Südafrika: Ende der Verhandlungen

Die Folgewirkungen des so genannten Marikana-Massakers haben das normale Verhandlungsverfahren hinweggefegt und die Schwäche der etablierten Gewerkschaften deutlich gemacht“ – so schreibt die Nachrichtenagentur Reuters. (1) Treffender kann man es kaum ausdrücken: Südafrika wird momentan von einer Welle der Arbeiterunruhe überrollt. Rund 100.000 Minen­arbeiter_innen sind derzeit im wilden Streik und bringen damit nicht nur die Weltmarktpreise, sondern auch das eta­blierte politische Machtgefüge ins Wanken.

Das Herrschaftspersonal bemüht sich entsprechend eifrig, die Lage wieder unter Kontrolle zu bekommen. Vertreter des Gewerkschaftsdachverbands COSATU (Congress of South African Trade Unions) fanden sich zu Krisensitzungen mit den großen Minenunternehmen zusammen. Der südafrikanische Präsident Jacob Zuma gab einigermaßen hilflose Statements ab, verurteilte die Ausschreitungen und Zerstörungen von Eigentum und rief die Arbeiter_innen auf, die Streiks zu beenden.

Diese Entwicklung war noch nicht abzusehen, als am 16. August 2012 schwer bewaffnete Polizeieinheiten anrückten, um das von Streikenden besetzte Gelände der Platinmine Marikana zu räumen. 34 Arbeiter_innen wurden bei dem Einsatz erschossen, weiter 78 verletzt. Ein Sprecher der Kommunistischen Partei Südafrikas (SACP), die seit 1994 zusammen mit dem ANC und dem COSATU die Regierung stellt, lobte hinterher das tapfere Vorgehen der Polizei.

Die National Union of Miners (NUM, Nationale Bergarbeiterunion) machte vor allem die linke Splittergewerk­schaft (AMCU) für die Eskalation verantwortlich – eine Interpretation, die von der nationalen und internationalen Presse weitgehend unhinterfragt übernommen wurde.

Die NUM hatte unter den Minen­arbeiter_innen lange Zeit ein unangefochtenes Monopol inne und müht sich nun verzweifelt, ihren schwindenden Einfluss zu bewahren. Als größte Gewerkschaft Südafrikas dominiert sie nicht nur den COSATU, sondern ist auch sonst eng mit dem Establishment verbunden: Viele frühere Funktionäre der NUM nehmen heute Führungspositionen beim ANC oder in der kommunistischen Partei ein. Und der ehemalige NUM-Vorsitzende Cyril Ram­phosa sitzt heute im Vorstand von Lonmin – des Unternehmens, das auch die Mine in Marikana betreibt.

Die AMCU (Association of Mineworkers’ and Construction Union) hatte sich 1998 von der NUM abgespalten und wird von dieser als unliebsame Konkurrenz betrachtet. Sie profitiert unbestreitbar von den derzeitigen Unruhen und der Schwäche der NUM. Allerdings ist auch die AMCU weit davon entfernt, die Streiks zu kontrollieren.

Zu diesem Schluss kommt der Industrieberater Gavin Hartford, der eine lesenswerte Analyse der Ereignisse verfasst hat (2). Darin betont er den autonomen Charakter der Kämpfe: „Trotz allem, was wir in der Presse lesen, gibt es keinen klaren Hinweis darauf, dass die AMCU oder irgendeine dritte Partei die Arbeitskämpfe geplant oder initiiert hätte. Tatsächlich ist es ein zentrales Merkmal dieser Kämpfe, dass sie von den Arbeitern für die Arbeiter, gegen den Rat ihrer Gewerkschaften und ohne jede gewerkschaftliche Unterstützung geführt werden.“

