Archiv der Kategorie: Feierabend! #33

Keine Nazis. Nirgends.

Rechte Umtriebe beim Wave-Gotik-Treffen

Das alljährlich zu Pfingsten stattfindende Wave-Gotik-Treffen ist ein gutes Geschäft für die Stadt Leipzig. Dass das Festival nicht nur ein Anlaufpunkt für jährlich etwa 20.000 „Schwarze“, sondern auch für Neonazis ist und immer wieder einschlägige Bands im Programm auftauchen, wird deswegen gern übersehen. So werden dieses Jahr neben Camerata Mediolanense (1) und der rechtsoffenen Black-Metal-Band Dies Ater (2), auch Fire & Ice auftreten, eine Neofolk-Band, deren Frontmann Ian Read lange Zeit in der britischen Neonazi-Szene aktiv war.

Read war – zusammen mit Tony Wakeford und Gary Smith – Gründungsmitglied der Band Sol Invictus. Wakeford (der zuvor bei der ebenfalls rechtslastigen Band Death In June mitgewirkt hatte) war zu dieser Zeit Mitglied der National Front, Smith spielte Bass bei der Naziskin-Band No Remorse und war Mitglied von Combat 18, dem terroristischen Arm des Nazinetzwerkes Blood & Honour (3). Read und Smith waren nicht nur Bandkollegen, sondern wohnten einige Zeit auch zusammen. Und Read war kein bloßer Mitläufer: 1990 wurde er bei einer Konferenz in London gesichtet, bei der sich diverse Größen der rechten Szene trafen – er leitete bei diesem Event den Sicherheitsdienst (4).

Neben solchen Aktivitäten in der Neonazi­szene war Read auch in verschiedenen satanistischen und heidnischen Gruppen aktiv. Auch wenn er sich mittlerweile eher als „Großmagier“ denn als Straßenkämpfer inszeniert, macht er keinen Hehl aus seiner sozialdarwinistischen Weltsicht, die er in Statements wie dem folgenden kundtut: „Sowohl Boyd Rice (5), vor dem ich großen Respekt habe, als auch ich sind elitär und haben wenig mit dem ´kleinen Mann´ zu tun, der die Erde bevölkert…“ Fragt sich nur, was Read ohne den „kleinen Mann“ täte – wenn er keinen mehr hätte, auf den er verächtlich herabschauen könnte, würde er womöglich merken, was für ein armes Würstchen er selber ist.

Das Zitat ist übrigens dem „Gothic- und Dark Wave-Lexikons“ entnommen (6), herausgegeben u.a. von Peter Matzke (seines Zeichens WGT-Pressesprecher). Reads hirnrissige Aussage wird dort so kommentiert: „Sätze, die verwirren in der bürgerlichen Wohlstands- und Spaßgesell­schaft…“ Kritik sieht anders aus. Die Vermutung liegt nahe, dass Peter Matzke selbst den zitierten Lexikon-Artikel zu Fire & Ice verfasst hat. Der Fakt, dass Matzke sich 2003 für ein Interview mit dem neurechten Käseblatt Junge Freiheit bereit fand (7), lässt sich bestenfalls als Zeichen politischer Ignoranz bewerten. Dort machte er in ganz ähnlichem Stil „die Ablehnung des Wertesystems der europäischen und amerikanischen Wohlstandsgesellschaft“ als „geistige Basis der Szene“ aus und erklärte: „Diese Szene rekurriert auf dezidiert europäische Kulturtraditio­nen, sie lebt etwas, das vor allem der nordeuropäischen (…) Denkart entgegenkommt. Unter den fast 20.000 Besuchern des Treffens habe ich bislang erst einen einzigen farbigen Gast ausmachen können.“ Das hören die völkischen Nationalisten von der JF sicher gern.

Es ist also vielleicht kein Zufall, dass regelmäßig rechte bis neonazistische Bands im Festivalprogramm auftauchen, wie z.B. 2001 Von Thronstahl, deren Frontmann Josef Klumb sich damals längst als antisemitischer Verschwörungstheoretiker geoutet hatte, oder dass der VAWS (Verlag und Agentur Werner Symanek, u.a. für Druck und Vertrieb der Nazipostille Unabhängige Nachrichten zuständig) mit seinem Stand auf dem Festivalgelände präsent sein kann, während dies antifaschistischen Gruppen mit Hinweis auf den „unpolitischen“ Charakter des Treffens verweigert wird. Womöglich sind vor allem kommerzielle Interessen dabei ausschlaggebend – einem Esel, der Gold scheißt, schaut man lieber nicht ins Maul. Einfach hinnehmen muss mensch das aber nicht.

Ein gewisses Augenmaß ist bei der Gegenwehr allerdings nötig – ein Beispiel, wie man es besser nicht macht, lieferte das WGT 2007. Da versammelten sich auf das Gerücht hin, die im UT Connewitz spielende Gruppe Stormfagel sei eine Naziband, ca. 50 AntifaschistInnen vor dem Gebäude. Konzertbesucher wurden aufgehalten, auf rechte Symbole gefilzt und teilweise tätlich angegangen. Später am selben Abend wurde eine mit „Grufties“ gefüllte Straßenbahn mit Pflastersteinen beworfen, ein Festivalbesucher wurde dabei am Kopf getroffen – ein Zusammenhang mit der vorhergehenden Antifa-Aktion ist nicht belegt, lässt sich aber vermuten. Mit der Antifa ist es eben wie mit der „schwarzen Szene“: Hier wie dort lassen sich ein paar Idioten finden. Pauschalurteile helfen in jedem Fall nicht weiter, und auf schlampiger Recherche (8) beruhende Haudrauf-Aktionen sind eher kontraproduktiv, wenn sie sich gegen einige in einer Masse politisch eher desinteressierter FestivalbesucherInnen versteckte Neonazis richten. Überhaupt sollte mensch sich dabei nicht nach Äußerlichkeiten richten: Hinter Rüschenhemden verbergen sich schließlich nicht gleich reaktionäre Ideologien, ebensowenig wie vom „nazimäßigen“ Stil mancher Elec­tro­nic­BodyMusic-Fans mit Militärhosen und Kurzhaarschnitt auf deren politische Einstellung geschlossen werden kann – und auch Menschen mit Death-In-June-Buttons sind nicht unbedingt Nazis. Anti­faschistInnen sollten also eher auf Aufklärung setzen, um den Festival-Be­sucher­Innen ihr Anliegen zu vermitteln. Denn wenn man Neonazis aus der „schwarzen Szene“ raushaben will, dann ist es in erster Linie die Szene selbst, die dafür sorgen muss.

(justus)

 

(1) siehe z.B. www.geister-bremen.de/brosch4.htm.

(2) siehe de.indymedia.org/2009/03/243865.shtml?c=on#c560282. Die Band hält sich zwar mit eindeutigen Statements zurück, hat aber gute Kontakte zum neonazistischen Black-Metal-Bands wie Totenburg oder Absurd.

(3) Tony Wakeford versucht heute, seine Kontakte zur Neonaziszene zu vertuschen. In einem unter www.fluxeuropa.com/tw_int_brownbook.htm zu findenden Interview gibt er immerhin zu, dass Gary Smith Gründungsmitglied bei Sol Invictus war. Zu Combat 18 siehe z.B. www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,19322,00.html.

(4) www.stewarthomesociety.org/wake-ford.html

(5) seit Anfang der 80er mit dem Industrial-Projekt NON aktiver Musiker, Mitglied der Church Of Satan und wie Read bekennender Sozialdarwinist mit Kontakten zur rechten Szene.

(6) Peter Matzke & Tobias Seeliger (Hrsg.), „Das Gothic- und Dark Wave-Lexikon – Die Schwarze Szene von A-Z“, Schwarzkopf & Schwarzkopf, Neuauflage 2003, S. 216.

(7) zu finden unter www.jf-archiv.de/archiv03/253yy24.htm.

(8) siehe z.B. de.indymedia.org/2007/05/178817.shtml. Der betreffende Artikel ist zwar mit „Grufties gegen rechts“ unterzeichnet, mir ist allerdings keine „Grufties gegen rechts“-Gruppe in Leipzig bekannt.

Auf zur zentralen Einheitsgemeinde!

Klage gegen Gemeindegebietsreform in Sachsen-Anhalt endgültig gescheitert

Dass der deutsche Bundesstaat vom Prinzip des Föderalismus und damit von einer Mitbestimmung durch die Betroffenen nicht viel hält, sieht mensch schon an dem Fakt, dass immer mehr Entscheidungskompetenzen auf die nächst höhere, europapolitische Ebene verschoben werden, anstatt die Autonomie und Selbstbestimmung auf den unteren Ebenen sicherzustellen. In Sachsen-Anhalt geht Staat nun exemplarisch noch einen Schritt weiter. Was hier bisher freiwillige Verhandlungssache zwischen den kommunalen Gemeinden war – der Zusammenschluss in größere Verwaltungseinheiten – wird nun per Dekret durchgesetzt. Die juristische Zwangsmaßnahme heißt Gemeindegebietsreform (2007/08), nach der eine kommunal organisierte Gemeinde mindestens 10.000 EinwohnerInnen (!!!) umfassen muss, um überhaupt so etwas wie Selbstverwaltung ausüben zu können, und wurde maßgeblich von der SPD vorangetrieben. Fast 200 Gemeinden hatten dagegen vor dem Landesgericht Sachsen-Anhalts geklagt. Doch ohne Erfolg. Richter Schubert verkündete am 21.04. 2009, dass der Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit des Landes ausreichend wäre, um so massiv in die Selbstverwaltung der Kommunen einzugreifen. Er berief sich dabei auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1988. Mensch könnte diese einheitliche deutsche Rechtsprechung auch so lesen: Da es billiger ist, wenn weniger mehr entscheiden, darf prinzipiell immer zentralisiert werden. Ob solche Einsparungen dann auch wirklich den Betroffenen dienen, prüft freilich kein Gericht der Welt und darf getrost bezweifelt werden.

Fakt ist: Gemeinden, die sich nun bis Ende Juni keiner größeren Verwaltungseinheit anschließen, werden dann zwangsangegliedert. Schöne neue Welt! Der historische Trend könnte eindeutiger nicht sein. Denn nicht nur in Deutschland wurden seit 1945 tausende von Gemeinden aufgelöst und zentralisiert, die Mitbestimmung von unten beständig beschnitten. Drastischstes Beispiel ist Dänemark. Hier schrumpfte die Anzahl der Gemeinden von 1400 (1950) auf sage und schreibe 98 (2007). Dass solche Zwangsmaßnahmen zur Zentralisierung von Entscheidungen in den Händen weniger mit einer föderal organisierten Mitbestimmung von unten nach oben wenig zu tun haben und letztlich der transparenten Kontrolle von Gemeindebudgets entgegenarbeiten, sollte jedem vernünftigen Mensch einleuchten. Deshalb: Ein Hoch auf die EinwohnerInnen des unterfränkischen Ermershausen, die 1978 Widerstand gegen ihre Auflösung leisteten, das Rathaus besetzten und Barrikaden errichteten. Mehrere Hundertschaften der Bereitschaftspolizei mussten das 800-Seelen-Dorf damals erstürmen, um die Gemeinde zu entmachten. Dass der Mut der Betroffenen in Sachsen-Anhalt ähnlich groß ist, bleibt nur zu hoffen.

