Operaismus für Anfänger_innen
Im „Heißen Herbst“ von 1969 schien Italien kurz vor einer Revolution zu stehen. Eine Welle von wilden Streiks, deren Epizentrum die Fabriken des Autokonzerns FIAT in Turin waren, erschütterte die herrschende Ordnung. Dies habe ich im vorletzten Teil dieser Artikelreihe beschrieben. Im letzten Heft habe ich mich dann vor allem mit der feministischen Gruppe Lotta Femminista beschäftigt. Indem sie auch die „revolutionären“ linksradikalen Großorganisationen – wie z.B. Potere Operaio und Lotta Continua – einer systematischen Kritik aussetzten, spielten gerade die Feministinnen eine wichtige Vorreiterrolle bei der Entstehung der neuen neuen autonomen Bewegung der 1970er Jahre.
Mit eben dieser neuen Bewegung, der „Autonomia“, die 1977 erneut eine politische Krise von ungeahnten Ausmaßen hervorrufen sollte, werde ich mich nun im letzten Teil dieser Reihe befassen. Genauer gesagt, soll hier gezeigt werden, wie die operaistischen Theoretiker_innen versuchten, diesen neuen Zyklus von sozialen Kämpfen zu erfassen und verständlich zu machen. Einen ersten Eindruck davon, wie schwierig das war, mag diese Äußerung des operaistischen Historikers Sergio Bologna geben: „Die 1977er Bewegung […] war eine neue und interessante Bewegung, da sie erstens nicht wirklich Wurzeln in vorhergehenden Bewegungen hatte, oder falls sie sie hatte, auf eine vielschichtige Art und Weise. Sie hatten eindeutig eine andere soziale Basis, die sich von jener der Bewegungen von 1968 und 1973 unterschied. Ihre soziale Zusammensetzung basierte auf einer Jugend, die mit den politischen Eliten, inklusive den Eliten von 1968, also auch mit den Gruppen wie Lotta Continua und selbst der Autonomia Organizzata gebrochen hatte oder sie zurückwies. […] Sie brach völlig mit der Vision des Kommunismus, während letztlich auch der Operaismus von sich dachte, er sei der Vertreter des ‘wahren Kommunismus’. Die 77er Bewegung wollte absolut nicht der ‘echte Kommunismus’ sein.“ (1)
Die neue Bewegung bewegte sich also einerseits in den Fluchtlinien der Klassenkämpfe von 1969, aber zugleich taten sich neue Konfliktfelder auf und neue Akteure traten auf den Plan – die feministische Bewegung habe ich bereits erwähnt, hinzu kamen Jugendliche, Arbeitslose und prekär Beschäftigte, Hausbesetzer_innen usw. Auf die Frage, wie sich diese vielfältige Bewegung begrifflich erfassen ließe, fanden die operaistischen Theoretiker_innen recht unterschiedliche Antworten, wobei ich hier beispielhaft zwei davon behandeln will: den bereits erwähnten Sergio Bologna sowie Antonio Negri.
Beide teilten eine lange gemeinsame Geschichte (beide waren bei der Organisation Potere Operaio aktiv gewesen, Negri hatte dort zeitweilig den Posten des Generalsekretärs inne), entwickelten sich aber von da aus in sehr unterschiedliche Richtungen – polemisch gesagt, vertrat Bologna den „rationalen“ Flügel der operaistischen Bewegung, während Negri eher den „irrationalen“ verkörperte. Nach der Auflösung von Potere Operaio 1973 begründete Sergio Bologna die Zeitschrift Primo Maggio („Erster Mai“) mit. Im Folgenden beziehe ich mich vor allem auf seinen Text „Der Stamm der Maulwürfe“ (2), der im Frühjahr 1977 in Primo Maggio veröffentlicht wurde. Im Anschluss daran werde ich mich dann Negris Geschichtsphilosophie und dem von ihm entdeckten neuen Klassensubjekt des „gesellschaftlichen Arbeiters“ widmen.
Bezahlt wird nicht!
