Archiv der Kategorie: Feierabend! #22

Die Freiheit nehm ich mir!

„Freiräume nutzen, Visionen entwickeln, Selbstverwirklichung leben. Wir wissen nicht, wie Sie das nennen – wir in Leipzig nennen es „Leipziger Freiheit“! Und meinen damit das beflügelnde Lebensgefühl, das wir mit der der gleichnamigen Imagekampagne in die Welt hinaustragen.“ So blumig umschreibt die Marketing Leipzig GmbH ihr Bild von Leipzig. Nicht, dass das was zu sagen hätte – für so was werden die Werbefritzen schließlich bezahlt. Der eigentliche Zweck der Kampagne ist ohnehin klar: Standortmarketing. „Potenzielle Investoren, junge Eliten und Existenzgründer“ will man ansprechen. Die „Freiheit“, um die es geht, ist letztlich bloß die Freiheit zu kaufen und zu verkaufen. Und das ist keine Freiheit, sondern nur der stinknormale alltägliche Verwertungszwang. Die, die nichts zu verkaufen haben, noch nicht mal mehr die eigene Arbeitskraft, und sich deswegen auch nix kaufen können, haben eben Pech gehabt.

Das ist auch der Haken an der „Leipziger Freiheit“: Aus eben dem Grund, aus dem man solche hirnrissigen Kampagnen initiiert, wird die Freiheit derer, die beim allgemeinen sinn- und zweckfreien Produzieren und Konsumieren nicht mittun (können oder wollen), zusehends eingeschränkt. Egal, ob Obdachlose aus dem Leipziger Hauptbahnhof und den schicken Einkaufspassagen vertrieben oder jugendliche Sprayer mit horrenden Geldstrafen bedroht werden – es gilt: Wer am sauberen Image kratzt, fliegt raus! Tolle Freiheit…

Vielleicht sollte man die „Leipziger Freiheit“ auch einfach beim Wort nehmen und ernst machen mit dem, was man uns weismachen will: Freiräume schaffen, Utopien entwickeln und Selbstverwirklichung jenseits der Konkurrenz zu leben versuchen. Das wäre zumindest mal ein guter Anfang.

justus

Radikalisiere dein Leben

Albrecht Paluttke:#5 (vorletzte Folge)*

Albrecht Paluttke, pensionierter Bimmelfahrer, wohnt mit Lebensgefährtin Rita in Leipzig/Stötteritz. Oft treiben ihn düstere Gedanken früh um 5 aus den warmen Federn, weg von seiner Rita. Ob respektlose Kontrolleure & überteuerte Fahrpreise (Fa! #12), größenwahnsinnige Stadtpolitik in Form der Leipziger Olympiabewerbung, gegen die auch Stiefsohn Olaf aktiv ist (FA! #13), durch Hartz IV bedingter Wohnungswechsel (FA! #14) oder die irritierende Erfahrung der Leipziger Montagsdemos (FA! #15)… (Redax)

Mann, Mann, Mann, ich fass es nicht! Jetzt hab ichs echt gepackt mir das Laken ums Bein zu wickeln! Jetzt aber raus aus der Falle – kann ja eh nicht mehr weiter pennen. Oh je oh je, erst mal nen Schluck Wasser.

Olafs Ausbruch sitzt mir immer noch im Kopf . Mir schwirrt der Schädel und ich komm nicht zur Ruhe.

„Mensch Albrecht“, Papa hat er mich nur einmal genannt – damals als er erleichtert festgestellt hat, dass ich der Weihnachtsmann war, – „is das echt alles?! Ich weiß du hängst dich ungern zu weit ausm Fenster, aber so blind kannst du doch nicht sein!…Du immer mit deinem `Ich hab nicht viel zu sagen im Leben, was soll ich den Leuten groß erzählen?`-Quatsch. Entweder du machst dir deine Gedanken, oder nicht! Wenn du so nen Mist, wie `wer solls denn zahlen, wenn nicht die, dies nutzen.`, von dir gibst, machst du sie dir auf alle Fälle nicht!“

Das war natürlich ganz schön starker Tobak für mich. So hat der Junge noch nie mit mir geredet und mit einem ‚Komm mir bloß nicht so…` konnte man das auch nicht abbügeln.

Aber von vorne: das Ganze fing an, als der Junge tagelang nicht bei uns vorbei kam. Wenn ich nach ihm gefragt hab, hat Rita bloß mit den Schultern gezuckt. Doch irgendwann meinte sie mit ernster Miene, ich solle am besten selbst mal hingehen. Nun ist es nicht so, dass ich nicht gern mal in dieser Wohngemeinschaft in Connewitz vorbeischaue, solang ichs noch schaffe die Gerümpelberge im alternativ bewohnten Haus zu übersteigen, ist das alles kein Problem. Aber nach diesem ganzen komischen Gehabe war natürlich klar, dass diesmal richtig was im Busche war und dass es auf irgend eine ziemlich unangenehme Art was mit mir zu tun haben musste.

Als ich mich dann schließlich am nächsten Tag dorthin aufgerafft hatte, war er zunächst nicht da. Ist ja klar; diese jungen Leute sind ja alle ständig unterwegs. Ohne Termin läuft da nix mehr. Aber ich hab ja Zeit und so hab ich mich erst mal in dem chaotischen Zei­tungshaufen auf dem WG-Lesetisch umge­seh­en. Nachdem ich mich ungefähr 2 Stunden durch eine Menge Stoff mit den abstrusesten Weltverbesserungs-Theorien gearbeitet hatte und mich gerade in ein kleines schülerzeitungsartiges Heft vertiefen wollte, wo es laut Inhaltsangabe in einem Artikel irgendwie um das morgendliche Stötte­r­itz gehen sollte, kam Olaf plötzlich mit einer Kiste voll, nicht mehr ganz taufrischem Ge­müse rein, was er sicher wieder irgendwo kos­tengünstig aufgetan hat. Sein trotziger Blick fiel auf das Heft in meiner Hand und für einen Moment, schien er komischerweise sei­ne Selbstsicherheit zu verlieren. Dann fasste er sich schnell wieder, nahm es mir aus der Hand und murmelte etwas von: „… inter­essiert Dich doch eh nicht so was…“. „Was soll mich nicht interessieren“, meinte ich, nun langsam schon etwas aufbrausend, „denkst du ich merke nicht, dass irgendwas mit dir nicht stimmt? Was hab ich dir denn ge­tan?“, fragte ich, nun schon fast etwas hilflos.

