Wir kriegen nur, was wir erkämpfen

Praktische Solidarität mit MigrantInnen in Leipzig und Dresden

Sommer 2000: AsylbewerberInnen in Wohnheimen in Leipzig und Umgebung (1) streikten mehrere Wochen für bessere Lebensbedingungen: Alle Beteiligten verweigerten die Annahme der Gutscheine, Esspakete, Kantinenverpflegung, Taschengeld etc. und blockierten deren Auslieferung; Einige setzten die Nahrungsaufnahme ganz aus. Die Forderungen beschränkten sich nicht auf die Frage „Geld statt Sachleistungen“, sondern thematisierten an erster Stelle Arbeitsverbot und Residenzpflicht, sowie die allgemeinen Wohn- und Lebensbedingungen in den Heimen.

Das Ergebnis: Aufgrund der Streiks und Aktionen der MigrantInnen beschließt die Stadt Leipzig, denjenigen unter ihnen, die länger als drei Jahre im Asylverfahren sind, Bargeld auszuzahlen.

Frühjahr 2006: Noch immer erhalten alle Flüchtlinge (2) in Leipzig, die weniger als drei Jahre in der BRD leben oder eine „Duldung“ haben – deren Asylantrag also abgelehnt wurde, aber die Ausweisung nicht vollstreckt werden kann – kein Bargeld (3) für Nahrungsmittel, sondern müssen weiter­hin Esspakete aus einem Katalog beziehen.(4) Dieser hat etwa den Umfang eines besseren Tante-Emma-Ladens. Bestellt werden kann zwei Mal wöchentlich für bis zu 130 Euro pro Person und Monat, ins Asylbewerberheim kommen die Sachen ein bis zwei Wochen später. Manchmal erhält man Dinge, die man gar nicht bestellt hat, dafür fehlen bestellte Lebensmittel, oder die Lieferung kommt erst das nächste Mal. Das, was geliefert wird, ist auch mal über dem Mindest­haltbarkeitsdatum oder Tiefkühlprodukte sind schon an­ge­taut, … nix da mit normalen Kundenrechten.

Die gesetzliche Regelung sieht vor, dass die betroffenen MigrantInnen auch Bargeld ausgezahlt bekommen können. Die Formulierung „nach den Umständen erforderlich“ eröffnet hier Spielräume. So kann zu den besonderen Umständen gehören, dass sich die Stadt entscheidet, von Gemeinschaftsunterkünften abzusehen oder sich kein Anbieter findet, der die Versorgung der Asylbewerber übernimmt oder dass die Versorgung viel teurer als die Bargeldversorgung kommt. Diese Spielräume werden von den einzelnen Verwaltungen unterschiedlich genutzt.(5) Laut Georg Classen vom Flücht­lings­rat Berlin, wird das Sach­leistungs­prinzip nur noch in drei Ländern konsequent angewendet: Bayern, Sachsen und Baden-Württemberg.

Um diesen Zuständen praktisch etwas entgegen zu setzen, hat sich in Leipzig die Umtauschinitiative „anders einkaufen“ gegründet. Die Idee ist so simpel wie nahe liegend: diejenigen, die von dieser Regelung nicht betroffen sind, bestellen anstatt der MigrantInnen und bezahlen diese mit Bargeld. Für die Einen eine andere Art zu shoppen, für die Anderen eine Möglichkeit an Bargeld zu kommen.

Die Initiative, noch in den Kinderschuhen, auf Anregung der MigrantInnen selbst und mit Unterstützung der FAU Leipzig entstanden, sammelt einzelne Bestellungen und ab einem Gesamtbestellwert von 100 Euro werden diese bei den sich beteiligenden AsylbewerberInnen in den Heimen aufgegeben.

Bewusst haben wir uns schon vor den ersten Bestellungen dafür entschieden, diese unsererseits kollektiv zu gestalten. Gemeinsam macht es sowieso mehr Spaß, die Bestellsummen der Einzelnen halten sich in Grenzen und nicht nur nebenbei geht es auch darum, durch gegenseitiges Kennenlernen die soziale Isolation durch die Heimunterkünfte zu durchbrechen, mit­einander in Kontakt zu kommen, andere Kulturen und Sprachen kennenzulernen…

Der aufmerksame Leser erahnt an dieser Stelle schon, dass sich hier eine Unmenge von Möglichkeiten ergeben, sich kreativ und praktisch einzubringen, etwa beim Erstellen der Gesamtbestellungen, beim Kontakt zu den HeimbewohnerInnen, dem Transport der Lebensmittel etc.

