Ziviler Ungehorsam als politische Praxis

Im Zusammenhang mit Neonaziaufmärschen, Gipfelprotesten oder Atommülltransporten kommen immer wieder Praxen zivilen Ungehorsams zum Zuge. Auch in Leipzig wurde der Aufmarsch von „Nationalen Sozialisten“ am 17.10. auf diese Weise verhindert (siehe S. 5). Damit wurde an die erfolgreiche Praxis der Vergangenheit angeknüpft. Immer wieder kam es in Leipzig zu breiten Sitzblockaden, einer beliebten Form zivilen Ungehorsams, gegen die regelmäßigen Aufmärsche des Neonazis Christian Worch. Nachdem die Polizei anfangs rabiat gegen diese spontanen und gewaltfreien Aktionsformen vorging, veränderte sich die Einsatzstrategie der staatlichen Repressionsorgane aufgrund von Interventionen auf politischer Ebene und der Entschlossenheit einer wachsenden Zahl von Protestierenden. Die Blockade einiger weniger Aufmärsche konnte so gelingen.

Basisdemokratie versus Systemüberwindung

Ziviler Ungehorsam meint bewusste Regelverstöße zur Beseitigung einer gefühlten Unrechtssituation. Wenn bei­spielsweise das Versammlungsrecht im Umfeld von geschlossenen Tagungen von führenden PolitikerInnen ausgehöhlt wird oder Nazis das Versammlungsrecht in Anspruch nehmen, dann müssen die Grenzen der Legalität überschritten werden, um die eigene Meinung wirkungsvoll kundzutun.

Ziviler Ungehorsam gilt als legitimes Mittel, weil er im Kern auf den Schutz der Menschenwürde zielt, den Recht und Gesetz qua Neutralität nicht gewährleisten können bzw. wollen – im Falle von Neonazidemos eben die Wahrung des Versammlungsrechtes für legale politische Gruppen/Parteien. Die bewusste Störung von angemeldeten Demonstrationen wird damit zur Gesetzesverletzung. Nichts desto trotz verfolgt die Praxis des zivilen Ungehorsams die Durchsetzung von Bürger- und Menschenrechten innerhalb der bestehenden Ordnung und explizit nicht die Ablösung einer bestehenden Herr­schaftsstruktur. Dies gilt auch für offensiven zivilen Ungehorsam, wie die Weigerung sich erniedrigenden Gesetzen zu unterwerfen (z.B. das kollektive Widersetzen gegen US-amerikanische Rassengesetze in den 1950er Jahren, der Boykott der Volkszählung in den 1980er Jahren oder das kollektive Schwarz-Fahren in Bus und Bahn). Systemimmanent Veränderungen anzustreben, ohne das System im Kern anzutasten, markiert die Differenz zwischen zivilem Ungehorsam und Widerstand. Widerstand befindet sich in der Regel außerhalb der gesetzten Ordnung und beschreibt aktive Bestrebungen und Verweigerung gegen Herrschaftsakteure oder -strukturen. Die Gewaltfrage ist zudem eine Demarkationslinie zwischen zivilem Ungehorsam, der eher zum Repertoire von sich als gewaltfrei verstehenden Bewegungen gehört, und Widerstand.

Die fein-säuberliche Trennung erodiert nicht nur durch die Definitionshoheit des Staates (so kann eine entschlossene Blockade, die auch nach Räumungsaufforderungen der Polizei nicht aufgelöst wird, mit dem Vorwurf des Landfriedensbruchs belegt werden). Das Widerstandsrecht im Grundgesetz (Artikel 20 Absatz 4) garantiert zudem jedem und jeder StaatsbürgerIn das Recht gegen jedermann Widerstand zu leisten, der die im Grundgesetz verankerte freiheitliche demokratische Grundordnung außer Kraft setzt. Dieses Recht ließe sich durchaus auch gegen Nazis und deren demokratiefeind­liche, menschenverachtende Ideologien und Aktionen in Anspruch nehmen.