“Nun“, meinte er, „weißt Du, es ist vielleicht nicht ganz gerecht, jetzt einfach auf dich wütend zu sein, aber wenn man merkt, dass man auf einmal unter gewisse negative Klassifizierungen einer Person fällt, die und deren Meinung einem eigentlich immer viel be­deutet haben, dann ist das erst mal ziemlich hart. Ums kurz zu machen, Albrecht: ich fahre seit längerer Zeit schwarz mit der Tram und letzte Woche bin ich erwischt worden. Ich habe wie immer versucht abzuhauen, aber die schicken mittlerweile richtig gut ausgebildete Teams los, denen du auch wirklich nicht mehr auf den ersten Blick ansiehst, dass sie Kontrolleure sind. Du kannst mir jetzt sagen, `Junge, hättste doch was gesagt, wenn de keen Geld hast.`, aber da­rum gehts nicht – nicht nur. Schwarzfahren hat nicht nur was mit `kein Geld haben` zu tun,. Außerdem habt ihrs ja auch nicht so dicke. Ich finde die sollen spüren, dass sie sich mittlerweile wirklich zu viel rausnehmen. Wenn Du Dir ankuckst, was man jetzt mittlerweile für den Nahverkehr berappen muss – das geht echt an die Substanz. Und das ist genau der Punkt, wo ich schon ziemlich auf Dich sauer bin, Albrecht. Du gibst Kommentare von Dir, dass die Kontrolleure doch bitte freundlicher sein sollen, dass Du ja verstehst, wenn `Unbelehrbare` verfolgt werden müssen, aber man solle doch nett zu den Fahrgästen sein und verschanzt Dich in Deiner schönen heilen Straßenbahnfahrer-Romantik Was glaubst Du denn was heutzutage los ist?! Das ist nicht bloß eine `Jagd auf Unbelehrbare`. Die Leute haben kein Geld mehr, um die eh schon überhöhten Nahverkehrs­prei­se zu bezahlen und was macht die LVB? Die schicken mitt­lerweile richtige We­ge­lager­­er­banden los. Denkst Du, da machen wir uns noch Gedanken wegen ein paar unter Tarif be­zahlter Kon­trol­leure?!“

Ich will nicht sagen, dass ich besonders baff war. Eigentlich hab ich so was schon länger geahnt, zumal ich ja weiß was der Junge und seine Freunde manch­mal so für Sachen treiben. Aber das dann direkt ins Gesicht gesagt zu bekommen, ist natürlich schon erst mal nicht einfach. Ich hab mich dann schon ziemlich für die Firma geschämt, aber vor allem auch für mich selbst. Für diese blöde Gefühlsdudelei, mit der ich oft den alten Zeiten hinterher hänge. Ja ja, die Tramfahrer-Romantik… Dieses ‚früh raus, rein in die Uniform, die Tasche mit der Thermoskanne untern Arm und ab hinters Schaltpult, ist halt doch nicht alles, was da mit dem Job zusammenhängt. Am besten wär es halt wirklich, wenn die Leute gar nichts für den Nahverkehr bezahlen müssten.

… Aber das geht halt nun wirklich nicht … in diesem System.

Ich war gerade am Gehen, da hatte ich das Gefühl noch was vergessen zu haben, ich drehte mich noch mal zu diesem Heft auf dem Zeitungstisch um. Nette Farbe dieses lila und die Arbeiter mit den alkoholischen Getränken auf der Titelseite machten auch einen sympathischen Eindruck, aber FEIER­ABEND! – was ist den das für ein Name?! … libertäres 11/2 monatsheft … Kurzent­schlossen packte ich das Heft ein. Die schienen ja eh stapelweise davon zu haben hier – in den Ecken türmten sich neben den riesigen Staubflocken, die für diese linken Wohngemeinschaften zur Pflichtausstattung zu gehören scheinen, mindestens weitere 50 Exemplare – und so hab ich wenigstens nen Grund mal wieder hier aufzutauchen.

Nachdem wir dann noch den Rest des Abends mit dem Rest der Wohngenmeinschaft über all diese tollen linken Visionen vom Zeitungstisch diskutiert haben, brummte mir zwar ganz schön der Schädel, aber mit Olaf war alles soweit wieder im Lot.

Tja Rita. Jetzt biste auch wieder wach geworden… Na ja, ihr habt schon recht. Das Leben ist halt kein Bulgarienurlaub – und der Kapitalismus erst recht nicht. Aber was sind denn das schon wieder für Gedanken..? Auf der anderen Seite.. Radikalisiere ich mein Leben oder es mich?!

Na ja, mach was de willst – ich geh jetzt wieder ins Bett… Dieses Feierabend-Heft kann ich mir auch morgen noch ankucken.

lydia

(bisherige Folgen auf: www.paluttke.de.vu)

* Namen, Ereignisse und Sachverhalte entsprechen nicht der Realität und sind als reine Fiktion zu verstehen. (die Redax)

Editorial FA! #22

Das Letzte, was zu schreiben bleibt, ist meist das Editorial. Zu diesem Zeitpunkt weiß man dann vieles besser als vorher: zum Beispiel, dass man heutzutage wohl doch flexibel sein muss, zumindest was die Seitenzahl angeht (S. 12-15); dass man trotzdem mit der Entwicklung der Dinge nicht immer Schritt halten kann (S. 11). Andere Sachen wiederum gehen beschaulicher vor sich: so hat Feierabend! seit Anfang des Jahres eine neue Postadresse in der Gießerstr. 16 (04229) …

Ganz in unserer Verantwortung liegen hingegen die Homepage und der Schwerpunkt „Macht und Freiheit“… An der neuen Internetseite basteln wir schon, daher wird die alte nicht mehr aktualisiert. Der Schwerpunkt allerdings zeigte sich widerspenstig ebenso wie unsere Zeitkapazitäten. Daher gibt es auch keinen Redaktionstext zum Thema, sondern „nur“ Beiträge die sich mal mehr mal weniger damit beschäftigen. Bei der Durchsicht unserer alten Ausgaben fiel uns sowieso auf, dass die meisten Texte im Spannungsfeld zwischen „Macht und Freiheit“ liegen. Der nächste Schwerpunkt ist deshalb auch wieder konkreter… ob uns das gelungen ist? Urteilt selbst (S. 29) und teilt euch mit! Ansonsten erst mal viel Spaß beim Schmökern.

Eure unterbesetzte Feierabend!-Redaktion

„Our Enemies in Blue“

Polizei und Macht in den USA

“What are Police for?“

Mit seinem Einstieg in das Buch über Poli­zei­gewalt und Machtmissbrauch klärt Kristian Williams vom Start weg den Zweck der Un­ter­suchung: aufzuzeigen, wie Polizei strukturell dazu eingesetzt wird, unterprivilegierte Be­völkerungsschichten zu kontrollieren, oder generell jene, die am wahr­schein­lichsten Wi­derstand leisten und aus dem Rahmen fallen. Es wird gefragt: wem nützt polizeiliches Han­deln, und wer leidet darunter? Wer wird beschützt und wer drang­saliert? Wessen Interessen werden gefördert und wer bezahlt das alles? Zunehmend wird Repression präventiv ausgeübt, d.h. die Kontrolle durch den Staat wird stärker, damit mehr Aspekte unseres Lebens durchleuchtet sind, bevor wir überhaupt dran denken, auf die Barrikade zu gehen. Polizei, so Williams, ist dazu da, bestehende Ungleichheiten einer Gesellschaft zu erhalten, und zwar indem sie die Privilegien einer Gruppe gegen die Forderungen einer anderen verteidigt: „This task has little to do with crime… and much to do with politics.“ (Diese Aufgabe hat wenig mit Gewalt, sondern vielmehr mit Politik zu tun.)

Was sich politisch aktive Menschen sowieso denken können und viele andere täglich am eigenen Leib spüren müssen, wird hier mit einer Unzahl von Dokumenten, wie Aussagen von Polizisten, Administratoren, und Statistiken von Polizeiarbeit (Arrestzahlen, Verletzungen, Anzeigen gegen Beamte etc.) belegt. Williams erläutert, da sein Ansatz sehr kritisch und daher von vielen Leuten aus politischer Sicht nicht akzeptabel sei, habe er nur Quellen verwendet, die entweder von der Polizei selbst oder von Stellen stammen, welche die Polizei zur Analyse ihrer Arbeit nutzt.