Das italienische Kapital und der Staatsapparat sahen sich durch die Klassenkämpfe von 1969 bis 1973 unter Druck gesetzt. Während die sozialen Kämpfe „von unten“ weitergingen, versuchte man „von oben“ demgegenüber das System neu zu strukturieren und die allgemeine „Krise“ zu lösen. Soweit es die Politik betraf, liefen diese Versuche auf eine Neuordnung des Parteiensystems hinaus vor allem auf eine stetige Annäherung zwischen der PCI (der kommunistischen Partei) und der christdemokratischen Regierungspartei DC, die bis dahin alles getan hatte, um die Kommunisten von der Macht fernzuhalten. Vor allem der DC-Politiker Aldo Moro bemühte sich, diesen „historischen Kompromiss“ zustande zu bringen.
In ökonomischer Hinsicht machten sich ab 1974 die Folgen der sogenannten „Ölkrise“ auch in Italien bemerkbar. Das Kapital nutzte die Krisensituation in seiner Weise – so bot die Inflation eine Möglichkeit, über Preissteigerungen die von den Arbeiter_innen erkämpften Lohnzuwächse abzufangen (in manchen Industriezweigen hatten zuvor die Belegschaften mit ihren Streiks Lohnerhöhungen von 25% pro Jahr durchsetzen können). Zugleich betrieb die christdemokratische Regierung eine rigide Austeritätspolitik und erhöhte u.a. die Gebühren für Strom, Wasser und Telefongebühren.
Dies führte – zusammen mit den allgemein steigenden Lebenshaltungskosten – zu neuen Unruhen, einer landesweiten Bewegung, die sich neuer Aktionsformen bediente. Den Anfang machten dabei die Arbeiter_innen der FIAT-Werke in Turin. Nachdem zwei lokale Busgesellschaften beschlossen hatten, die Fahrpreise um 20 bzw. 50% zu erhöhen, kam es zum Protest, der auch von den Gewerkschaften unterstützt wurde. Die Zahlung der neuen Preise wurde kollektiv verweigert, stattdessen fuhr in jedem Bus ein Gewerkschaftsmitglied mit und kassierte von den Arbeiter_innen (gegen Quittung) die alten Fahrpreise ein – dieses Geld wurde dann gesammelt an die Busgesellschaften überwiesen. Nachdem sich auch die FIAT-Konzernleitung einschaltete und Druck ausübte, kehrten die Busgesellschaften zu den alten Preisen zurück (4).
Indem sie so auf das Mittel der „direkten Aktion“ setzten, zeigten die Gewerkschaften auch, dass sie aus den Erfahrungen des „Heißen Herbstes“ gelernt hatten. Der Protest in Turin erwies sich jedenfalls als beispielgebend: Ähnliche Praktiken der „eigenmächtigen Herabsetzung“ (autoriduzione) fand bald in vielen, vor allem norditalienischen Städten massenhafte Anwendung. Nicht nur wurden in Städten wie Rom, Mailand und Neapel tausende Häuser besetzt. Zugleich entwickelte sich eine breite Bewegung der Mieter_innen, welche die überhöhten Mieten zurückwiesen und eigenmächtig reduzierten.
Auch als Mittel, um sich gegen die Erhöhung der Strom- und Telefongebühren zu wehren, war die „eigenmächtige Herabsetzung“ sehr beliebt. In Rom wurden diese Kämpfe von Aktivisten der autonomen Szene unterstützt, von denen relativ viele bei den städtischen Elektrizitätswerken beschäftigt waren – wenn wegen der Zahlungsverweigerung irgendwo der Strom abgestellt worden war, kamen sie vorbei und setzten die Stromversorgung wieder in Gang. In denselben Zusammenhang gehörten auch der „proletarische Einkauf“, wie er im Oktober 1974 in Mailand erstmals praktiziert wurde, wo eine Gruppe von wütenden Hausfrauen einen Supermarkt stürmte und die Herausgabe von Waren zu reduzierten Preisen erzwang.
