Verschlafen intervenieren

Jan Ole Arps: „Frühschicht – Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren“

Es scheint ewig her zu sein, dass sich die deutsche Linke mal für´s Proletariat interessierte, aber „was heute kaum vorstellbar klingt, war Anfang der 1970er Jahre weit verbreitet (…) Einige Tausend junge Linke tauschten den Seminarstuhl gegen die Werkbank ein, um sich mit den Arbeitern am Fließband zu vereinen.“ Nach dem Abflauen der 68er-Revolte schien der Gang „vom Seminar in die Fabrik“ neue Perspektiven für die studentische Linke zu eröffnen.

In seinem Buch „Frühschicht“ will Jan Ole Arps die Geschichte dieser Fabrikinter­ventionen der 70er Jahre nachzeichnen. Bei seiner Rekonstruktionsarbeit stützt er sich nicht nur auf Dokumente aus dieser Zeit, sondern vor allem auf Interviews mit ehemaligen Aktiven. Die Auswahl der Interviewpartner_innen engt allerdings auch den Fokus der Untersuchung beträchtlich ein – Arps legt sich damit von vornherein auf die Perspektive der studentischen Linken fest. Eine weitere Einschränkung macht Arps, indem er sich einerseits auf die marxistisch-leninistischen K-Gruppen, andererseits auf jene sponta­neistisch-antiautoritären Gruppen fokussiert, die sich um die Zeitung „Wir wollen alles“ sammelten, wie z.B. der Frankfurter Revolutionäre Kampf, die Hamburger Proletarische Front und die Arbeitersache aus München.

Arps rückt bewusst genau diese beiden Fraktionen in den Fo­kus, weil K-Grup­pen und Spon­tis (bei aller ober­fläch­lichen Ähnlichkeit in der Praxis der Fabrikinter­vention) recht gegensätzlichen Konzepten folgten: So ging es den K-Gruppen vor allem um den Aufbau einer straff organisierten „Arbeiterpartei“ nach lenin­schem Modell – ihre Praxis beschränkte sich folglich vor allem auf klassische Agitation. Dagegen be­zogen die „Wir-wollen-alles“-Gruppen sich auf das operaistische Konzept der Klassen­autono­mie, wie es in den 60er Jahren von der italienischen Linken entwickelt worden war: Durch den Gang in die Fabrik wollte mensch sich zunächst mal selbst Klarheit über die dortigen Verhältnisse schaffen, um im zweiten Schritt in bestehende Konflikte einzugreifen, diese zuzuspitzen und so die Arbei­ter_in­nen zu selbständigen Aktionen anzuregen.

Bei aller Gegensätzlichkeit war es aber für die ML- und Sponti-Aktivist_innen eine gleich große Herausforderung, sich in den maschinellen Arbeitsrhythmus der Fabrik einzufügen. Die im Buch immer wieder eingestreuten O-Töne tragen viel dazu bei, die individuellen Erfahrungen anschaulich zu machen: die Eindrücke beim ersten Betreten der Fabrik, das Verhältnis zu den Kolleg_innen, Gefühle der Frustration ebenso wie die Formen alltäglicher Renitenz innerhalb der Arbeiterschaft.

Sehr anschaulich beschreibt Arps auch die Absurditäten, die die Mitgliedschaft in einer K-Gruppe unvermeidlich mit sich brachte: die Versuche der Aktivist_innen, sich einen „authentisch-proletarischen“ Habitus anzueignen und das aussichtslose Bestreben, die tägliche Praxis mit der vorgegebenen Parteilinie in Einklang zu bringen. Das hat man zwar schon öfter und anders­wo gelesen, trotzdem wirkt diese Selbst­­ver­leug­nung im Diens­te ei­nes völlig welt­frem­den Pro­gramms aus jetziger Perspektive immer noch befremdlich. Die Abneigung, die ein Großteil der deutschen Linken heute gegen „das Proletariat“ hegt, dürfte genau hier ihre Wurzeln haben.