Als treibende Kraft unter den Minen­arbeiter_innen macht Hartford dagegen die Rock Drill Operators aus, also jene Arbeiter, die unter Tage die schweren Bohrhämmer bedienen. Diese, so Hartford, „machen den härtesten, gefährlichsten, kritischsten Teil der Produktion, die eigentliche Abbau-Arbeit; sie haben eine seit langem bestehende Wahrnehmung, im Vergleich zu ihren Kollegen unterbezahlt zu sein. In der Platinindustrie gibt es typischerweise keine Leistungszuschläge […] oder andere nennenswerte Zuschläge und somit kaum einen wirklichen finanziellen Anreiz, die Arbeit mit den Bohrhämmern zu übernehmen. […] Die Rock Drill Operators zeigen ein spezifisches demographisches Muster […] welches sie von ihren Kollegen abgrenzt: sie sind fast alle Arbeitsmigranten und praktisch analphabetisch; zu 80% sind es südafrikanische Wanderarbeiter vom Eastern Cape […] Sie haben eine lange Arbeitserfahrung von 25 bis 35 Jahren und sind meist zwischen 45 bis 55 Jahre alt.”

Die Unzufriedenheit der Rock Drill Operators über ihre vergleichsweise schlechte Bezahlung spielte bei den Kämpfen in Marikana eine zentrale Rolle – dort forderten die Arbeiter eine Verdreifachung ihres Lohns, der bei umgerechnet etwa 380 Euro lag. Und aus der gefährlichen und harten körperlichen Arbeit ergibt sich eine erhöhte Bereitschaft zu militantem, auch gewalttätigem Vorgehen. Dies zeigte sich bereits im Februar 2012 – damals kam es in der Platinmine von Impala Platinum zu einem wochenlangen Streik, der als Startpunkt der derzeitigen Entwicklung gelten kann. Anlass der Unruhen war eine plötzliche 18%ige Lohnerhöhung für die Vorarbeiter, mit der die Unternehmensleitung Abwerbungen durch andere Unternehmen vermeiden wollte. Das löste bei den Rock Drill Operators Unmut aus, welcher sich besonders gegen die NUM richtete. Die Gewerkschaft hatte bei Tarifverhand­lungen kurz zuvor Sonderzuschläge für die RDOs abgelehnt, außerdem waren die meisten Vorarbeiter NUM-Funktionäre – es lag also der Verdacht nahe, die Gewerkschaft wolle vor allem die eigene Klientel bedienen. Die Rock Drill Operators begannen einen Streik, dem sich bald der Großteil der Belegschaft anschloss. Es kam zu Angriffen auf NUM-Funktionäre, das Gewerkschaftsbüro auf dem Gelände konnte wochenlang nicht geöffnet werden. Nach dem Streik traten etwa 10.000 Arbeiter_innen aus der NUM aus und größtenteils der AMCU bei. Schon damals warf die NUM-Führung der AMCU vor, sie habe den Streik und die Übergriffe angezettelt. Die AMCU wies jedoch jede Verantwortung von sich (3).

Auch das Massaker von Marikana hat die Militanz der Arbeiter_innen nicht gebrochen. Ganz im Gegenteil weiteten sich die Kämpfe immer mehr aus. Nach monatelangen Unruhen erreichten die Arbei­ter_innen von Marikana im September eine Lohnerhöhung von 11 bis 22%. Gleichzeitig kam es nun auch bei anderen Unternehmen zu wilden Streiks – etwa bei Amplats, zunächst in vier Minen nahe der Stadt Rustenburg. Später breiteten sich die Unruhen auf drei weitere Minen aus. Amplats ist der größte Platinproduzent weltweit, die sieben bestreikten Minen liefern in Normalzeiten ein Viertel des weltweit geförderten Platins. Seit August sind die Platinpreise an den Börsen um 22% gestiegen.

Zugleich wurde die Militanz der Minen­arbeiter_innen und deren spektakuläre Erfolge zum Auslöser für weitere autonome Arbeiter_innenkämpfe. Die wilden Streiks haben sich mittlerweile nicht nur auf die Gold- und Diamanten- und Eisenerzminen ausgeweitet. Auch in einer Zulieferfabrik von Toyota gab es wochenlange Unruhen und Arbeitsniederlegungen, und Ende Oktober traten selbst die Angestellten der Kommunen in den Streik. Das trifft nicht nur die südafrikanische Wirtschaft hart (die Unruhen haben bislang Gewinnausfälle in Höhe von 6% des Bruttoinlandsprodukts verursacht). Es bringt auch die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse gehörig ins Wanken. Wo das hinführt, bleibt abzuwarten – in der jetzigen historischen Situation ist so gut wie alles möglich.

justus (24.10.12)

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