Wer erteilt wem ‘ne Lektion?

Über die SchülerInnenbewegung in Frankreich

Das Bildungswesen hat in den letzten Monaten wieder im Fokus der Politik gestanden – in Frankreich wie in der BRD. Freilich schauen die Herren und Damen Politiker dabei durch die Brille „ökono­mischer Notwendigkeiten“: im Zentrum der Angleichung der Bildungswesen in der EU steht die „Beschäftigungsfähigkeit“ der SchülerInnen.

In dem Land, in dem Louise Michel einst die Alphabetisierung der Armen betrieb, und in dem 1881 die allgemeine Schul­pflicht eingeführt wurde, trägt die aktuelle Schulreform den Namen des Bildungs­ministers: Fillon. Das „Rahmengesetz zur Zukunft der Schule“ brachte seit Mitte Januar Zehntausende SchülerInnen auf die Barrikaden, zielt der Minister doch v.a. auf Kostensenkung ab. Damit einher würden nicht nur Stellenkürzung bzw. Unter­besetzung gehen: in den Oberschulen werden 2005 7.000 LehrerInnen weniger unterrichten. Die Fillon-Reform soll auch das Fächerangebot schmälern und die Abiturstufe von 4 auf 3 Jahre verkürzen. Dabei hatte man in Paris auch an die „Dezentralisierung“ der Abiturprüfungen gedacht – Überlegungen, die auf breite Ablehnung unter SchülerInnen, Lehren­den und Eltern gestoßen sind und in den Mobilisierungen eine wichtige Rolle spielten. Befürchtet wird nämlich, dass sich mit den Abiturprüfungen auch ihre Wertigkeit ausdifferenziert und also die Ungleichheit der Ausstattung im Unter­richt im Abschluss festgeschrieben wird.

Einem landesweiten Aufruf folgten am 10. Februar, in den Ferien 100.000 SchülerInnen – die Regierung jedoch ist entschlossen, nicht nachzugeben. Ebenso­wenig sind es die SchülerInnen: während die Schulreform im Parlament verhandelt und am 24.3. auch verabschiedet wird, geht die Bewegung in die nächste Runde, die ihren demonstrativen Höhepunkt Mitte März mit 200.000 TeilnehmerInnen überschritten hatte. Die neue Aktionsform heißt Schul-Besetzung und gab der Bewe­gung den neuen Schwung, den sie brauch­te. Die Schülergewerkschaft FIDL, die der sozialdemokratischen Partei PS nahesteht und sich inzwischen für juristische Sanktionen gegen aktive SchülerInnen ausspricht, berichtet Anfang April von Bewegungen in 370 Schulen des Landes; Mitte desselben Monats werden 780 besetzte oder blockierte Schulen gezählt.

Es lässt sich für die gesamten Proteste der SchülerInnen festhalten, dass die offiziellen Verbände FIDL und UNL die Kontrolle verloren haben und die Initiative bei sogenannten Schüleraktionskomitees (CAL) gelegen hat. Die CAL hatten dazu aufgerufen, ab dem 21.3. die Schulen zu besetzen. In der ersten Aprilhälfte gehen die Aktionen weiter. Während die Zahl der DemonstrantInnen mit einigen Tausend TeilnehmerInnen in Paris auf relativ niedrigem Niveau bleibt, kommt es nun regelmäßig zu gewaltsamen Auseinander­setzungen mit den „Ordnungskräften“ der Republik. Letztere gehen nämlich nicht nur gegen Besetzungen öffentlicher Gebäude vor, sondern machen sich auf Weisung des Ministers an die Räumung bloc­kierter Schulen und zers­treuen Demon­s­trationen mit Tränengas und Gummi­knüppeln. Die Situation spitzte sich zu, als am 20.4. fast 200 SchülerInnen und auch Lehrer einen Flügel des Bil­dungs­ministeriums in Paris besetzten und allesamt in die umliegenden Polizeireviere verfrachtet wurden. Neun von ihnen hielt man noch zwei Tage darauf fest und führte sie schließlich dem Haftrichter vor: ihnen drohen Haftstrafen bis zu fünf Jahren und Geldbußen von 45.000 Euro!