Auch in politischen Zusammenhängen wird konstatiert, dass die Trennlinien verwirren. So geht mit der Praxis zivilen Ungehorsams nicht selten eine grundsätzliche Kritik des kapitalistischen oder rassistischen Normalzustandes einher. Ist das Plündern von Supermärkten zum Zwecke der Vergesellschaftung von Lebensmitteln ziviler Ungehorsam oder ein fundamentaler Angriff gegen das Privateigentum? Setzen sich Ärzte, die Illegalisierte unentgeltlich behandeln, nicht bewusst und gezielt Gesetzen entgegen?

Ziviler Ungehorsam in der Praxis

Blockaden, wie sie in Leipzig schon öfter zum Zuge kamen, sind die wohl geläufigste Form zivilen Ungehorsams. Sie gehören zur Praxis von friedenspolitischen Bewegungen (Blockaden von Militärstützpunkten, militärisch genutzten Flughäfen etc), antifaschistischen Akteuren oder UmweltaktivistInnen (Blockade von Kohlekraftwerken, Atommülltrans­por­ten). Sitzblockaden bieten – schon wegen ihres wahrgenommen passiven Charakters – eine breit anschlussfähige Form des zivilen Ungehorsams. Sitzblockaden können dabei durchaus auch auf Ordnungs­hüterInnen eine hemmende Wirkung haben. Wer räumt schon gerne friedlich dasitzende Menschen?

Verfassungsrechtlich gilt eine Blockade als Versammlung nach Artikel 8 des Grundgesetzes. Natürlich können solche Versammlungen im Vorhinein oder während ihres Stattfindens verboten werden. Wer sich nichts desto trotz beteiligt, praktiziert zivilen Ungehorsam und begeht eine Ordnungswidrigkeit (Nichtentfernen von einer verbotenen Versammlung, § 29 Versammlungsgesetz).

Bis 1995 galten Sitzblockaden strafrechtlich als Nötigung nach § 240 StGb (d.h. einem anderen durch die Anwendung von Gewalt oder durch Drohung ein diesem widerstrebendes Verhalten aufzuzwingen), also als psychische Gewaltausübung. Das so genannte Sitzblockade-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 1995 beendete diese Auslegung. Demnach können Sitzblockaden zwar psychisch gewaltvoll wirken, die Gewaltwirkung muss allerdings nicht im Kalkül der Blockierenden liegen. Die Ausweitung des Gewaltbegriffes auf psychische Wirkungsweisen sei ausufernd und nicht zulässig. Die reine physische Anwesenheit, beispielsweise das Sitzen vor einem Kasernentor, stellt in diesem Sinne noch keine Gewalt dar. Viele Verfahren wurden infolge des Urteils wieder aufgenommen und die Strafkosten zurückerstattet.

Der Bundesgerichtshof höhlte die Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes im selben Jahr allerdings wieder aus. Wenn eine Sitzblockade zum Anhalten von Fahrzeugen führt, wäre demnach zwar nicht der oder die Fahrer des ersten Fahrzeugs Nötigungsopfer, allerdings die der nachfolgenden Fahrzeuge. Während auf den oder die FahrerIn des ersten Fahrzeuges nur psychische Gewalt wirke, seien die der folgenden körperlichem Zwang ausgesetzt.

Auch im Jahr 2001 beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht mit Blockaden. Laut Beschluss könnten Blockaden als Nötigung geahndet werden, wenn sie „über die durch ihre körperliche Anwesenheit verursachte psychische Einwirkung hinaus eine physische Barriere errichten“. Das bedeutet, dass eine Sitzblockade verbunden mit Anketten, Einhaken oder aktivem Widerstand gegen das Wegtragen als Nötigung entsprechend § 240 StGb betrachtet werden kann.

Das Blockieren von Naziaufmärschen hat nicht selten zum Erfolg geführt. Mal mit politischer Schirmherrschaft, mal durch die Wirkungsmacht vieler aktivierter Menschen konnten ganz konkrete Aufmärsche von Nazis auf diese Art und Weise verhindert werden. Auch die Gipfel politischer Eliten oder Atommülltransporte wurden schon des Öfteren wirksam gestört, wenn auch nicht verhindert. Blockaden können den kapitalistischen Normalbetrieb temporär beeinträchtigen. Sie sind darüber hinaus symbolische Demonstrationen von Gegenmacht. Durch ihre öffentliche Propagierung und flankierende Debatten um die Notwendigkeit von Regelver­letzungen, um zu einem bestimmten Ziel zu kommen, unterscheiden sie sich grundlegend von den typischen klandestinen Aktionen linker Kleinst­gruppen. Das ist ihre Stärke. Ihr subversiver Charakter kann allerdings durch die Nähe zur Staatsmacht unterhöhlt werden. Sowohl am 17.10. in Leipzig als auch bei entsprechenden Blockade-Aktionen gegen das Fest der Völker in Thüringen verhandelten die jeweiligen Bündnisse mit der Polizei. Hier müssen die Trennlinien scharf bleiben und der Charakter des Ungehorsams gewahrt werden.