(clov)

Reisebericht: Turkey – Imagined Community II

Von der Istanbuler Bronx in die Anatolische Einsamkeit

Ich bin umgezogen. Mich hat es aus dem touristenüberwucherten, hippen Avantgarde-Viertel Galata (FA! #32 „Turkey – Imagined Community”) in das Istanbuler Armenviertel Tarlabasi im Stadtteil Beyoglu, auch Taksim genannt, verschlagen, der seit jeher von Ungläubigen bewohnt wurde. Tarlabasi ist die Bronx von Istanbul und sein Ruf eilt ihm voraus. Wenn ich erzähle, dass ich dort lebe, reichen die Reaktionen von betretenem Schweigen bis hin zu ungläubigem Entsetzen. Kurden, Rum (Griechen), Roma, Drogen, Transsexuelle, billige Absteigen ist, was die Mehrheit Istanbuls allgemein mit Tarlabasi verbindet. Was ich damit verbinde?

Faltige, gegerbte Gesichter mit Kippenstummel zwischen zahnlosen Lippen, den billigsten und lautesten Wochenbazar Istanbuls jeden Sonntag direkt vor der Tür mit Türmen von frischem, lachenden Obst und Gemüse und geklauten Klamotten. Das Lachen der ungeschminkten Transen vor mir an der Kasse im Supermarkt, in dem ich nie genug Geld dabei hab und trotzdem alles bekomme. Der Panzer und die permanente Polizeipräsenz in der Nähe des DTP-Büros („Partei der demokratischen Gesellschaft“: Partei für die nationale Anerkennung der Kurden und eine friedliche Lösung der Kurdenfrage). Dutzende kleine Barbiergeschäfte, in denen eitle Männer und die, die es noch werden wollen rasiert und gestylt werden. Der kurdische Bakkal-Verkäufer, der Plastikhandschuhe für die Hygiene trägt und immer eine mit mir raucht, wobei er sich manchmal ein Loch in seine Handschuhe brennt. Der braune Stuhl vor unserem Haus, auf dem jeden Tag unser Apfelverkäufer sitzt und minikleine gelbe und rote Äpfelchen loszuwerden sucht, die manchmal von vorbeiziehenden halb­starken Horden, aus den Kisten geklaut werden, während der Alte nachsichtig lächelt. Im ca. 2,5 m² großen Elektronikladen, der von oben bis unten und von vorne bis hinten mit Dingen voll gepackt ist, hat weder ein Kunde, geschweige denn der Besitzer Platz, auch nur einen Fuß in den Laden zu setzen. Und die verschmitzt lächelnde alte Frau mit den weißen Haaren, die in der Unterführung neben der Mülltonne die paar Habseligkeiten verkauft, die sie (gefunden) hat, neben ihr ein Mann, der nicht mal Habseligkeiten hat, sondern nur eine Waage, auf der mensch sich wiegen kann.

Und dann gibt es da noch den kurdischen, alten Schneider, der in jungen Jahren in Paris gearbeitet hat. Hinter Fensterscheiben, die aussehen, als hätten sie ihren letzten Putz vor 20 Jahren erhalten, sitzt er vor seinem Schneidertisch auf dem sich Spulen, Garne und Klamotten türmen. Als wir das erste Mal von Jungs aus dem Viertel durch einen Moschee-Innenhof zu ihm gelotst wurden, um unsere verschlissenen Klamotten reparieren zu lassen, hat er anstatt der Kleidung zunächst unser Gesicht vermessen. Er mache Physiognomie-Studien, sagte er und presste kurz und fest beide Daumen gegen eine Stelle oberhalb unserer Augenbrauen. Er bat uns etwas zu schreiben, um aus unserer Handschrift auf unsere Persönlichkeit zu schließen. Ich schrieb und sein erster Kommentar: „Hässlich, sehr hässlich”. Ich lächelte ihn verlegen an. Ich war noch nie be­sonders stolz auf meine Buchstaben-Trümmerhaufen-Handschrift, die ein bisschen der Steno-Schrift meines vom Dokumentationsgeist besessenen Großvaters ähnelt und die ich manchmal selbst nicht entziffern kann. „Ich sollte die Dinge langsamer angehen”, so der gut gemeinte Ratschlag des Schneider-Psychologen, „nicht so sehr durchs Leben hetzen”. Ich muss grinsen und an Leipzig und Projektneurosen denken.

Wahlkampf

Jede befahrbare Strasse der 20 Millionen Metropole ist behangen mit bunten Plastik-Fähnchen auf denen Glühbirnen und Pfeile gedruckt sind. Sie hängen über Brücken, zwischen Straßenlaternen, Moscheen und anderen Gebäuden und schmücken die Autobahnen. Die Szenerie hat etwas Karnevaleskes. Nur feiert niemand. Es ist Wahlkampf…und Plastikmüll-Potlatch. Gekämpft wird gegen die Umwelt und ansonsten gegen alles andere, was unrecht ist. Klientelismus par excellence. Erdogans AKP („Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung”: islamisch-konservativ ausgerichtet, derzeit stärkste Fraktion im türkischen Parlament) beliefert ihre frierenden Wähler in spe schon mal mit ausreichend Kohle, um ihnen die um 80% gestiegenen Heizgas-Preise zu ersparen. Manche bekommen neues Einrichtungsmobiliar, andere Kühlschränke. Der Fall einer Familie wurde bekannt, die sich über den neuen Kühlschrank theoretisch gefreut hätte, wenn sie denn ans Stromnetz angeschlossen wäre.

Das faszinierendste an diesem Wahlkampf sind die politisierten Massen, die in Bewegung gesetzt werden. Zehntausende strömen zu den einzelnen Kundgebungen und schwenken, als ginge es um ihr Leben, die Fahnen zu Phrasen wie: „Wir werden die Armut in Ostanatolien abschaffen“.

Dort tobt indes seit Monaten die „Schlacht um die Festung Diyarbakir“, der Hauptstadt des türkischen Kurdistans. Im Fernsehen werden unaufhörlich Bilder von Demonstrationen und Gefechten zwischen PKK („Kurdische Arbeiterpartei“: kämpft mit Waffengewalt für politische Autonomie kurdisch besiedelter Gebiete in der Türkei) und Sicherheitskräften mit Toten und Verletzten gesendet, die an Bürgerkriegszustände erinnern. Die der PKK nahe stehende Kurdenpartei DTP, die seit wenigen Jahren Sitze im Parlament hat, hat eigene Wege gefunden dem anhaltenden Konflikt zu begegnen. Die Reformversprechen der AKP, etwa ein freierer Gebrauch der kurdischen Sprache, konterte die DTP geschickt mit einer Ansprache auf Kurdisch im türkischen Parlament. Da das jedoch weiterhin verboten ist, entpuppte sich die von der AKP versprochene neue Freiheit rasch als hohles Versprechen. Die PKK ihrerseits hat in den vergangenen zwölf Monaten wiederholt versucht, mit Gewalttaten Präsenz zu demonstrieren.

Anatolien

Ein Schlagloch reißt mich aus meinem seligen Schlaf. Ich blinzele aus dem Busfenster, der Sonne mitten ins Gesicht. Draußen ist es staubtrocken. Die kubischen Häuser, Palmen, der Boden und Olivenhaine, alles erscheint in demselben Farbton, als hätte jemand mit einer Riesendose Puderzucker über die Landschaft gestreut. Ich schwitze. Nach zweieinhalb Monaten nasser Plörre in Istanbul und einigen gescheiterten Versuchen der Beton-Megapolis für ein paar Tage zu entfliehen, eine Genugtuung. Auf der Straße laufen Muslime mit violetten, lose um den Kopf gebundenen Tüchern und Salvar-Hosen, die bis zum Knie eng wie eine Leggins sind und dann breit wie ein Rock werden. In all den winzigen Dörfern, an denen wir vorbei tuckern, scheinen die Menschen zu arbeiten. Frauen bücken sich über das Feld, während ihnen eine abgemagerte Kuh zuschaut, Ziegel werden getragen, Weizensäcke geschleppt, Teppiche geschüttelt, immer wieder Schäfer und kleine Menschengruppen, die irgendwo im Nirgendwo die Straße entlang spazieren. Seelenruhig. Vorbei an kilometerlangen Steinfeldern, am Horizont schroffe Bergketten und sonst nur Himmel. Dann brechen plötzlich Hochhaus-Bauten aus der Erde. Mitten im Nichts. Brachiale Siedlungsmethoden. Die Erde blutet.

Deutsche Bürokratie auf türkischen Klos

Klopause. Der Bus wird mit einem an einen Besen befestigten Schlauch von oben bis unten geschrubbt, als ginge es um ein re­ligiöses Waschritual. Am Kloschalter sitzt ein etwa 50-jähriger Mann, der mir, nachdem er sich nach meiner Herkunft erkundigt hat, einen Brief aus seiner Kabine entgegenstreckt. „In amtlicher Sache“ steht in deutsch darauf. Ein Scheidungsbescheid mit Zahlungsaufforderung. Was die wollen, will er wissen. Bestimmt werde er sich nicht bei denen melden. Seine Frau…in Ham­burg…dann wieder ein Klokunde auf der anderen Fensterseite, der uns neugierig beobachtet, während er auf sein Rückgeld wartet…er neunmal dort gewesen…keine dauerhafte Auf­ent­halts­genehmigung…ich verstehe nur Brocken, sowohl auf deutsch als auch auf türkisch. Er will, dass ich ihm den Brief vom Anwalt übersetze. Der deutsche Staat schafft es sogar, seine verklausulierten Phantasien in ein Klohäuschen im tiefsten Ana­to­lien zu transportieren und mich dazu zu bringen, den Krampf auch noch zu übersetzen. Dabei wäre es nicht mal das Klopapier wert.

Staudamm im Paradies

Wir leihen uns ein Auto und fahren nach Hasankeyf. Eineinhalb Stunden von der Hauptstadt des türkischen Kurdistan am Tigris liegt das Paradies. Hier soll der Garten Eden gewesen sein. Grüne, saftige Wiesen vor schroffen Bergketten. Felshänge erheben sich aus dem Strom des breiten Flusses, alle paar Meter Löcher im Fels, dahinter Höhlenlabyrinthe. Die PKK-Rebellen sollen hier unter anderem ihre Rückzugsgebiete haben. Nur noch wenige kennen die unterirdische Geographie. Wir halten vor einer alten Mauer. Kinder rennen uns entgegen. Die Mädchen haben riesige Sträuße von irgendeinem Kraut in ihren Armen. Ich habe den Namen vergessen, aber die halbgeschälten Stiele, die sie uns kiloweise anbieten, sind extrem lecker. Wir tollen mit ihnen über die Wiesen, dann zeigen sie uns die Reste osmanischer Grabmäler, Hammams (türkisches Bad) und Burgen aus Zeiten des Reichtums.

Die Geschichte von Hasankeyf vor der christlichen Zeitrechnung liegt im Dunkeln. Danach befand es sich unter wechselnder Herrschaft durch die Oströmer und ihr byzantinisches Reich und die Sassaniden, die das zweite persische Großreich gründeten. 0m Lauf der islamischen Expansion eroberten die Araber diesen Ort. Seitdem lebten die Christen unter islamischer Hand. Später wurde Hasan­keyf von den Mongolen überrannt, die die Stadt verschonten. Anfang des 15. Jahrhunderts beanspruchten die Osmanen das Gebiet für sich. Im 16. Jahrhundert soll die Stadt an die 10.000 Einwohner gehabt haben, davon 60% Christen. Mit der Zeit hat Hasankeyf immer mehr an Größe und Bedeutung verloren. Außer bei den Kurden, wo es den Status einer Kultstätte bzw. eines nationalen Erbes behielt. Während des Genozids an den Armeniern 1915-17 war Hasankeyf Vernichtungsort, da sich Deportationsrouten dort kreuzten. Hassankeyf heute ist ein Dorf, das vom Tourismus lebt, die sich die alten Höhlenlabyrinthe anschauen. Keiner kann mehr genau sagen, wie diese Höhlen entstanden sind. In manchen wohnen noch immer Familien.

