Archiv der Kategorie: Feierabend! #22

„VORSICHT, LUKASCHISMUS!“

(K)eine Wahl für Belarus

Wenn es irgendwo in Europa nach Revolte riecht, dann sind die Augen der Kameras und das Ohr der Öffentlichkeit schnell vor Ort. In diesem Fall in Belarus, wo im März tausende Menschen gegen Manipulation und Fälschung der vorangegangenen Präsi­dent­schafts­wahl protestierten. Angefeuert von westlichen Akteuren, die auch vor subversiven Mitteln gegen den amtierenden Präsidenten nicht zurückschreckten, konnte in den Nachrichten eine medienwirksame Demonstration kritischer Opposition zum Lukaschen­ko-Regime gezeigt werden. Schnell kamen Vergleiche mit den Vorgängen in der Ukraine oder Georgien auf, mit einem gebannten Blick darauf, was denn aus diesen mutigen Protestlern für eine „echte“ Demokratie in Bela­rus werden würde. Nun sind die Tage der Proteste auf dem Okto­ber­platz in Minsk erstmal vorbei. Hunderte Teilnehmer und Initiatoren sitzen im Gefängnis*. Alexandr Lukaschenko wurde mit offiziell 82,6% der Wählerstimmen im Amt bestätigt. Vorwürfe der massiven Wahl-Manipulation sind dabei wohl nicht von der Hand zu weisen. Doch die Vorwürfe, die gegen den als „letzten Diktator Europas“ bezeichneten Präsidenten die von verschiedensten Seiten geäußert werden, sind nicht alle so berechtigt, wie hierzulande gern einseitig dargestellt.

Seit zwölf Jahren regiert Lukaschenko nun und hat in dieser Zeit die Verfassung mehrmals zu seinen Gunsten ändern lassen. Laut dieser Verfassung, die 1994 Belarus als „einheitlichen, demokratischen und sozialen“ Staat konstituierte, hätte der Präsident nicht für eine dritte Amtszeit im Jahr 2006 kandidieren dürfen. Doch mithilfe eines 2004 ini­tiierten Referendums ließ er sich vorausschauend von der Bevölkerung mit offiziell rund 80% dafür ermächtigen. Bereits acht Jahre zuvor hatte sich Lukaschenko, ebenfalls durch ein Referendum, mehr Machtbefugnisse für seine Position eingeräumt, womit ihm seitdem umfangreiche legislative Rechte und die Möglichkeit des Erlasses von Sondergesetzen zustehen. Die durch diese Verfassungsänderung auch neu formierte Legislative in Form einer Nationalversammlung ist in ihrer Bedeutung für die Regierung stark zurückgestellt. Durch diese allmähliche Zurechtstutzung der Verfassung, die einer autoritären Restauration gleichkommt, gibt es kaum Chancen, eine Veränderung politisch herbeizuführen. In der jetzigen Nationalversammlung sind ohnehin praktisch keine oppositionellen Kräfte vertreten. Und eine starke, geeinte, fähige Opposition gibt es in Belarus nicht, was verschiedene Gründe hat:

Anders als in den meisten GUS-Ländern gab es in Belarus in den 1990ern keine durchdringende „wilde Privatisierung“ der Staatsbetriebe, wodurch sich eine einflussreiche oppositionelle Oli­garchen­schicht mit direktem Zugang zu den Medien hätte herausbilden können. Rundfunk und Zeitungen sind weitgehend verstaatlicht und freie Medien haben zu schwache Auflagen. Zugang zum Internet, dem noch am wenigsten kontrollierten Medium, ist bisher nur wenigen Weißrussen möglich, auch wenn ihre Zahl steigt. Kundgebungen oder Demonstrationen werden oft nicht genehmigt oder an den Stadtrand verlegt. Teilnehmer illegaler politischer Veranstaltungen werden mit rigoros vorgehenden Sicherheitskräften konfrontiert und mit hohen Geldbußen oder Gefängnis bestraft. Manche Parteien und politische Organisationen werden gleich ganz verboten und es gab auch Fälle prominenter Politiker, die ungeklärt „verschwanden“.

Ein weiteres Problem dagegen betrifft die Opposition selbst. Seit 1994 haben sich mehrere, sowohl westlich orientierte „Modernisten“, die sich liberaldemokratisch und auch nationalistisch präsentieren, sowie die sowjetophilen „Traditionalisten“ in verschiedenen Parteien organisiert. Dabei verfolgen einige Parteien eher einen Zickzackkurs zwischen Auflehnung und Opportunismus. Einen einheitlichen Oppositions-kurs und mehrheitlich akzeptierten Gegenkandidaten gegen Lukaschenko zu finden, blieb auch für die diesjährige Wahl ein großes Problem. Man konnte sich schließlich zwar in einem Bündnis zusammenfinden und einen Kandidaten vorweisen, die Ergebnisse der Wahl fielen dann aber eindeutig aus: Von den insgesamt vier Kandidaten konnte keiner an Lukaschenko auch nur annährend heranreichen. Seitens der Opposition wurde versucht, durch Anfechtung der Wahlergebnisse eine Neuwahl zu veranlassen, um so, ähnlich wie in der Ukraine oder Georgien, einen Machtwechsel durch Mobilisierung der Massen zu erzwingen. Aber die Proteste in der Wahlnacht und den darauf folgenden Tagen zogen nicht so viele Menschen an, wie vonnöten gewesen wären, um unterstützt durch westliche Drohgebärden genügend Druck auszuüben.

Denn auch wenn die Ergebnisse der Wahlen manipuliert wurden – der Präsident genießt einen stabilen Rückhalt in weiten Teilen der weißrussischen Bevölkerung. Es ist anzunehmen, dass er tatsächlich eine absolute Mehrheit der Wähler hinter sich hatte. Eine vom Volk selbst gewählte Präsidialautokratie also? Offenbar gibt es im Lukaschenko-Land, in dem noch 2/3 der Wirtschaft in Staatshand sind, für die Bevölkerung keine ausreichenden Gründe, ihre Situation verändern zu müssen. Einkommen und Renten beispielsweise, werden auf halbwegs befriedigendem Niveau gesichert, die Staatswirtschaft ist relativ stabil und die Landwirtschaft wird gut subventioniert. So genießt der Präsident Popularität vor allem bei den Alten, denen es im Vergleich zur Sowjetzeit sogar etwas besser geht. Viele der älteren Generation trauen den Versprechungen des Westens nicht. Und so stellen sie sich hinter ihren Patronarchen, der sich auch um seinen Nachwuchs kümmert: Perspektivlose oder aufstrebsame Jugendliche aus den ländlichen Gegenden und Kleinstädten werden für den abgesicherten Staatsdienst rekrutiert und somit loyale Regimebefürworter in die großen Städte geholt. Ein zunehmend in Belarus, wie auch in Russland, geschürtes nationalistisches Pathos wirkt zudem für viele identitätsstiftend und damit das System stabilisierend. Sowjetisches Erbe und orthodox-patriarchale Gesellschaftsstrukturen haben sich auf die politische Kultur des Wahlvolks niedergeschlagen. Autoritäts­gehorsam, Neigung zu Konformismus, mangelndes Demokratiebewusstsein und eine nur widerwillige Bereitschaft für wirtschaftliche und politische Reformen haben außerdem zur Popularität von Lukaschenkos Kurs beigetragen.

