„Wir wollen gleichwertige medizinische Versorgung für jeden“

Interview mit einem Medinetz-Aktivisten in Leipzig

Am 07.06. belebte eine kleine aber feine Demo die Leipziger Innenstadt und die Eisenbahnstraße. Circa 120 Aktivist_innen, die vorwiegend  in den bundesweit verstreuten Medinetzen aktiv sind, informierten und sensibilisierten dort die Öffentlichkeit für ihre Arbeit, die Situation der Menschen ohne Papiere in Deutschland und ihre Forderungen nach Veränderung. Zuvor trafen sie sich ein Wochenende lang zu ihrem dritten Vernetzungstreffen in der G16 in Leipzig, um sich auszutauschen, gemeinsame politische Standpunkte zu finden und die bundesweite Vernetzung voranzutreiben. Feierabend! sprach mit einem Aktivisten aus Leipzig über die konkrete Medinetz-Arbeit, Hintergründe, Organisation und Anspruch: 

PRAXIS & RECHT

FA!: Hallo. Du bist ja einer der Aktiven im Leipziger Medinetz. Was macht ihr dort eigentlich konkret?
Unsere Arbeit orientiert sich hauptsächlich in zwei Richtungen: Zum einen organisieren wir medizinische Versorgung für Menschen, die keinen Aufenthaltsstatus haben, und zum zweiten versuchen wir politisch dahingehend zu arbeiten, dass sich ihre rechtliche Situation verbessert. Die rein praktische Arbeit nimmt momentan die meiste Zeit in Anspruch. Wir hatten bisher 13 Patientinnen und Patienten und haben u.a. eine Operation organisiert.

FA!: Wie funktioniert eure Arbeit, also die medizinische Versorgung der illegalisierten Migrant_innen, konkret?
Wir haben vor unserem wöchentlichen Plenum jeden Dienstag von 16-18 Uhr unsere Sprechstunde in den Räumen des Eurient e.V.. Je nachdem, was der oder die Patientin dann braucht, schicken wir sie direkt zu Spezialisten oder zum Allgemeinarzt. Da wir uns keine Differentialdiagnose zutrauen – also wenn z.B. jemand mit Bauchschmerzen kommt – gucken wir unsere Karteikarten durch, wen wir von den Fachmedizinern ansprechen können, rufen dann an und vermitteln gleich einen Termin. Wenn es gewünscht ist auch mit Begleitung. Dann organisieren wir in der Regel noch Dolmetscher oder Dolmetscherinnen, weil es meistens etwas schwierig mit der Kommunikation ist. Das heißt, wir selber behandeln überhaupt nicht, sondern vermitteln! Das ist auch unser Anspruch: Wir wollen gleichwertige medizinische Versorgung für jeden. Wir wollen nicht so ein Parallelsystem etablieren, wo die Leute dann „Hinterhofmedizin“ bekommen, sondern wir wollen richtig für die Leute das, was ein Mensch der hier legal lebt, auch bekommen würde.

FA!: Warum ist es für Menschen ohne Papiere denn so schwierig medizinisch adäquat versorgt zu werden?
Das ärztliche Personal ist ja vor die Aufgabe gestellt, das Geld zu bekommen für die medizinische Dienstleistung, die sie erbringen. Weil die Menschen aber mittellos sind und keine Krankenversicherung haben, ist eigentlich rein rechtlich das Sozialamt für sie zuständig. Das heißt, die Menschen gehen zum Arzt, geben ihre Personalien ab, der Arzt bzw. das Verwaltungspersonal schickt dann die persönlichen Daten zum Sozialamt und bittet um die Rückerstattung der Kosten. Das Sozialamt ist rein rechtlich verpflichtet die Kosten zu  übernehmen. Nach § 4 und § 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes müssen sie Akutbehandlung, Schmerzbehandlung, schwangerschaftsbegleitende Maßnahmen und Maßnahmen, die zum Erhalt der Gesundheit notwendig sind, finanzieren. Das Problem ist, dass das Sozialamt verpflichtet ist, die Daten an die Ausländerbehörde weiter zu geben. Und die Ausländerbehörde ist natürlich daran interessiert diese Menschen zu finden und „rückzuführen“, so nennen die das. Und das bedeutet in letzter Konsequenz, dass die Leute erst dann zum Arzt gehen, wenn die Abschiebung nicht mehr schlimmer ist, als die Krankheit. Und das ist natürlich ganz schön krass.

