Zugserscheinungen

Das Wendland – unendliche Weiten… zigtausende Menschen laufen, radeln, reiten und fahren durch die Gegend, wie sie es für gewöhnlich nicht tun. Grün gegen bunt, Hierarchie gegen Chaos, Räumpanzer gegen Trecker, Atomstaat gegen die Leute – Gut gegen Böse. Und massenhaft beunruhigte Wildschweine…

Wir, als (natürlich) allerradikalste Gruppe, sind (natürlich) auch dabei. Umwerfende Solidarität und Hilfsbereitschaft ganz von Anfang an. Mit Schlafplätzen gibt es keine Probleme, genau wie mit Essen oder auch Internet – die Wendland-Dörfer sind für den Widerstand geöffnet. Mobile Heizanlagen und Generatoren der Freiwilligen Feuerwehr werden fast überall für Camps genutzt – mit Ausnahme der Funkgeräte, die regelmäßig im Sinne des NgefAG beschlagnahmt werden. Alles macht einen eingespielten Eindruck: Die Volxküchen überbieten sich mit Leckereien und wirken ausgesprochen unchaotisch. Beim alkohoholfreien Lagerfeuer fachsimpeln Großstadtautonome und gesetzte Dörfler über effektive Sabotage – der Polizeistaat mit seiner „Besatzungsarmee“ ist der Feind – das schweißt zusammen. An rechtsstaatliche Appelle wie bei Xtausend-mal-Quer glaubt in der Göhrde kaum noch jemand. Beim Trampen schildern zwei ältere Damen stolz ihren Beitrag zum Widerstand – nämlich am Fenster auf Polizeikolonnen warten und sich dann auf der Straße die Schuhe zubinden. „Ist nicht viel, aber immerhin.“

Die Tage vor dem legendären Tag X werden traditionell mit entspanntem Geplänkel zugebracht. Bei Laternenumzüge allerorten sind Tausende dabei und nachts wird viel durch die Wälder geschlichen. Eine „Rallye Monte Göhrde“ soll bei der Polizei Verwirrung stiften – am Ende sind alle durcheinander: Ist der Wald gesperrt oder nicht? Wo sind die Stopschilder hin? Und wie absurd kann die Begründung eines Platzverweises eigentlich sein? An einer Sperre motiviert uns ein Rentner aus seinem Mercedes: „Jungs, das ist doch nur eine Wanne – kippt die doch einfach um!“ Euphorische Gerüchte machen die Runde: Einsatzkräfte sind von zornigen Bauern auf einem Hof in Gewahrsam genommen worden und erst nach stundenlanger Blockade wieder freigekommen. Mit der Dorfjugend geht es nachts nochmal los zum Beamte – ärgern, besonders die Kölner Bereitschaftstruppe ist wegen ausgefallenem Karneval demoralisiert.

Und dann ist abwarten angesagt, schon in Frankreich fangen diesmal die Blockaden an. Ab Lüneburg geht es dann nur noch im Schritttempo weiter. Im Wendland werden die Punkte gezählt – als es schließlich mit viel zuviel Kaffee und Adrenalin im Blut losgeht, steht es ungefähr „Hundert zu Null“. Dutzende Hubschrauber steigen auf und geben der Szenerie ein finstere Atmosphäre – in den nächsten Stunden ist Grün-Weiß eindeutig überfordert, überall sind plötzlich Leute: erst im Wald und dann auf der Schiene – dezentral und nie wirklich in Massen, aber meist erfolgreich. Trotz verschärften Demonstrationsverbots und größeren Gefangenensammelstellen können sich die Beamten kaum leisten, Gefangene zu machen und so gelingt es vielen, nach der ersten Räumung ein zweites oder drittes Mal zum Zug zu kommen.

Bei anschließenden Straßenblockaden dann die ersten Eskalationen: Hunde- und Reiterstaffel klären die Verhältnisse, Knüppel werden eingesetzt und ein besonders eifriger Grenzschützer schleudert seinen Helm.

In Gusborn sind inzwischen dutzende Trecker, die „Speerspitze des Widerstands“, beschlagnahmt und mit „Hamburger-Gitter“ eingezäunt. Die Türen versiegelt – bewacht von berittener Polizei. Vielleicht soll das rechtsstaatlicher aussehen als die polizeilichen Reifenstechereien der vergangenen Jahre, könnte man denken. Kurz darauf rächt sich ein Bauer durch versehentliche Gülledüngung einer Polizeikette.