Rote Hilfe Leipzig

angeführte Paragraphen:

Grundgesetz Artikel 8:

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

Strafgesetzbuch 240. Nötigung

(1) Wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe, in besonders schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, bestraft.

Versammlungsgesetz 29

(1) Ordnungswidrig handelt, wer

1. an einer Versammlung oder einem Aufzug teilnimmt, deren Durchführung durch vollziehbares Verbot untersagt ist,

2. sich trotz Auflösung einer öffentlichen Versammlung oder eines Aufzuges durch die zuständige Behörde nicht unverzüglich entfernt,…

(2) Die Ordnungswidrigkeit kann in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 bis 5 mit einer Geldbuße bis tausend Deutsche Mark … geahndet werden.

Wissenswerte rechtliche Infos für Blockierende:

Wie erwähnt sind Blockaden grundsätzlich durch das Grundgesetz – Artikel 5 Meinungsfreiheit und Artikel 8 Versammlungsfreiheit – gedeckt. Im Falle des Verbots kann die Polizei die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Beendigung der Versammlung androhen. Rechtsfolgen bei Nichtbeachtung polizeilicher Anordnungen sowie die möglicherweise zum Einsatz kommenden Zwangsmittel müssen von der Polizei genannt werden. Dies geschieht in der Regel durch Räumungsaufforderungen, die wie am 17.10.2009 in Leipzig geschehen, auch lautstärkebedingt überhört werden können.

Kommt es zur Räumung von Blockaden nimmt die Polizei erfahrungsgemäß keine Rücksicht auf Alter und Zustand der Sitz-Blockierenden. Jede und jeder, der/ die sich für die Blockade-Form entscheidet, sollte mit sich und der eigenen Bezugsgruppe abwägen, wie weit er/sie gehen möchte, ein Ausstieg aus der Blockade muss immer möglich sein. Der körperliche Zugriff durch die Polizei bedeutet eine nicht zu unterschätzende psychische Belastung. Der Räumung einer Blockade können Platzverweise und im äußersten Fall auch Ingewahrsamnahmen folgen.

TeilnehmerInnen einer Sitzblockade müssen mit einem Bußgeld von 25 bis 50 Euro rechnen. Es handelt sich, wie erwähnt, um eine Ordnungswidrigkeit, nicht aber um eine Straftat. Grundsätzlich sollten alle, die in irgendeiner Weise nach einer Aktion zivilen Ungehorsams mit Geldbußen wegen Ordnungswidrigkeit oder mit Strafbefehlen wegen Nötigung überzogen werden, Widerspruch gegen jede dieser Maßnahmen einlegen. Unmittelbar nach der Aktion sollte unbedingt ein Gedächtnisprotokoll angefertigt werden, das Angaben über Zeit, Verlauf, ggf. Informationen zur Polizeieinheit (Dienstnummer, KFZ-Kennzeichen) und Zeugen enthält.

Empfehlenswert ist in jedem Fall, sich gemeinsam mit Bezugsgruppe oder anderen vertrauten Zusammenhängen über Eindrücke, Ängste und Erlebnisse auszutauschen, zum Einen zur Verarbeitung, zum Anderen, um Fehler oder auch Positives herauszuarbeiten und diese Erkenntnisse in die Vorbereitung kommender Aktionen einfließen zu lassen.

Für Rechtshilfe oder Unterstützung bei der Deckung von Kosten sollten Bündnisse oder Soli-Gruppen angesprochen werden. (Rote Hilfe: leipzig@rote-hilfe.de oder Ermittlungsausschuss: ea-leipzig@gmx.de)

www.leipzig-nimmt-platz.de

www.aktionsnetzwerk.de

kreativerstrassenprotest.twoday.net

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