„ZEIT ORDNUNG ZU SCHAFFEN!“

Doch in Minsk weht den Leuten schon der warme Westwind um die Nase. Vom westlichen Lebensstandard angelockt und durch Massendemonstrationen à la Ukraine ermutigt, wollen auch sie die Vorzüge demokratischer Freiheiten für sich beanspruchen. Da es dabei um elementare Rechte, wie Meinungsfreiheit, Pressefreiheit oder Versammlungsfreiheit geht, welche gerne als Blendwerk kapitalistischer Bestrebungen hochgehalten werden, ist eine Unterstützung der Protestler durch USA und EU gewiss. Schließlich geht es um Sicherheit: Öl- und Gastransite aus Russland, weitere Expan­sions­zonen an den neuen Grenzen der Europäischen Union, strategische Ausweitung des militärischen Einflussbereichs – über­haupt um die Eingliederung in die westliche Familie, wogegen sich Lukaschenko in Orien­tierung auf den großen russischen Bruder wehrt. An einem stabilen, demokratisch und marktwirtschaftlich ausgerichteten Belarus als neuen Nachbarn hätte die EU großes Interesse. Konflikte mit Polen und anderen Staaten stellen ein Sicherheitsrisiko dar, die diplomatischen Beziehungen sind schon länger gestört. Eine gemeinsame EU- Position bezüglich Belarus fehlte aber bisher. Nach der Wahl gab es viel Aufregung und Proteste seitens verschiedener westlicher Politiker und internationaler Organisationen, die mehr Druck auf Lukaschenko fordern bis hin zu wirtschaftlichen Sanktionen. Ob diese Drohkulisse am Ende den oppositionellen Kräften und liberalen Organisationen wirklich nützt, sei dahingestellt. Und Rufe nach einem Einschreiten Russlands wirken auch eher unbeholfen, da die Verbindung zwischen Putin und Lukaschenko zwar nicht auf hohen Sym­pathiewerten beruht, wohl aber auf ähnlichen Interessen.

Ein Kräfteringen also, in dem es keine wirkliche Alternative gibt. Aber es gibt Ansätze kritischer Kultur. Es existiert vor allem in Minsk ein breites Spektrum an politisch, gesellschaftlich und künstlerisch aktiven Gruppen, Initiativen und nicht staatlichen Organisationen, an denen auch viele junge weißrussische Menschen teilhaben. Die Jugendbewegung „Zubr“, der Verband der Jugend-NGO „Rada“ (von staatlicher Seite aufgelöst) beispielsweise oder andere subkulturelle Bewegungen, die sich für eine freie Jugendkultur einsetzen und kritische Literatur, Kunst und Musik hervorbringen. Sie werden meist angeleitet oder unterstützt von ausländischen NGOs und Regierungen und sind schon deshalb ein Dorn im Auge des wachsamen Herrschers. Aber es sind lediglich Ansätze einer engagierten Öffentlichkeit in den städtischen Zentren, deren Unterstützer ständig fürchten müssen, dass ihre Aktivitäten verboten werden und sie ihren Job oder Ausbildungsplatz verlieren. Es ist fraglich, ob große Teile der ländlichen Bevölkerung überhaupt von den Protesten erfahren haben, wenn dann sicher nur in bewährter staatspropagandistischer Weise, was Lukaschenko eher dient als schadet. Sanktionen der EU könnten das nationalistische Klima gegen den „feindlichen Westen“ anheizen und dazu führen, dass sämtliche freiheitlichen Bewegungen weiter eingeschränkt werden.

Von einer Identifizierung mit den so genannten demokratischen Werten ist man, eben­falls wie in Russland, in den weißrussischen Machteliten weit entfernt. Es liegt also an den jüngeren Generationen, langfristig wirkliche Alternativen aufzubauen, die eine freie­re Gesellschaft ermöglichen. Doch der Weg da­hin scheint allzu weit entfernt. Die Voraus­setzungen für eine offene, selbstgestaltende Gesellschaft sind in Belarus noch schlechter als in der Ukraine, deren Schwierigkeiten und Probleme auf dem Weg in die liberale Demokratie gerade für die einfache Be­völkerung unübersehbar sind. Und was tun, wenn die Kameraaugen sich wieder abwenden und ungesehen von der westlichen Öffentlichkeit weiter die Menschen inhaftiert, eingeschüchtert und festgehalten werden?

Die Proteste auf dem Oktoberplatz in Minsk waren ein wichtiger emanzipatorischer Schritt in Richtung Mitbestimmung, was prinzipiell wichtig und unterstützenswert ist. Die Opposition hat mehr Menschen für Proteste mobilisieren können als in all den Jahren zuvor, wohl mit gewachsenem Selbstbewusstsein und dank westlicher Hilfe. Wie viel vom kämpferischen Geist noch vorhanden ist, wird vielleicht der 26.April zeigen, der Tschernobyl-Gedenktag, an dem es traditionell, wenn bisher auch eher verhaltene, Lukaschenko-kritische Demonstrationen und Kundgebungen gibt. Einige der in den letzten Tagen Festgenommenen werden deshalb noch länger weggesperrt bleiben, um die Ausweitung der Proteste und einen möglichen Zusammenschluss verschiedener oppositioneller Kräfte zu verhindern. Denn diese könnte an Popularität und Stärke gewinnen und möglicherweise auch in jene ländlichen und kleinstädtischen Regionen vordringen, die bisher von all den Vorgängen in der Hauptstadt wenig mitbekommen haben. Lukaschenko will eine freie, kritische Informationsverbreitung verhindern – denn Öffentlichkeit und eine selbstbewusste Gesellschaft sind Gefahren, die, einmal entfesselt, nicht mehr so leicht zu ignorieren oder zu unterdrücken sind.

nyima

* Im Zuge seiner Amtseinführung am 8.4. wurden viele Oppositionelle aus der Haft.

Uruguay: Da bewegt sich was…

Treffen autonomer Basisbewegungen aus Lateinamerika im Februar 2006

Was passiert eigentlich gerade in Lateinamerika? Das öffentliche Interesse ist größer geworden, in den Medien wird wahlweise von progressiven, kommunistischen oder auch diktatorischen Staatschefs berichtet und Begriffe wie Armut, Militarisierung oder Freihandelsabkommen tauchen immer wieder auf. Doch wie wird damit vor Ort umgegangen? Wo steht die Basis, welche Möglichkeiten und Notwendigkeiten sehen sie und wie läuft die Vernetzung? Anlässlich des 4. lateinamerikanischen Treffens autonomer Basisbewegungen soll hier nun kurz über die Ergebnisse berichtet werden:

So facettenreich wie die Landschaft ist wohl auch die ökonomische, soziale und politische Situation der einzelnen Länder und Regionen. Allerdings gibt es, neben den von Armut begrenzten Lebensumständen, auch gemeinsam zu bewältigende Probleme, wie zum Beispiel die fortgeführten Privatisierungen von Grundgütern wie Wasser und andere so genannte „Strukturanpassungsprogramme“ (1). Aber auch die Schuldenbezahlung und Gespräche über das Frei­handels­abkommen ALCA (2) sowie bilaterale Vereinbarungen stehen auf der politischen Tagesordnung in Lateinamerika. Linke Basiskräfte sehen sich zudem mit der stetig zunehmenden innerstaatlichen Mili­tarisierung und einer Kriminalisierung so-zialer Proteste konfrontiert. So genannte „progressive“ Regierungen haben ebenfalls keinen Para­digmen­wechsel herbeigeführt, selbst wenn es dort vereinzelte soziale Kampagnen gibt, welche die Lebensumstände der armen Bevölkerung verbessern. Mit großen Versprechungen wird so auf die Unterstützung „des Volkes“ gebaut, während man sich doch gleichzeitig mit dem neoliberalen Modell arrangiert, wie zum Beispiel in Brasilien, Argentinien, Chile oder Bolivien. Eine zunehmende Institutionalisierung sozialer Bewegungen und die Bürokratisierung der Gewerkschaften wird hierbei zum Problem, da sich die Linke am fehlenden „klaren Feindbild“ zersplittert.