Die Sponti-Gruppen, wie der Frankfurter Revolutionäre Kampf (das einstige Umfeld von Joschka Fischer), waren weniger dogmatisch. Frustrationen blieben aber auch hier nicht aus – der Fabrikalltag bot eben kein Aben­teuer, son­dern die meiste Zeit nur öde Routine. Und wo es zu größeren Aktionen kam, ging die Initiative dazu meist nicht von den Sponti-Aktiven aus. Im Opel-Werk Rüs­selsheim (wo die Frankfurter Spontis ar­beiteten) waren es eher die linksradikalen italienischen Kolleg_innen, die die Militanz in der Belegschaft förderten. Aber auch die un­­organisierten türkischen „Gastarbeiter“ spiel­ten eine große Rolle bei den Ar­beits­kämpfen, etwa bei dem wilden Streik, der im August 1973 bei Ford in Köln begann. Ein Teil des Werks wurde mehrere Tage be­setzt gehalten. Die Arbeitsniederlegung wur­de schließlich durch Streikbrecher (bzw. Zivilpolizisten und bezahlte Schläger) gewaltsam beendet.

Der Versuch, solche Konflikte „zuzuspitzen“, endete für die Aktivist_innen oft genug mit ihrer Entlassung. Während die K-Gruppen aber dank straffer Parteidisziplin eisern bei der Sache blieben, war das Ausscheiden aus dem Betrieb für viele Spontis ein willkommener Anlass, dem „beschränkten Terrain der Fabrik“ den Rücken zuzukehren. Auch diese schrittweise Abkehr zeichnet Arps nach. Viele Spontis wandten sich anderen Konfliktfeldern zu, die mehr Action und rasche Erfolgserlebnisse versprachen. Dem emanzipatorischen Gehalt der jeweiligen Auseinandersetzungen kam das nicht immer zugute: So versackten z.B. die Frankfurter Häuserkämpfe (die 1970 durch Mietstreiks und Besetzungen von „Gastarbeitern“ initiiert worden waren) unter dem Einfluss des Revolutionären Kampfs schnell in quasi-militärischen Scharmützeln von Polizei und hochgerüsteten Aktivisten. Wie die Geschichte weitergeht, sollte bekannt sein: Joschka Fischer und eine Reihe anderer RK-Akti­vist_innen beendeten ihre „revolutionäre“ Phase und begannen eine parlamentarische Karriere bei den Grünen. Andere Aktive zogen sich immer mehr in die Nischen der eigenen Subkultur oder der „Al­ternativökonomie“ zurück. Nur die verbliebenen K-Gruppen mach­ten trotz schwindender Mitgliederzahlen und staatlicher Repression weiter wie zuvor, bis sie nach 1989 in wohlverdienter Bedeu­tungs­losigkeit versanken.

Ansonsten gerieten die Fabrik und die Arbeitswelt insgesamt als zentraler Ort gesellschaftlicher Ausbeutungsverhältnisse zunehmend aus dem Fokus der Linken. Die Initiativen, die sich in den 80er Jahren noch mit diesem Feld befassten (Erwerbslosen- und Wildcat-Gruppen) werden von Arps rasch und relativ oberflächlich abgehandelt.

An dem Punkt, wo er den Bereich der historischen Beschreibung verlässt und die Frage aufwirft, was sich aus den damaligen Erfahrungen für heute lernen ließe, kommt Arps dann allerdings völlig ins Schwimmen.

Sein Fazit ist relativ klar: Das „Fabrik-Experiment“ sei insgesamt fehlgeschlagen, „gute Beispiele für heutige politische Initiativen“ seien hier nicht zu finden (S. 211). Soweit es die K-Gruppen betrifft, ist das sicher richtig. In ihrer Allgemeinheit ist die Aussage aber auch eini­germaßen banal: Revolution ist nun mal ein riskantes Unternehmen mit dem Ziel, et­was grundlegend Neues zu schaffen – dafür kann es eben kein Patentrezept geben. Und was die antiautoritäre Linke an­be­langt, so wären die Gründe des Fehlschlags zumin­dest näher zu überprüfen.