Obwohl die ganze Studie sich hauptsächlich auf die USA bezieht, gibt es doch zahlreiche Parallelen zur Situation in jedem anderen Land. Williams beginnt mit einem Kapitel über „Theorie und Praxis von Polizeibrutalität,“ wo unter anderem die Hintergründe des Übergriffs auf Rodney King 1991 erläutert werden, die zu den massiven riots (Aufständen) von Los Angeles führten. Weiter geht es hier darum, warum Polizisten Gewalt einsetzen und oft glauben verstärkte Gewalt sei legitim. Außerdem erfahren wir von den Schwächen der Statistiken, die viele Leser wohl kennen: welchen Sinn z.B. hat es, eine Anzeige wegen blauer Flecke nach einer Demo zu machen? Welche Wege geht dann die Anzeige, welche Konsequenzen hat das für den Täter, und welche für Dich?

Anschließend beginnt der Autor, die Wurzeln von Polizeiarbeit in den USA herzuleiten, die für ihn zum großen Teil bei den weißen milizähnlichen Sklavenpatrouillen des Südens liegen. Schon hier zeigt sich die Hauptaufgabe der Polizei: Kontrolliere die Bewegungsfreiheit einer potentiell gefährlichen Be­völkerungsgruppe und drangsaliere sie so, dass die Angst immer größer ist als der Wille zum Widerstand. In Kapitel drei wird die Entstehung von Polizeiabteilungen ameri­ka­nischer Städte im 19. Jahrhundert und deren Zusammenhang mit der politischen Landschaft erklärt. Sehr oft waren frühe städtische Polizeien nichts anderes als Prügeltruppen der jeweils stärksten Partei der Stadt. Hier wird auch erklärt, wie sich zu dieser Zeit die Rolle des Staates und sein Einfluss auf das Leben seiner Bürger veränderte. In weiteren Abschnitten geht Williams ausführlich auf die Verquickung von Ku Klux Klan und Machtorganen, sowie auf die strategische Repression der Arbeiterbewegung durch Machthaber und Polizei ein. Ab Kapitel sechs werden politische und polizeistrategische Dimensionen durchleuchtet, sowie die Frage: wird Polizei zum Selbstläufer? In wieweit kann eine politische Führung ihre Polizei kontrollieren? Williams arbeitet ein Ab­hängigkeitsverhältnis von Machthabern und Polizei heraus. Zusätzlich benennt er aber auch die Gefahr, dass Polizei mit ihren Sicherheitsstrategien zunehmend auf die Politik Einfluss nimmt und irgendwann selbst zur politischen Kraft wird, die „agenda setting“ betreibt und politischen Eliten Bedingungen und Richtlinien diktieren könnte. Über Abhandlungen zu permanenter Repression mittels wachsender Zahl von Spezialeinheiten (Red Squads und andere – die Parallele zu diversen Truppen bei uns, die für alle möglichen politischen Aktiven, Prostitution, Fussball, Drogen etc. zuständig sind, drängt sich auf) gelangt der Autor zur Diskussion von Massenprotesten und deren Behandlung durch die Polizei. Gerade wegen ähnlicher Entwicklungen in puncto Militarisierung von Polizeieinheiten sind dies für Leser mit Demoerfahrung sehr erhellende Kapitel. Zum Ende des Buches wird ein Phänomen beleuchtet, das dys­topische (negative) Zukunftsvisionen realistischer erscheinen lässt: Je mehr Kontrolle die Polizei über Bewegung, Gewohnheiten etc. der Bevölkerung haben will, um präventiv Widerstand zu bekämpfen (und ganz nebenher auch Kriminalität), desto mehr schwillt der Apparat an. Man braucht mehr Fußtruppen, mehr Analysten usw. Dies führt zum Einen zu Unwillen unter der Bevölkerung, die nicht an jeder Ecke einen Bullen stehen sehen will, zum Anderen überlastet es das System. Das war laut Williams einer der Gründe, warum im späten 20. Jahrhundert in vielen Städten erfolgreiche Versuche von „Neighbourhood Policing“ gestartet wurden. Man entfernte sich von offen repressivem Auftreten und hielt statt dessen die Bevölkerung dazu an, sich gegenseitig zu überwachen und der Polizei Erkenntnisse zu berichten.* Diese Taktik ist jedoch gepaart mit offensiver Aktivität an Schulen, in Jugendclubs etc., die potentiellen „Unruhestiftern“ auf sehr persönliche Weise klarmachen kann „wir kennen dich und wissen wo du dich herumtreibst“. Parallel dazu sind die im Blick der Öffentlichkeit verbleibenden Bullen immer besser bewaffnet und gepanzert.

Diese sind grundlegende Erkenntnisse des Buches, die, glaube ich, viele von uns mit eigenem Erlebten aufstocken könnten. Je mehr Autonomie Polizei hat, desto mehr politischen Einfluss nimmt sie, desto mehr Kontrolle übt sie aus, desto mehr drängt sich polizeiliches Handeln in unser Alltagsleben (ich erinnere nur an Leinenpflicht für Hunde, Grillverbot in Parks, Stress für Skater, Sprayer, Plakatierende, Bettler etc., die in den letzten Jahren immer mehr zunahmen). Polizeistrategen haben die Bedeutung des sozialen Zusammenhalts von Nach­bar­schaften, Communities, etc. erkannt und versuchen, diese für sich auszunutzen, nachdem eben diese Zusammenhänge wegen ihrer Kohäsion sonst meist gegen Polizeiinteressen arbeiten.

Laut Aussage des Autors ist sein Buch das einzige unter auch von vielen Linken geschriebenen, das die Frage „Brauchen wir Polizei eigentlich?“ mit „Nein“ beantwortet. Fast alle, die sich kritisch mit Polizeiarbeit und -brutalität auseinandersetzen, kommen zu dem Schluss, die Politik müsste die Polizei besser kontrollieren (sei es durch eine sozialistische, kommunistische etc. Regierung oder durch zivile Kontrollgremien wie „Civilian Review Boards“ oder Ombudsmänner), dann würde die schlimme Gewalt schon aufhören.

Williams hingegen meint, es werde Polizei als Büttel der Herrschenden geben, solange einer die Regierung stellt. Die Frage ist nun, kann eine freie Gesellschaft ohne solch eine Institution überleben, und wie geht sie dann mit Kriminalität um? Der Autor setzt hier wieder genau bei der eben postulierten Stärke von „community“ an und sucht nach Beispielen, wo ein Staat keine Kontrolle über bestimmte Teile seiner Bevölkerung ausüben konnte. Er wird fündig bei der IRA und in den Ghettos der südafrikanischen Apartheid-Ära. In beiden Gelegenheiten haben die Bürger eigene Wege finden müssen, um sich vor Gewalt, Diebstahl, Drogenhandel etc. zu schützen, weil es selbst für schwer bewaffnete Polizei zu gefährlich war, wegen solcher „Lappalien“ in den sozialen Brennpunkten Streife zu fahren. In Nordirland hat die IRA Komitees gebildet, die „normale“ Kriminalität untersuchte, Schuldige ausfindig machte und bestrafte. In Südafrika bildeten sich Straßenkomitees, die Streife gingen, Schuld diskutierten und Täter auch bestraften. Beide Systeme leben davon, dass Nachbarn sich kennen und unterstützen können. In beiden Fällen erwähnt Williams aber auch Probleme, hauptsächlich wegen des Systems von Schuld und Strafe durch Gewalt: wer gibt wem das Recht, jemandem wegen eines geklauten Radios das Knie zu zertrümmern? Wer entscheidet, ob X oder Y schuld ist?