Mit diesen Problemen konfrontiert, trafen sich 65 verschiedene autonome Basisgruppen aus Uruguay, Argentinien, Chile, Brasilien und Bolivien, um sich über die Situation und die Perspektiven des sozialen Kampfes auszutauschen. Die Gruppen aus dem vornehmlich libertären und kommunistischen Spektrum, die sich NGO- und parteiunabhängig organisieren, diskutierten über Selbstorganisation, Klassenkampf und den möglichen Aufbau von „poder popular“ („Volksmacht“). Sie entwickelten dabei sowohl abstraktere als auch konkrete Hand­lungsstrategien. Die wichtigsten Eckpunkte sind die Organisierung der Unorganisierten, die Zusammenführung der zersplitterten „Linken“ an gemeinsamen Zielen und Projekten, der Aufbau von unabhängigen Partizipationsbereichen und die Unterstützung autonomer sozialer Bewegungen. Der „ideelle Kampf der sich erkennenden Klasse“, und die Stärkung sozialer Werte wie Solidarität sind weitere Anknüpfungspunkte, um den kapitalistischen Verhältnissen mit einer vereinten Gegenmacht der Basis entgegen zu treten. Als konkrete Mittel wurden hierbei die direkte Aktion, direkte Demokratie und solidarische, gerechte, hierarchielose Zusammenschlüsse festgehalten.

Neben dem regelmäßigen Austausch von Informationen und Besuchen beschlossen die Gruppen auch, gemeinsam gegen die Vereinbarungen zu dem Freihandelsabkommen mit Europa im Mai zu mobilisieren, da es sich um ein Problem mit großer Tragweite handelt.

Das nächste Treffen findet voraussichtlich Ende Februar 2007 in Chile statt und hat seinen Sinn vor allem in der Stärkung und Vernetzung der Beteiligten, denn man ist sich über die Komplexität des Aufbaus einer lateinamerikanischen, starken und bewussten Basisbewegung durchaus im Klaren.

Die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Probleme der compañeros auf der anderen Seite des großen Teiches sind zwar räumlich weit entfernt, unterscheiden sich von den unserigen jedoch nur marginal. Voneinander lernen, sich informieren, neue Denkansätze und Anknüpfungspunkte finden oder solidarische Aktionen starten, kann eine Waffe sein. Dort wie überall.

momo

Der Text ist eine Zusammenfassung aus den veröffentlichten Ergebnissen des 4. lateinamerikanischen Treffens autonomer Basisbewegungen. Da kaum davon berichtet wurde, weil es außerhalb des öffentlichen Interesses stand, könnt ihr unter feierabendle@web.de detailliertere Infos (auf spanisch) bekommen.
(1) IWF („Internationaler Währungsfond“) und Weltbank binden Kreditvergabe oder Schuldenausgleich weitgehend an die Durchführung liberaler Reformen, Privatisierungen und Handelsöffnungen; so genannte „Strukturanpassungsprogramme“. Die lateinamerikanischen Länder haben sich fast alle in den 70er Jahren durch Kredite bei IWF und Weltbank verschuldet, sind aber durch die hohen Zinsen theo­re­tisch immer noch an die Verträge gebunden, obgleich sie z.T. inzwischen das 20-fache eingezahlt haben.
(2) ALCA ,spanisch: Àrea de libre Comercio de las Américas (englisch: FTAA; Free Trade Area of the Americans), ist eine gesamt­amerikanische Frei­handelszone die alle 34 Staaten in Nord-, Süd- und Mittelamerika umfassen soll. Planungen dazu existieren seit 1991, die Verhandlungen sind jedoch noch nicht abgeschlossen.

Die Freiheit nehm ich mir!

„Freiräume nutzen, Visionen entwickeln, Selbstverwirklichung leben. Wir wissen nicht, wie Sie das nennen – wir in Leipzig nennen es „Leipziger Freiheit“! Und meinen damit das beflügelnde Lebensgefühl, das wir mit der der gleichnamigen Imagekampagne in die Welt hinaustragen.“ So blumig umschreibt die Marketing Leipzig GmbH ihr Bild von Leipzig. Nicht, dass das was zu sagen hätte – für so was werden die Werbefritzen schließlich bezahlt. Der eigentliche Zweck der Kampagne ist ohnehin klar: Standortmarketing. „Potenzielle Investoren, junge Eliten und Existenzgründer“ will man ansprechen. Die „Freiheit“, um die es geht, ist letztlich bloß die Freiheit zu kaufen und zu verkaufen. Und das ist keine Freiheit, sondern nur der stinknormale alltägliche Verwertungszwang. Die, die nichts zu verkaufen haben, noch nicht mal mehr die eigene Arbeitskraft, und sich deswegen auch nix kaufen können, haben eben Pech gehabt.

Das ist auch der Haken an der „Leipziger Freiheit“: Aus eben dem Grund, aus dem man solche hirnrissigen Kampagnen initiiert, wird die Freiheit derer, die beim allgemeinen sinn- und zweckfreien Produzieren und Konsumieren nicht mittun (können oder wollen), zusehends eingeschränkt. Egal, ob Obdachlose aus dem Leipziger Hauptbahnhof und den schicken Einkaufspassagen vertrieben oder jugendliche Sprayer mit horrenden Geldstrafen bedroht werden – es gilt: Wer am sauberen Image kratzt, fliegt raus! Tolle Freiheit…

Vielleicht sollte man die „Leipziger Freiheit“ auch einfach beim Wort nehmen und ernst machen mit dem, was man uns weismachen will: Freiräume schaffen, Utopien entwickeln und Selbstverwirklichung jenseits der Konkurrenz zu leben versuchen. Das wäre zumindest mal ein guter Anfang.

justus

Radikalisiere dein Leben

Albrecht Paluttke:#5 (vorletzte Folge)*

Albrecht Paluttke, pensionierter Bimmelfahrer, wohnt mit Lebensgefährtin Rita in Leipzig/Stötteritz. Oft treiben ihn düstere Gedanken früh um 5 aus den warmen Federn, weg von seiner Rita. Ob respektlose Kontrolleure & überteuerte Fahrpreise (Fa! #12), größenwahnsinnige Stadtpolitik in Form der Leipziger Olympiabewerbung, gegen die auch Stiefsohn Olaf aktiv ist (FA! #13), durch Hartz IV bedingter Wohnungswechsel (FA! #14) oder die irritierende Erfahrung der Leipziger Montagsdemos (FA! #15)… (Redax)

Mann, Mann, Mann, ich fass es nicht! Jetzt hab ichs echt gepackt mir das Laken ums Bein zu wickeln! Jetzt aber raus aus der Falle – kann ja eh nicht mehr weiter pennen. Oh je oh je, erst mal nen Schluck Wasser.

Olafs Ausbruch sitzt mir immer noch im Kopf . Mir schwirrt der Schädel und ich komm nicht zur Ruhe.

