautpigmente für eine unheimlich wichtige Sache hält.

Nehmen wir als weiteres Beispiel mal das Sarrazin´sche „Juden-Gen“: Sarrazin berief sich dabei auf eine von der New York University durchgeführte Studie, bei der angeblich große genetische Gemeinsamkeiten zwischen orientalischen, osteuropäischen und aus Spanien und Portugal stammenden Juden festgestellt wurde. Diese Forschungsergebnisse mögen durchaus zutreffend sein – die Frage ist nur, was für Schlüsse man daraus zieht.

So ist es z.B. Unsinn, wenn Professor Harry Ostrer, der Leiter des Forschungsprojekts, meint: „Unsere Befunde zeigen, dass es eine genetische Basis für das Jüdischsein gibt.“ Dabei verwechselt Ostrer leider Ursache und Wirkung: Nicht die Gene sind die Basis des „Jüdischseins“, sondern das „Jüdischsein“ schlägt sich auch in der DNA nieder. Die Untersuchungsergebnisse bestätigen also nur, was man auch so schon wusste: Dass es die soziale Gruppe der „Juden“ gibt, die durch gemeinsame Religion und Traditionen ebenso wie durch den Druck einer oftmals feindlichen Mehrheitsgesellschaft zusammengehalten wurde, weswegen die Angehörigen dieser Gruppe auch eher untereinander sexuelle Beziehungen eingingen. Daraus ergeben sich die genetischen Gemeinsamkeiten, die also die Folge, nicht Ursache der Gruppenbildung sind.

Solche Unterscheidungen sind mehr als eine bloße Spitzfindigkeit. Denn gerade die angebliche „Natürlichkeit“ der Gruppenzuge­hö­rig­keit dient immer wieder als Begründung, um Menschen entsprechend dieser vermeintlich natürlichen Ordnung der Dinge zu sortieren, für Vertreibungspolitik und Diskriminierung. Dies mag nicht die Absicht der meisten Soziobiolog_innen sein, so wenig wie es ihre Absicht sein dürfte, Kriege oder kapitalistische Konkurrenz zu rechtfertigen. Aber eben dies ist der Effekt, wenn man sich die falschen Verhältnisse mit falschen Mitteln zu erklären versucht – also hinter jedem sozialen Phänomen eine biologische Ursache wirken sieht. Und es ist kein Wunder, dass solche „Erklärungen“ den Sarrazins dieser Welt nur allzu gut in den Kram passen.

(justus)

Verwendete Literatur:
Richard Dawkins, „Das egoistische Gen“, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg; Berlin; Oxford, 1994
Steven Rose, „Darwins gefährliche Erben – Biologie jenseits der egoistischen Gene“, C.H. Beck München, 2000
Heinz-Jürgen Voß, „Making Sex Revisited – Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive“, Trans­cript Verlag Berlin 2010
Franz M. Wuketits, „Soziobiologie – Die Macht der Gene und die Evolution sozialen Verhaltens“, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg; Berlin; Oxford, 1997

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