the (konter)revolution will not be motorized

Der Beifahrer des weiß-grünen Autos neben mir leierte die Scheibe herunter und bat mich höflich anzuhalten. Ich betätigte vorsichtig den Rücktritt und kam langsam hinter ihnen zum Stehen. Die beiden Uniformträger stiegen aus und ich hörte den Fahrer schon von weitem irgendwas gegen Radfahrer brabbeln. Ich rollte innerlich die Augen in böser Vorahnung. Zum Glück wollte… äh, konnte ich mich nicht aus­­weisen und so bekam ich nur den beliebten „Schuß vor’n Bug“: „Ein Autofahrer wäre bei ‘ner roten Ampel gleich mal einen Monat seinen Führerschein los!“ meinte er sichtlich parteiisch. Ich nickte brav und erklärte auf Nachfrage des anderen Polizisten, daß meine empirischen Beobachtungen mich zu der Annahme brachten, die Ampel würde eine halbe Sekunde später auf grün schalten. „Letzte Woche auf der Fahrraddemo ham se gesagt, daß Radfahrer ja die seien, die sich an die Regeln halten … „ sagte er sichtlich stolz über den soeben erbrachten Beweis, daß eben doch die Radfahrer das Übel sind. Ich ließ ihn lieber im Unklaren darüber, daß ich einer der Teilnehmer_innen der Demo war und die dor­tige Distanzierung von den schwarzen Schafen (zu denen ich mich gerne zähle) schon vernommen habe. Doch langsam, welche Fahrraddemo überhaupt?

 

Am Mittwoch, dem 28.Oktober 2009, fand eine vom StudentInnenRat Leipzig organisierte Fahrraddemonstration statt, die auf die fahrradunfreundlichen Bedingungen des hiesigen Straßenverkehrs aufmerksam machen sollte. Etwa 350 Fahrräder rollten gemächlich und unter dauerndem Klingeln vom Connewitzer Kreuz die Karl-Liebknecht-Straße entlang zum Petersteinweg, auf dem sie eine etwas andere Zwischenkundgebung abhielten und mit bunter Straßenmalkreide ihren Forderungen auf dem grauen Asphalt Ausdruck verliehen. Anschließend ging es kurz über den Ring und ab dem Augustus­platz wurde durch die radverkehrfreien Zonen bis zum Neuen Rathaus geschoben, vor dem die Abschlußkundgebung stattfand. Dort echauffierte sich dann vor allem der ehemalige StuRa-Sprecher Sven Deichfuß hauptsächlich über die Fahrradverbote in der Innenstadt, welche angeblich in keines Menschen Interesse wären und nur der Idiotie der Stadtoberen entsprängen. Idiotie und Irrsinn waren überhaupt seine vorherrschenden Argumente – auf die Idee, daß hinter Fahrradverboten im Speziellen und der Verkehrspolitik im Allgemeinen auch schlichte ökonomische Interessen (bspw. der Innenstadt-Geschäfts­be­trei­ber_innen) stecken können, kam er wohl nicht. Wie auch, wenn Radfahren in der Argumentation von vornherein immer nur als rein positiv besetzte Prämisse vorkommt, welches geradezu alles Gute auf Erden vereint und – wenn wir nur alle radfahren würden – auch das Hungerproblem in Afrika lösen und endlich den Weltfrieden bringen würde?! Zudem skandalisierte er neben der Innenstadtpolitik noch die polizeiliche Repression gegenüber den Rad­ak­ti­vist_innen der Critical Mass (CM), auf die im zweiten Teil dieses Artikels eingegangen werden soll. Dieser Repression dichtete er gleich mehrere gegen Fahrrad­fahrer_innen gerichtete Maschinenpistolen an und rief es mehrfach in die Menge hinaus, die sich allerdings nicht dadurch aufheizen ließ.

Im Anschluß kam glücklicherweise noch Katharina Krefft von Bündnis 90/Die Grünen zu Wort, die sachlich auf die insgesamt beklagenswerten rechtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen des nicht motorisierten Verkehrs hinwies und ein grundsätzliches Umdenken forderte. Trotz ihrer Parteizugehörigkeit hatte sie einige vertretbare (wenn auch realpolitische) Sachen zu sagen und zeigte neben dem Hinweis auf das gravierende Problem fehlender Radwege bzw. Radfahrstreifen stellvertretend politische Handlungsmög­lich­keiten auf, wie etwa Haus­besit­zer_innen gesetzlich zur Bereitstellung von Abstellmöglichkeiten zu verpflichten; als eine Maßnahme um Radverkehr allgemein zu fördern und die Bedingungen für einen Ver­­kehrswandel grundlegend zu verbessern.

