Wo es keine Dilettanten und Laien gibt…

Anarcho-Poetry“ is for everyone

Bei dem Titel des kleinen, mir hier vorliegenden Gedichtbandes – „Hoch lebe sie die Anarchie!“ von Ralf Burnicki mit Zeichnungen von Findus – ist mensch versucht zu denken „Reim dich oder ich fress dich“. In der Tat: Der Titel lässt Schlimmstes befürchten.

Aber diese Sorge kann den Leser_innen gleich wieder genommen werden. Die Dichtung Ralf Burnickis besteht nicht in vierzeiligen Versen, die sich am Ende reimen. Im Gegenteil, der Dichter bewegt sich auf dem schmalen Grad zwischen Prosa und Poesie. Man könnte die einzelnen Gedichte tatsächlich für Kurzgeschichten halten, wenn sie denn einen Plot hätten, also eine Geschichte erzählen würden.

Es ist letztlich schwer zu beurteilen, ob sie das tun oder nicht. Sie haben zwar meistens keinen Plot, aber durchaus einen roten – oder vielmehr: schwarz-roten – Faden. Was Burnicki erzählt, hat durchaus immer ein Leitmotiv, das aber ganz woanders enden kann als erwartet. Es sind tatsächlich die Wörter, die Begriffe, die seine Dichtung zusammenhalten. Und die sind dann doch von ganz anderer Qualität als der Titel: Da fallen Mittage von den Chefetagen wie Steine, ziehen Fragen ins Sperrgebiet und die Eintagswut stirbt in Nachtlokalen. Burnickis Sprachempfindsamkeit zeigt sich schlicht immer wieder in ungewöhnlichen Wortkombinationen, die alltagssprachlich keinen Sinn ergeben, deren Sinn die Leser_innen aber trotzdem sofort erfassen können: Der Nicht-Sinn ist in dem veränderten Kontext der Dichtung völlig logisch.

Damit ist der Inhalt des Gedichtsbandes recht abstrakt und dem Zeichner Findus fällt die nicht ganz einfache Aufgabe zu, diese abstrakten Inhalte real zu zeichnen. Das ist wohl kaum anders lösbar, als Findus es gemacht hat: Er hat sich einzelne Zeilen, einzelne Sinnzusammenhänge, aus den Gedichten genommen und sie illustriert – meist sehr flächig in schwarz und weiß, im Stile von Stencils etwa. Einige dieser Motive wird man sicherlich irgendwann an Haus- und Fabrikwänden wiederfinden.

Hintangestellt an das Gedichtbändchen ist der literaturtheoretische Beitrag „Allgemeine Kriterien einer anarchistischen Ästhetik am Beispiel von ‚Anarcho-Poetry’ und: Wozu überhaupt ‚Anarcho-Poetry’?“ Aber auch ohne diesen Bei­trag gelesen zu haben, lassen die Gedichte für sich be­reits eine Re­flexion zu. Denn letztlich: Jede Kunst versucht immer – sehen wir von dezidierter Propaganda, etwa aus dem rechtsextremen Spektrum ab – ohne gesellschaftliche Konventionen auszukommen oder über diese hinauszugelangen. In einem bestimmten Sinne sind Literatur, Gemälde, Fotografie immer „anarchistisch“. Theodor W. Adorno hat 1965 in seinem Beitrag „Engagement!“„autonome“ und „engagierte“ Kunst differenziert und der autonomen Kunst den Vorrang eingeräumt – auch in dem Sinne, dass diese politisch mehr bewirke. Ein Beispiel: Die Absurdität des kapitalistischen Gesellschaftssystems wird in Franz Kafkas „Der Process“ oder „Das Schloss“ deutlicher als in vielen Stücken Bertold Brechts. Und „Autonomie“ ist ein schöner literarischer Anspruch, wenn die Ästhetik anarchistisch sein soll.

In dem Sinne verstehe ich die „Anarcho-Poetry“ Burnickis durchaus ganz autonom als eine, die sich von künstlerischen, aber auch politischen Zwängen frei macht, sich aber spezifisch „Anarcho“ nennen kann, weil der Autor seine Wortspiele auf dem Wissenshintergrund des anarchistisch engagierten Menschen macht: Barrikaden, schwarze Fahnen, Demonstrationen und Revolutionen kann können künstlerisch aneinander gereiht werden, ohne in plumpe Parolen zu verfallen. „Hoch lebe sie, die Anarchie!“ ist dann ein augenzwinkender Titel.

Ralf Burnicki sieht das dann aber doch anders, wie der genannte Schlussaufsatz zeigt. Im Sinne des politischen Anarchismus fordert er gemeinsam mit Michael Halfbrodt einen Zweck-Mittel-Zusammenhang, eine politische Inhaltlichkeit („Entlarvung herrschaftlicher Bedingungen“, „Lob der Herrschaftslosigkeit“) und die Einbettung in ein anarchistisches Umfeld. Ganz der Idee verpflichtet, ist dies aber natürlich kein Regelkatalog, sondern „Anarcho-Poetry“ kann immer vorschlagsweise so sein. Am sympathischsten ist in diesem Zusammenhang die soziale Komponente, die für die anarchistisch geprägte DIY-Kultur immer auch schon in anderen Bereichen (Punk und HipHop, Fanzines) relevant war: Literat_innen sind keine Expert_innen für Literatur, die mehr oder weniger können als andere, sondern jede_r kann „Anarcho-Poet_in“ sein.

Übrigens kann dann auch jede_r Literaturkritiker_in oder -rezensent_in sein und braucht dafür kein Germanistik-Studium und muss weder Adorno, noch Brecht oder Kafka gelesen haben. Mensch kann das einfach gut finden. Interpretieren mussten wir ja alle schon genug in der Schule, und ob das richtig oder falsch war, war in gewisser Weise immer eine willkürliche Entscheidung der Lehrer_innen. Abschließend daher die durchaus anarchistische Empfehlung: Einfach mal lesen – und anschauen! – und genießen.

Teodor Webin

Ralf Burnicki & Findus: „Hoch lebe sie die Anarchie! Anarcho-Poetry.“ Verlag Edition AV, Lich 2014. ISBN 978-3868411027, 45 Seiten, 9,80 €.

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