Unter dem Druck der Straße waren in der Parlamentsdebatte übrigens Budget­erhöhungen gebilligt worden, die am 22.4. allerdings vom Verfassungsrat beanstandet wurden. Dieser annullierte auch zwei Artikel des Fillon-Gesetzes, darin ging es um den Bildungsauftrag der Schule und um Zielvorgaben; begründete seine Entscheidung aber mit Formfehlern des Ministeriums – so dass das Gesetz nicht in Kraft treten kann. Nach der Regierungs­neubildung infolge des EU-Referendums hat der neue Bildungsminister De Robien angekündigt, die beiden Artikel per Dekret durchzusetzen. Dies soll am 16. Juni geschehen, allerdings erst nach Absprache mit den Gewerkschaften.

Nach den Schul­ferien Ende April ist es aber nicht ge­lungen, die mas­sive Mo­bi­li­sierung aufrecht zu erhal­ten, obwohl es auch im Mai noch einige Demon­stra­tio­nen gab. Der Schwerpunkt der Aktivitäten liegt gegenwärtig auf Flugblattaktionen, sowie der Presse- und Soli-Arbeit. Denn nach Monaten des Protests hat nun die Stunde der juris­tischen Verfolgung geschlagen. Die ersten Prozesse haben schon im März und April stattgefunden. Zeitgleich begann Fillon am 12.4. einen „Dialog“ mit den offiziell anerkannten, aber marginali­sierten Ver­bän­den FIDL/UNL, die die Demos und Aktionen nicht mehr unter­stützten. Das Angebot des Ministers lautete, die Dezen­tra­lisierung des Abiturs zu verschieben.

Verhandelt werden im Gerichtssaal unter­des­sen „Beschädigung öffentlichen Eigen­tums“ und „Widerstand gegen Beamte“. In Bayonne wurden deswegen zwei Schüler zu zwei Jahren auf Bewäh­rung, 6.000 Euro Geldstrafe und 800 Arbeits­stunden verur­teilt, ein anderer soll den Wurf einer Bier­dose mit 1.000 Euro bezahlen. Insgesamt sind noch etwa 40 Verfahren anhängig, die teilweise aber erst Ende dieses oder im Laufe des nächsten Jahres eröffnet werden sol­len – so der Fall der Neun vom 20. April*. Die meiste Auf­merk­samkeit hat sicher­lich das Ver­fah­ren von Samuel Morville, eines „Rädels­führers“ der CAL und Aktivisten der Alternative libertaire, erfahren: allein wegen angeblicher Beleidi­gung eines Kommissars, und (so der Staats­anwalt) um ihm „eine Lektion [zu] erteilen“, wurden dem Schüler 500 Euro Buße und fünf Monate Bewährung auf­gebrummt. Inzwi­schen hat sich auch ein Solidaritätskomitee gegründet, das ver­schie­dene Organisatio­nen und Gewerk­schaften, aber auch Einzelpersonen versammelt: erster Ansatz­punkt ist zu­nächst die Forderung, alle juristischen Verfolgungen einzustellen, zum zweiten sollen evtl. Anwaltskosten und Bußgelder kollektiv getragen werden.

Derweil haben die SchülerInnen, die den Unterricht mehrere Wochen oder gar Monate boykottiert und den Protest organisiert hatten, nicht nur mit dem Strafgesetzbuch, sondern auch mit der Schulordnung zu kämpfen. In vielen Schulen müssen die Aktiven das Schuljahr wiederholen, oder werden im kommenden Schuljahr nicht mehr aufgenommen.

Apropos nächstes Schuljahr: die Proteste sollen im September weitergehen, sogar noch umfas­sender. Aber es ist nicht das erste Mal, dass die Sommerferien zum Grab einer Bewegung werden. Mit eben jener Parole hatte sich 2003 die Niederlage der LehrerInnen abgezeichnet.

A.E.

*) Darunter Mitglieder des Pariser CAL, der CNT und ein Lehrer, der in der SUD organisiert ist.

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