Williams schlägt hier nicht wirklich viel Konkretes vor, aber das Problem wird sich jeder Gesellschaft im revolutionären Umbruch stellen: Wie wollen wir mit Nazis umgehen, die ja nicht einfach „raus“ können. Was macht eine freie Gesellschaft mit Vergewaltigern, oder mit Leuten die wegen ihrer Drogensucht zur Gefahr für die Öffentlichkeit werden? Aus diesen Gründen denken sich wohl viele, die diesen „Beruf“ ergreifen: einen Cop braucht man ja immer, Polizei ist krisensicher. Was soll aber „nach der Revolution“ mit denen geschehen? Umerziehungslager? Abschieben? Volkspolizei? Das fände ich mal diskutierenswert. Zumindest, und das lehren Irland, Südafrika und auch das Neighborhood Policing, haben eng kooperierende soziale Gemeinschaften offenbar die Fähigkeit, auf einander aufzupassen, sich zu helfen, und sich selbst zu schützen. Wenn sogar die immer mächtigere Polizei sich davor fürchtet, muss das doch ein guter Ansatz sein.

HuSch

* Anfang April wurde in London ein Taxifahrgast wegen Terrorverdacht drei Stunden von der Polizei verhört. Der Taxifahrer hatte die Polizei alarmiert, als der junge Mann laut zu „Londin calling…now war is declared and battle come down“ von Clash mitsang. (Anm. d. Redax)
Kristian Williams: Our Enemies In Blue. Police and Power in America. Soft Skull Press, Brooklyn, New York 2004, Englisch, $ 17, 95 ohne Versand

Naziaufmarsch am 1.Mai – Blockadendualismus?

Nix neues im Mai: Die Nazi-Kameraden Christian Worch und Steffen Hupka haben diesmal gleich zwei Routen (zumindest) angemeldet, zu denen sie im Umfeld der „freien“ Kameradschaften mobilisieren: Ein Trupp soll vom Hauptbahnhof über die Karli und einer vom Ostplatz über die Arthur-Hoffmann-Strasse zum „chaotischen“ Connewitzer Kreuz vordringen. Dass die NPD nach Rostock mobilisiert, wo der Landtagswahlkampf mit einer großen Nazi-Demo eingeläutet werden soll, lässt Worch spekulieren, auf weniger Widerstand zu stoßen.

Ein antifaschistisches Bündnis (u. a. www.ig3o.fateback.com) schlägt vor, gegen die Verhältnisse aufzustehen – in einem linksradikalen Block auf der 1.Mai-Demo um 10 am Kreuz – und dann ab 12 am Bahnhof bzw. Ostplatz gegen die Nazis sitzenzubleiben. „Mobilisierungsteams“ sollen die Koordination erleichtern. Das vorbereitende Bündnistreffen findet für alle Interessierte jeden Dienstag 19 Uhr im linxxnet statt. Von anderen Organisationen sind wieder Veranstaltungen am Augustus-, List-, Ost- und am Bayrischen Platz sowie vor dem Volkshaus in Planung. Am Vorabend gibt es auch wieder das „Rock am Kreuz“. Wichtig wird also sein, sich auf dem Laufenden zu halten und im richtigen Moment zu verharren – doppelt hält besser!

rabe

Hörsaal künftig überwacht?

Im Zuge des Umbaus plant die Universität Leipzig nun auch, die Hörsäle mit Videokameras zu überwachen. Bisher gab es Kameras im Außenbereich auf dem Innenstadtcampus, in den Cafeterien, Mensen, dem Rektorat und im Rechenzentrum. Diese weitere Ausweitung der Technik auf den Raum der Wissensvermittlung könnte sogar Tonaufnahmen ermöglichen. Genauere Informationen hält die Universität jedoch trotz mehrerer Anfragen zurück.

Laut Thomas Braatz, dem Datenschutzbeauftragten der Universität, diene die Videoüberwachung der besseren Kommunika­tion zwischen Lehrenden und Hausmeister, wenn etwa Probleme mit der Technik auftreten. Außerdem könne sich das Personal einen Rundgang durch das Gebäude sparen, um zu schauen, ob das Licht aus ist. In dem Papier „Ordnung zur Errichtung und zum Betrieb von Einrichtungen zur Videoüberwachung“ heißt es, dass Videoüberwachung u.a. eingesetzt werden darf, um „Dienstabläufe effizienter verfolgen zu können.“

Dieser vermeintliche Nutzen steht in keinem Verhältnis zu diesen Maßnahmen. Zum einen Kosten die Kameras viel Geld, welches der Uni dann an anderer Stelle fehlt. Was aber schwerer wiegt ist der Angriff auf elementare Grundrechte, der damit einhergeht.

Ein solcher Umgang mit den persönlichen Freiheitsrechten der Studierenden und Lehrenden ist empörend! Hier wird massiv in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung eingegriffen. Auch die Freiheit von Forschung und Lehre wird damit massiv beeinträchtigt. Anwesenheit in und Beteiligung an Veranstaltungen kann damit überprüft werden. Die Daten werden einen Monat lang gespeichert. Für Studierende und Lehrende hieße das permanente Überwachung! Und allein das Wissen, dass man möglicherweise überwacht werden könnte, reicht ja bekanntlich oft aus, sich angepasst und konform zu verhalten.

Doch über diesen grundlegenden Eingriff hinaus, bietet die Verordnung zur Videoüberwachung auch noch Lücken für gefährlichen Missbrauch. Denn sie regelt nicht einmal, wer die Aufnahmen zum Zwecke der effizienteren Gestaltung der Dienstabläufe alles anschauen darf. Geschieht ein Unglücksfall dürfen nur fünf Personen die Aufnahmen auswerten. Für den „Normalfall“ gibt es eine solche Beschränkung nicht.

Auch die technische Nachrüstung der Kameras – beispielsweise mit einer Software zur Gesichtserkennung – ist nur dann verboten, wenn der Zweck der Nachrüstung die Leistungsevaluation der Lehrenden ist. Für Studierende gibt es eine solche Regelung nicht. Es ist also davon auszugehen, dass bald auch Anwesenheitskontrollen oder Ordnungsmaßnahmen durch die Kameras „effizienter“ durchgeführt werden können. Der „gläserne Student“ ist keine Zukunftsmusik!

Dagegen machen die Studierenden nun mobil. Die Initiative „AntiKa“ (Gruppe überwachungskritischer Studierender) organisiert in Zusammenarbeit mit dem StuRa die Kampagne „Smash Surveillance“, um die Kameras zu verhindern und die Sensibilität für Freiheitsrechte zu erhöhen.

Den Auftakt bildet eine Podiumsdiskussion mit Dr. Rebecca Pates (Institut für Politikwissenschaft), Thomas Braatz (Datenschutzbeauftragter der Universität) und Hannes Delto (Stura-Sprecher). Angefragt sind auch AktivistInnen von anderen Universitäten, sowie der Kanzler der Universität Leipzig, Frank Nolden, als Verantwortlicher für die geplante Überwachung.

AntiKa

10 Jahre sind genug!

Schluss mit der polizeilichen Videoüberwachung öffentlicher Plätze

Am 10. April 2006 jährt sich zum zehnten Mal der Start des Pilotprojekts zur polizeilichen Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze. Leipzig gilt als Modell und Wegbereiter der dauerhaften Videoüber­wachung öffentlicher Plätze in der BRD. Heu­te stehen der Polizei vier Kamerastand­orte zur Verfügung, an denen sie seit Neustem nicht nur beobachtet, sondern auch auf­zeich­net. Das Leipziger Modell wurde bis heute von mindesten 26 deutschen Städten mit insgesamt 94 Kameras übernommen. Während der diesjährigen Fußballwelt­meister­schaft ist mit noch mehr Videoüber­wachung zu rechnen.