Wir sprechen mit einem etwa 50-jährigen Mann, der ein kleines Café am Tigrisufer des Dorfes betreibt und uns hungrigen Mäulern Tomaten und Brot bringt. Er ist in einer der Höhlen geboren und erzählt uns von dem seit Jahren von der türkischen Regierung geplanten Staudamm-Projekt, das das Dorf samt seinen Schätzen, Höhlen und angrenzenden Gebieten in eine pittoreske Unterwasserlandschaft für Tiefseetaucher verwandeln soll. Im März 2007 entschied sich die deutsche Bundesregierung gemeinsam mit der Schweiz und Österreich zur Übernahme einer Exportkreditgarantie. Die Türkei habe sich zu Maßnahmen verpflichtet, die weit über die bisher bei Staudammprojekten geübte Praxis hinausgehen, hieß es. Zu den Zugeständnissen zählen ein detaillierter Umsiedlungsplan sowie die Zusicherung von Arbeitsplätzen für die betroffene Bevölkerung, die Umsetzung bedrohter Kulturdenkmäler aus Hasan­keyf in einen Kulturpark sowie die Garantie eines Mindestdurchflusses gegenüber den Unterliegern Syrien und Irak, von deren Umsetzung bislang nicht viel zu erkennen ist.

Der Cafébesitzer erzählt von Uta Roth, der Grünenvorsitzenden, die Hassankeyf eine Woche vor uns besucht und bestaunt hat. Sie kam im Auftrag der deutschen Regierung, die das Projekt bis dato maßgeblich mitfinanzieren wollte. Aufgrund anhaltender internationaler Proteste und der ungenügenden Einhaltung der geforderten Auflagen durch die Türkei, hat die deutsche der türkischen Regierung mitgeteilt, das sie nicht mehr an der Finanzierung interessiert sei, worauf die türkische Regierung geantwortet hat, dass ihr das herzlich egal sei und sie das Projekt auch ohne die Hilfe Deutschlands in Angriff nehmen werde. Aber auch die Schweizer haben ihre Gelder bis auf weiteres eingestellt. Bis auf weiteres. Viele der Bewohner sind überzeugt, dass das Projekt trotzdem gebaut wird.

Was er machen werde, fragte ich den Cafébesitzer und eigentlich erwartete ich keine Antwort. Er hatte trotzdem eine: „Sagt euren Leuten in Europa, dass sie uns erwarten können, wenn der Staudamm gebaut wird“.

(Klara Fall)

Raus aus dem Elfenbeinturm?

StudentInnenproteste in Leipzig

Die Sonne scheint gelassen auf die Steintreppe vor den jetzt schon heiligen, obwohl noch im Aufbau befindlichen Hallen der Alma Mater. Von der Fassade des bereits eröffneten Neuen Seminargebäudes hängen bunte Transparente herab, die von einer Universitätsbesetzung künden. Vor der Tür stehen ein paar Studierende um einen Infostand herum.

Aber immer der Reihe nach: Alles begann am 14. April 2009, mit den Aktionstagen im Foyer des Geisteswissenschaftlichen Zentrums (GWZ) der Uni Leipzig, welches von protestierenden StudentInnen zwei Tage und eine Nacht in Beschlag genommen wurde. Den Hintergrund bildeten die mittlerweile unübersehbaren negativen Auswirkungen des Bachelor/Master-Systems. Trotz organisatorischer Unterstützung von StudentInnenrat und Fachschaftsräten ging diese Aktion vor allem von der studentischen Basis aus. Dabei war es nicht das Ziel, sofort mit ausformulierten Forderungskatalogen an die Öffentlichkeit zu gehen. Zunächst einmal ging es darum, einen Raum für Kommunikation und Diskussion zu schaffen – auch um die Fehler, die zum Scheitern früherer Studentenproteste führten, diesmal möglichst zu vermeiden.

Etwa 300 Studierende fanden sich an den ersten beiden Tagen des Protests ein, um ihrem Unmut über die zunehmenden Belastungen durch Vorträge, Redebeiträge am offenen Mikro und bei Diskussionsrunden in Workshops Luft zu machen. Kritisiert wurden u.a. die durch Bachelor/Master rapide vorangetriebene Verschulung der Universitätslehre, Modula­risierung und verschärfte Prüfungsverfahren, die aus der verkürzten Studiendauer folgende Überforderung der Studierenden, die zunehmende Trennung von Lehre und Forschung, die Einführung eines festen Kanons von Inhalten und die damit verbundene Einschränkung der Wahlfreiheit bei den Inhalten. Aber nicht nur die Folgen des Bachelor/Master-Systems standen zur Debatte, sondern auch der Bolognaprozess als Ganzes sowie allgemeine Fragen bil­dungs­politischer Art wie Studienge­büh­ren oder der Wandel vom Bildungs- zum Aus­bil­dungs­inter­esse. Natürlich drehte sich die zweitägige Diskussion letztlich auch ums Ganze, nämlich um die Frage, ob Bildung heute überhaupt einen emanzipatorischen Kern aufweist und wenn ja, wie dieser zu verteidigen sei.

Große Fragen, die in zwei Tagen natürlich nicht geklärt werden konnten. Und so entschied mensch sich am letzten Tag der Besetzung, den Protest im erst kürzlich geöffneten Neuen Seminargebäude (NSG) weiterzuführen. Nicht ohne Erfolg: Seit mehreren Wochen sind die Räumlichkeiten im ersten Stock des Gebäudes bereits besetzt, für jeden zugängliche Workshops, Vorträge und Filmvorführungen finden dort statt. Dreimal wöchentlich gibt es offene Plenarsitzungen, in denen der Protest koordiniert und geplant wird. Einiges an Aktionen gab es bereits, darunter eine Kundgebung gegen Studiengebühren, die am 29.4.09 vor dem Bundesverwaltungsgericht in Leipzig abgehalten wurde. Anlass war der Entscheid über die Klage des AStAs Pader­born, dass Studiengebühren nicht dem von Deutschland unterschriebenen UN-Sozialpakt entsprechen, wonach das Recht auf Bildung einen jeden eingeräumt werden müsse. Die Arbeit an einer weitreichenden studentischen Kritik, die sich nicht nur mit der Universität, sondern auch mit derem gesellschaftlichen Umfeld befasst, soll jedenfalls weitergehen. Das nächste Etappenziel ist die Beteiligung am geplanten deutschlandweiten Bildungsstreik am 15. Juni 2009.

Womit wir wieder am Ausgangspunkt wären. Etwas abseits des bunten Treibens vor dem neuen Seminargebäude sitzen Theo (mit einer Flasche Bier in der Hand) und Karl (mit einer Tasse Kaffee) auf den Treppenstufen in der Sonne. Sie ziehen schweigend an ihren Zigaretten, bis Theo, offenbar vom Weltgeist ergriffen, zu sprechen beginnt:

Theo: Ich sage dir, o Karl, da fehlt einfach das Bewusstsein. Diese jungen Leute mögen ihre Gründe haben, die Bachelor-Studiengänge und deren Folgen sind auch wirklich schwer zu ertragen: Ständi­ger Leistungsdruck, rigide Einschnitte in die Wahlfreiheit bei den Studieninhalten und dabei ein fortwährender Verlust an Qua­li­tät – und das nur, um die armen Stu­­dierenden so schnell wie möglich auf dem Arbeitsmarkt verbraten zu können, als bestenfalls Halbgebildete. Aber glaubst du wirklich, dass dieser Aktionismus er­folg­reich sein könnte? Denn der Student ist wahrlich nicht das Subjekt der Emanzi­pa­­tion – er mag sich abmühen wie er will, der dem falschen Ganzen innewohnenden Dialektik kann er sich nicht entziehen.

Karl: O Theo, du vergisst mal wieder die Stu­dentinnen. Und deine Resignation riecht mir allzu sehr nach Pose. Mag sein, bei der Besetzung des GWZ schien der Protest noch sehr studentisch-harmlos. Ich, der alte subproletarische Straßenkämpfer, hatte da ja auch meine Vorurteile. Doch die Studierenden haben langen Atem bewiesen und blieben sich treu, ihren Interessen Gewalt zu verleihen. Im Anfang liegt die Tat. Nur aus dem Protest und im Protest fängt der Mensch an zu lernen. Die Studierenden begannen schließlich auch erst im Protestieren, über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen und nicht nur ihre Probleme zu sehen, o Theo, sondern die größeren Zusammenhänge zu begreifen. Sie reden von der Universität und der Gesellschaft zugleich, von Sinn und Unsinn des Bildungsideals. Kurzum: Sie lassen sich die Selbstkritik nicht nehmen.

Theo: Doch wer, o Karl, ist dieser Protest? Die üblichen Verdächtigen sind´s! Ach, höchstens 300 Leute. Siehe, wir haben insgesamt fast 30.000 Studierende in Leip­zig, da merkst du, wie weit der Drang zum Aufstand reicht! Vielleicht hätt´s eine richtige Besetzung werden können, hätten sich die Leute nicht nur lammfromm auf das Foyer beschränkt. Und selbst dort fällt den Leuten nichts anderes ein, als Workshops abzuhalten. Kaum kommt der Karren der Empörung ins Rollen, schon flüchtet mensch sich wieder in das Seminar zurück. Und was spuckt der Geist dort aus? Tausende und Abermillionen sozial­theo­rethische Ansätze! Aber den Gesamtzusammenhang, o Karl, übersteigen diese wahrlich nicht.

Karl: Aber vergiss nicht, o Theo, mit der Besetzung des Neuen Seminargebäudes haben die Studierenden den Rubikon überschritten, der den Protest vom Widerstand trennt. Nicht nur um zu diskutieren, taten sie dies, sondern es war gleich­sam ein politischer Akt. Denn siehe: Schließlich war´s ihnen um die Universität als Raum zu tun, wo Wissen nicht nur unter den Argusaugen des allmächtigen Marktes geschaffen wird. Und wenn dieser vielleicht kleine, aber vorhandene Freiraum dem schnöden Mammon geopfert werden soll, dann ist es ein Zeichen der Hoffnung, wenn mensch sich diesen Raum zurückerobert, ohne den die geistige Freiheit ein für alle mal verdorren muss. Da beweist sich allemal eine höhere Weisheit, als die alten Rezepte wieder aufzuwärmen, bei denen ohnehin klar ist, dass sie in eine Sackgasse führen. Traurig war´s anzu­schaun vor ein paar Jahren, wie nackte Menschen in die Flüsse sprangen und krakeelten: „Die Bildung geht den Bach hinunter!“, oder, wie Harlekins gekleidet, laut pfeifend durch die Straßen tollten, um ihre Sorge um den Standort Deutschland kundzutun. Ich mag gar nicht daran denken! Was jetzt gedeiht, das sprüht in neuen Farben – ein Raum der Möglichkeiten wurd´ geschaffen, wo radikales Denken sich entfalten kann, auf gleicher Höhe wird sich verbunden und versucht, wahrlich zu erkennen, was mensch will und in welcher Welt mensch sich bewegt. Das ist nicht nur Studentenprotest, das ist ein erster Schritt zur Emanzipation!