FA!: Und ihr hintergeht quasi diese Übermittlungsverpflichtung des Sozialamtes an die Ausländerbehörde, indem ihr die Ärzte überredet, sie anonym zu behandeln? Bekommen die dann das Geld von euch?
Ja, der Kern ist dieser § 87 des Aufenthaltsgesetzes. Und das ist auch das, was wir alle abgeschafft haben wollen – wo sich auch alle Medinetze einig sind. Weil diese Übermittlungspflicht verhindert, dass die Menschen ihre Personalien angeben können. Deswegen haben wir zu den Ärzten gesagt: „Wir möchten sie bitten diese Menschen zu behandeln, ohne dass sie die Personalien aufnehmen. Führen sie die Patienten unter einem Synonym“. So kann der Patient unter einer Kartei geführt werden und der Arzt soll uns dann die Rechnung schicken. Aber in vielen Fällen bekommen wir auch gar keine Rechnung, da machen die Ärzte das dann einfach kostenlos.

FA!: Setzen sich die Ärzte eigentlich rechtlich betrachtet irgendeiner Gefahr aus, wenn sie die Illegalisierten behandeln?
Nee, gar nicht. Denn Ärzte haben zum einen eine Schweigepflicht, d.h. sie dürfen gar nicht über das reden, was sie machen. Und sie sind zum anderen zu ärztlicher Hilfe verpflichtet. Also wenn ein Mensch mit Behandlungsbedarf zum Arzt kommt, dann muss der Arzt auch helfen. D.h. sie machen sich auf gar keinen Fall strafbar. Aber da gibt es auch noch viel Aufklärungsbedarf. Viele Ärzte denken, das ist „Beihilfe zum illegalen Aufenthalt“. Das ist der sog. Schlepperparagraph des Aufenthaltgesetzes, wo es heißt, dass wenn ein Mensch seinen illegalen Aufenthalt in Deutschland von der Hilfe eines anderen Menschen abhängig macht, dann macht sich dieser Andere strafbar und wird mit 3-5 Jahren Freiheitsentzug bestraft. Das ist eine ziemlich krasse Regelung. Das heißt aber konkret, wenn du einem Menschen deinen Pullover schenkst oder 10€ gibst, reicht das nicht aus, aber wenn du ihn bei dir wohnen lässt oder regelmäßig finanziell unterstützt, wird das bestraft. Das gilt aber nicht für Angehörige humanitärer Berufe, also für ärztliche Dienstleistung, für Sozialarbeiter und karitative Geschichten – also auch für uns. Das ist ganz interessant, denn die NPD in Dresden hat mal die dortige Medinetzgruppe angezeigt wegen „Beihilfe zum illegalen Aufenthalt“ – aber ist natürlich nicht durchgekommen.

ORGANISATION &THEORIE

FA!: Wie viele Leute seid ihr eigentlich in der Leipziger Kerngruppe, die das Ganze organisieren?
Na, ich sag mal so 10-15, die ziemlich aktiv sind und noch mal 10-15 im Umfeld, die immer mal aktiv werden. Wir sind im Vergleich zu anderen Städten eigentlich ziemlich viele.
Und dann haben wir zurzeit ungefähr einen Stamm von 25-30 in Leipzig niedergelassenen Ärzten. Die haben wir bekommen, indem wir 2009 über 1000 Ärzte angeschrieben haben.

FA!: Und wie lange gibt es das Leipziger Netzwerk schon?
Wir haben uns Anfang des Jahres 2009 zusammengefunden, das Gründungsdatum ist irgendwann im Februar. Es gab vorher eine Leipziger IPPNW Gruppe von den Medizinstudenten der Universität Leipzig. Das steht für International Physicians for the Prevention of the Nuclear War, auf deutsch: Ärzte in sozialer Verantwortung – frei übersetzt.  Die hatten sich vor 1990 zum Ziel gesetzt den Atomkrieg zu verhindern. Nach der Wende haben sie sich andere Aufgabenbereiche gesucht, u.a. die Abschaffung der Atomenergie zur Zivilnutzung und auch humanitäre Geschichten. Und die Leipziger IPPNW-Gruppe hat dann Ende des Jahres 2008 über eine Person, die aus dem Hamburger Medinetz gekommen ist und den Studienort gewechselt hat, erfahren, dass es so was wie ein Medinetz gibt und dass das in anderen Städten schon praktiziert wird. Ja ,und dann wollten sie das hier auch machen und haben sich als kleiner Kreis zusammengefunden. Daraufhin hat sich die bisherige IPPNW-Gruppe aufgelöst und ist zum Medinetz geworden. Mitte letzten Jahres hat sich dann auch wieder eine IPPNW-Gruppe gefunden. D.h. es gibt jetzt beides in Leipzig.