„Mensch Albrecht“, Papa hat er mich nur einmal genannt – damals als er erleichtert festgestellt hat, dass ich der Weihnachtsmann war, – „is das echt alles?! Ich weiß du hängst dich ungern zu weit ausm Fenster, aber so blind kannst du doch nicht sein!…Du immer mit deinem `Ich hab nicht viel zu sagen im Leben, was soll ich den Leuten groß erzählen?`-Quatsch. Entweder du machst dir deine Gedanken, oder nicht! Wenn du so nen Mist, wie `wer solls denn zahlen, wenn nicht die, dies nutzen.`, von dir gibst, machst du sie dir auf alle Fälle nicht!“

Das war natürlich ganz schön starker Tobak für mich. So hat der Junge noch nie mit mir geredet und mit einem ‚Komm mir bloß nicht so…` konnte man das auch nicht abbügeln.

Aber von vorne: das Ganze fing an, als der Junge tagelang nicht bei uns vorbei kam. Wenn ich nach ihm gefragt hab, hat Rita bloß mit den Schultern gezuckt. Doch irgendwann meinte sie mit ernster Miene, ich solle am besten selbst mal hingehen. Nun ist es nicht so, dass ich nicht gern mal in dieser Wohngemeinschaft in Connewitz vorbeischaue, solang ichs noch schaffe die Gerümpelberge im alternativ bewohnten Haus zu übersteigen, ist das alles kein Problem. Aber nach diesem ganzen komischen Gehabe war natürlich klar, dass diesmal richtig was im Busche war und dass es auf irgend eine ziemlich unangenehme Art was mit mir zu tun haben musste.

Als ich mich dann schließlich am nächsten Tag dorthin aufgerafft hatte, war er zunächst nicht da. Ist ja klar; diese jungen Leute sind ja alle ständig unterwegs. Ohne Termin läuft da nix mehr. Aber ich hab ja Zeit und so hab ich mich erst mal in dem chaotischen Zei­tungshaufen auf dem WG-Lesetisch umge­seh­en. Nachdem ich mich ungefähr 2 Stunden durch eine Menge Stoff mit den abstrusesten Weltverbesserungs-Theorien gearbeitet hatte und mich gerade in ein kleines schülerzeitungsartiges Heft vertiefen wollte, wo es laut Inhaltsangabe in einem Artikel irgendwie um das morgendliche Stötte­r­itz gehen sollte, kam Olaf plötzlich mit einer Kiste voll, nicht mehr ganz taufrischem Ge­müse rein, was er sicher wieder irgendwo kos­tengünstig aufgetan hat. Sein trotziger Blick fiel auf das Heft in meiner Hand und für einen Moment, schien er komischerweise sei­ne Selbstsicherheit zu verlieren. Dann fasste er sich schnell wieder, nahm es mir aus der Hand und murmelte etwas von: „… inter­essiert Dich doch eh nicht so was…“. „Was soll mich nicht interessieren“, meinte ich, nun langsam schon etwas aufbrausend, „denkst du ich merke nicht, dass irgendwas mit dir nicht stimmt? Was hab ich dir denn ge­tan?“, fragte ich, nun schon fast etwas hilflos.

“Nun“, meinte er, „weißt Du, es ist vielleicht nicht ganz gerecht, jetzt einfach auf dich wütend zu sein, aber wenn man merkt, dass man auf einmal unter gewisse negative Klassifizierungen einer Person fällt, die und deren Meinung einem eigentlich immer viel be­deutet haben, dann ist das erst mal ziemlich hart. Ums kurz zu machen, Albrecht: ich fahre seit längerer Zeit schwarz mit der Tram und letzte Woche bin ich erwischt worden. Ich habe wie immer versucht abzuhauen, aber die schicken mittlerweile richtig gut ausgebildete Teams los, denen du auch wirklich nicht mehr auf den ersten Blick ansiehst, dass sie Kontrolleure sind. Du kannst mir jetzt sagen, `Junge, hättste doch was gesagt, wenn de keen Geld hast.`, aber da­rum gehts nicht – nicht nur. Schwarzfahren hat nicht nur was mit `kein Geld haben` zu tun,. Außerdem habt ihrs ja auch nicht so dicke. Ich finde die sollen spüren, dass sie sich mittlerweile wirklich zu viel rausnehmen. Wenn Du Dir ankuckst, was man jetzt mittlerweile für den Nahverkehr berappen muss – das geht echt an die Substanz. Und das ist genau der Punkt, wo ich schon ziemlich auf Dich sauer bin, Albrecht. Du gibst Kommentare von Dir, dass die Kontrolleure doch bitte freundlicher sein sollen, dass Du ja verstehst, wenn `Unbelehrbare` verfolgt werden müssen, aber man solle doch nett zu den Fahrgästen sein und verschanzt Dich in Deiner schönen heilen Straßenbahnfahrer-Romantik Was glaubst Du denn was heutzutage los ist?! Das ist nicht bloß eine `Jagd auf Unbelehrbare`. Die Leute haben kein Geld mehr, um die eh schon überhöhten Nahverkehrs­prei­se zu bezahlen und was macht die LVB? Die schicken mitt­lerweile richtige We­ge­lager­­er­banden los. Denkst Du, da machen wir uns noch Gedanken wegen ein paar unter Tarif be­zahlter Kon­trol­leure?!“

Ich will nicht sagen, dass ich besonders baff war. Eigentlich hab ich so was schon länger geahnt, zumal ich ja weiß was der Junge und seine Freunde manch­mal so für Sachen treiben. Aber das dann direkt ins Gesicht gesagt zu bekommen, ist natürlich schon erst mal nicht einfach. Ich hab mich dann schon ziemlich für die Firma geschämt, aber vor allem auch für mich selbst. Für diese blöde Gefühlsdudelei, mit der ich oft den alten Zeiten hinterher hänge. Ja ja, die Tramfahrer-Romantik… Dieses ‚früh raus, rein in die Uniform, die Tasche mit der Thermoskanne untern Arm und ab hinters Schaltpult, ist halt doch nicht alles, was da mit dem Job zusammenhängt. Am besten wär es halt wirklich, wenn die Leute gar nichts für den Nahverkehr bezahlen müssten.

… Aber das geht halt nun wirklich nicht … in diesem System.

Ich war gerade am Gehen, da hatte ich das Gefühl noch was vergessen zu haben, ich drehte mich noch mal zu diesem Heft auf dem Zeitungstisch um. Nette Farbe dieses lila und die Arbeiter mit den alkoholischen Getränken auf der Titelseite machten auch einen sympathischen Eindruck, aber FEIER­ABEND! – was ist den das für ein Name?! … libertäres 11/2 monatsheft … Kurzent­schlossen packte ich das Heft ein. Die schienen ja eh stapelweise davon zu haben hier – in den Ecken türmten sich neben den riesigen Staubflocken, die für diese linken Wohngemeinschaften zur Pflichtausstattung zu gehören scheinen, mindestens weitere 50 Exemplare – und so hab ich wenigstens nen Grund mal wieder hier aufzutauchen.

Nachdem wir dann noch den Rest des Abends mit dem Rest der Wohngenmeinschaft über all diese tollen linken Visionen vom Zeitungstisch diskutiert haben, brummte mir zwar ganz schön der Schädel, aber mit Olaf war alles soweit wieder im Lot.

Tja Rita. Jetzt biste auch wieder wach geworden… Na ja, ihr habt schon recht. Das Leben ist halt kein Bulgarienurlaub – und der Kapitalismus erst recht nicht. Aber was sind denn das schon wieder für Gedanken..? Auf der anderen Seite.. Radikalisiere ich mein Leben oder es mich?!