Theo: O Karl, du redest von Räumen. Doch was für Räume sind´s? Dieselben, die der Staat seit jeher in der Uni vorsah. Denn auch zu guten alten Humboldt­­zei­ten und danach war die Uni nur die Pro­duk­­tionsstätte, um dem arbeitsteiligen Ge­sell­schaftskomplex die Experten zu züch­ten, die er brauchte. Nebenbei sollte sie stets nur noch den guten Staatsbürger züch­ten. Die Vorstellung der Universität als Residuum von Freiheit und kritischem Den­ken ist doch reine Ideologie! In diesem Dilemma gefangen, bleibt der Student doch ewig der eigenen Ohnmacht ver­fallen.

Karl: StudentInnen, o Theo…

Theo: Von mir aus… Selbst wenn´s ihnen nach Freiheit im Universitätskorpus dürstet, verlangen sie dies, um gute Staatsbürger zu werden. Denn siehe: Der…

Karl: Theo…

Theo: …Student! der die gute, d.h. kritische Universität fordert, kommt nur dem Begehren nach, das die bürgerliche Gesellschaft ihm vorschreibt: nämlich nicht nur seine Arbeitskraft zu Markte zu tragen, sondern auch noch als guter Wähler, auf den engen Rahmen des Möglichen sich beschränkend, seine Staatspflichten zu erfüllen. Die Kritik, die eine Universität beibringen soll, ist so immer die Rechtfertigung des Staates. Der Student ist nichts weiter als der perfekte Staatsbürger, der seine Stimme nur an der für sie vorgesehenen Stelle erhebt und ansonsten redlich arbeitet. Wie schon beim alten Fritz: Räsoniert soviel ihr wollt, aber gehorcht! Die Kritik an der Ökono­mi­sierung der Universität mag sich in Heldenpose werfen, doch kritisiert sie nur den Fakt, dass für die fette staatsbürgerliche Elite in der Universität nicht mehr ausreichend gesorgt wird.

Karl: Mir scheint, du willst dich nicht bewegen: die Starre steckt im Geiste dir und in den Knochen. Freilich hängt im Ganzen alles zusammen. So ist die Universität auch Staat und Kapital und nichts diesen Dingen vollkommen Fremdes. Doch wisse: Unter der Maske der Kritik redest du der Vormundschaft das Wort, du traust den Studierenden nicht zu, selber zu denken. Sie sollen schon alles richtig begriffen haben, bevor sie handeln. Doch das Begreifen stellt sich eben nicht nur ein im elitären Zirkel – wenn´s so wäre, bräuchtest du nicht zu kritisieren, du würdest das Kritisierte zum Naturgesetz erklären, Staat und Kapital für ewig setzen. Erst in der kritischen Tat kommen die Menschen zu Bewusstsein. Du kritisierst den Elfenbeinturm und sitzt selber auf dessen Dach. Doch erst im Protest gegen die ihnen aufgezwung´nen Ketten erheben sich die Studierenden aus ihrer Unmündigkeit. Indem sie ihren Interessen Ausdruck verleihen, beginnen sie ihre Interessen als die Interessen anderer zu verstehen. So ist Solidarität der Weg geebnet. Du sagst, in den Klagen der Studierenden spiegle sich nur der Willen der bürgerlichen Gesellschaft? Doch sind´s nicht gerade die uneingelösten Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft von Freiheit, Gleichheit und Individualität, die zum Aufbegehren treiben? Und liegt die Reflexion auf diese Glücksversprechen nicht im Handeln, diese einzufordern? Nur weil ein Universitätsprotest dem falschen Ganzen entspringt, ist er doch nicht gleich nur jenem verfangen. Wie willst du denn die schweigende Masse – die Angepassten, wie du sie nennst – kitzeln, wenn du im Theoriezirkel dich versteckst und mit deinen Genossen die eigene Ohnmacht mit klugen Worten stets aufs Neue predigst? Wie kannst du, o Theo, Anspruch auf Wahrheit erheben, wenn solche Wahrheit mit der praktischen Perspektive sich so gar nicht messen kann? Im reinen Selbstbewusstsein, im Reich des reinen Geistes, haust dein Anspruch auf Wahrheit, der von konkreten alltäglichen Auseinandersetzungen sich feige fernzuhalten sucht. Deine Flucht in die Theorie ist Flucht vor der Verantwortung! Und dies, um in deinen Worten zu sprechen: heißt ewig Staatsbürger bleiben. Was du mit deinem Klagegesang gebierst, ist höchstens eine neue Staatselite. Der StudentInnenprotest dagegen handelt und reflektiert zugleich. Er ist zur Solidarität in der Lage, weil er Verantwortung übernimmt. Erst die Besetzung hat einen fruchtbaren Austausch der Ideen möglich gemacht. Mag sein, dass dieses Unternehmen scheitert. Doch scheitern kann der Mensch im reinen Denken ebenso wie in schmutz´ger Praxis. Aber nur wo´s Denken praktisch wird, gibt´s Aussicht auf Befreiung. Aufklärung ist für dich nur Sache der Elite. Doch wenn sie nur dort gedeiht, so bleibt sie erst recht staatstragend.

Theo: O Karl, glaubst du denn immer noch, dies Pseudohandeln sei die Treppe hinab vom staatstragenden Elfenbeinturm? Dann vergleiche doch die Theorie, die sie in ihren Workshops aushecken, mit der Praxis, die dir vorschwebt, oder anders ausgedrückt: mit der Ohnmacht der Studenten. Die alten Hirngespinste sind´s, die sie in ihren Workshops stets aufs neue aufbrühen, nur wird die Suppe mit jedem Tage dünner. O Karl, ich sage dir, dieser Protest trifft nicht ins Herz der Bestie! Die Leitung dieser Universität weiß schon, warum sie Verständnis für die Besetzung bekundet. Dieser Protest wird in den selben Stricken sich verfangen, wie alle Proteste davor! Was tun die Leute denn dort drinnen? Eben das, was du mir vorwirfst: Sie plenieren, diskutieren, deklamieren große Thesen, so wie eh und je in Seminaren. So bleibt dein Handlungssubjekt ein ohnmächtiges, kein solidarisches. Denn Bewusstsein für die Gemeinsamkeit der Interessen ist selbst bei der breiten Masse der Studierenden nicht gegeben, und selbst wo sie an Aufruhr denken, sind sie schon vereinnahmt von alltäglicher Routine, der Sorge um ihre Abschlüsse.

Karl: Erst beschwerst du dich des platten Aktionismus wegen, und jetzt verlangst du ihn! Denn siehe: Der Protest zeigt Kontinuität. Schon bricht der neunzehnte Tag an. Behutsam wird vorgegangen und nichts überstürzt, und doch nicht nur gewartet. Dies ist kein Zeichen von Ohnmacht, sondern eines von Ernsthaftigkeit und Tiefe. Die Studierenden schaffen etwas, was du nicht kennst: Experimentier­raum. Sie wagen, Verantwortung zu übernehmen und auch sich selbst zu reflektieren, sich der Auseinandersetzung zu stellen, althergebrachte Positionen abzulegen und bessere zu entwickeln. Und selbst wenn sie die Universität nicht abschaffen, so haben sie doch den ersten Schritt zur Mündigkeit vollbracht. Nämlich Solidarität und Verantwortung. Du magst von mir aus vor Geschichte resignieren, doch sie schreitet trotzdem unaufhörlich voran.

Theo: Ich glaube, Geschichte macht mich krank.

Karl: Eben. Lieber Geschichte machen.

theo & karl

Im Unterholz der Moderne (1)

Religion, Vernunft, Ideologie

Gut 200 Jahre ist es her, dass Imma­nuel Kant seine berühmte Forderung, „Habe Mut, dich deines eigenen Ver­standes zu bedienen“, erhob und Auf­klä­rung als den „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ definierte. Schon der Begriff „Aufklärung“ („enligh­tenment“ im Englischen) verweist auf den hehren Anspruch des Unterfangens: Alles soll vom Licht der Vernunft durchleuchtet, die Gesellschaft nach den Regeln der Rationalität umgestaltet werden. Damit ist aber längst kein Zeitalter universeller Vernunft angebrochen. Zwar haben die christlichen Kirchen in den westlichen Industrienationen ihr Monopol auf die letztgültige Erklärung der Welt verloren – die Religiosität ist mit dem Verlust des christlichen Monopols aber nicht verschwunden.

Im Gegenteil lassen sich sogar Anzeichen für einen religiösen roll-back, ein erneutes Erstarken des Glaubens ausmachen. Nicht nur in islamisch geprägten Teilen der Welt gewinnen fundamentalistische Be­wegungen an Bedeutung. Auch hier­zu­lande bemühen sich die christlichen Kirchen, verlorenen Boden zurück zu gewinnen. Wie das ausschaut, konnte man vor kurzem in Leipzig beobachten, in der Debatte über das neugebaute „Paulinum (siehe FA! # 31). Auch die pro-tibetischen Proteste im Vorfeld der Olym­­pi­schen Spie­­le in Peking 2008 dürften nicht nur mit den Lebensbedingungen der tibetischen Bevölkerung, sondern auch mit der kaum von Sachkenntnis ge­trübten Popularität des Dalai Lama zu tun gehabt haben (1).

Die heutigen Erscheinungsformen der Religiosität sind freilich nicht einfach nur irrationale Restbestände in einer ansonsten durch und durch rationalen Gesellschaft – eine solche Sichtweise würde das Statische der Religiosität zu sehr betonen. Selbst wenn die jeweiligen Glaubensinhalte und Praktiken gleich bleiben, kann die Funktion, die sie in einer bestimmten Gesellschaft haben, stark variieren. So wäre es z.B. absurd zu glauben, die religiöse Praxis neuheidnischer Gruppen, die sich auf alte germanische oder keltische Religionen beziehen, sei mit der ihrer Vorbilder identisch, egal wie sehr mensch sich dabei um genaue Rekonstruktion von Riten und Glaubensvorstellungen bemüht. Auch die Selbstwahrnehmung religiöser Gruppierungen, die sich als Hüter einer „ewigen Wahrheit“ begreifen, ist also illusorisch. Im Gegensatz dazu soll hier die Religiosität (bzw. einige ihrer Spielarten) als soziales, sehr „diesseitiges“, zeit- und ortsgebundenes Phänomen im Mittelpunkt der Untersuchung stehen.

Einkaufsbummel im Weltanschaungsladen

Dabei ist nicht zu übersehen, dass sich Form und Funktion der Religiosität in den letzten 100 Jahren gravierend verändert haben: Wie so ziemlich jeder Teil der menschlichen Ex­is­tenz ist heute auch sie zu einer Sache des Marktes geworden. Wer ein wie auch immer geartetes Bedürfnis nach Sinnstiftung und weltanschaulicher Orientierung hat, kann sich aus dem Sortiment die Ware aussuchen, die ihm oder ihr am ehesten zusagt. Im Zuge der Säkularisierung hat sich neben den etablierten Kirchen eine Marktlücke für ein ganzes Spektrum „parareligiöser“ (2) Strömungen aufgetan. Als Oberbegriff für dieses Spektrum hat sich das Schlagwort „Esoterik“ eingebürgert – gerade weil der Begriff ebenso diffus ist, wie die Sache, die er bezeichnet, soll er auch hier weiter verwendet werden. In ihrer Vermitteltheit über den Markt ist die Esoterik trotz aller Rückgriffe auf ältere Traditionen ein genuin modernes Phänomen, eine in gewissem Sinn wirklich „neue“ Form von Religiosität. Als solche soll sie im nächsten Heft genauer unter die Lupe genommen werden – hier sollen zunächst einige theo­re­tische Vorannahmen geklärt und der ge­sell­schaftliche Kontext dieser neuen Form der Religiosität un­­tersucht werden.