Die Rolle der kleinen Fabriken
Die wirtschaftliche Krise trug aber noch in anderer Weise dazu bei, dass sich das Terrain der Kämpfe verlagerte. So wurden einerseits eine ganze Reihe von Fabriken geschlossen oder zeitweise stillgelegt. Zugleich schossen Unmengen an kleinen „Klitschen“-Betrieben aus dem Boden. Das Textilunternehmen Benetton war dabei besonders innovativ, indem er gleich seine gesamte Produktion an solche formell unabhängige Kleinunternehmen übertrug – wobei freilich der „Mutterkonzern“ nach wie vor eine sehr direkte Kontrolle z.B. über die Arbeitsgeschwindigkeit an den Fließbändern ausübte.
Während diese Klitschenbetriebe zunehmend das Bild der italienischen Wirtschaft bestimmten, änderte sich zugleich die Zusammensetzung der Arbeiterschaft. So waren in diesem Sektor überproportional viele Minderjährige und Jugendliche beschäftigt, ebenso sehr viele weibliche Arbeitskräfte. Die wenigsten von diesen war gewerkschaftlich organisiert – überhaupt ließen sich viele gewerkschaftliche Methoden, die in der Großfabrik wunderbar funktionierten, in den Kleinbetrieben kaum anwenden.
Diese Umstrukturierung der Produktion und die Umschichtung der Arbeiterschaft stellte aber keineswegs nur eine „von oben“, von Seiten des Kapitals betriebene Strategie dar. Für viele proletarische Jugendliche war die selbstgewählte Prekarität und die zeitweilige, immer wieder unterbrochene Beschäftigung in Teil-, Saison- oder Schwarzarbeit auch ein Mittel, sich gewisse Freiheiten zu sichern – eine Festanstellung in der Fabrik stellte schließlich kaum eine wünschenswerte Perspektive dar. Die autonome Szene in Bologna baute sogar eine Art selbstorganisierte Arbeitsvermittlung auf. Die Arbeitssuchenden der Region wurden in einer Liste erfasst, und dann die Stadtverwaltung (die damals von der kommunistischen Partei gestellt wurde) dahingehend unter Druck gesetzt, dass sie entsprechende Jobs vergab. Arbeit in der Fabrik oder auf dem Bau wurde von den Autonomen dabei prinzipiell verweigert. Zeitweise waren um die 5.000 Personen in dieser Liste organisiert. (5)
Sergio Bologna sah in den kleinen Fabriken ein mögliches Terrain, von dem ausgehend sich eine neue Klassenbewegung entwickeln könnte. Während die Belegschaften der Großbetriebe sich eher still hielten, um angesichts der vielbeschworenen Wirtschaftskrise ihre eigene Position nicht zu gefährden, schien bei den Arbeiter_innen der Klitschen eine größere Konfliktbereitschaft gegeben zu sein. Allerdings wies Bologna auch darauf hin, dass die Kleinbetriebe untereinander große Unterschiede aufwiesen: Unterschiede in der technischen Ausstattung, der Märkte, die jeweils beliefert wurden, des gewerkschaftlichen Organisationsgrades der Belegschaft, zwischen unausgebildeten und schlecht bezahlten Beschäftigten und solchen, die hochspezialisierte anspruchsvolle Tätigkeiten ausübten…
Negri und der „gesellschaftliche Arbeiter“
Um das Folgende verständlich zu machen, müssen wir uns noch einmal die operaistische Theoriegeschichte, und dort vor allem das Konzept der „Klassenzusammensetzung“ anschauen. Dieses Konzept hatten die Operaist_innen Anfang der 60er Jahre bei ihren „militanten Untersuchungen“ in den Fabriken von FIAT und OLIVETTI entwickelt (siehe FA! #47).