Sicherheitshysterie, Imagepolitik, Populismus, die Sehnsucht nach sozialer Ordnung und staatliche All­machtsphantasien treiben die Ausweitung po­li­zeilicher Vollmachten stetig voran. Der Ka­meraeinsatz ist gepaart mit einem Einsatzkonzept der Polizei, des Ordnungsamtes und der Bundespolizei, das die Verdrängung missliebiger sozialer Gruppen aus der Innenstadt zum Ziel hat. Seine Entsprechung fin­det dies in einem allgemeinen Sicherheits­dis­­kurs, der zunehmend auf Repression und Ver­­drängung setzt. Dieser Diskurs betrachtet Sicherheit als Standortfaktor. Im Interes­se der Kommunalpolitiker, der Einzelhändler und Sicherheitsbehörden soll alles un­sicht­­bar gemacht werden, was potentielle In­vestoren abschreckt und den touristischen Blick stört. Nicht nur hier in Leipzig bildet sich eine neue soziale Apartheid heraus, von der vor allem Obdachlose, Drogen­nut­­zerIn­nen, Jugendliche und MigrantInnen betroffen sind. Armut soll unsichtbar gemacht wer­den. Letztendlich stehen aber alle unter stän­digem Verdacht. Für jene, die sich anpassen, bedeutet das „nur“ Überwachung. Für jene, die aus freiem Willen oder Zwang dem Muster weißer MittelstandskonsumentIn­nen nicht entsprechen, bedeutet es auch Ver­treibung und Strafe.

Wir fordern ein Recht auf den Gebrauch von Stadt für alle!

Wir fordern soziale Lösungen statt den Ausbau der Überwachung!

Wir fordern ein Recht auf abweichende Lebensentwürfe!

Wir fordern: Schluss mit der polizeilichen Videoüberwachung öffentlicher Plätze!

Gruppe „Leipziger Kamera“

Mehr Informationen & das ganze Programm: leipzigerkamera.twoday.net

Wir kriegen nur, was wir erkämpfen

Praktische Solidarität mit MigrantInnen in Leipzig und Dresden

Sommer 2000: AsylbewerberInnen in Wohnheimen in Leipzig und Umgebung (1) streikten mehrere Wochen für bessere Lebensbedingungen: Alle Beteiligten verweigerten die Annahme der Gutscheine, Esspakete, Kantinenverpflegung, Taschengeld etc. und blockierten deren Auslieferung; Einige setzten die Nahrungsaufnahme ganz aus. Die Forderungen beschränkten sich nicht auf die Frage „Geld statt Sachleistungen“, sondern thematisierten an erster Stelle Arbeitsverbot und Residenzpflicht, sowie die allgemeinen Wohn- und Lebensbedingungen in den Heimen.

Das Ergebnis: Aufgrund der Streiks und Aktionen der MigrantInnen beschließt die Stadt Leipzig, denjenigen unter ihnen, die länger als drei Jahre im Asylverfahren sind, Bargeld auszuzahlen.

Frühjahr 2006: Noch immer erhalten alle Flüchtlinge (2) in Leipzig, die weniger als drei Jahre in der BRD leben oder eine „Duldung“ haben – deren Asylantrag also abgelehnt wurde, aber die Ausweisung nicht vollstreckt werden kann – kein Bargeld (3) für Nahrungsmittel, sondern müssen weiter­hin Esspakete aus einem Katalog beziehen.(4) Dieser hat etwa den Umfang eines besseren Tante-Emma-Ladens. Bestellt werden kann zwei Mal wöchentlich für bis zu 130 Euro pro Person und Monat, ins Asylbewerberheim kommen die Sachen ein bis zwei Wochen später. Manchmal erhält man Dinge, die man gar nicht bestellt hat, dafür fehlen bestellte Lebensmittel, oder die Lieferung kommt erst das nächste Mal. Das, was geliefert wird, ist auch mal über dem Mindest­haltbarkeitsdatum oder Tiefkühlprodukte sind schon an­ge­taut, … nix da mit normalen Kundenrechten.

Die gesetzliche Regelung sieht vor, dass die betroffenen MigrantInnen auch Bargeld ausgezahlt bekommen können. Die Formulierung „nach den Umständen erforderlich“ eröffnet hier Spielräume. So kann zu den besonderen Umständen gehören, dass sich die Stadt entscheidet, von Gemeinschaftsunterkünften abzusehen oder sich kein Anbieter findet, der die Versorgung der Asylbewerber übernimmt oder dass die Versorgung viel teurer als die Bargeldversorgung kommt. Diese Spielräume werden von den einzelnen Verwaltungen unterschiedlich genutzt.(5) Laut Georg Classen vom Flücht­lings­rat Berlin, wird das Sach­leistungs­prinzip nur noch in drei Ländern konsequent angewendet: Bayern, Sachsen und Baden-Württemberg.

Um diesen Zuständen praktisch etwas entgegen zu setzen, hat sich in Leipzig die Umtauschinitiative „anders einkaufen“ gegründet. Die Idee ist so simpel wie nahe liegend: diejenigen, die von dieser Regelung nicht betroffen sind, bestellen anstatt der MigrantInnen und bezahlen diese mit Bargeld. Für die Einen eine andere Art zu shoppen, für die Anderen eine Möglichkeit an Bargeld zu kommen.

Die Initiative, noch in den Kinderschuhen, auf Anregung der MigrantInnen selbst und mit Unterstützung der FAU Leipzig entstanden, sammelt einzelne Bestellungen und ab einem Gesamtbestellwert von 100 Euro werden diese bei den sich beteiligenden AsylbewerberInnen in den Heimen aufgegeben.

Bewusst haben wir uns schon vor den ersten Bestellungen dafür entschieden, diese unsererseits kollektiv zu gestalten. Gemeinsam macht es sowieso mehr Spaß, die Bestellsummen der Einzelnen halten sich in Grenzen und nicht nur nebenbei geht es auch darum, durch gegenseitiges Kennenlernen die soziale Isolation durch die Heimunterkünfte zu durchbrechen, mit­einander in Kontakt zu kommen, andere Kulturen und Sprachen kennenzulernen…

Der aufmerksame Leser erahnt an dieser Stelle schon, dass sich hier eine Unmenge von Möglichkeiten ergeben, sich kreativ und praktisch einzubringen, etwa beim Erstellen der Gesamtbestellungen, beim Kontakt zu den HeimbewohnerInnen, dem Transport der Lebensmittel etc.

Gesucht werden daher vor allem Menschen, die sich auf beiden Seiten an dem anderen Einkauf beteiligen. Wer also mit einkaufen oder sein Paket in Bargeld verwandeln will, melde sich bitte. Schön wäre es, durch regelmäßige Bestellungen unsererseits (z.B. einmal im Monat die WG-Grundausstattung) und eingespielte „Lieferant­In­nen“ aus den Heimen eine gewis­se Kontinuität zu schaffen.

In Dresden setzt sich eben­falls seit Anfang des Jahres die „Kampagne gegen Aus­grenzung“ für Bargeld­aus­zahlung an die ca. 200 in Dresden von der Ess­pakete­regelung betroffenen Asyl­bewer­berInnen ein. Unter dem Motto „Bargeld sofort!“ versucht sie auf Stadt- und Landesebene Druck auf die Verantwortlichen auszuüben.