FA!: Wie seid ihr organisiert und wie finanziert ihr eure Arbeit?
Also wir sind auf jeden Fall völlig hierarchiefrei organisiert, auch wenn wir so was wie einen Vorstand und eine Kassenwärtin haben. Wir treffen uns 1x die Woche zum Plenum und besprechen dort alles was anliegt. Wir haben  immer ein paar Menschen die sich um die Stiftungen, ein paar die sich um die Finanzen und ein paar Menschen die sich um Presse kümmern. Es gibt also schon eine Arbeitsteilung, aber im Prinzip machen diejenigen die Lust und Zeit haben die Aufgaben die anfallen.
Das meiste Geld das wir haben, bekommen wir von Stiftungen. Eine andere Einnahmequelle sind Mitgliedsbeiträge, jeder von uns zahlt im Jahr 10€ ein. Dann kann man bei uns Spendenmitglied werden oder auch einfach so spenden – dafür bekommt man auch eine Spendenquittung, weil wir ein gemeinnütziger Verein sind. Und wir organisieren hin und wieder Soli-Partys, Cocktail-Bars und so’n Zeug.

FA!: Du hast vorhin gemeint, das eine ist die praktische Arbeit die ihr macht, was du ja jetzt auch ausführlich beschrieben hast, der andere Teil ist die politische Arbeit. Kannst du letzteres mal noch näher ausführen?
Ja, zur politischen Arbeit gehört v.a. Aufklärungsarbeit. Erstens versuchen wir die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren, zweitens versuchen wir den Ärzten klar zu machen, dass sie sich in keinster Weise strafbar machen, drittens versuchen wir den Sozialämtern klar zu machen, dass sie verpflichtet sind zur Übernahme der Kosten, und zum vierten versuchen wir bundesweit politisch zu arbeiten. Wobei wir da noch ganz in den Kinderschuhen stecken: Wir versuchen gerade die Medinetze untereinander zu vernetzen und eine Kampagnenfähigkeit hinzubekommen, um dann so Ziele wie die Abschaffung des § 87 des Aufenthaltsgesetzes durchzusetzen oder die Einführung des anonymen Krankenscheins [siehe Kasten].

FA!: Was ist die Motivation hinter eurem Engagement? Warum hast du z.B. beschlossen beim Medinetz mitzumachen und was ist generell euer Anspruch, also was kritisiert ihr an den bestehenden Verhältnissen?
Zumindest bei mir und vielen anderen Leuten die hier dabei sind, besteht ein recht radikaler Anspruch, nämlich dass jeder Mensch die gleichen Rechte hat und dass jeder Mensch die absolute Bewegungsfreiheit genießen sollte. Jeder sollte selber seinen Aufenthaltsort, seinen Arbeitsbereich, seine Lebensumstände frei wählen können und daran versuchen mit zu arbeiten. Ich bin auch dafür, dass die Grenzen geöffnet werden, dass die Menschen hier her können. Denn Deutschland hat in seiner Position in den letzten Jahrhunderten eigentlich daran mitgewirkt, dass in den Ländern der sog. „Dritten Welt“ so ein Mangelzustand entsteht, so dass die Menschen dort einfach nicht mehr leben wollen oder können. Auch jetzt noch z.B. durch diese Freihandelsabkommen [siehe FA! 37, Anm.d. Red.]. Wir verschlechtern die Situation dort einfach dermaßen, dass die Menschen nur noch weg wollen – und dann hindern wir sie daran. In meinen Augen besteht da ein ganz großes Unrecht und ich versuche einfach im Rahmen meiner Möglichkeiten einen Ausgleich zu schaffen. Und ich finde den Gedanken, dass ein Mensch verletzt ist und keine medizinische Versorgung bekommt, unerträglich. Egal was das für ein Mensch ist.

FA!: Ist dein politischer Anspruch auch ein Konsens innerhalb des Leipziger Medinetzes? Was habt ihr in eurem Selbstverständnis diesbezüglich festgehalten?
Naja, Konsens würde ich jetzt so nicht sagen. Die Meinungen gehen da schon auseinander. Aber ich glaube, die meisten würden das schon mit unterstützen. Was wir alle ganz zentral fordern, ist die Abschaffung des § 87 des Aufenthaltsgesetzes. Dann fordern wir als Leipziger Medinetz das Recht auf adäquate, gleichwertige medizinische Versorgung für jeden Menschen, Bewegungsfreiheit und freie Wahl des Aufenthaltsortes.