Auch damals befand sich die italienischen Industrie in einer Phase der Umstrukturierung: Durch zunehmende Automatisierung und Ausweitung der Fließbandarbeit wurde die ältere Generation der Facharbeiter unter Druck gesetzt – deren Fähigkeiten und Kenntnisse wurden durch die technische Entwicklung zunehmend überflüssig gemacht. Das brachte auch eine schwere Krise der Gewerkschaften mit sich, deren Mitglieder sich vorrangig aus der Facharbeiterschaft rekrutierten. Das bedeutete freilich nicht, dass nun völlige Ruhe herrschte: Vielmehr kam es um 1960 zu einer ganzen Reihe von wilden Streiks, wobei die Initiative gerade von den ungelernten und nicht gewerkschaftlich organisierten jüngeren Arbeiter_innen ausging. Diese „Massenarbeiter“ – meist junge Männer, die aus dem Süden des Landes in die Industrieregionen im Norden abgewandert waren – standen dann auch im Zentrum des „Heißen Herbstes“ von 1969.
Darauf aufbauend entwickelten die Operaist_innen den Begriff der „Klassenzusammensetzung“, um die Ereignisse analytisch zu fassen. Diesem Konzept zufolge gab es eine bestimmte „technische Zusammensetzung“ des Kapitals, die von oben her, durch eine neuen Organisation der Produktionsabläufe und Einführung neuer Technologie durchgesetzt wurde. Dieser entsprach jeweils auch eine bestimmte „politische Zusammensetzung“ der Arbeiterschaft, ein bestimmtes zentrales Arbeitersubjekt mit spezifischen Formen des widerständigen Verhaltens.Mit diesem Schema ließen sich die Klassenkämpfe der 1960er Jahre ziemlich gut analysieren.
Hier kommen wir zu Antonio Negri: Dieser verpasste dem Konzept einen recht eigenwilligen Dreh und interpretierte es im Sinne einer breit angelegten Geschichtsphilosophie, deren zentrale Annahmen schon Mitte der 60er von Mario Tronti formuliert worden waren (vgl. FA! #49). Für Tronti war „die kapitalistische Entwicklung den Arbeiterkämpfen untergeordnet, sie kommt nach ihnen“ (6). Die Arbeiter_innen waren demzufolge dem Kapital also immer einen Schritt voraus, und dieses konnte nur reagieren, indem es – mittels neuer Technologie und Umstrukturierung – seine Macht wieder herzustellen suchte.
Dieser Prozess lief für Tronti zwangsläufig auf die Revolution hinaus, denn: „Begriff der Revolution und Wirklichkeit der Arbeiterklasse sind […] identisch.“ (7) Die Arbeiter_innen hatten also schlicht keine andere Wahl.
Negri knüpfte daran an, und damit ließ sich die Frage, wie die veränderte Lage Mitte der 70er zu bewerten seien, mit einem einfachen Analogieschluss beantworten: Die Umstrukturierung der Produktion zeigte, dass da eine neue Klassenzusammensetzung am Entstehen war, und somit musste dabei auch eine neue zentrale Arbeiterfigur als revolutionäres Subjekt entstehen – der „gesellschaftliche Arbeiter“, wie Negri ihn nannte. Dieser hätte nicht nur das Erbe des alten „Massenarbeiters“ übernommen, sondern würde es vielmehr auf einem weitaus höheren Niveau fortführen: Die Klassenkämpfe seien nun eben nicht mehr auf die Fabrik beschränkt, sondern würden sich vielmehr über das gesamte gesellschaftliche Territorium ausbreiten. Somit müsse man „die Restrukturierung als Herausbildung eines immer breiteren vereinheitlichenden Potentials von Kämpfen verstehen“. (8) Diese Thesen formulierte Negri Mitte 1975 in seinem Text „Proletari e Stato“ („Proletarier und Staat“) aus.
Sergio Bologna sprach stattdessen vom „zerstreuten Arbeiter“, was nicht nur weitaus vorsichtiger, sondern auch deutlich realistischer war. Realistischer deshalb, weil Diagnose und Prognose nun mal zwei verschiedene Sachen sind – zumal sich eine wirklich revolutionäre Situation nicht einfach so prognostizieren, also aus dem Ist-Zustand ableiten lässt.