Aufgrund der bekannten Behäbigkeit von Behörden und Politik und weil auch in Dresden „sofort“ manchmal länger dauert (6), übernehmen die Beteiligten der Kampagne bis dahin individuell Paketpatenschaften und helfen so, ähnlich wie in Leipzig, den MigrantInnen einfach einkaufen gehen zu können wie andere Menschen auch.

Kontaktiert werden können die Dresdner über: www.gegen-ausgrenzung.de.

Insgesamt sind AsylbewerberInnen in der BRD also nach wie vor einer Vielzahl von Einschränkungen und Diskriminierungen ausgesetzt. Dass sie nicht wie andere Leute auch entscheiden können, was sie essen, ist nur ein Teil davon. Daran etwas zu ändern, liegt an uns allen.

hannah

(1) In Leipzig alle drei Heime (Lilienstraße, Torgauerstraße, Wodanstraße), Taucha, Markleeberg, Doberschütz und Bahren.
(2) Hauptsächlich aus dem Irak, Iran, Afghanistan, der Türkei, Marokko und Südosteuropa.
(3) Bares gibt es lediglich in Form von schnell ausgegebenen 10-40 Euro Taschengeld pro Monat und Person.
(4) Menschen, die eine Duldung erhalten haben, müssen bis auf Ausnahmen in den Heimen wohnen bleiben, teils bis zu über zehn Jahre.
(5) Zum Beispiel Erfurt: Zwar werden auch in Thüringen in den meisten Kommunen Gutscheine oder Sachleistungen ausgegeben. In Erfurt ermöglicht die Stadt jedoch einem großen Teil der Asylbewerber, in normalen Wohnungen zu leben statt in Heimen. Und: Außerhalb der Gemeinschaftsunterkünfte gilt das Sachleistungsprinzip laut Gesetz gar nicht: Also bekommen sie Bargeld.
(6) In Dresden gibt es seit 2002 Verhandlungen über die Umstellung vom Katalogsystem auf Chipkarten. Die Karten werden vom Sozialamt mit einem bestimmten Betrag aufgeladen und die MigrantInnen können in teilnehmenden Geschäften damit an der Kasse zahlen. Inzwischen ist das neue System genehmigt, wird aber noch nicht angewendet. Die Einführung des Chipkartensystems ist mit einem enormen organisatorischen und finanziellen Aufwand verbunden. Für ca. 200 Betroffene müssen Chipkarten hergestellt, Läden als Partner gefunden und ein aufwendiges Abrechnungssystem durch den Chipkartenanbieter geschaffen werden.

Exkurs:

Der rechtliche Hintergrund für die Versorgung durch Kataloge oder Pakete ist das Asylbewerberleistungsgesetz (AbLG) und das dort verankerte „Sachleistungsprinzip“.

Paragraph 3 des Gesetzes:

„(1) Der notwendige Bedarf an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts wird durch Sachleistungen gedeckt.

(2) Bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen im Sinne des § 44 des Asylverfahrensgesetzes können, soweit es nach den Umständen erforderlich ist, anstelle von vorrangig zu gewährenden Sachleistungen nach Absatz 1 Satz 1 Leistungen in Form von Wertgutscheinen, von anderen vergleichbaren unbaren Abrechnungen oder von Geldleistungen im gleichen Wert gewährt werden.“

www.gesetze-im-internet.de/asylblg/index.html

Militarisierung vor der Haustür

Die ig3o (Ex-„Initiativgruppe 3. Oktober“)* beschäftigt sich seit einiger Zeit u.a. mit dem Leipziger Flughafen, denn dieser wird momentan auch für die militärische Nutzung ausgebaut. Welche Pläne derzeitig in BRD und EU umgesetzt werden und welche Rolle Leipzig bei der zunehmenden Militarisierung einnimmt, soll das folgende Interview beleuchten. Dieses Tonbandinterview mit M. und L. aus der ig3o wurde im gegenseitigen Einvernehmen im Nachhinein der Schriftsprache angenähert.

 

FA!: Warum ist der Leipziger Flughafen für euch derzeitig Thema?

 

L: Der Flughafen Leipzig/Halle wird gerade ausgebaut, es entsteht eine neue Landebahn mit dem Ziel, dort ein Luftdrehkreuz ein­zurichten. Zum einen für DHL (1), zum an­deren ist es aber auch so, dass sich die NATO an diesem Flughafen beteiligen möchte, indem sie Charterflugzeuge dort stationiert.

 

FA!: Was für Pläne hat die NATO da genau?

 

L: Die NATO hat einen Chartervertrag mit ein­em russisch/ukrainischen Transportunternehmen über das Chartern von Großraum-Transport-Flugzeugen abgeschlossen. Es geht da insgesamt um sechs Antonov-124-Maschinen, die ab Herbst diesen Jahres zur Ver­fügung stehen sollen. Zwei davon werden permanent in Leipzig stehen und vier wei­tere stehen dann an den Heimatflughäfen Kiew und Uljanowsk.

 

FA!: Sollen die Antonovs in Leipzig auch für militärische Einsätze verwendet werden?

 

L: Das ist quasi das Hauptproblem. Sie sind hier stationiert und sie stehen eben für militärische Zwecke zur Verfügung. Es wird auch ein Teil des Flughafens für diese Flieger und die Abfertigung reserviert sein. Und wir können dann damit rechnen, dass hier Kriegsgeräte verladen werden.

M: Und die Antonovs sollen auch innerhalb von 72 Stunden einsatzbereit sein, um so ein schnelles „Eingreifen“ weltweit zu ermöglichen.

 

FA!: Mit welchem Hintergrund wird gerade jetzt in der Gegend aufgerüstet?

 

L: Der Hintergrund ist, dass bereits im Jahr 2000 bei der NATO-Tagung in Prag beschlossen wurde, den strategischen Trans­port­bedarf der NATO-Staaten bis 2012 sicherzustellen, weil die europäischen NATO-Staaten für Auslandseinsätze bisher keine Lufttransportkapazitäten haben. Bisher lief fast alles über Seetransporte, aber in neueren Kriegen „braucht“ man Lufttransporte. Und von den NATO-Staaten haben ausschließlich die USA Lufttransportkapazitäten für mi­litärische Zwecke. Erst ab 2012 wird zusätzlich der neue Militär-Airbus A400 M zur Verfügung stehen, und bis dahin muss sich die NATO eben mit Charterflügen behelfen. Es geht eben um die militärische Aufrüstung.

 

FA!: Wogegen richtet sich eure Kritik speziell?

 

L: Unsere Kritik richtet sich in erster Linie gegen den Ausbau militärischer Kapazitäten. Also das ist halt ein Fall, wo Aufrüstungspolitik konkret vor unserer Haustür stattfindet, und das hat irgendwie noch niemand so richtig mitbekommen.

Es gibt jetzt erste Reaktionen von Gruppen, die ganz verblüfft sind, dass es in Leipzig bzw. Schkeuditz bald ein NATO-Drehkreuz für internationale Einsätze und wahrscheinlich auch für neue Angriffskriege geben wird. Und das ist ein Punkt, wo man die euro­päische Aufrüstungspolitik bzw. die NATO-Rüstungspolitik kritisieren kann. Zumal diese Transportkapazitäten hauptsächlich für die europäischen Staaten zur Verfügung stehen und auch von EU-Projekten genutzt werden können. Es werden gerade schnelle Eingreiftruppen – sowohl in NATO-Strukturen als auch in EU-Strukturen – geplant, bei der NATO die „Rapid Reaction Force“ und bei der EU die „Battle Groups“. Die „Battle Groups“ sollen bis 2007 aufgestellt sein. Das passt genau in diesen Zeitplan, wenn Ende Oktober die ersten Flieger hier stationiert werden können. Es ist auch so, dass die Bundesrepublik dieses Projekt unter ihrer Führung ausgearbeitet hat und im Prinzip diejenige ist, die es am stärksten vorangetrieben hat.

