Mythos und Tradition der Montagsdemonstrationen

14 Jahre nach dem Wendeherbst 89, nach dem Abdanken der DDR-Regierung und Wiedervereinigungstaumel, wurden im September 2003 die Montagsdemonstrationen wieder aufgenommen. Zwischenzeitlich gab es noch montägliche Friedensdemonstrationen zum Kosovo-, Afghanistan- und den Irakkriegen, die die emotionalen Reaktionen auf die Kriegsgefahr bündelten. Da sie zwar einen berechtigten moralischen, aber darüber hinaus keinen gesellschaftsverändernden Anspruch hatten, können sie bei unserer Betrachtung außen vor bleiben. Der Zusammenhang mit der 89er Bewegung wurde über den Mythos "Montagsdemonstration" hergestellt. Es gab kein Aufbegehren gegen die eigene Unterdrückung. Man demonstrierte 2002/2003 mit der Bundesregierung für den Weltfrieden und gegen den Alleingang der USA.

Doch wo liegt der Unterschied zwischen Mythos und Tradition ‚Montagsdemonstration‘? Genauer: Wie können wir feststellen, ob der Mythos benutzt wird oder man sich tatsächlich in der Tradition befindet? Letzteres zeichnet sich durch den Anspruch aus, Gesellschaft, d.h. die sozialen Verhältnisse zu verändern bzw. Herrschaftsverhältnisse aufzuheben. Wo dieser fehlt, handelt es sich um die Beschwörung des Mythos, der alle Jahre wieder in Gedenkfeiern und Demokratieforen mündet. Der Mythos besticht durch seine Einfachheit und Verklärung der Erinnerung an die Glorie, an den Triumph des "Volkes" für „Demokratie, Freiheit und Einheit“. Dies entspricht der offiziellen Geschichtsschreibung einer siegreichen Gesellschaftsordnung, die auf der anderen Seite der Medaille den Sozialabbau und die Verelendung vollzieht. Mit dem Mythos ist der Prozess abgeschlossen, Geschichte, es war einmal…

Die Montagsdemonstrationen und ihre Ikone Pfarrer Führer sind bereits ritualisierte Staffage für den Standort Leipzig, aufgeladen mit der "Leipziger Freiheit" und instrumentalisiert für die Olympiabewerbung des Oberbürgermeisters und seiner Schergen. Die offizielle Erinnerungskultur würde den widerspenstigen Kern der Wendezeit gerne entsorgen, damit so etwas nie wieder geschehe und alle schön brav in den Kanälen der Bürgerbeteiligung verfaulen oder widerspruchslos als Ausgestoßene der asozialen Marktwirtschaft zugrundegehen.

MontagsdemonstrantInnen, die keine Staffage sein wollen, die sich in die Tradition der Anfangszeit der Montagsdemos stellen wollen, müssen sich, ebenso wie damals, auf die Konfrontation mit der Obrigkeit einstellen. Denn wer gegen den Sozialabbau und gegen die ungerechten Verhältnisse des Systems, in dem wir leben, demonstriert, darf nicht mit der Sympathie des Staates und auch nicht der des Oberbürgermeisters rechnen. Dementsprechend braucht man sich nicht wundern, wenn die kreuzbrave LVZ zwar das Friedensgebet für den 6.10. ankündigt, aber keinen Ton über die anschließende Demonstration verliert.

Aber 89 gab es noch mehr als die Montagsdemonstrationen… in den Monaten zwischen dem Ende des DDR-Regimes und der Wiedervereinigung blühten viele neue Zeitungen als Medien alternativer Möglichkeiten auf. Betriebe und Häuser wurden besetzt (siehe ab Seite 8 und 24) und später von der neuen Staatsgewalt geräumt. Hoffnungen auf einen "wahren Sozialismus" wurden artikuliert und enttäuscht. Das Versprechen blühender Landschaften und das Setzen auf die nationalistische Karte verhalfen Helmut Kohl und seiner CDU zum Sieg. Die Landschaften sollten allerdings in den nächsten Jahren durch den rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit, die Verelendung der Städte und den sozialen Abstieg vieler Menschen verdorren. Nazis verwandelten ganze Landstriche in "national befreite Zonen", in denen Ausländer Brandanschlägen zum Opfer fielen und "linke“ Jugendliche am besten zu Hause blieben. Kurz: Die Wende markierte den Übergang vom Regen in die Traufe, als Zwischenspiel gab es eine kurze Periode der Freiheit. Bleibt zu wünschen, daß sich der Blick auf die gesellschaftlichen Mißstände, Ursachen und Auswirkungen des Sozialabbaus schärft. Wichtig ist, daß Lehren aus der Wendezeit gezogen werden und kein Platz mehr für nationalistisches und rechtes Gedankengut ist. Und, daß die eigene Unzufriedenheit nicht auf „die Anderen“ projiziert und die eigenen Wünsche nach einem besseren Leben nicht mit Deutschland oder Olympia (siehe S.4) verbunden werden.

Mit dieser Ausgabe werden wir eine neue Rubrik eröffnen, die sich kontinuierlich mit der Wendezeit und damit zusammenhängenden Themen beschäftigt. Es ist uns wichtig, Details, Sichtweisen und Vorgänge hinter dem Mythos hervorzuzerren, der wie eine Glocke über den damaligen Geschehnissen liegt. Das Ende des DDR-Regimes, die Wendezeit und das Ankommen in der BRD bedeutete einen starken Einschnitt in die Lebensgeschichte der „Ossis“ und damit auch der Leipziger. Und ist damit auch ein wichtiges Thema für uns. Ebenso wichtig sind uns aktuelle Vorgänge, deshalb findet ihr als Beilage die Sondernummer der Direkten Aktion, speziell zur Agenda 2010 …

Euer Feierabend!

P.S.: Die Verkaufsstelle des Monats ist dieses Mal das Bistro „Al Safa“ in der Leplaystraße am Roßplatz. Damit die MontagsdemonstrantInnen danach gleich Feierabend! essen und Falafel lesen können.

Editorial

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