Das tut Arps nur bedingt: Indem er sich darauf beschränkt, die Einschätzungen der Ak­tivist_innen wiederzugeben, übernimmt er unbemerkt auch viele ihrer Fehl­ein­schätzungen. Eine kritische Ausein­ander­setzung mit dem italienischen Ope­raismus fehlt z.B. völlig, obwohl dieser doch der wichtigste theoretische Bezugspunkt für die „Wir-wollen-alles“-Gruppen war. Dabei übernahmen die deutschen Linksradikalen einerseits bestimmte Rezepte, die zwar im italienischen Kontext gut und richtig waren, aber sich eben nicht um­standslos auf die bundesrepu­blika­ni­schen Verhältnisse übertragen ließen. An­de­rer­seits übernahmen die Spontis dabei auch das, was schon im italienischen Kon­text falsch war: Schließ­­lich fielen gerade die ope­ra­istischen Grup­­pen, die den größten Einfluss auf die deutsche Linke hat­ten (Lotta Con­­tinua und Po­tere Ope­­raio), bald in alte Fehler zurück, be­jubelten den be­waff­neten Kampf oder übten sich im Aufbau von Avantgarde-Parteien. Ei­ne genau­ere Aufarbeitung dieses Verhältnisses der deut­­schen zur italienischen Linken leistet Arps leider nicht.

Auch, wo er sich mit den heutigen Arbeitsverhältnissen befasst, ist seine Analyse eher schwach. So übernimmt er im Großen und Ganzen die gängigen Formeln von „Post­for­dis­mus“ und „Dienstleistungsgesellschaft“. Entsprechend fällt auch sein Fazit aus: „Die Fabrik ist nicht mehr die prägende Institution, sie ist eine unter vielen“ – sie könne also auch nicht mehr der zentrale Ort des gesellschaftlichen Antagonismus´ sein. Das stimmt insofern, dass die Fabriken hierzulande heute anders aussehen als vor 30 Jahren. Das heißt aber nicht, dass die Industrie ihre strukturelle Bedeutung für die kapitalistische Wert­schöpfung ver­loren hätte. Diese lässt sich nicht allein aus der Statistik ablesen, wie Arps es ver­­sucht, wenn er darauf verweist, dass heu­­­te 65% der deut­­schen Er­werbs­tätigen in Bereichen arbeiten, „die man dem Dienst­­­leis­tung­­ssektor zu­or­d­net“. So sind die „selbständigen Programmierer“ (die Arps als Beispiel nennt) in weiten Teilen noch im­mer mit Zuarbeit für die Industrie beschäftigt – die IT-Branche macht den Großteil ihrer Gewinne mit Software zur Steuerung von Produktionsvorgängen! In ähnlicher Weise wurden viele Bereiche der Produktion ausgelagert und tauchen nun in der Statistik in der Rubrik „Dienstleistung“ auf. Diese Kategorie verschleiert also mehr, als sie etwas über die realen Veränderungen aussagt. Die Rede von der Dienstleistungsgesellschaft ist, soweit es um Deutschland bzw. Westeuropa geht, zumindest zweifelhaft – im globalen Maßstab ist sie definitiv falsch.

Aber den Anspruch, ein unumstößliches Stan­dardwerk zu schaffen, hatte Arps sicher selber nicht. Diese Einwände sollten also niemand von der Lektüre abhalten. Das Buch ist informativ, gut lesbar geschrieben, und bietet einen guten (wenn auch keineswegs vollständigen) Überblick über die Praxis der Fabrikintervention und die Debatten der 70er Jahre. Schon dafür kann man Arps dankbar sein, schließlich beleuchtet er einen Teil linksradikaler Bewegungsgeschichte, der im heutigen Rückblick gerne ignoriert wird. Und letztlich geht es ja nicht nur darum, die Geschichte aufzuarbeiten, sondern auch darum, sie fortzuführen.

justus

Jan Ole Arps, „Frühschicht – Linke Fabrikintervention in den 70er Jahren“, Assoziation A, Berlin/Hamburg 2011, 238 Seiten

Ausgelesen

Schreibe einen Kommentar