Es ist also nicht verwunderlich, dass Negris Thesen auf Widerspruch stießen. So kritisierte Guido De Masi in einem Artikel, der 1977 in der Zeitschrift Primo Maggio erschien, dass Negri letztlich nur „widersprüchliche Bruchstücke sprachlich ver-eindeutigt“, also „die verschiedenen Kämpfe und gesellschaftlichen Situationen (die alle sehr interessant sind, gerade weil sie so verschieden voneinander sind)“ lediglich unter einem gemeinsamem Schlagwort zusammenfasse. Tatsächlich gäbe es kein neues Klassensubjekt, all diese Kämpfe hätten keinen engeren Zusammenhang: „Sie stellen keinen qualitativen Sprung in der Klassenzusammensetzung dar, sondern ihre Desintegration, Punkt und basta.“ (9)
Auch Sergio Bologna zeigte sich eher skeptisch, und wies auf die Widersprüche und Gegentendenzen hin, die bei Negri gar nicht auftauchten: „Es hat viele kleine (oder große) Schlachten gegeben, aber im Laufe dieser Schlachten hat sich die politische Zusammensetzung der Klasse in den Fabriken wesentlich verändert, und zwar mit Sicherheit nicht in die Richtung, die Negri andeutet. Es gibt keine Tendenz zu jener größeren Einheit, von der er redet, das Gegenteil ist der Fall. Der Graben ist tiefer geworden: nicht zwischen Fabrik und Gesellschaft, sondern innerhalb der Fabrik selbst, zwischen der Rechten und der Linken in der Arbeiterklasse. Alles in allem haben die Reformisten die Hegemonie über die Fabriken zurückgewonnen und versuchen, brutal und rücksichtslos die Klassenlinke zu enthaupten und aus der Fabrik zu vertreiben.“ (10)
This is not the end…
An dieser Stelle schalte ich mal den Zeitraffer ein – eine erschöpfende Geschichte der autonomen Bewegung der 70er Jahre ist auf diesem beschränkten Raum allemal nicht möglich. Das Jahr 1977 brachte, wie erwähnt, eine politische Krise mit sich, in der eine Revolution tatsächlich in greifbarer Nähe zu sein schien. Im Frühjahr des Jahres besetzten autonome Gruppen z.B. die komplette Altstadt von Bologna – der kommunistische Bürgermeister musste schließlich die Armee zur Hilfe rufen, die mit Panzern einrückte, um die Revolte unter Kontrolle zu bringen. Eine Welle von Universitätsbesetzungen, Demonstrationen und Straßenschlachten folgte.
Nachdem dann im Frühjahr 1978 der christdemokratische Politiker Aldo Moro von der Stadtguerilla-Gruppe Rote Brigaden entführt und schließlich ermordet worden war, nutzte der Staat die Möglichkeit, um auf breiter Front gegen die vermeintlichen „Rädelsführer“ der radikalen Linken vorzugehen. Am 7. April 1979 begannen massenhafte Razzien, bei denen neben vielen anderen auch Antonio Negri verhaftet wurde. Er saß vier Jahre lang im Gefängnis, ehe ihm die Flucht nach Frankreich gelang.
Sein weiterer Werdegang dürfte halbwegs bekannt sein: Spätestens mit seinem 1999 erschienenen Theorie-Bestseller „Empire“, den er zusammen mit Michael Hardt verfasste, brachte Negri es zu weltweiter Berühmtheit. Seinen Überzeugungen ist er dabei weitgehend treu geblieben, was sich ebenso positiv wie negativ bewerten lässt: Einerseits ist ist es schon phänomenal, wie Negri sich seit Jahrzehnten an jede neue Protestwelle, von der Öko-Bewegung bis zu Occupy anhängt. Andererseits hat seine Theorie sich auch kaum weiterentwickelt, sondern ist nur noch allgemeiner und ungenauer geworden – so ist die heute von ihm gefeierte „Multitude“ leicht als verwässerte Neuauflage des „gesellschaftlichen Arbeiters“ zu erkennen.