Dieses Unterfangen stößt allerdings auf Schwierigkeiten – zuallererst die Unübersichtlichkeit des zu beackernden Feldes. Bleiben wir noch kurz bei der Esoterik. Dieser Begriff bezeichnet ein loses Bündel von Gruppierungen, Weltanschauungen und Praktiken, dessen kleinster gemeinsamer Nen­­ner der diffuse Glaube an im Ver­bor­genen wirkende „höhere Kräfte“ ist – egal, ob diese nun als personifizierte Mächte (Gottheiten, Engel, Seelen usw.) oder abstrakter als „kosmische Energie“ oder „Schicksal“ begriffen werden. Sonderfälle (z.B. UFO-Gläubige und Weltverschwörungstheo­retiker_innen, deren Literatur in Buchhandlungen ebenfalls unter dem Schlagwort „Esoterik“ einsortiert wird) müssen dabei mitbedacht werden. Von diesem weltanschaulichen Minimalkonsens abgesehen, gibt es aber auch große Unterschiede – die jeweiligen Praktiken können körperzentriert sein oder im Gegenteil auf eine „reine Geistigkeit“ abzielen, in stark individualisierter Form oder in festen Gruppenstruk­turen ablaufen, diese Struk­turen wiederum können flache Hierarchien aufweisen oder um eine autoritäre Gurufigur zentriert sein usw.

Die Schwammigkeit des Gegenstandes ist aber nicht nur durch die Vielzahl der weltanschaulichen Angebote bedingt, sondern verweist auf ein immanentes Problem von Religiosität unter den Bedingungen der Moderne. Um dieses zu erfassen, müssen wir uns das Verhältnis von Vernunft und Glaube, Rationalität und Irrationalität im religiösen Denken ein wenig genauer ansehen.

Religion als Weltanschauung, als „Theologie“ im weitesten Sinne, als System von Aussagen also, baut sich auf Dogmen, willkürlich gesetzten und rational nicht weiter begründbaren Basisbehauptungen, auf. Logisch lassen sich diese weder widerlegen noch beweisen – man kann höchstens glauben, eine bestimmte Aussage entspräche der Wahrheit. Tut mensch das, kann man allerdings auf dieser Basis durchaus folgerichtig weiterargu­men­tieren. Hat man z.B. die Behauptung „Die Bibel ist Gottes Wort“ akzeptiert, ist es nur logisch, sich z.B. über das Wesen der Engeln Gedanken zu machen – die werden schließ­lich auch in der Bibel erwähnt (was natürlich nicht beweist, dass es Engel wirklich gibt). Eben weil religiöse Gruppierungen zur Vermittlung ihrer Ansichten nicht auf die Sprache als wichtigstes Mittel zwischenmenschlicher Kommunikation verzichten können, sind religiöse Weltanschauungen immer eine spezifische Verbindung von Irrationalität und logischer Rationalität (Logik ist schließlich vor allem eine Sache des präzisen Sprachgebrauchs).

Die religiösen Weltanschauungen zugrundeliegenden Dogmen geraten so lange nicht als bloße Behauptungen in den Blick, wie entweder der Kreis der Gläubigen so nach außen abgeschottet ist, dass seine Mitglieder gar nicht erst mit der Möglichkeit anderer Weltsichten konfrontiert werden, oder eine strafende Instanz existiert, die Abweichungen vom „rechten Glauben“ mehr oder weniger gewaltsam unterbindet. Beide Bedingungen sind in den westlichen Industrienationen heute kaum noch gegeben – ein hohes Maß an Mobilität, allgemeine Schulpflicht, neue Kommunikationsmedien usw. machen völlige Abschottung schwierig, und das Verbrennen von Menschen auf öffentlichen Plätzen wird mittlerweile zu Recht als barbarische Praxis angesehen. Zudem ist der Religion mit den Naturwissenschaften eine ernsthafte Konkurrenz erwachsen, die den großen Vorteil hat, nicht nur vage Versprechungen für das Jenseits, sondern auch praktische Ergebnisse im Diesseits liefern zu können.

Die fundamentalen Dogmen verlieren damit an Verbindlichkeit, die sorgfältig konstruierten religiösen Aussagensysteme geraten ins Wanken. Eben das ist der Grund, warum die religiösen Vorstellungen heute zunehmend abstrakter werden, sich religiös denkende Menschen immer seltener zu klaren Aussagen bezüglich des Wesens des „Göttlichen“ hinreißen lassen – die Religiosität zieht sich im Zuge der Säkularisierung und der Konkurrenz durch die Naturwissenschaften auf weniger angreifbare Positionen zurück. Die Vorstellung eines persönlichen Gottes, der im Zorn gelegentlich mit Blitz und Donner dreinhaut, wird z.B. ersetzt durch die Idee einer abstrakten höheren Macht. An eine solche unpersönliche „höhere Macht“ glauben laut der Shell-Jugendstudie von 2006 19% der Jugendlichen in Deutschland, in der Gesamtbevölkerung sind es etwa 33% (an einen persönlichen Gott glauben dagegen nur noch 22%). So ließe sich Esoterik auch definieren: als Religiosität von Leuten, die aus einem säkularisierten Milieu stammen, aber trotz fehlender oder geringer Bindung an eine Kirche ein vages Bedürfnis nach „Spiritualität“ haben. Es fragt sich nur, woher dieses Bedürfnis kommt.

Dafür müssen wir uns den gesellschaftlichen Kontext ansehen, in dem diese neue Form der Religiosität steht. Denn ob mensch sich den Schöpfer der Welt nun als etwas grantigen älteren Herrn oder als fliegendes Spaghettimonster vorstellt, ist zunächst mal beliebig – nachprüfen lässt sich die Behauptung im einen wie im anderen Falle nicht. Wenn sich jemand für die eine oder die andere Art des Glaubens entscheidet, ist diese Entscheidung in erster Linie sozial bedingt, z.B. dadurch, dass die entsprechende Religion ein hohes Ansehen genießt, die eigenen Eltern dieser anhängen oder dass sie bestimmte individuelle Bedürfnissen bedient. Wäh­len wir ein anderes Beispiel: Wenn ich behaupten würde, Gott wäre mir er­schie­nen und hätte mir befohlen, kleine Kin­der zu töten und aufzufressen, so würde mir wohl jeder(r) entrüstet widersprechen – widerlegen ließe sich die Aussage nicht, aber weil sie anerkannten gesell­schaft­lichen Normen zuwider läuft, würde niemand sie überzeugend finden.

Wir sollten also die Esoterik in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen einordnen, um zu erklären, warum bestimmte Dogmen trotzdem weiterleben, in immer neuen Zusammenhängen zum Vorschein kommen, obwohl sie nicht mehr von einer kirchlichen oder staatlichen Gewalt gestützt werden.

Dabei kommen wir nicht umhin, von Herrschaft zu sprechen. Meiner These nach beruht Herrschaft nicht nur auf einer bestimmten Verteilung materieller Güter (Lebensmittel, Geld, Waffen usw.) beruht, sondern komplementär dazu auf einer entsprechenden „gesellschaftlichen Mythologie“. Herrschaft wird nicht nur durch rohen Zwang durchgesetzt – sie ist auf die Mythologie angewiesen, um sich zu legitimieren, d.h. die Leute dazu zu bringen, die über sie ausgeübte Herrschaft zu akzeptieren. Entgegen einem vulgärmarxistischen Ideologiebegriff wäre diese gesellschaftliche Mythologie also nicht nur ein „Überbauphänomen“, etwas der ökonomischen „Basis“ Nachgeordnetes und aus dieser Ableitbares, sondern als konstituierenden Bestandteil eines Ge­samt­zusammenhangs von Herrschaft – die kapitalistische Ordnung der Dinge stützt die gesellschaftliche Mythologie und wird ihrerseits von dieser gestützt. Als integraler Bestandteil der Gesellschaft schlägt sich diese Mythologie nicht nur in Religion und Esoterik, sondern auch im „Alltagsverstand“ (3) und im wissenschaftlichen Diskurs nieder.

Kritik der Religionskritik

Um diese doch etwas dreiste Behauptung zu stützen, greifen wir noch einmal auf ein (willkürlich gewähltes, aber hoffentlich erhellendes) Beispiel zurück. Denn unhin­terfragte Vorannahmen spuken auch dort herum, wo mensch sich auf größtmöglicher Distanz zum Glauben wähnt, in den di­versen Formen von naturwissenschaftlich fundierter Reli­gionskritik. Eine Or­ga­nisation, die sich dafür stark macht, sind die Brights Deutschland, laut Selbstdarstellung „eine basisdemokratische Bewegung, die für die Gleichberechtigung von Naturalisten eintritt“. Schauen wir uns einen ihrer Texte mal genauer an (4).

Der Artikel trägt den Titel „Gottlos auf der Suche nach Wahrheit“ und enthält durchaus sinnvolle Argumente: Der Verfasser erklärt, dass es Adam und Eva nachweislich nie gegeben hat, er zitiert einige blutrünstige Stellen aus dem Alten und Neuen Testament und geiselt die „homo­phobe, sexistische, barbarische und primitive Unterdrückermoral“ der christlichen und mus­li­mischen Religion – viel­leicht etwas platt, aber nicht falsch. Sein Motto beschreibt er am Ende so: „Nichts glauben. (…) Wenn man lange ge­nug alles in Frage stellt, stehen die Chancen gut, dass man sich irgend­wann Naturalist nennt oder Bright. Ein Bright ist jemand, der nicht an Übernatürliches glaubt, nicht an Gott, den Teufel, nicht an Elfen oder den Weihnachtsmann.“

So weit, so gut – aber welchen Begriff von „Natur“ führt der selbsternannte „Naturalist“ da gegen das Übernatürliche ins Feld? Schauen wir noch mal genauer hin: So beruft sich der Autor auch auf Greg Graffin (Biologie-Professor und Sänger der Punkband Bad Religion) als Zeugen. In positivem Bezug auf einen von diesem verfassten Essay heißt es da unter anderem: „Graffin verurteilt die Leugnung der menschlichen Natur, wie sie sowohl von der Linken, etwa von Gender-Feministinnen und anderen Postmodernisten, als auch von der Rechten, vor allem der religiösen Rechten und von Rassisten, betrieben wird.“

Das ist, kurz gesagt, Nonsens – und eben deshalb aufschlussreich. So leugnen Gender-Feministinnen nicht, dass der Mensch auch ein biologisches Wesen ist, sie bestreiten bloß, dass soziales Verhalten von der Biologie determiniert ist. Nur weil Mann z.B. einen Penis hat, muss er nicht unbedingt jeden verprügeln, der einen komisch anschaut – wenn er sich so verhält, dann eher um einem bestimmten gesellschaftlichen Ideal von „Männlichkeit“ zu entsprechen (z.B. aus Angst, man würde sonst für schwul gehalten). Im Gegenzug berufen sich Rassisten stän­dig auf die „menschliche Natur“ und führen dabei exakt den Kurzschluss von Biologie und sozialem Verhalten vor, den Gender-Feminis­tin­nen kri­ti­sie­ren: So meinen Rassisten, dun­­kel­­häu­tige Men­schen wären sexuell be­son­­ders trieb­haft und könnten gut trommeln, während z.B. Juden von ihrer rassischen Veranlagung dazu getrieben würden, besonders gierig zu sein und ständig Welt­ver­schwö­­run­gen anzuzetteln.