FA!: Wie kann man sich das Medinetzwerk bundesweit vorstellen? Was existiert da an Strukturen, wie viele Medinetze gibt es da?
Also meinem Wissen nach sind es 22 Medinetze, die auch in allen größeren Städten Deutschlands vertreten sind. Das erste Medibüro wurde 1994 in Hamburg gegründet, gefolgt 1995 vom Medinetz Berlin. Die sind total heterogen strukturiert. Ich glaube, meistens sind sie auch hierarchiefrei organisiert. Aber in Freiburg sind es fast ausschließlich Ärzte, die das organisieren, in Hamburg meist Geisteswissenschaftler und hier v.a. Medizinstudenten – also sehr gemischt. Diese Anlaufstellen tragen auch überall andere Namen – das muss nicht immer Medinetz heißen. Und wir haben uns in diesem Jahr das dritte Mal in Folge getroffen, dieses Mal hier in Leipzig. Es gab auch eine ziemlich gute Resonanz, es waren genau 100 Leute da. Also ungefähr 5 von jedem Medi-Büro, und das ist schon ziemlich gut.

FA!: Was habt ihr da konkret besprochen und gemacht auf dem diesjährigen Vernetzungstreffen?
Es gab eine Workshop-Reihe, da war zum einen Thema: Schwangerschaft in der Illegalität, Frontex, § 87 des Aufenthaltsgesetzes, Probleme in den Medinetzen usw. Ein großes weiteres Thema war Vernetzung, und da hat sich jetzt herauskristalisiert, dass wir uns eine Kampagnenfähigkeit erarbeiten wollen. Und wir wollen eine gemeinsame Internetplattform aufbauen, wo dann auf einer zentralen Seite alle Medinetze miteinander verlinkt sind. Wir wollen auch einen Reader herausbringen, der inhaltlich und politisch Stellung beziehen soll, den man auch auslegen kann und der für die Öffentlichkeitsarbeit da ist.

FA!: Du hast vorhin erwähnt, dass es da auch politische Differenzen gibt: kannst du noch mal das bundesweite Spannungsfeld oder Spektrum von Medinetz-Aktivist_innen und ihren Positionen darstellen?
Ja, also es gibt Menschen, denen geht es primär um die medizinische Versorgung, also die handeln aus einem humanitären Beweggrund heraus, sind aber nicht daran interessiert die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu verändern. Zumindest nicht so massiv, wie das andere Medinetze wollen. Wir als Leipziger Medinetz stehen da schon deutlich weiter links, weil wir am liebsten die ganze Aufenthaltsgesetzgebung abschaffen wollen und fordern, dass alle Menschen sich überall frei bewegen können. Es gibt aber Medinetze, die dem nicht zustimmen würden, aus welchen Gründen auch immer. Um aber gemeinsam was in die Öffentlichkeit tragen zu können, haben wir uns in langen Diskussionen erstmal auf einen Minimalkonsens geeinigt.

FA!: Kannst du ungefähr sagen, wie viele Aktivist_innen in ganz Deutschland im Medinetzwerk so aktiv sind?
Na, ich denke mal, pro Medinetz kann man ca. 10-15 feste Leute rechnen, macht insgesamt so 200-300 Leute. Plus die Ärzte, Physiotherapeuten, Krankenschwestern, Dolmetscher und alles was noch in dem Umfeld hängt, da kommt man noch auf ganz andere Zahlen. Denn allein in Leipzig arbeiten insgesamt ca. 80 Leute für oder in gewisser Weise mit dem Medinetz. Aber so genau können wir das gar nicht sagen, denn wir erheben keine Studien.

GELEBTE SOLIDARITÄT

FA!: Wie viele der Illegalisierten suchen eure Sprechstunde inzwischen auf?
Ein Knackpunkt ist auch die Frage, wie wir unsere Zielgruppe erreichen. Das ist recht schwierig und tatsächlich auch unser größtes Problem. Wir arbeiten da mit Flyern, die wir an Orten auslegen, wo eine große Dichte an Menschen mit Migrationshintergrund ist. Bisher kommen so ca. 1-2 Menschen im Monat, mit steigender Tendenz. Das liegt natürlich auch daran, dass es unsere Sprechstunde erst seit knapp über einem Jahr gibt. Und es ist natürlich so, wenn die Menschen nichts von uns wissen und kein Vertrauen haben, dann ist erstmal ein sehr verhaltener Zulauf da. Aber das spricht sich auch rum. Wir wissen nicht genau, wie groß der Bedarf ist, aber es wird geschätzt, dass es in Leipzig so ca. 4000-10.000 Menschen ohne Aufenthaltstatus gibt und das wäre natürlich ein immenser Bedarf.