Na ja, mach was de willst – ich geh jetzt wieder ins Bett… Dieses Feierabend-Heft kann ich mir auch morgen noch ankucken.

lydia

(bisherige Folgen auf: www.paluttke.de.vu)

* Namen, Ereignisse und Sachverhalte entsprechen nicht der Realität und sind als reine Fiktion zu verstehen. (die Redax)

Editorial FA! #22

Das Letzte, was zu schreiben bleibt, ist meist das Editorial. Zu diesem Zeitpunkt weiß man dann vieles besser als vorher: zum Beispiel, dass man heutzutage wohl doch flexibel sein muss, zumindest was die Seitenzahl angeht (S. 12-15); dass man trotzdem mit der Entwicklung der Dinge nicht immer Schritt halten kann (S. 11). Andere Sachen wiederum gehen beschaulicher vor sich: so hat Feierabend! seit Anfang des Jahres eine neue Postadresse in der Gießerstr. 16 (04229) …

Ganz in unserer Verantwortung liegen hingegen die Homepage und der Schwerpunkt „Macht und Freiheit“… An der neuen Internetseite basteln wir schon, daher wird die alte nicht mehr aktualisiert. Der Schwerpunkt allerdings zeigte sich widerspenstig ebenso wie unsere Zeitkapazitäten. Daher gibt es auch keinen Redaktionstext zum Thema, sondern „nur“ Beiträge die sich mal mehr mal weniger damit beschäftigen. Bei der Durchsicht unserer alten Ausgaben fiel uns sowieso auf, dass die meisten Texte im Spannungsfeld zwischen „Macht und Freiheit“ liegen. Der nächste Schwerpunkt ist deshalb auch wieder konkreter… ob uns das gelungen ist? Urteilt selbst (S. 29) und teilt euch mit! Ansonsten erst mal viel Spaß beim Schmökern.

Eure unterbesetzte Feierabend!-Redaktion

„Our Enemies in Blue“

Polizei und Macht in den USA

“What are Police for?“

Mit seinem Einstieg in das Buch über Poli­zei­gewalt und Machtmissbrauch klärt Kristian Williams vom Start weg den Zweck der Un­ter­suchung: aufzuzeigen, wie Polizei strukturell dazu eingesetzt wird, unterprivilegierte Be­völkerungsschichten zu kontrollieren, oder generell jene, die am wahr­schein­lichsten Wi­derstand leisten und aus dem Rahmen fallen. Es wird gefragt: wem nützt polizeiliches Han­deln, und wer leidet darunter? Wer wird beschützt und wer drang­saliert? Wessen Interessen werden gefördert und wer bezahlt das alles? Zunehmend wird Repression präventiv ausgeübt, d.h. die Kontrolle durch den Staat wird stärker, damit mehr Aspekte unseres Lebens durchleuchtet sind, bevor wir überhaupt dran denken, auf die Barrikade zu gehen. Polizei, so Williams, ist dazu da, bestehende Ungleichheiten einer Gesellschaft zu erhalten, und zwar indem sie die Privilegien einer Gruppe gegen die Forderungen einer anderen verteidigt: „This task has little to do with crime… and much to do with politics.“ (Diese Aufgabe hat wenig mit Gewalt, sondern vielmehr mit Politik zu tun.)

Was sich politisch aktive Menschen sowieso denken können und viele andere täglich am eigenen Leib spüren müssen, wird hier mit einer Unzahl von Dokumenten, wie Aussagen von Polizisten, Administratoren, und Statistiken von Polizeiarbeit (Arrestzahlen, Verletzungen, Anzeigen gegen Beamte etc.) belegt. Williams erläutert, da sein Ansatz sehr kritisch und daher von vielen Leuten aus politischer Sicht nicht akzeptabel sei, habe er nur Quellen verwendet, die entweder von der Polizei selbst oder von Stellen stammen, welche die Polizei zur Analyse ihrer Arbeit nutzt.

Obwohl die ganze Studie sich hauptsächlich auf die USA bezieht, gibt es doch zahlreiche Parallelen zur Situation in jedem anderen Land. Williams beginnt mit einem Kapitel über „Theorie und Praxis von Polizeibrutalität,“ wo unter anderem die Hintergründe des Übergriffs auf Rodney King 1991 erläutert werden, die zu den massiven riots (Aufständen) von Los Angeles führten. Weiter geht es hier darum, warum Polizisten Gewalt einsetzen und oft glauben verstärkte Gewalt sei legitim. Außerdem erfahren wir von den Schwächen der Statistiken, die viele Leser wohl kennen: welchen Sinn z.B. hat es, eine Anzeige wegen blauer Flecke nach einer Demo zu machen? Welche Wege geht dann die Anzeige, welche Konsequenzen hat das für den Täter, und welche für Dich?

Anschließend beginnt der Autor, die Wurzeln von Polizeiarbeit in den USA herzuleiten, die für ihn zum großen Teil bei den weißen milizähnlichen Sklavenpatrouillen des Südens liegen. Schon hier zeigt sich die Hauptaufgabe der Polizei: Kontrolliere die Bewegungsfreiheit einer potentiell gefährlichen Be­völkerungsgruppe und drangsaliere sie so, dass die Angst immer größer ist als der Wille zum Widerstand. In Kapitel drei wird die Entstehung von Polizeiabteilungen ameri­ka­nischer Städte im 19. Jahrhundert und deren Zusammenhang mit der politischen Landschaft erklärt. Sehr oft waren frühe städtische Polizeien nichts anderes als Prügeltruppen der jeweils stärksten Partei der Stadt. Hier wird auch erklärt, wie sich zu dieser Zeit die Rolle des Staates und sein Einfluss auf das Leben seiner Bürger veränderte. In weiteren Abschnitten geht Williams ausführlich auf die Verquickung von Ku Klux Klan und Machtorganen, sowie auf die strategische Repression der Arbeiterbewegung durch Machthaber und Polizei ein. Ab Kapitel sechs werden politische und polizeistrategische Dimensionen durchleuchtet, sowie die Frage: wird Polizei zum Selbstläufer? In wieweit kann eine politische Führung ihre Polizei kontrollieren? Williams arbeitet ein Ab­hängigkeitsverhältnis von Machthabern und Polizei heraus. Zusätzlich benennt er aber auch die Gefahr, dass Polizei mit ihren Sicherheitsstrategien zunehmend auf die Politik Einfluss nimmt und irgendwann selbst zur politischen Kraft wird, die „agenda setting“ betreibt und politischen Eliten Bedingungen und Richtlinien diktieren könnte. Über Abhandlungen zu permanenter Repression mittels wachsender Zahl von Spezialeinheiten (Red Squads und andere – die Parallele zu diversen Truppen bei uns, die für alle möglichen politischen Aktiven, Prostitution, Fussball, Drogen etc. zuständig sind, drängt sich auf) gelangt der Autor zur Diskussion von Massenprotesten und deren Behandlung durch die Polizei. Gerade wegen ähnlicher Entwicklungen in puncto Militarisierung von Polizeieinheiten sind dies für Leser mit Demoerfahrung sehr erhellende Kapitel. Zum Ende des Buches wird ein Phänomen beleuchtet, das dys­topische (negative) Zukunftsvisionen realistischer erscheinen lässt: Je mehr Kontrolle die Polizei über Bewegung, Gewohnheiten etc. der Bevölkerung haben will, um präventiv Widerstand zu bekämpfen (und ganz nebenher auch Kriminalität), desto mehr schwillt der Apparat an. Man braucht mehr Fußtruppen, mehr Analysten usw. Dies führt zum Einen zu Unwillen unter der Bevölkerung, die nicht an jeder Ecke einen Bullen stehen sehen will, zum Anderen überlastet es das System. Das war laut Williams einer der Gründe, warum im späten 20. Jahrhundert in vielen Städten erfolgreiche Versuche von „Neighbourhood Policing“ gestartet wurden. Man entfernte sich von offen repressivem Auftreten und hielt statt dessen die Bevölkerung dazu an, sich gegenseitig zu überwachen und der Polizei Erkenntnisse zu berichten.* Diese Taktik ist jedoch gepaart mit offensiver Aktivität an Schulen, in Jugendclubs etc., die potentiellen „Unruhestiftern“ auf sehr persönliche Weise klarmachen kann „wir kennen dich und wissen wo du dich herumtreibst“. Parallel dazu sind die im Blick der Öffentlichkeit verbleibenden Bullen immer besser bewaffnet und gepanzert.