Die ursprüngliche Argumentation Greg Graffins mag komplexer gewesen sein, als unser Religionskritiker sie wie­­dergibt (5). Dass Graffin auch der Meinung ist, die Strophe-Refrain-Form in der Musik hätte sich deshalb durchgesetzt, weil sie „eine bestimmte Funktion in unserer biologischen Natur“ erfülle (6), zeigt jedenfalls, dass auch er offenbar Probleme hat, biologische Evolution und Kulturgeschichte auseinander zu halten. Die Neigung zu soziobiologischen Kurzschlüssen scheint er also mit den Rassisten zu teilen – seine Rassismuskritik dürfte auf den Vorwurf hinauslaufen, Rassisten würden nicht genug von Biologie verstehen.

Es fragt sich, wie weit man mit einem solchen Ansatz bei der Religionskritik kommt: Was sagt es bspw. aus, wenn man bei meditierenden buddhistischen Mönchen Veränderung in den Hirnströmen feststellt? Am Ende landet mensch noch bei der Idee eines „religiösen Gens“, welches der Schöpfer selbst uns vorsorglich eingepflanzt hat (wie clevere Theologen argumentieren könnten) bzw. uns dazu bringt, allen möglichen Unfug zu glauben (wie Rationalisten sagen würden). Im einen wie im anderen Fall stünde die Religionskritik blöd da – sie wäre dann ein ähnlich sinnloses Unterfangen wie z.B. eine Kritik des Verdauungssystems.

Mit einem biologistischen Begriff von „menschlicher Natur“, wie unser Re­ligons­kritiker ihn hier gegen die Religion ins Felde führt, stecken wir schon tief im Sumpf der gesellschaftlichen Mythologie. Es geht hier nicht bloß um eine „selbstverschuldete“, sondern um eine „fremdverschuldete Unmündigkeit“, die gesellschaftlich produziert wird. Auch wissenschaftliche Theoriebildung findet schließ­lich nicht im luftleeren Raum statt – wie bei der Religion lassen sich hier „interessierte Irrtümer“ und unhinterfragte Voraussetzungen finden.

Metaphysik der Macht

Die moderne kapitalistische Gesellschaft ist ein komplexes Gefüge von Trennungen, von Ein- und Ausschlüssen. Nationalstaaten trennen zwischen Staats­bürger_innen und „Ausländern“. Die Staatbürger_innen werden ihrerseits nach biologischem Geschlecht, Hautfarbe, sexuellen Vorlieben usw. sortiert. Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt schließt die Verlierer von bestimmten Erwerbsmöglichkeiten aus. Das Bildungssystem selektiert Menschen je nachdem, ob sie es innerhalb einer bestimmten Zeit schaffen, sich eine vorgegebene Menge an Wissen anzueignen oder eben nicht. Das Eigen­tumsrecht trennt die Erwerbstätigen von den Produktionsmitteln, die warenproduzierende Wirtschaft trennt Menschen von den Gütern, die sie vielleicht brauchen, aber nicht bezahlen können. Staatliche und nichtsstaatliche Herrschaft trennt zwischen denen, die Entscheidungen treffen, und denen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind.

Kein besonders vernünftiges System, sollte man meinen – jedenfalls kein besonders angenehmes. Dieses System von Trennungen ist nicht nur von Menschen produziert und bedarf fortwährenden menschlichen Handelns, um sich zu reproduzieren. Es erzeugt auch fortwährend Konflikte, die für die Gesellschaftsordnung potentiell bedrohlich sind und deshalb kontrolliert werden müssen. Diese Kontrolle findet dabei nur in Ausnahmefällen durch gewaltsame Unterdrückung statt (auch wenn Herrschaft darauf nicht verzichten kann), sondern eben mit Hilfe der gesellschaftlichen Mythologie. So sehr es bei genauerer Betrachtung unübersehbar ist, dass die gesellschaftlichen Trennungslinien auf menschlichem Handeln und sozialer Interaktion beruhen, so heikel ist diese Erkenntnis für diejenigen, die meinen, ein Interesse am Fortbestand dieser Trennungen zu haben. Hier kommen die oben beschriebenen „interessierten Irrtümer“ wieder in´s Spiel – wer Angst vor Veränderung hat, hat eben ein Interesse an einer Weltsicht, in der die Hierarchien, Ein- und Ausschlüsse ihre Grundlage in einer ewigen „Natur“ oder „göttlichen Vorsehung“ haben.

So mögen militante Nationalisten viel­leicht gerade mit handfester Gewalt daran arbeiten, ein homogenes „Volk“ zu schaffen, indem sie diejenigen vertreiben oder umbringen, die ihrer Meinung nach nicht dazugehören (wie es z.B. in den 1990er Jahren im ehemaligen Jugoslawien zu beobachten war) – aber sie werden dabei der festen Überzeugung sein, nur das wiederherzustellen, was „schon immer“ so war. Ein anderes Beispiel: Die Rolle des Mannes als „Familienernährer“ mag ein Produkt des frühen bis mittleren 19. Jahrhunderts sein – dennoch werden sich genug an Geschlechterfragen uninteressierte Historiker finden, die diese gesellschaftliche Arbeitsteilung schon in der frühen Steinzeit wiederzufinden meinen, und genug Soziobiologen, die diese mit der biologischen Ausstattung des „Mannes“ bzw. der „Frau“ erklären.

Die „interessierten Irrtümer“ müssen dabei nicht unbedingt offen ausgesprochen werden. Komplementär dazu gibt es auch eine „interessierte Wahrheitsproduktion“. Ein Wirtschaftswissenschaftler mag vielleicht insgeheim dem liberalen Glauben an die „unsichtbare Hand des Marktes“ anhängen – er kann dennoch durchaus wahre Aussagen über das Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft produzieren. Der grundlegende „Irrtum“ muss in der Theorie nicht formuliert werden, er wird aber dennoch insgeheim den Lauf der Theorieproduk­tion beeinflussen. Dabei funktioniert der wissenschaftliche Anspruch auf Objektivität und „Interesselosigkeit“ oft genug als subtile Ver­schleierungstaktik: Wer von sich behauptet, kein Interesse zu haben, will in der Regel, dass alles so bleibt wie es ist.

Da das wissenschaftliche Denken die beobachtbaren Fakten freilich nicht gänzlich ignorieren kann, gerät es dabei auch immer wieder in potentiell produktive Widersprüche: Es stellt sich heraus, dass die Realität sich anders verhält, als sie es der Theorie nach tun sollte – also muss nach einer Theorie gesucht werden, die die neu ins Blickfeld geratenen Fakten besser erklärt.

Dies wäre eine produktive Reaktion auf zum Vorschein kommende Widersprüche. Es gibt freilich auch eine unproduktive Art der Reaktion: die Produktion eines neuen „interessierten Irrtums“ eben.

Und hier kommt wieder die Esoterik in´s Spiel. So ist der Glaube an Verschwörungstheorien völlig folgerichtig, wenn mensch z.B. daran festhält, Eigentum und kapitalistische Konkurrenz als naturgegeben anzusehen, aber gleichzeitig den Fakt, dass dieses Wirtschaftssystem ständig unerfreuliche Folgen nach sich zieht, nicht ignorieren kann. Der Widerspruch zwischen zwei in einer bestimmten Weltsicht nicht vereinbaren Aussagen wird nicht gelöst, indem mensch seine bisherigen Erklärungsmodelle hinterfragt und verbessert – wenn mensch sowohl an Aussage a („Kapitalismus ist gut und normal“) als auch an Aussage b („Irgendwas läuft hier falsch“) festhält, bleibt als Ausweg nur der Sprung in´s Irrationale: Nicht der Kapitalismus ist das Problem, sondern eine im Verborgenen wirkende Macht, eine Verschwörung finsterer Hintermänner.

Aber Verschwörungstheorien sind nur ein Beispiel esoterischen Denkens – und nicht einmal dessen populärste Spielart. Im nächsten Heft soll anhand einiger konkreter Beispiele der Zusammenhang zwischen Esoterik und Gesellschaft, ökonomischem „Unterbau“, gesellschaftlicher Mythologie und esoterischem Denken näher untersucht werden.

(justus)

 

(1) siehe dazu u.a. Colin Goldner, „Dalai Lama – Fall eines Gottkönigs“ Alibri Verlag 1999

(2) „para-“, lat. für „halb“. Die Grenzlinie zwischen solchen parareligiösen Phänomenen und „echten“ Religionen ist relativ willkürlich, entscheidend sind dabei Kriterien wie gesellschaftliches Ansehen und Alter einer religiösen Weltanschauung, innere Systematik der jeweiligen „Theologie“ und die organisatorische Festigkeit einer Gruppe.

(3) vgl. dazu z.B. Theo Votsos, „Der Begriff der Zivilgesellschaft bei Antonio Gramsci“, Argument Verlag 2001, S. 122-130

(4) Trust Magazin # 125, August/September 2007. Weitere Infos findet ihr unter www.brights-deutschland.de

(5) Graffins Essay „A Punk Manifesto“ könnt ihr unter punkhistory0.tripod/punk/id2.html nachlesen

(6) Testcard # 12, 2003, S. 107

Sachbearbeitermoral

Ein Betroffenenbericht

Wenn mensch am frühen Morgen Post von Arbeitsamt im Briefkasten findet, diese öffnet und folgende Zeilen liest: „Sehr geehrter Herr Soundso, bitte kommen Sie am 21.04.2009 um 9:30 in die Arbeitsgemeinschaft Leipzig, blablabla…“, dann ist der gerade noch freudig begonnene Tag sachgerecht ruinieren. Der strahlendblaue Morgenhimmel verfärbt sich grau, der Kaffee schmeckt plötzlich nach Dieselöl, der Frühstückstoast nimmt eine gummiartige Konsistenz an. (Übrigens: Warum beginnen diese Anschreiben immer mit „Sehr geehrter“ und „bitte“, wenn die Drohung durch die auf der Rückseite desselben Blattes abgedruckte „Rechtsfolgenbelehrung“ doch kaum zu übersehen ist? Ich schätze, es hat was mit gesellschaftlichen Konventionen zu tun…)

Aber es hilft alles nichts: Zum angegebenen Zeitpunkt finde ich mich am vereinbarten Ort ein, und verlasse diesen etwa zwanzig Minuten später zähneknirschend und mit finsterem Blick. Würde mir in diesem Moment ein Bekannter über den Weg laufen, er würde erschreckt zurückweichen und ausrufen: „Meine Güte! Was haben sie mit dir gemacht?“ Natürlich ist es nicht zu leugnen: Mein Interesse daran, mich für miese Bezahlung zum Laubharken in öffentlichen Grünanlagen zu bewerben, tendiert großzügig gegen Null. Allgemeinwohl hin oder her – Grünanlagenpflege stinkt einfach! Aber wie soll ich das dem Sachbearbeiter begreiflich machen? „Ach nee, lieber nicht…“ ist in jedem Fall die falsche Antwort.

Dann holt der Sachbearbeiter nämlich tief Luft und setzt eine vorwurfsvolle Miene auf. Ich weiß schon, was jetzt kommt: Sachbearbeitermoral. Nicht dass er damit viel erreichen würde – moralische Vorwürfe wirken nun mal nicht sehr überzeugend, wenn der Sachbearbeiter im selben Atemzug damit droht, mir das Existenzminimum wegzukürzen. Und überhaupt, liest der Mensch denn keine Zeitung? 15 Prozent Arbeitslosenquote in Leipzig, Finanzkrise, und überhaupt der ganze Scheiß mit Kapitalismus und so – da kann man doch schon mal keine Arbeit haben! Je eher man sich dran gewöhnt, um so besser!