M: Zumal sich die BRD damit ein dauerhaftes Zugriffsrecht auf die Flugzeuge sichert, denn bisher musste sie alle Maschinen einzeln chartern, um zum Beispiel nach Afghanistan fliegen zu können, und jetzt stehen die hier bereit. Deutschland will auch 20 Millionen Euro im Jahr zahlen, um dann permanent auf sie zugreifen zu können.

L: Die Bundesrepublik bringt so die größte Summe für die Charterflugzeuge auf und hat dann auch die größten Nutzungsrechte.

M: Da kann man dann nicht nur die EU und die NATO, sondern auch die Rolle Deutschlands kritisieren.

Ja wir denken, dass das viele Gruppen interessieren könnte, und dass man da eventuell was zusammen machen könnte. Während es bei DHL eher zweifelhaft ist, ob das andere Gruppen so interessiert.

 

FA!: Gibt es denn von eurer Seite aus auch Kritik am Flughafenausbau wegen des DHL Drehkreuzes?

 

M: Das ist eigentlich ganz interessant, auch wenn es jetzt für uns nicht so der Hauptanknüpfungspunkt ist. Aber wenn man sich mal anguckt, was die DHL dafür erhalten hat, dass sie sich hier überhaupt ansiedelt, ist das schon ´n ziemliches Ding. Der Flughafenausbau kostet insgesamt ungefähr 380 Millionen Euro. Die DHL erhält zudem die Garantie für einen 24 Stundenbetrieb für die nächsten 30 Jahre. Und dann hat sie von der Landesregierung in Dresden noch weitreichende Zusagen für eine noch bessere Anbindung des Airports an das Straßen- und Schienennetz erhalten. Das kostet ja auch wieder viel Kohle, die der Bund und das Land tragen werden. Zusätzlich bekommt sie noch Fördermittel über 70 Millionen Euro. Also, das ist schon fett. Und wenn man dann so guckt, was „wir“ dagegen von der DHL erhalten… Sie versprechen da 3500 direkte Arbeitsplätze und 7000 indirekte Arbeitsplätze im Umfeld, wobei es aber schon Studien gibt, die belegen, dass das völlig aus der Luft gegriffen ist. Vor allem, wenn man sich die Arbeitsplätze anschaut, die es beim DHL-Drehkreuz in Brüssel gibt : 50 Prozent der Arbeitnehmer arbeiten da auf Teilzeit für vier Stunden in der Nacht. Und auch der DHL-Postchef Klaus Zumwinkel hat ja auf die Frage der LVZ: „Gibt es einen Standortvorteil Ost?“ geantwortet: „Nüchtern betrachtet, der einzige und wesentliche sind die niedrigeren Löhne.“ Billigjobs halt.

 

FA!: OK, ihr sagt ja, dass eure Stoßrichtung jetzt weniger DHL und die Arbeitsbedingungen bzw. Subventionen sind, sondern eher die NATO und Militärnutzung. Aber ist der Flughafenausbau für die DHL nicht auch für die NATO von Nutzen?

 

L: Die DHL-Bedingungen sind natürlich vorteilhaft, weil irgendwann zwei Landebahnen fertig sind, die 24 Stunden am Tag genutzt werden können. Nachts fliegen zu können ist halt auch eine Voraussetzung für militärische Nutzung.

 

FA!: Und bis wann soll alles fertiggestellt sein?

 

M: Also das Drehkreuz soll Anfang 2008 eröffnet werden.

FA!: Wem gehört eigentlich der Flughafen?

 

M: Der Hauptanteilseigner am Flughafen ist mit 94% die Mitteldeutsche Flughafen AG, und da sind wiederum der Freistaat Sachsen mit ca. 73% und das Land Sachsen Anhalt mit ca. 14% die Hauptanteilseigner. Ansonsten gibt es noch mehrere Städte und Landkreise, die direkt und indirekt Anteile besitzen: Dresden, Halle, Leipzig, der Landkreis Delitzsch, Leipziger Land, die Stadt Schkeuditz. Im Prinzip ist der Flughafen ein Unternehmen der öffentlichen Hand, kein Privatunternehmen.

 

FA!: Gibt es denn schon Gruppen außer euch, die sich mit dem Flughafen beschäftigen?

 

M: Es gibt die IG Nachtflugverbot, die ist vor allem in den betroffenen Dörfern organisiert. Ihre Kritik richtet sich hauptsächlich gegen den Nachtfluglärm, und sie fordert ein Flugverbot von sechs Stunden in der Nacht. Einzelne Mitglieder haben jetzt aber auch die militärische Nutzung ins Blickfeld genommen, richten sich auch dagegen und hatten eine Veranstaltung mit Monika Runge von der PDS zur militärischen Nutzung organisiert.

 

FA!: Und arbeitet ihr mit denen zusammen?

 

L: Wir versuchen momentan noch Kontakt aufzunehmen. Das ist nicht ganz so einfach. Das sind alles Leute von den Dörfern aus der Einflugschneise, wir sind hier alle in der Stadt irgendwie, da ist es schwierig was zusammen zu machen, zumal sie auch eine andere Stoß­rich­­tung und andere Aktions­­formen haben.

 

FA!: Und was plant ihr jetzt konkret, oder was ist euer Wunsch was passieren sollte und was man machen könnte?

 

M: Der erste Schritt ist erst mal informieren, weil man immer wieder hört, dass die Leute das einfach nicht wissen. Schön wäre auch, ein Bündnis von verschiedenen Leipziger Gruppen auf die Beine zu stellen

L: Es ist auch sehr schwierig, wirklich was effektiv dagegen zu machen und das in irgendeiner Weise zu verhindern. Die IG Nacht­flugverbot versucht das Ganze auf dem juristischen Weg zu machen, was auch nicht so sehr aussichtsreich erscheint. Es würde aber die militärischen Pläne zunichte machen, wenn es ein Nachtflugverbot gäbe, was sehr erfreulich wäre. Aber es ist bisher nicht gesagt, dass es soweit kommt.

M: Die IG Nachtflugverbot klagt ja hier vor dem Bundesverwaltungsgericht, und im Sommer müsste es da eine Entscheidung geben.

 

FA!: Ja genau, was sind denn so die nächsten Termine, wo man dann Anknüpfungspunkte finden könnte?

 

M: Das ist das Schwierige, denn irgendwie ist ja alles entschieden, bis auf die eine Klage vor´m Bundesverwaltungsgericht. Was die IG Nachtflugverbot zusätzlich überlegt, ist konkret gegen die militärische Nutzung zu klagen.

L: Die gehen beide Wege. Was sie tatsächlich machen, ist gegen die Stationierung der Militärflugzeuge aufgrund des Lärms klagen, also nicht gegen das gesamte Ausbauprojekt und das DHL-Drehkreuz. Die Antonov 124 ist das größte und lauteste Flugzeug der Welt, und die IG Nachtflugverbot versucht da, vor Gericht zu erwirken, dass die nicht stationiert werden dürfen.