Diese sind grundlegende Erkenntnisse des Buches, die, glaube ich, viele von uns mit eigenem Erlebten aufstocken könnten. Je mehr Autonomie Polizei hat, desto mehr politischen Einfluss nimmt sie, desto mehr Kontrolle übt sie aus, desto mehr drängt sich polizeiliches Handeln in unser Alltagsleben (ich erinnere nur an Leinenpflicht für Hunde, Grillverbot in Parks, Stress für Skater, Sprayer, Plakatierende, Bettler etc., die in den letzten Jahren immer mehr zunahmen). Polizeistrategen haben die Bedeutung des sozialen Zusammenhalts von Nach­bar­schaften, Communities, etc. erkannt und versuchen, diese für sich auszunutzen, nachdem eben diese Zusammenhänge wegen ihrer Kohäsion sonst meist gegen Polizeiinteressen arbeiten.

Laut Aussage des Autors ist sein Buch das einzige unter auch von vielen Linken geschriebenen, das die Frage „Brauchen wir Polizei eigentlich?“ mit „Nein“ beantwortet. Fast alle, die sich kritisch mit Polizeiarbeit und -brutalität auseinandersetzen, kommen zu dem Schluss, die Politik müsste die Polizei besser kontrollieren (sei es durch eine sozialistische, kommunistische etc. Regierung oder durch zivile Kontrollgremien wie „Civilian Review Boards“ oder Ombudsmänner), dann würde die schlimme Gewalt schon aufhören.

Williams hingegen meint, es werde Polizei als Büttel der Herrschenden geben, solange einer die Regierung stellt. Die Frage ist nun, kann eine freie Gesellschaft ohne solch eine Institution überleben, und wie geht sie dann mit Kriminalität um? Der Autor setzt hier wieder genau bei der eben postulierten Stärke von „community“ an und sucht nach Beispielen, wo ein Staat keine Kontrolle über bestimmte Teile seiner Bevölkerung ausüben konnte. Er wird fündig bei der IRA und in den Ghettos der südafrikanischen Apartheid-Ära. In beiden Gelegenheiten haben die Bürger eigene Wege finden müssen, um sich vor Gewalt, Diebstahl, Drogenhandel etc. zu schützen, weil es selbst für schwer bewaffnete Polizei zu gefährlich war, wegen solcher „Lappalien“ in den sozialen Brennpunkten Streife zu fahren. In Nordirland hat die IRA Komitees gebildet, die „normale“ Kriminalität untersuchte, Schuldige ausfindig machte und bestrafte. In Südafrika bildeten sich Straßenkomitees, die Streife gingen, Schuld diskutierten und Täter auch bestraften. Beide Systeme leben davon, dass Nachbarn sich kennen und unterstützen können. In beiden Fällen erwähnt Williams aber auch Probleme, hauptsächlich wegen des Systems von Schuld und Strafe durch Gewalt: wer gibt wem das Recht, jemandem wegen eines geklauten Radios das Knie zu zertrümmern? Wer entscheidet, ob X oder Y schuld ist?

Williams schlägt hier nicht wirklich viel Konkretes vor, aber das Problem wird sich jeder Gesellschaft im revolutionären Umbruch stellen: Wie wollen wir mit Nazis umgehen, die ja nicht einfach „raus“ können. Was macht eine freie Gesellschaft mit Vergewaltigern, oder mit Leuten die wegen ihrer Drogensucht zur Gefahr für die Öffentlichkeit werden? Aus diesen Gründen denken sich wohl viele, die diesen „Beruf“ ergreifen: einen Cop braucht man ja immer, Polizei ist krisensicher. Was soll aber „nach der Revolution“ mit denen geschehen? Umerziehungslager? Abschieben? Volkspolizei? Das fände ich mal diskutierenswert. Zumindest, und das lehren Irland, Südafrika und auch das Neighborhood Policing, haben eng kooperierende soziale Gemeinschaften offenbar die Fähigkeit, auf einander aufzupassen, sich zu helfen, und sich selbst zu schützen. Wenn sogar die immer mächtigere Polizei sich davor fürchtet, muss das doch ein guter Ansatz sein.

HuSch

* Anfang April wurde in London ein Taxifahrgast wegen Terrorverdacht drei Stunden von der Polizei verhört. Der Taxifahrer hatte die Polizei alarmiert, als der junge Mann laut zu „Londin calling…now war is declared and battle come down“ von Clash mitsang. (Anm. d. Redax)
Kristian Williams: Our Enemies In Blue. Police and Power in America. Soft Skull Press, Brooklyn, New York 2004, Englisch, $ 17, 95 ohne Versand

Naziaufmarsch am 1.Mai – Blockadendualismus?

Nix neues im Mai: Die Nazi-Kameraden Christian Worch und Steffen Hupka haben diesmal gleich zwei Routen (zumindest) angemeldet, zu denen sie im Umfeld der „freien“ Kameradschaften mobilisieren: Ein Trupp soll vom Hauptbahnhof über die Karli und einer vom Ostplatz über die Arthur-Hoffmann-Strasse zum „chaotischen“ Connewitzer Kreuz vordringen. Dass die NPD nach Rostock mobilisiert, wo der Landtagswahlkampf mit einer großen Nazi-Demo eingeläutet werden soll, lässt Worch spekulieren, auf weniger Widerstand zu stoßen.

Ein antifaschistisches Bündnis (u. a. www.ig3o.fateback.com) schlägt vor, gegen die Verhältnisse aufzustehen – in einem linksradikalen Block auf der 1.Mai-Demo um 10 am Kreuz – und dann ab 12 am Bahnhof bzw. Ostplatz gegen die Nazis sitzenzubleiben. „Mobilisierungsteams“ sollen die Koordination erleichtern. Das vorbereitende Bündnistreffen findet für alle Interessierte jeden Dienstag 19 Uhr im linxxnet statt. Von anderen Organisationen sind wieder Veranstaltungen am Augustus-, List-, Ost- und am Bayrischen Platz sowie vor dem Volkshaus in Planung. Am Vorabend gibt es auch wieder das „Rock am Kreuz“. Wichtig wird also sein, sich auf dem Laufenden zu halten und im richtigen Moment zu verharren – doppelt hält besser!

rabe

Hörsaal künftig überwacht?