Aber nein: „Herr Soundso, Sie leben hier von Steuergeldern – und das, Herr Soundso, kann einfach nicht sein.“ Sagt der Sachbearbeiter. Als ob das ein Argument wäre! Die Bundeswehr finanziert sich auch durch Steuergelder und kauft sich davon Panzer, die dann in Afghanistan oder so von irren Is­la­mis­ten zu Klump ­geschossen werden bzw. selbst dazu dienen, dort Sachen kaputt zu machen. Ich dagegen, ich tue wenigstens keinem was zuleide.

Obwohl ich gestehen muss, dass auch in mir mitunter Gewaltfantasien brodeln und rumoren, wenn ich die Höhle des Sachbearbeiters verlasse. Wäre ich selbst ein Moralist wie mein Sachbearbeiter oder wie Heinrich Böll (dem ja Gewaltfantasien auch nicht fremd waren, siehe „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“), dann würde ich beim Hinausgehen in meinen Bart brummeln: „Mein Sachbearbeiter ist ein böser Mensch. Nicht nur, dass er mir das Existenzminimum kürzt – nein, er heuchelt dabei auch noch! Möge er mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden!“ Nun ja, man kennt ja solche Gewaltfantasien… Und man weiß: Wenn Moralisten durchdrehen, dann stürzen sie sich am Ende mit Flugzeugen in irgendwelche Hochhäuser oder machen sonst was für verrückte Sachen.

Nachdem ich also drohend in meinen Fanatikerbart gebrummelt habe, würde ich nach Hause gehen, mir über Ebay eine Schusswaffe besorgen und dann daran gehen, meinen Rachegelüsten freien Lauf zu lassen – als ehemaliger Grün­an­lagenpfleger weiß ich schließlich, wie es ausschaut, wenn etwas mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden muss.

Aber zum Glück für meinen Sachbearbeiter bin ich kein Moralist. Ich bin im Grunde meines Herzens ein netter Mensch, der unschöne Blutbäder verabscheut und versteht, dass es nicht Bosheit ist, die den Sachbearbeiter zu seinem Verhalten treibt, sondern schlichte Blödheit. „Schön und gut“, werden einige von euch jetzt fragen, „aber was lernen wir nun daraus?“ Zwei Dinge, die euch in eurem späteren Leben noch sehr nützlich sein werden, liebe Kinder! Zum einen, dass Sachbearbeiter im richtigen Moment lieber mal die Klappe halten sollten – dass Risiko, dass ihnen irgendwann jemand gegenüber sitzt, der ihre Moralpredigten ernst nimmt, ist einfach zu groß. Zum anderen, dass Gewaltfantasien zwar lustig sind, dass aber die Idee, alle blöden Menschen mit Blut und Feuer vom Angesicht der Erde zu fegen, nicht wirklich praktikabel ist – schon allein darum, weil so ein Verhalten beweisen würde, dass man selbst nur ein dummer Moralist ist.

(justus)

Aus die Maus. Schicht im Schacht. Ende im Gelände.

Räumung des Topf-Squat in Erfurt

16. April, 5 Uhr 30 morgens: Spezialkommandos der Polizei fahren mit neutralen LKWs vor, verschießen Gaskartuschen, nehmen mit Leitern über die Mauern hinweg das erste Dach ein und sichern von dort mit Sturmgewehren das Gelände. Zwei Hubschrauber fliegen herbei, acht Männer des SEK seilen sich auf zwei weitere Dächer ab und an der Hinterseite des verbarrikadierten Geländes muss die Polizei einen Räumbagger zu Hilfe nehmen und eine Mauer durchbrechen. Während vor dem Haus die friedliche Sitzblockade von etwa 30 Menschen von bayerischen und thüringischen Bereitschaftspolizisten nach und nach geräumt wird, dringen die ersten Spezia­listenteams mit Gasmasken und wiederum Sturmgewehren in’s Wohnhaus ein. Mit dem restetrinkenden Punker an der Bar und den provokativ frühstückenden Leuten in der Küche haben sie weniger Probleme. Mehr jedoch mit den beiden an einen Betonklotz Angeketteten auf dem Dachboden. Durch ihre aus den Anti-Castor-Protesten bekannte Blockadeform verzögern sie die Räumung zumindest um zwei Stunden.

Ab 9 Uhr 30 geht dann alles ganz schnell. Abrissbagger und Räumfahrzeuge rücken an und reissen die Gebäude nieder. Übrig bleibt am Ende des Tages nur ein kläglicher Haufen Backsteine und Schutt, durchsetzt mit wortwörtlichen Bruchstücken 8jähriger Besetzung und vielfältiger politischer und kultureller Arbeit.

Zur Erinnerung: Am 12. April 2001 besetzten einige junge Erfurter_innen das brachliegende Fabrikgelände der ehem. Firma Topf & Söhne, die im Nationalsozialismus u.a. Öfen für die Krematorien und Be- und Ent­lüftungsanlagen der Gaskammern in Auschwitz herstellte. Neben vielen Konzerten und anderen Veranstaltungen kultureller wie politischer Art wandten sich die Be­setzer_innen immer mehr dieser besonderen Geschichte des Ortes zu und begannen sie durch Vorträge, Rundgänge u.ä. zu thematisieren und in Erinnerung zu halten. Im letzten Jahr jedoch ver­äußerte die Stadt das gesamte Gelände an die Domicil Hausbau GmbH & Co. KG, welche die Besetzer_innen auf die Straße „bat“ (siehe FA! #31). Es folgten verstrichene Räumfristen, viele Demonstrationen und Aktionen in Erfurt und deutsch­landweit, immer wieder Verhandlungen mit der Stadt und sogar Bernd das Brot wurde in diesen Konflikt mit hineingezogen ( FA! #32). Ein Argument von Seiten der illegalen Nutzer_innen war immer wieder, dass bei einer Neubebauung die nationalsozialistische Vergangenheit des Geländes in Vergessenheit geraten würde, was mit einem Kompromiss zwischen Stadt und dem neuen Eigentümer zur Errichtung einer offiziellen Erinnerungs- und Gedenkstätte geklärt wurde.

Den Bewohner_innen allerdings drohte weiterhin, auf die Straße gesetzt zu werden. Verhandlungen um ein Ersatzobjekt scheiterten nicht nur an der infrastrukturellen Unzulänglichkeit des Angebotes, sondern leider auch an der konsequenten Weigerung der Besetzerfraktion, einen eingetragenen Verein zu gründen.

Und so kam es, wie es kommen musste: Am 3. April wurde vom Landgericht Erfurt das Urteil zur Räumung des besetzten Hauses gesprochen und schon zum ersten des Monats wurden Strom und Wasser abgestellt. Von da war es nur noch eine Frage der Zeit bis zum Tag X. „Räumung zum Desaster machen!“ war das ausgegebene Motto (neben der „Platz nehmen!“-Kampagne des friedlichen Teils) einer sich militant gebenden Widerstandsbewegung und teilweise wohl auch Grund für das von vielen als übertrieben martialisch angesehene Auftreten der Polizei. Und so wurde zumindest hinterher auch teilweise gehalten, was im Vorhinein versprochen wurde. Neben und nach der angekündigten Demo mit bis zu 800 Leuten am Abend der Räumung, die unter verschärften Vorkontrollen und Repressalien der Polizei zu leiden hatte, kam es zu unzähligen Vandalismen, die Tage andauerten. Müllcontainer und Autos gingen in Flammen auf, die örtliche Arbeitsagentur wurde entglast und neben etlichen weiteren Sachbeschädigungen soll sogar ein Molotow-Cocktail über den Zaun der Polizeidirektion geflogen sein und ein Auto in Brand gesteckt haben. Zu ähnlichen „Soliaktionen“ kam es in gut einem Dutzend deutscher Städte (und Vaxlö/Schweden) noch am Räumungstag und es folgten noch so einige an den Tagen danach.

So auch am darauffolgenden Tag in Leipzig, wo die schon Wochen vorher auf Indymedia angekündigte Solidaritätsdemonstration („Tag X+1“) um 19 Uhr in der Stockartstrasse starten sollte. Zum einen nicht gerade clever, eine unangemeldete Demo im Internet zu bewerben. Sich dann aber auch noch in der schmalen Stockartstrasse zu versammeln, wohl aus reiner Kieztradition heraus, wirkt wie Demosatire. Denn alles hat ein Ende – nur die Stö hat zwei. Und genau dort platzierten sich die Einsatzkräfte, machten dicht und zeigten den Chaoten, wer den Helm auf hat.

Bilanz des Abends: 161 Platzverweise und 136 aufgenommene Personalien – bei etwa 250 Protestler_innen ein ganz guter Schnitt, alle Achtung! Es fragt sich sowieso, was Sachbeschädigungen für eine Art Solidarität darstellen sollen. Brauchen die jetzt obdachlosen Erfurter_innen nicht eher warme Decken und noch wärmen­dere Worte?! Am ehesten brauchen sie doch wohl ein neues Domizil. Und zwar nicht nur eines zum billig Wohnen, sondern vorrangig für die vielen Projekte und Veranstaltungen, die ohne das „B-Haus“ nicht zu machen sind und die der linken/alternativen/antifaschistischen Szene in Erfurt bitter fehlen werden. Man kann jedoch davon ausgehen, dass die thüringische Landeshauptstadt nicht eher zur Ruhe kommt, bevor sie wieder ein „autonomes Zentrum“ ihr eigen nennt. Denn wie heißt es so schön:

Nach der Besetzung ist vor der Besetzung!

(guy kurow)

Abgewrackt!

Alles schien so einfach – Die Krankheit heißt „Krise“, der heilende deutsche Tab­lettencocktail „Konjunkturpaket“. Um die ganze Medikation ertragen zu können, sollte die kleine süße „Abwrackprä­mie“ die geballte Chemie dann genießbar machen: Sie galt als finanzielles Schmankerl für die Bevölkerung, die gleichzeitig Milliarden in die Banken fließen sah, als arbeitsplatzerhaltende Maß­nahme für eine Wirtschaft, die stark auf die Automobilindustrie baut, als Me­tho­­de zur Förderung des Umweltschutzes und zudem als taugliches Mittel für die Jagd nach Wählerstimmen. Doch die Pille ist ziemlich bitter geworden: Als „Umweltprämie“ hatte eine autobaufördernde Maßnahme so­wieso nie eine Chance. In einem exportorientierten Wirtschaftszweig kann auch die Förderung von Neukäufen bei deutschen Staatsbür­ger_in­nen den Niedergang einiger Autofirmen nicht aufhalten, sondern maximal hinauszögern. Kurzarbeit ist inzwischen für viele Arbeitnehmer_innen die­ser Branche Realität geworden und die ganzen Leihar­bei­ter_innen, die als Erste abtreten mussten, können sich auch kein neues Auto kaufen. Schluss­end­lich ha­ben auch die Autokäufer inzwischen erkannt, dass sie dabei nicht wirklich Geld spa­ren. So taugt der Beschluss der beiden Koalitionspartner in­zwischen nicht mal mehr zum Wahlkampf, sondern enttarnte sich schnell als Stimmenfang. Was der Name der Prämie andeutet ist also auch inhaltlich Programm: Die Sache ist abgewrackt. Unsinnig, ausge­lutscht, unbrauchbar – auf den Müllhaufen der Geschichte damit. Und obendrein sollten da auch alle diejenigen hin, die immer noch wollen, dass sich der Patient Kapitalismus erholt.