FA!: Die Menschen, die zu euch kommen, leben ja sicherlich schon in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen. Aber kannst du mal so allgemein erzählen, wie es den illegalisierten Leuten geht, die zu euch kommen – auch unabhängig von ihrer Krankheit? Was kannst du da beobachten?
Also das was sich so durchzieht, ist Verzweiflung. Jahrelang in der Illegalität zu leben, ist eine Situation, die hochgradig depressionsfördernd ist. Der Anteil an Menschen mit psychischen Erkrankungen, von denen die in der Illegalität leben, liegt bei 50% oder so. Und das ist Wahnsinn. Und was ich bei den Menschen beobachte, die ich auch persönlich kennen gelernt habe, ist, dass sie einfach völlig frustriert, verzweifelt und verunsichert sind. Ja, und die meisten sind ziemlich happy, wenn ihnen geholfen wird, da sie oftmals in einer ausweglosen Situation sind. Es erfordert auch Mut sich einer Organisation zuzuwenden, die man jetzt nicht kennt –  also, wenn ich in einem völlig fremden Land wäre, wo ich die Sprache nicht spreche und eine Verletzung oder Krankheit habe, ich würde mir dreimal überlegen, wo ich hingehe. Viele wissen auch gar nicht was wir machen, da steht nur ‚anonyme und kostenlose Behandlung“, aber das kann ja auch ein Fake vom Staat sein. Deshalb sind die Leute am Anfang auch oft zurückhaltend und schüchtern, aber wenn sie merken, dass wir es gut mit ihnen meinen, dann werden sie irgendwann sehr herzlich.

FA!: Kannst du abschließend noch sagen, wie man bei euch mitmachen kann, wo man euch findet und was ihr für die Arbeit gebrauchen könnt?
Ja, wer Interesse hat, uns kennen zu lernen, kann Dienstags 18 Uhr in die Räume des Eurient e.V. kommen (Kurt-Eisner-Str. 44). Dann können wir uns und unsere Arbeit kurz vorstellen und man kann auch beim Plenum mit dabei sein. Das ist meistens ganz spannend, weil man mal einen Einblick kriegt, wie wir so arbeiten. Und wer sich eine aktive Mitarbeit nicht vorstellen kann, der kann uns einmal mit Spenden unterstützen und auch durch z.B. Dolmetschertätigkeiten. Oder wenn jemand einen medizinischen Beruf hat, wie z.B. Hebamme, Krankenschwester, Arzt, Physiotherapeut, Logopäde, Psychotherapeut, wer da irgendwie examiniert ist oder eine abgeschlossene Ausbildung hat, kann sich an uns wenden und sich anbieten, für uns zu arbeiten. Und der oder diejenige wird dann in die Kartei aufgenommen und bei Bedarf angesprochen.

Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg bei der weiteren Arbeit sowie dem nächsten Vernetzungstreffen in Mainz 2011.

(momo)

 

Anonymer Krankenschein &  Paragraph 87 des Aufenthaltsgesetzes:

Die bundesweiten Medinetze fordern gemeinsam die Abschaffung des §87 des Aufenthaltsgesetzes und unterstützen die Idee des anonymen Krankenscheines.
Der §87 besagt hauptsächlich, dass alle öffentlichen Stellen verpflichtet sind unverzüglich die Polizei oder zuständige Ausländerbehörde zu unterrichten, wenn sie Kenntnisse über Menschen ohne rechtlichen Aufenthalttitel erlangen, einen Verstoß gegen die räumliche Beschränkung (Residenzpflicht) bemerken oder zu Informationen kommen, die einen anderen Ausweisungsgrund betreffen. Seit September 2009 existiert jedoch eine neue Verwaltungsvorschrift, die besagt, dass auch für Verwaltungsangestellte und das Sozialamt der verlängerte Geheimnischutz (ärztliche Schweigepflicht) gilt, so dass diese bei akuten Behandlungen die Daten nicht weitergeben sollten. Leider wird diese Vorschrift bisher noch nicht von den Ämtern umgesetzt.
Im Konzept des „Anonymen Krankenscheines“ gibt es eine öffentliche Anlaufstelle, bei der sich Menschen ohne Aufenthaltstatus melden können. Sie bekommen dann bei Nachweis ihrer Statuslosigkeit, eine anonyme Krankenkarte, wo statt der Personalien ein Code erfasst ist, der auch dem Sozialamt übermittelt wird. Dieses übernimmt dann die Kosten für die medizinische Dienstleistung, da ja eine Person hinter dem Code registriert wurde. Im Berliner Stadtrat wurde die Einführung dessen bereits diskutiert, in Berlin und Hamburg laufen dazu auch Modellprojekte. Auch die Bundesärztekammer fordert die Einführung des anonymen Krankenscheines.

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