Nach diesen zwei doch sehr unterschiedlichen Redebeiträgen wurden noch einmal die zentralen Forderungen des offenen Briefes (1) verlesen, den mehr als 1.000 Menschen unterzeichnet hatten und sogleich einem Vertreter der Stadt im Rathaus überreicht. Was der sich wohl beim Lesen der Forderungen u.a. nach einer Karl-Liebknecht-Fahrradstraße und einem Tempo-30-Gebot im gesamten Stadtgebiet gedacht hat?! Stellenweise vielleicht sogar dasselbe wie ich – nämlich daß durch Verdrängen von PKW und LKW von einer Hauptverkehrsader in die noch ruhigen, lebenswerten und radfahrsicheren Seitenstraßen ohne ein verkehrsveränderndes Gesamtkonzept rein gar nichts gewonnen ist, eher im Gegenteil. Ebenso mit Tempo-30 – wer will schon noch langsamere Autos und somit noch mehr Abgas, noch mehr Stau, noch mehr Frust im Verkehr?! Und wahrscheinlich kam er sich vor wie in Tarifverhandlungen – Utopisches fordern, um ein Minimum zu erreichen. Dieses Minimum allerdings ist teilweise doch noch sehr vernünftige und beinhaltet sicher für jede_n Leipziger Radfahrer_in nachvollziehbare Forderungen nach ganz konkreten Radfahrstreifen, Ampelanlagen und anderen Maßnahmen in besonders befahrenen und berüchtigten Straßen der Stadt.

Daß sich gar nichts tut von städtischer Seite, der Eindruck sollte indes nicht aufkommen! Rühmt sich die Stadt doch mit innovativen Errungenschaften wie dem Aufstellen von 500 „Leipziger Bügeln“ allein in der Innenstadt (2). Ja, vor allem dort, wo mensch das Rad zum Anschließen erst einmal hinschieben muß.

Die Demonstration gegen diese Zustände war alles in allem eine gelungene Aktion, die aber mehr Potenzial gehabt hätte. Die auch etwas mehr Publicity schon im Vorfeld hätte gebrauchen können, erfuhren viele radaffine Menschen doch erst hinterher von dem Protest. Viel Raum auch in der Analyse und Bewertung ökonomischer und ökologischer Fragen, denn dort gibt es noch einiges zu tun. Das Herunterbeten von Vorteilen des Radfahrens (bspw. für das Klima) nutzt am Ende genausowenig etwas wie die Forderung nach einer Problemverdrängungspolitik. Denn solange Standortlogik und Ver­wertungsdenken die (Verkehrs)Politik der Stadt bestimmen, solange lässt sich weder mit angemeldeten Demonstrationen wie dieser als auch mit trendigeren, alternativen Aktionen wie der Critical Mass viel ausrichten.

Critical Mass – Eine kritische Masse?

Mehr als 15 Radfahrer_innen können in der Bundesrepublik laut § 27 StVO einen geschlossenen Verband bilden. Sie dürfen dann paarweise eine gesamte Fahrspur benutzen, bei roter Ampel dem_der noch bei Grün gefahreren Verbandsführer_in folgen und sind nicht mehr auf Radwege gezwungen. Nutzen tun diese Sonderregelung im Verkehrsrecht nicht nur Schulklassen auf Landerkundungstour, der Sonntagsausflug des Kleintierzüchterverbandes oder eine Anti-AKW-Fahrradkarawane, sondern rechtlich abgesichert auch Rad­fahr­er_innen der Critical Mass:

„Es handelt sich um eine friedliche Protestform, bei der sich scheinbar zufällig und unorganisiert Fahrradfahrer an einem bestimmten Ort treffen um gemeinsam eine Strecke durch ihre Stadt zu fahren. Mit ihrem Auftreten als Masse wollen sie auf ihre Rechte im Straßenverkehr aufmerksam machen.“ (3)

Erste Massenradfahrten mit Protestcharakter fanden schon in den frühen 70er Jahren in Stockholm und ab 1990 mehr als 10 Jahre lang wöchentlich in Wien unter dem Namen „Radfahren am Freitag“ (RaF) statt. Ziele des Protestes waren auch damals schon eine Verbesserung der Bedingungen für den Fahrradverkehr, Förderung ökologischer Politik, sowie überhaupt ein Bewußtmachen der Existenz und Interessen von Radfahrer_innen im kraft­fahr­zeugdominierten Verkehr, nach dem Motto: „Wie blockieren nicht den Verkehr, wir sind der Verkehr!“

Trotz dieser gleichen Ziele und strukturellen Merkmale wie das Fehlen einer Anmeldung und eines Verantwortlichen oder einem Ziel wird der Ursprung der heutigen Critical Mass in San Francisco verortet. Dort fand im September 1992 unter dem Namen „Commute Clot“ (4) durch 48 Teilnehmer_innen eine vorher durch Flugblätter beworbene Fahrt in einen nahen Fahrradladen statt, in dem die Dokumentation „Return of the Scorcher“ von gezeigt wurde. In dem Film erzählte der Fahrraddesigner George Bliss, daß sich in China Auto- und Rad­fahrer_innen an Kreuzungen ganz ohne Signale verständigen. Der Radverkehr staut sich solange auf, bis eine „kritische Masse“ erreicht wird und diese dann quasi automatisch und gefahrlos die Kreuzung passiert. Der Begriff „Critical Mass“ ersetzte bei der zweiten Fahrt das „Commute Clot“ und seitdem bezeichnen sich regelmäßige Massenfahrten in über 300 Städten quer über den Erdball so. In den meisten dieser Städte fahren monatlich (traditionell am jeweils letzten Freitag) zwischen 20 und (mehreren) hundert Menschen gemeinsam Rad. Höhepunkte sind die zweimal im Jahr stattfindenden Fahr­rad­umzüge in Bu­dapest, wo zuletzt 80.000 Menschen zeitgleich in die Pedalen traten.