Gesucht werden daher vor allem Menschen, die sich auf beiden Seiten an dem anderen Einkauf beteiligen. Wer also mit einkaufen oder sein Paket in Bargeld verwandeln will, melde sich bitte. Schön wäre es, durch regelmäßige Bestellungen unsererseits (z.B. einmal im Monat die WG-Grundausstattung) und eingespielte „Lieferant­In­nen“ aus den Heimen eine gewis­se Kontinuität zu schaffen.

In Dresden setzt sich eben­falls seit Anfang des Jahres die „Kampagne gegen Aus­grenzung“ für Bargeld­aus­zahlung an die ca. 200 in Dresden von der Ess­pakete­regelung betroffenen Asyl­bewer­berInnen ein. Unter dem Motto „Bargeld sofort!“ versucht sie auf Stadt- und Landesebene Druck auf die Verantwortlichen auszuüben.

Aufgrund der bekannten Behäbigkeit von Behörden und Politik und weil auch in Dresden „sofort“ manchmal länger dauert (6), übernehmen die Beteiligten der Kampagne bis dahin individuell Paketpatenschaften und helfen so, ähnlich wie in Leipzig, den MigrantInnen einfach einkaufen gehen zu können wie andere Menschen auch.

Kontaktiert werden können die Dresdner über: www.gegen-ausgrenzung.de.

Insgesamt sind AsylbewerberInnen in der BRD also nach wie vor einer Vielzahl von Einschränkungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Dass sie nicht wie andere Leute auch entscheiden können, was sie essen, ist nur ein Teil davon. Daran etwas zu ändern, liegt an uns allen.

hannah

(1) In Leipzig alle drei Heime (Lilienstraße, Torgauerstraße, Wodanstraße), Taucha, Markleeberg, Doberschütz und Bahren.
(2) Hauptsächlich aus dem Irak, Iran, Afghanistan, der Türkei, Marokko und Südosteuropa.
(3) Bares gibt es lediglich in Form von schnell ausgegebenen 10-40 Euro Taschengeld pro Monat und Person.
(4) Menschen, die eine Duldung erhalten haben, müssen bis auf Ausnahmen in den Heimen wohnen bleiben, teils bis zu über zehn Jahre.
(5) Zum Beispiel Erfurt: Zwar werden auch in Thüringen in den meisten Kommunen Gutscheine oder Sachleistungen ausgegeben. In Erfurt ermöglicht die Stadt jedoch einem großen Teil der Asylbewerber, in normalen Wohnungen zu leben statt in Heimen. Und: Außerhalb der Gemeinschaftsunterkünfte gilt das Sachleistungsprinzip laut Gesetz gar nicht: Also bekommen sie Bargeld.
(6) In Dresden gibt es seit 2002 Verhandlungen über die Umstellung vom Katalogsystem auf Chipkarten. Die Karten werden vom Sozialamt mit einem bestimmten Betrag aufgeladen und die MigrantInnen können in teilnehmenden Geschäften damit an der Kasse zahlen. Inzwischen ist das neue System genehmigt, wird aber noch nicht angewendet. Die Einführung des Chipkartensystems ist mit einem enormen organisatorischen und finanziellen Aufwand verbunden. Für ca. 200 Betroffene müssen Chipkarten hergestellt, Läden als Partner gefunden und ein aufwendiges Abrechnungssystem durch den Chipkartenanbieter geschaffen werden.

Exkurs:

Der rechtliche Hintergrund für die Versorgung durch Kataloge oder Pakete ist das Asylbewerberleistungsgesetz (AbLG) und das dort verankerte „Sachleistungsprinzip“.

Paragraph 3 des Gesetzes:

„(1) Der notwendige Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts wird durch Sachleistungen gedeckt.

(2) Bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen im Sinne des § 44 des Asylverfahrensgesetzes können, soweit es nach den Umständen erforderlich ist, anstelle von vorrangig zu gewährenden Sachleistungen nach Absatz 1 Satz 1 Leistungen in Form von Wertgutscheinen, von anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen oder von Geldleistungen im gleichen Wert gewährt werden.“

www.gesetze-im-internet.de/asylblg/index.html

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