Das Andere ist aber eben der militärische Teil, der gegen den „Zwei-Plus-Vier-Vertrag“ (2) verstößt. Aber bei der Klage besteht das Problem, dass alle Beteiligten, also auch der Flughafen selbst, diese Transportfirma, die NATO und eben auch das sächsische Innenministerium sagen: es sei ja ein ziviler Chartervertrag, es gehe ja bloß um den Transport des Kriegsgerätes durch eine zivile Transportfirma und sei damit vollkommen in Ordnung so.

M: Das ist ja auch ein bisschen unsere Schwierigkeit, dass wir noch nicht so einen richtigen Anknüpfungspunkt gefunden haben, wo man konkret noch Entscheidungen beeinflussen kann. Aber tun sollte man trotzdem was dagegen.

L: Man könnte versuchen, den Flughafen „anzugreifen“, wenn jetzt alle Entscheidungen irgendwie nichts bewegen. Leipzig hat sich beispielsweise im Irakkrieg als Friedenshauptstadt präsentieren wollen, und gleichzeitig ist es eben so, dass vor den Toren der Stadt Militärkapazitäten entstehen, die für neue Kriege da sind. Und von der Olbrecht-Kaserne in Leipzig aus sind auch schon Auslandseinsätze nach Afghanistan geleitet worden. Also auf der einen Seite gab es große Anti-Kriegs-Demonstrationen, auf der anderen Seite ist Leipzig ein wichtiger Militärstandort, der bei diesen Demonstrationen keine Rolle gespielt hat. Und wenn man das mehr in den Mittelpunkt rückt und den Leuten bewusst macht, was gerade hier jetzt passiert, gibt’s da glaub ich auch schon Potenzial, das man für Aktionen gewinnen kann, um am Image des Flughafens zu kratzen. Was denen dann vielleicht auch irgendwann nicht mehr egal ist.

M: Ja, inhaltlich dazu zu arbeiten und dann gemeinsam protestieren.

 

FA!: Danke für das Interview!

 

momo

(1) DHL ist ein Paket- und Brief- Express- Dienst. Der weltweit größte Express-Versender gehört seit 2002 dem Konzern Deutsche Post World Net. (vgl. FA! #16, Jan/ Feb ´05)
(2) Abschließende Regelungen zur deutschen Wiedervereinigung, worin gesagt wird, dass in Ostdeutschland keine ausländischen Truppen und Atombomben stationiert werden dürfen.

* Was ist eigentlich ig3o ?

Das Kürzel ig3o (Ex-„Initiativgruppe 3. Oktober“) bezieht sich auf die Entstehung der Gruppe im Vorfeld des Naziaufmarsches am 1.10.2005 in Leipzig. Akteure aus verschiedenen Zusammenhängen schlossen sich zu einem Bündnis zusammen, das zu einer Sitzblockade aufrief, um den Naziaufmarsch zu verhindern.

Nach gelungener Zusammenarbeit beschloss man, sich weiterer Themen wie dem Flughafenausbau oder den Kürzungen im Leipziger Haushalt anzunehmen. Mit dem Ziel, soziale und politische Prozesse zu kritisieren, zu verändern oder zu verhindern, konzentriert sich die ig3o zwar auf vor Ort greifbare Themen, organisierte aber auch eine Veranstaltungsreihe mit Podiumsdiskussion zum „bolivarianischen Prozess“ in Venezuela und beteiligte sich an der Demo „Bewegungsfreiheit für Alle. Festung Europa niederreißen“. Ungern würde sie „als die Gruppe, die nur dafür zuständig ist, Naziaufmärsche zu verhindern“, wahrgenommen werden. Dennoch beschäftigt sie sich momentan wieder damit, diesmal zum 1. Mai, wo es erneut ein Bündnis und zentrale Gegenaktivitäten gibt, um den Marsch der Rechten zu stoppen. Die ig3o versteht sich als antikapitalistisch und internationalistisch, sucht zudem immer noch einen Namen und würde gern mehr als acht Leute werden.

Homepage: ig3o.fateback.com

Macht Angst Macht?

Neue Ausstellung zur „Kultur der Angst“

Die diesjährige Hauptausstellung der Stiftung Federkiel in der riesigen Halle 14 auf dem Gelände der Baumwollspinnerei (Spinnerei­straße 7, Plagwitz) widmet sich der Angst als „Schlüsseltechnologie der Macht“. Vom 29. April bis zum 1. Oktober werden Arbeiten von 23 aktiven KünstlerInnen und -Gruppen aus aller Welt gezeigt. Von Kuratorenseite heißt es dazu: „Angst als Wirtschaftsfaktor und ihre Kultur gehört zu den wesentlichen Schrittmachern, zur Überlebensstrategie der spätkapitalistischen Gesellschaft.[…]Dennoch gehört der richtige Umgang mit der eigenen Angst in einer neoliberalen, von der Individualisierung geprägten Gesellschaft zur unverzichtbaren Kompetenz im Kampf um die Existenz­sicherung.[…]Private Geschäfts- und staatliche Interessen gehen im Kampf um die Erfüllung einer doppelten Zielsetzung – Profit und Sozialkontrolle – Hand in Hand. Ihre öffentliche ideologische Begründung ist der Schutz vor Angst, Bedrohung, Gewalt und Terror, und damit gegen Kriminelle, die dämonisiert werden müssen, um die Verwendung von Steuergeldern für ihre Unterdrückung und Inhaftierung gegenüber dem Steuerzahler zu rechtfertigen.“

Gegenstände der Auseinandersetzung reichen von geheimen Militärprogrammen (Trevor Paglen, USA) über Fluchtbe-wegungen in geschlossenen Gebäuden (Peter Bux, Deutschland) bis hin zu furchterregender Siedlungsarchitektur (Evrat Shvily, Israel). Auch Projekte, wie die Kommunikationsplattform „Islam loves peace“ (Mandy Gehrt, Leipzig), ein Workshop der KünstlerInnengruppe „Kiosk NGO“ (Serbien/Montenegro) mit Jugendlichen aus Serbien/ Kosovo oder die „Bio-Art“ des „Critical Art Ensemble“ (USA) und deren staatliche Verfolgung werden dokumentiert. Auch die subversiv arbeitenden „Yes-Man“ (USA) stellen Aktionen vor: So waren sie 2002 im Internet und später bei der BBC als Vertreter des Dow-Konzerns aufgetreten, um „endlich“ die Verantwortung für die Bhopal-Katastrophe zu übernehmen. 1984 waren in der zentralindischen Stadt 20.000 Menschen an den Folgen eines Giftgasunfalles in einem Chemiewerk gestorben. Der DOW-Konzern musste sich anschließend öffentlich von den Zugeständnissen distanzieren. Die Stiftung Federkiel beauftragte „The Yes Men“ zudem mit einer neuen Intervention, deren Dokumentation im Mai in die Ausstellung kommt und in der es um von Angst ausgelöste Blindheit gegenüber evidenten furchtbaren Fehlentwicklungen geht. Auch für „Noboru Tsubaki“ (Japan) sind globale Belange wichtig: in seinem „UN application project“ erteilt er sich selbst, Kollegen und Freunden den Auftrag zur angewandten Behebung lokaler wie globaler Missstände. Wer dann noch immer keine oder schon zu große Angst verspüren sollte, kann sich von Peter Wächtler (Deutschland) und seiner „Wahrsagerin 2006“ behandeln lassen.

Die Bilder, Filme, Installationen und andere Dokumentationen werden neben der politischen Horrorshow hoffentlich auch sinnlich gehaltvoll sein.

clara