Aber es gibt auch andere Höhepunkte der Critical Mass. Ein solcher war zweifelsohne die Critical Mass zur Republican National Convention 2004 in New York. Bei den rollenden Protesten gegen die alle vier Jahre stattfindende Parteiversammlung der Republikaner sperrte die New Yorker Polizei ganze Straßenzüge für Radfahrer_innen und ging mit einiger Härte gegen sie vor. 264 Personen wurden festgenommen und hunderte Räder beschlagnahmt. Es war eine in diesem Ausmaß noch nicht dage­wesene Repression gegen fast 5.000 Menschen, die nur friedlich gegen die damalige Politik George W. Bushs und dessen erneute Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten radeln wollten. Aber auch bei kleineren und unbedrohlichen CMs reagieren die Gesetz­es­hüter – meist durch Unwissen – nicht gerade rechtskonform und angemessen auf das monatliche Radfahren.

So geschehen auch diesen Sommer in Leipzig. Die Critical Mass wachte gerade wieder aus dem Winterschlaf auf, fuhr im April mit etwa 60 Leuten eine angenehme Runde und wollte dies am 29. Mai wiederholen. Die abermals relativ große Gruppe wurde nach einiger Verfolgung durch die Polizei rüde gestoppt, ein Teilnehmer brutal vom Rad gezogen. Personalien wurden aufgenommen und knapp 3 Monate später Bußgeldbescheide an mind. 25 Teil­nehmer_innen wegen Überfahrens einer roten Ampel verschickt. Es folgten CMs im Juni und Juli (5), an denen die Polizei filmte und durch ihre massive Präsenz weiter Druck machte. Im August war sogar ein Kamerateam des MDR vor Ort und filmte die Schikanen, die neben übermäßigen Kontrollen der Verkehrstüch­tigkeit der Räder auch noch dazu führten, daß sich ein Mensch bereiterklärte, der unrechtmäßigen Forderung nach einem Verantwortlichen nachzugehen und seine Personalien hergab. Der erste Schritt war also gemacht. Den zweiten setzte der Leipziger Polizeipräsident Wawrzynski schon vorher an, indem er die Rad­fahrer_innen zu Gesprächen bat, welche nach der CM im August stattfanden. Man einigte sich auf eine „Zusammenarbeit“ mit der Staatsgewalt, indem man der haltlosen Forderung, immer einen Verantwortlichen für’s Radfahren zu benennen, nachkam. Im Gegenzug begleitet die Polizei die Critical Mass nur noch mit minimalem Aufgebot, hat aber immer schön ein Auge auf und so letztlich die Kontrolle über sie.

Eine „legale Critical Mass“ – ein Widerspruch in sich, möchte man meinen. Doch scheinbar geht es den aktuellen Leipziger CMler_innen nicht um den oben erwähnten Protest oder den subversiven Charakter ihrer Aktion, auch wenn sie sich durch den Pakt mit dem Teufel den Status einer politischen Versammlung zugestehen. Ein Schlag in’s Gesicht derjenigen jedenfalls, die die Critical Mass wegen ihres politischen Anspruchs, der anarchistischen Organisationsform und der damit verbundenen Hoffnung auf Veränderung wegen kennen und lieben lernten. Und sei es nur die Hoffnung auf die Solidarität und Verbundenheit der radfahrenden Klasse, deren Befreiung vom Joch des motorisierten Verkehrs nur ihr Werk selbst sein kann. In diesem Sinne halten wir’s doch mit einem Kreidezitat von der Leipziger Raddemo:

„Radfahrer aller Länder vereinigt euch! Ihr habt nichts zu verlieren außer eure Ketten!!“

 

shy

 

(1) Zu finden und noch online zu unterzeichnen unter www.stura.uni-leipzig.de/stura-cms/1467.html

(2) Siehe: www.leipzig.de/de/buerger/stadtentw/verkehr/rad/

(3) cmleipzig.blogspot.com/

(4) Frei übersetzt in etwa „Pendelgerinnsel“ – da die Pedalritter_innen den zähesten Verkehr in der Pendelzeit (Rush Hour) benutzten, um dann einem Gerinnsel gleich Verkehrsadern zu verstopfen.

(5) Hier hatte einer der Beamten die mitt­lerweile berühmt-berüchtigte Maschinenpistole umhängen, während er neben seinem Fahrzeug der Bereitschaftspolizei stand. Die Polizei erklärt das Bild damit, daß dieser zur Nachtschicht eingeteilt war und diese insb. des Diskokriegs wegen stärker bewaffnet ist, diese Waffen aber nicht einfach abgelegen dürfen.

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