Am Nachmittag gegen 16:00 Uhr erreichen die zwölf Castoren den Verladebahnhof in Dannenberg, es geht in die zweite Runde. Eine Initiative namens WiderSetzen hat über AnwohnerInnen Straßenfeste mit Übernachtung organisiert und so sammeln sich etwa 2000 Leute in diversen Dörfern entlang der zwei Straßen zwischen Dannenberg und Gorleben. Angesichts soviel entspanntem Pazifismus reagiert die Einsatzleitung unkonventionell: Die Ortschaften werden gleich als solche in Gewahrsam genommen um die offiziell gefangenen Personen anschließend abzuräumen. Die Begründung auch diesmal kurios: „In umliegenden Scheunen verstecken sich Gewalttäter.“ Dort verschlafen einige Widerständler gerade den Straßentransport.

Und so rollt der Castor schließlich doch in Gorleben ein, begleitet von Protest der aber taktisch nicht in der Lage ist etwas gegen die Grüne Armada auszurichten und sich auf Pazifismus beschränkt: „Lasst euch nicht provozieren!“ – Lasst euch alles gefallen!

Schlussendlich sind alle mit dem Ereignis „zufrieden“. Die DemonstrantInnen mit dem geleisteten Widerstand, dem Gefühl, doch mal wieder etwas für das Gute in der Welt getan oder dies zumindest versucht zu haben, und die Polizei freut sich, die Tage „gemeinsam mit den DemonstrantInnen“ im Allgemeinen so reibungslos über die Bühne gebracht zu haben und bedankt sich für die friedlichen Proteste – nur ab und zu sei „unfair“ Widerstand geleistet worden. Vielleicht sollte dieser in den nächsten Jahren ja auch gleich gemeinsam von Polizei und DemonstrantInnen organisiert werden, nach dem Motto: „Hier könnt Ihr Euch jetzt auf die Schiene setzen und in Ruhe protestieren, wenn der Zug dann kommt, geht Ihr aber auch schön brav und friedlich wieder weg da.“ Wenn der Transport schon gegen den Willen der Bevölkerung durchgebracht werden muss, dann soll doch wenigstens alles friedlich bleiben – Konfliktmanagement ist alles. Bis zum nächsten Jahr!

soja und onsche

Der Wendland-Ticker

Dienstag, 11. 11. 2003

09:56:50 +++ Der Zug ist in Lüneburg +++

09:58:25 +++ Auf der Landstraße zwischen Quickborn und Langendorf wird die Fahrbahn wegen einer Unterspülung aufgegegraben +++

10:18:12 +++ In Lüneburg sind 120 Leute auf den Schienen +++ Bei Rohrstorf sind mehr als 100 Menschen auf den Gleisen +++

10:34:46 +++ 30-40 Leute blockieren den Ortsausgang von Dahlenburg Richtung Lüneburg +++

11:18:45 +++ Die USK (Bayerische Sondereinheit) Räumt die Blockade sehr ruppig +++ In Rohrstorf sind noch 50 Leute auf der Schiene +++

11:33:56 +++ Überall an der Schiene und im Wald sind Menschen unterwegs +++

11:38:19 +++ Harlingen ca. 300 Jugendliche werden mit einer Reiterkette von den Schiene gedrängt

13:27:07 +++ Robin-Wood-Aktivisten werden nicht in ihr Baumhaus in Langendorf gelassen, Seile und Leitern sind sichergestellt worden +++

14:19:13 +++die Sitzblockade vor Harlingen wird geräumt

14:21:50 +++beim Kilometer 187,7 sind Leute auf den Vorzug gesprungen +++ Er steht wieder +++

15:38:01 +++ Der Zug ist in Dannenberg angekommen, es sind viele Menschen vor Ort

16:20:26 +++ Der Transport ist mit mehr als 6 Stunden Verspätung am Verladekran angekommen

18:48:26 +++ 2500 Menschen sind auf der Kundgebung der BI Lüchow Dannenberg

19:08:43 +++ In Gusborn sind ca.500 Menschen auf der Straßentransportstrecke +++

Mittwoch, 12.11.

00:48:26 +++ Grippel: Die Polizei hat das gesamte Dorf samt Blockade in Gewahrsam genommen

02:33:35 +++ Die Blockade in Grippel wird geräumt

04:05:20 +++Der Transport auf die Straße beginnt über die Nordstrecke +++

05:38:24 +++Der letzte Behälter ist im Zwischenlager

Bewegung

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