Das ist nicht weiter schlimm – der Negrische „(Post-)Operaismus“ ist im Feuilleton und in universitären Soziologie-Seminaren bestens aufgehoben. Ansonsten sollte man eher das Gegenteil von dem tun, was Negri zwar schmissig, aber wie üblich einigermaßen falsch, schon 1981 empfahl – nämlich großzügig zu vergessen: „Die Klassenzusammensetzung des heutigen metropolitanen Subjekts kennt keine Erinnerung, […] weil es befohlene Arbeit, dialektische Arbeit nicht will […], proletarische Erinnerungen sind nur Erinnerungen an vergangene Entfremdung […]. Die bestehenden Erinnerungen an 1968 und an die zehn Jahre danach sind heute nur noch die Erinnerungen des Totengräbers […] Die Jugendlichen von Zürich, die Proletarier von Neapel und die Arbeiter von Danzig brauchen keine Erinnerung, […] kommunistischer Übergang bedeutet die Abwesenheit der Erinnerung.“ (11) Das ist keine gute Idee. In der offiziellen Geschichtsschreibung werden die sozialen Kämpfe der Vergangenheit ohnehin allemal als erstes vergessen.
Und natürlich will ich hier Negri nicht das letzte Wort überlassen. Immerhin ist sein Werdegang symptomatisch. Der Operaismus war eben nie eine einheitliche Bewegung, und die Aktivist_innen schreckten oft davor zurück, aus ihren radikalen Ansätzen auch die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen: So führte ihre entschiedene Parteinahme für die Arbeiter_innen und deren Kämpfe von unten und gegen die Institutionen der offiziellen „Arbeiterbewegung“ für viele von ihnen (mit einigen Umwegen) dann doch wieder zur Parteipolitik zurück. Die Praxis der „militanten Untersuchung“ und die kleinteilige Analyse der Verhältnisse in den Fabriken, die sich daraus ergab, wurde zugunsten einer großspurigen Geschichtsphilosophie fallen gelassen.
Demgegenüber sollten die positiven Ansätze des Operaismus natürlich nicht vergessen werden – in den vorangegangenen Teilen dieser Artikelreihe habe ich dazu hoffentlich ein wenig beigetragen. Vor allem sollte man nicht vergessen, dass Staat und Kapital niemals die einzigen Subjekte der Geschichte waren und es auch heute nicht sind. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.
justus
(1) http://www.copyriot.com/unefarce/no5/autonomia.html
(2) englische Version unter http://libcom.org/library/tribe-of-moles-sergio-bologna
(3) Austerität: von lat. austeritas „Herbheit“, „Strenge“, bezeichnet eine staatliche Haushaltspolitik, die einen ausgeglichenen Staatshaushalt ohne Neuverschuldung anstrebt.
(4) vgl. www.trend.infopartisan.net/trd0513/t060513.html
(5) vgl. www.wildcat-www.de/thekla/08/t08akmu1.htm
(6) Mario Tronti, „Lenin in England“, zitiert nach Nanni Ballestrini/Primo Moroni: „Die goldene Horde – Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien“, Assoziation A, Berlin 2002, S. 87
(7) zitiert nach Bodo Schulze: „Autonomia – Vom Neoleninismus zur Lebensphilosophie. Über den Verfall einer Revolutionstheorie“, in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, No. 10, 1989, S. 151 (online unter www.wildcat-www.de/material/m009schul.htm)
(8) zitiert nach Steve Wright: „Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus“, Assoziation A, 2005, S. 178.
(9) zitiert nach Roberto Battaggia: „Massenarbeiter und gesellschaftlicher Arbeiter – einige Bemerkungen über die neue Klassenzusammensetzung“, Wildcat-Zirkular Nr. 36/37, April 1997, online unter www.wildcat-www.de/zirkular/36/z36batta.htm
(10) zitiert nach Wright, a.A.o., S. 184.
(11) zitiert nach Wright, S. 188.