Im Zuge des Umbaus plant die Universität Leipzig nun auch, die Hörsäle mit Videokameras zu überwachen. Bisher gab es Kameras im Außenbereich auf dem Innenstadtcampus, in den Cafeterien, Mensen, dem Rektorat und im Rechenzentrum. Diese weitere Ausweitung der Technik auf den Raum der Wissensvermittlung könnte sogar Tonaufnahmen ermöglichen. Genauere Informationen hält die Universität jedoch trotz mehrerer Anfragen zurück.

Laut Thomas Braatz, dem Datenschutzbeauftragten der Universität, diene die Videoüberwachung der besseren Kommunika­tion zwischen Lehrenden und Hausmeister, wenn etwa Probleme mit der Technik auftreten. Außerdem könne sich das Personal einen Rundgang durch das Gebäude sparen, um zu schauen, ob das Licht aus ist. In dem Papier „Ordnung zur Errichtung und zum Betrieb von Einrichtungen zur Videoüberwachung“ heißt es, dass Videoüberwachung u.a. eingesetzt werden darf, um „Dienstabläufe effizienter verfolgen zu können.“

Dieser vermeintliche Nutzen steht in keinem Verhältnis zu diesen Maßnahmen. Zum einen Kosten die Kameras viel Geld, welches der Uni dann an anderer Stelle fehlt. Was aber schwerer wiegt ist der Angriff auf elementare Grundrechte, der damit einhergeht.

Ein solcher Umgang mit den persönlichen Freiheitsrechten der Studierenden und Lehrenden ist empörend! Hier wird massiv in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen. Auch die Freiheit von Forschung und Lehre wird damit massiv beeinträchtigt. Anwesenheit in und Beteiligung an Veranstaltungen kann damit überprüft werden. Die Daten werden einen Monat lang gespeichert. Für Studierende und Lehrende hieße das permanente Überwachung! Und allein das Wissen, dass man möglicherweise überwacht werden könnte, reicht ja bekanntlich oft aus, sich angepasst und konform zu verhalten.

Doch über diesen grundlegenden Eingriff hinaus, bietet die Verordnung zur Videoüberwachung auch noch Lücken für gefährlichen Missbrauch. Denn sie regelt nicht einmal, wer die Aufnahmen zum Zwecke der effizienteren Gestaltung der Dienstabläufe alles anschauen darf. Geschieht ein Unglücksfall dürfen nur fünf Personen die Aufnahmen auswerten. Für den „Normalfall“ gibt es eine solche Beschränkung nicht.

Auch die technische Nachrüstung der Kameras – beispielsweise mit einer Software zur Gesichtserkennung – ist nur dann verboten, wenn der Zweck der Nachrüstung die Leistungsevaluation der Lehrenden ist. Für Studierende gibt es eine solche Regelung nicht. Es ist also davon auszugehen, dass bald auch Anwesenheitskontrollen oder Ordnungsmaßnahmen durch die Kameras „effizienter“ durchgeführt werden können. Der „gläserne Student“ ist keine Zukunftsmusik!

Dagegen machen die Studierenden nun mobil. Die Initiative „AntiKa“ (Gruppe überwachungskritischer Studierender) organisiert in Zusammenarbeit mit dem StuRa die Kampagne „Smash Surveillance“, um die Kameras zu verhindern und die Sensibilität für Freiheitsrechte zu erhöhen.

Den Auftakt bildet eine Podiumsdiskussion mit Dr. Rebecca Pates (Institut für Politikwissenschaft), Thomas Braatz (Datenschutzbeauftragter der Universität) und Hannes Delto (Stura-Sprecher). Angefragt sind auch AktivistInnen von anderen Universitäten, sowie der Kanzler der Universität Leipzig, Frank Nolden, als Verantwortlicher für die geplante Überwachung.

AntiKa

10 Jahre sind genug!

Schluss mit der polizeilichen Videoüberwachung öffentlicher Plätze

Am 10. April 2006 jährt sich zum zehnten Mal der Start des Pilotprojekts zur polizeilichen Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze. Leipzig gilt als Modell und Wegbereiter der dauerhaften Videoüber­wachung öffentlicher Plätze in der BRD. Heu­te stehen der Polizei vier Kamerastand­orte zur Verfügung, an denen sie seit Neustem nicht nur beobachtet, sondern auch auf­zeich­net. Das Leipziger Modell wurde bis heute von mindesten 26 deutschen Städten mit insgesamt 94 Kameras übernommen. Während der diesjährigen Fußballwelt­meister­schaft ist mit noch mehr Videoüber­wachung zu rechnen.

Sicherheitshysterie, Imagepolitik, Populismus, die Sehnsucht nach sozialer Ordnung und staatliche All­machtsphantasien treiben die Ausweitung po­li­zeilicher Vollmachten stetig voran. Der Ka­meraeinsatz ist gepaart mit einem Einsatzkonzept der Polizei, des Ordnungsamtes und der Bundespolizei, das die Verdrängung missliebiger sozialer Gruppen aus der Innenstadt zum Ziel hat. Seine Entsprechung fin­det dies in einem allgemeinen Sicherheits­dis­­kurs, der zunehmend auf Repression und Ver­­drängung setzt. Dieser Diskurs betrachtet Sicherheit als Standortfaktor. Im Interes­se der Kommunalpolitiker, der Einzelhändler und Sicherheitsbehörden soll alles un­sicht­­bar gemacht werden, was potentielle In­vestoren abschreckt und den touristischen Blick stört. Nicht nur hier in Leipzig bildet sich eine neue soziale Apartheid heraus, von der vor allem Obdachlose, Drogen­nut­­zerIn­nen, Jugendliche und MigrantInnen betroffen sind. Armut soll unsichtbar gemacht wer­den. Letztendlich stehen aber alle unter stän­digem Verdacht. Für jene, die sich anpassen, bedeutet das „nur“ Überwachung. Für jene, die aus freiem Willen oder Zwang dem Muster weißer MittelstandskonsumentIn­nen nicht entsprechen, bedeutet es auch Ver­treibung und Strafe.

Wir fordern ein Recht auf den Gebrauch von Stadt für alle!

Wir fordern soziale Lösungen statt den Ausbau der Überwachung!

Wir fordern ein Recht auf abweichende Lebensentwürfe!

Wir fordern: Schluss mit der polizeilichen Videoüberwachung öffentlicher Plätze!

Gruppe „Leipziger Kamera“

Mehr Informationen & das ganze Programm: leipzigerkamera.twoday.net

Wir kriegen nur, was wir erkämpfen

Praktische Solidarität mit MigrantInnen in Leipzig und Dresden

Sommer 2000: AsylbewerberInnen in Wohnheimen in Leipzig und Umgebung (1) streikten mehrere Wochen für bessere Lebensbedingungen: Alle Beteiligten verweigerten die Annahme der Gutscheine, Esspakete, Kantinenverpflegung, Taschengeld etc. und blockierten deren Auslieferung; Einige setzten die Nahrungsaufnahme ganz aus. Die Forderungen beschränkten sich nicht auf die Frage „Geld statt Sachleistungen“, sondern thematisierten an erster Stelle Arbeitsverbot und Residenzpflicht, sowie die allgemeinen Wohn- und Lebensbedingungen in den Heimen.

Das Ergebnis: Aufgrund der Streiks und Aktionen der MigrantInnen beschließt die Stadt Leipzig, denjenigen unter ihnen, die länger als drei Jahre im Asylverfahren sind, Bargeld auszuzahlen.

Frühjahr 2006: Noch immer erhalten alle Flüchtlinge (2) in Leipzig, die weniger als drei Jahre in der BRD leben oder eine „Duldung“ haben – deren Asylantrag also abgelehnt wurde, aber die Ausweisung nicht vollstreckt werden kann – kein Bargeld (3) für Nahrungsmittel, sondern müssen weiter­hin Esspakete aus einem Katalog beziehen.(4) Dieser hat etwa den Umfang eines besseren Tante-Emma-Ladens. Bestellt werden kann zwei Mal wöchentlich für bis zu 130 Euro pro Person und Monat, ins Asylbewerberheim kommen die Sachen ein bis zwei Wochen später. Manchmal erhält man Dinge, die man gar nicht bestellt hat, dafür fehlen bestellte Lebensmittel, oder die Lieferung kommt erst das nächste Mal. Das, was geliefert wird, ist auch mal über dem Mindest­haltbarkeitsdatum oder Tiefkühlprodukte sind schon an­ge­taut, … nix da mit normalen Kundenrechten.

Die gesetzliche Regelung sieht vor, dass die betroffenen MigrantInnen auch Bargeld ausgezahlt bekommen können. Die Formulierung „nach den Umständen erforderlich“ eröffnet hier Spielräume. So kann zu den besonderen Umständen gehören, dass sich die Stadt entscheidet, von Gemeinschaftsunterkünften abzusehen oder sich kein Anbieter findet, der die Versorgung der Asylbewerber übernimmt oder dass die Versorgung viel teurer als die Bargeldversorgung kommt. Diese Spielräume werden von den einzelnen Verwaltungen unterschiedlich genutzt.(5) Laut Georg Classen vom Flücht­lings­rat Berlin, wird das Sach­leistungs­prinzip nur noch in drei Ländern konsequent angewendet: Bayern, Sachsen und Baden-Württemberg.

Um diesen Zuständen praktisch etwas entgegen zu setzen, hat sich in Leipzig die Umtauschinitiative „anders einkaufen“ gegründet. Die Idee ist so simpel wie nahe liegend: diejenigen, die von dieser Regelung nicht betroffen sind, bestellen anstatt der MigrantInnen und bezahlen diese mit Bargeld. Für die Einen eine andere Art zu shoppen, für die Anderen eine Möglichkeit an Bargeld zu kommen.

Die Initiative, noch in den Kinderschuhen, auf Anregung der MigrantInnen selbst und mit Unterstützung der FAU Leipzig entstanden, sammelt einzelne Bestellungen und ab einem Gesamtbestellwert von 100 Euro werden diese bei den sich beteiligenden AsylbewerberInnen in den Heimen aufgegeben.

Bewusst haben wir uns schon vor den ersten Bestellungen dafür entschieden, diese unsererseits kollektiv zu gestalten. Gemeinsam macht es sowieso mehr Spaß, die Bestellsummen der Einzelnen halten sich in Grenzen und nicht nur nebenbei geht es auch darum, durch gegenseitiges Kennenlernen die soziale Isolation durch die Heimunterkünfte zu durchbrechen, mit­einander in Kontakt zu kommen, andere Kulturen und Sprachen kennenzulernen…

Der aufmerksame Leser erahnt an dieser Stelle schon, dass sich hier eine Unmenge von Möglichkeiten ergeben, sich kreativ und praktisch einzubringen, etwa beim Erstellen der Gesamtbestellungen, beim Kontakt zu den HeimbewohnerInnen, dem Transport der Lebensmittel etc.

Gesucht werden daher vor allem Menschen, die sich auf beiden Seiten an dem anderen Einkauf beteiligen. Wer also mit einkaufen oder sein Paket in Bargeld verwandeln will, melde sich bitte. Schön wäre es, durch regelmäßige Bestellungen unsererseits (z.B. einmal im Monat die WG-Grundausstattung) und eingespielte „Lieferant­In­nen“ aus den Heimen eine gewis­se Kontinuität zu schaffen.

In Dresden setzt sich eben­falls seit Anfang des Jahres die „Kampagne gegen Aus­grenzung“ für Bargeld­aus­zahlung an die ca. 200 in Dresden von der Ess­pakete­regelung betroffenen Asyl­bewer­berInnen ein. Unter dem Motto „Bargeld sofort!“ versucht sie auf Stadt- und Landesebene Druck auf die Verantwortlichen auszuüben.

Aufgrund der bekannten Behäbigkeit von Behörden und Politik und weil auch in Dresden „sofort“ manchmal länger dauert (6), übernehmen die Beteiligten der Kampagne bis dahin individuell Paketpatenschaften und helfen so, ähnlich wie in Leipzig, den MigrantInnen einfach einkaufen gehen zu können wie andere Menschen auch.

Kontaktiert werden können die Dresdner über: www.gegen-ausgrenzung.de.

Insgesamt sind AsylbewerberInnen in der BRD also nach wie vor einer Vielzahl von Einschränkungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Dass sie nicht wie andere Leute auch entscheiden können, was sie essen, ist nur ein Teil davon. Daran etwas zu ändern, liegt an uns allen.

hannah

(1) In Leipzig alle drei Heime (Lilienstraße, Torgauerstraße, Wodanstraße), Taucha, Markleeberg, Doberschütz und Bahren.
(2) Hauptsächlich aus dem Irak, Iran, Afghanistan, der Türkei, Marokko und Südosteuropa.
(3) Bares gibt es lediglich in Form von schnell ausgegebenen 10-40 Euro Taschengeld pro Monat und Person.
(4) Menschen, die eine Duldung erhalten haben, müssen bis auf Ausnahmen in den Heimen wohnen bleiben, teils bis zu über zehn Jahre.
(5) Zum Beispiel Erfurt: Zwar werden auch in Thüringen in den meisten Kommunen Gutscheine oder Sachleistungen ausgegeben. In Erfurt ermöglicht die Stadt jedoch einem großen Teil der Asylbewerber, in normalen Wohnungen zu leben statt in Heimen. Und: Außerhalb der Gemeinschaftsunterkünfte gilt das Sachleistungsprinzip laut Gesetz gar nicht: Also bekommen sie Bargeld.
(6) In Dresden gibt es seit 2002 Verhandlungen über die Umstellung vom Katalogsystem auf Chipkarten. Die Karten werden vom Sozialamt mit einem bestimmten Betrag aufgeladen und die MigrantInnen können in teilnehmenden Geschäften damit an der Kasse zahlen. Inzwischen ist das neue System genehmigt, wird aber noch nicht angewendet. Die Einführung des Chipkartensystems ist mit einem enormen organisatorischen und finanziellen Aufwand verbunden. Für ca. 200 Betroffene müssen Chipkarten hergestellt, Läden als Partner gefunden und ein aufwendiges Abrechnungssystem durch den Chipkartenanbieter geschaffen werden.

Exkurs:

Der rechtliche Hintergrund für die Versorgung durch Kataloge oder Pakete ist das Asylbewerberleistungsgesetz (AbLG) und das dort verankerte „Sachleistungsprinzip“.

Paragraph 3 des Gesetzes:

„(1) Der notwendige Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts wird durch Sachleistungen gedeckt.

(2) Bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen im Sinne des § 44 des Asylverfahrensgesetzes können, soweit es nach den Umständen erforderlich ist, anstelle von vorrangig zu gewährenden Sachleistungen nach Absatz 1 Satz 1 Leistungen in Form von Wertgutscheinen, von anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen oder von Geldleistungen im gleichen Wert gewährt werden.“

www.gesetze-im-internet.de/asylblg/index.html