(momo)

Antirassistische Selbstdarstellung

Die Vereinten Nationen zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Die vom Menschenrechtsrat der UNO einberufene zweite Antirassismus­kon­ferenz in Genf Mitte April erregte weltweit viele Gemüter. Nicht nur, weil be­stimmte Länder, wie Deutschland, Kanada und die USA, aus Protest wegen der dort erwarteten antisemitischen Grund­hal­tung nicht teilnahmen, sondern auch, weil es tatsächlich zum befürchteten „Eklat“ kam. Anlass hierfür lieferte der iranische Staatsführer Ahmadinedschad, der in seiner Einführungsrede den Gaza-Krieg einseitig bilanzierte und Israel dabei als „grau­samstes und rassistischstes Regime“ bezeichnete (1). Die darauf folgenden Proteste mehrerer (hauptsächlich) europäischer Ländervertreter_innen, die den Saal verließen, setzte zwar medial wirksame Zeichen, war allerdings nur von kurzer Dauer, da die Delegierten bereits am nächsten Tag wieder brav auf ihren Stühlen saßen, um noch schnell die gemeinsame Ab­schlusserklärung zu verabschieden. Diese frühzeitige Verabschiedung der UN-Deklaration, die aus Angst vor weiteren Auseinandersetzungen bereits am zweiten Tag gemeinsam beschlossen und befeiert wurde, bezeichnet den Charakter der UN-Kon­ferenz wohl am meisten. Da stellt sich doch die Frage, wie eine globale Zusammenkunft, die offensichtlich von inhaltlichen Kontroversen und unterschiedlichen Interessenslagen geprägt ist, ihren ver­meintlichen antirassistischen Konsens feiern kann? Wie muss eine UN-Deklaration zum Thema Ras­­­­­sis­mus verfasst sein, um alle an ei­­nen Tisch zu bekommen? Kann es als Erfolg bezeichnet werden, wenn ca. 140 Staaten eine Deklaration be­schließen, nach deren Worten keine Taten folgen? Und wie sinnvoll sind dann solcherlei Konferenzen überhaupt?

Historisch betrachtet

Die Vereinten Nationen (UN) gründeten sich 1945, um verheerende globale Ereignisse wie Kriege und Wirtschaftskrisen künftig verhindern und vorbeugen zu kön­nen. Insbesondere die massenhafte Ver­nichtung von Menschen, sprich der Holocaust‘ während des 2. Weltkrieges, war die Hauptmotivation einen internationalen Verbund zu schaffen, der gemeinsame Ziele verfolgt. Als eigene Grundsätze benannten die Vereinten Nationen daher die Wahrung der internationalen Sicherheit und des Weltfriedens durch wirksame Kollektivmaßnahmen, die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen und internationaler Zusammenarbeit zwischen den Nationen und die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, ohne Unterschiede zwischen Herkunft, Ge­schlecht, Sprache oder Religionszuge­hö­rig­keit zu machen. Für die Umsetzung dieser hehren Ansprüche wurde im Rahmen der UN ein beständig wachsendes Netz verschiedener Institutionen geschaffen, die wiederum weitere Räte und Kommissionen gründeten, welche bisher zahlreiche, thematisch vielfältige Konferenzen einberiefen, in denen schon verschiedenste Deklarationen verabschiedet wurden. Doch Papier ist bekanntlich geduldig und die Nichtbeachtung von gemeinsam beschlossenen Deklarationen hat bei be­stimm­ten Themen für die Staaten kaum negative Folgen. So wie bspw. bei der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“, die zwar von der UN verabschiedet wurde, dennoch immer wieder von Staaten, die auch Mitglied der UNO sind, verletzt wird (2).

189 Mitgliedstaaten schmücken sich der­zeit damit, in den Vereinten Nationen für Frieden und Menschenrechte aktiv zu sein – tatsächlich aber überwiegen andere Interessen bei ihren Treffen. So verhielt es sich auch mit der Menschenrechtskom­mis­sion (MRK), die von 1946-2006 existierte und die Aufgabe hatte, Menschen­rechts­verletzungen anzuzeigen. Langjährige Kritik an der gegenseitigen Deckung von Menschenrechtsverletzungen seitens der in diesem Gremium aktiven Staaten führte allerdings dazu, dass die MRK 2006 durch den Menschenrechtsrat (MRR) ersetzt wurde. Im neu gegründeten MRR wurden die Spielregeln mo­di­fiziert, so dass Staatenkungeleien und einseitige Interes­sen­­politik nun einer stärkeren Kontrolle obliegen sollen (siehe Kasten). Zur ersten UN-Anti-Rassismuskonferenz 2001 lud jedoch noch die MRK ins Südafrikanische Durban ein. Wie auch die kürzlich stattgefundene Folgekon­ferenz in Genf (die vom MRR einberufen wurde), hinterließ diese erste Zusammenkunft bereits einen enttäuschend faden Nachgeschmack:

Zweifelhafter Konferenzcharakter

Die erste UN-Anti-Rassismus-Konferenz 2001 weckte im Vorfeld große Erwartungen und wirkte angesichts der weltweit be­stehenden Probleme mit vielfältigen Formen von Rassismus auf viele Minderheiten, Frauen, Unterdrückte und Unberührbare vielversprechend. Denn sie erwarteten eine Rückbesinnung auf die „Grundsätze der Menschenrechte“, dass jedeR un­abhängig von Herkunft oder Geschlecht gleich zu behandeln ist, sowie eine Verur­tei­lung der Staaten, die Rassismus und Diskriminierung befördern. Die Realität belehrte sie jedoch eines besseren, denn schon dort verständigten sich die Staatsführer auf eine selektive Wahrnehmung dessen, was unter Rassismus zu verstehen sei (3). An der Thematisierung von staatsinternem, institutionellem Rassismus gegen unliebsame Minderheiten hatte – welch Wunder – kein Staat Interesse. Schließ­lich geht es bei solchen Konferenzen ja hauptsächlich um die gute Darstellung nach außen bzw. die Wahrung des ei­genen Images, welches zudem Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Beziehungen zu anderen Ländern haben kann. Und welchen Nutzen soll es haben, sich für (meist wirtschaftlich arme) Minderheiten anderer Länder einzusetzen und dafür außenpolitische Konflikte zu riskieren? Die Interessenlage der Staatsvertreter_in­nen bei ihren internationalen Allianzpartnern ist dementsprechend klar – ledig­lich bei „politischen Feinden“ erscheint eine öffentliche Anklage ihrer Kriegsfüh­rung unter bestimmten außenpolitischen und geostrategischen Umständen lohnenswert. Diese Einstellung wurde in der UN-Men­schenrechtskommission und auf der ersten UN-Anti-Rassismus-Konferenz in Durban besonders deutlich. Während be­stimmte Rassismen nicht thematisiert, oder unter dem Verweis auf die „nationale Selbstbestimmung“ von den betroffenen Staaten abgewiegelt wurden, gab es eine Staatenmehrheit in der Kommission, die vor allem Interesse daran hatte Israel zu diffamieren. Sowohl auf der UN-Kon­fe­renz und in deren Abschlussdokument, als auch auf der parallel dazu stattfindenenden NGO-Konferenz, wurde das Ver­hal­ten Israels gegenüber den Palästinensern so feindselig verurteilt und pauschalisiert, dass die israelische und US-amerika­nischen Delegationen überstürzt abreisten.

Aufgrund dieser Ereignisse und einer allgemeinen Unzufriedenheit mit den politischen Veräußerungen der MRK, wurde diese reformiert. Man wollte kein zweites Durban, so dass auch in den vorherigen Zusammenkünften zur zweiten UN-Anti-Rassismus-Konferenz heftig um die Formulierungen in der Abschlusserklärung gerungen wurde, um eine scheinbare globale Har­monie wieder herzustellen und ge­mein­same Zeichen gegen den weltweiten Rassismus zu setzen. So findet man in der Abschlusserklärung von Genf bspw. keinen konkreten Israel-Bezug, um einige der „westlichen“ Staaten zur Teilnahme zu mo­ti­vieren. Dies wäre auch fast geglückt, wäre der neu gegründete MRR nicht schon vorher durch seine der MRK stark ähnelnde Politik in Misskredit geraten. Denn seit seinem Bestehen 2006 wurden von ihm lediglich vier Resolutionen zu bedenklichen Menschenrechtssituationen in Somalia, Kongo, Nordkorea und Burma verfasst, die die Beteiligten zur „Achtung ihrer Verpflichtungen“ ermahnten. Dagegen gab es noch fünf weitere Resolutionen, die die Politik Israels in Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte scharf kritisieren. Zudem wurde in einer anderen Deklaration des Rates die Verurteilung der Verfolgung homosexueller Menschen gestrichen und stattdessen die „Diffamierung von Religionen“ als rassistisches Verhalten festgeschrieben. Dies hatte nicht nur zur Folge, dass fortan Themen wie der Karikaturenstreit größeres Gewicht auf den Sitzungen bekamen, sondern auch, dass die Thematisierung der Unterdrückung von Frauen z.B. in islamischen Ländern mit dem Argument, man wolle hier die islamische Religion kritisieren, beständig ignoriert werden konnte. Diese Hand­lungspraxis des Rates verweist nicht nur auf eine unveränderte „Blockhaltung“ von staatlichen Interessengemeinschaften, sondern auch auf eine relative Stimmenmehrheit der Israel-feindlich eingestellten Staats­führer im Rat. Zudem erklärt das auch die Haltung derer, die dem MRR misstrauisch gegenüberstehen und der Kon­ferenz von vornherein fernblieben. Wie erwartet bestätigte Ahmadinedschad mit seiner Hetzrede gegen Israel auch prompt die Befürchtung. Der fragwürdige und einseitige Konferenzcharakter, der sich bereits auf der ersten UN-Konferenz gegen Rassismus andeutete, setzte sich so auf der zweiten Konferenz fort und führte zu einer weiteren Verhärtung, die das eigentliche Anliegen – den weltweiten Rassis­mus zu bekämpfen – nicht nur in Frage stellen, sondern zu einer Farce verkommen lassen.

Dabei sein ist NICHT alles

Organisationen wie Amnesty International kritisieren trotzdem das Nichterscheinen auf der Konferenz, da man es sich so zu einfach mache. Frei nach dem Motto: Wer nicht mitredet, kann auch den Charakter solcher Konferenzen nicht mitbestimmen und dementsprechend auch nicht zu Verbesserungen beitragen. Auf den ersten Blick kein schlechtes Argument – doch wel­chen Sinn machen solche Konferenzen überhaupt, wenn heikle Themen aus Rücksicht auf eigene Interessen ohnehin nicht angesprochen werden? Wäre es nicht besser Rassismuskonferenzen und dazugehörige Deklarationen abzuschaffen, da sie ohnehin nur Bühne des Populismus sind und nur zur Imagepolierung, Selbstdarstellung und Verdrehung von Tatsachen dienen? Ist es überhaupt möglich, in diesem Rahmen offen und ehrlich die weltweiten rassistischen Handlungen anzu­spre­chen und zu verändern?

Der Blick in die Geschichte der UNO und im Speziellen der MRK verrät einige der Antworten be­reits: Anti-Rassismus-Konferenzen machen keinen Sinn, wenn es die Staats­ver­treter_innen selbst sind, die darüber diskutieren. Im globalen Interes­sen­poker und insbesondere auf der Ebene internationaler Beziehungen kann jede Äußerung schwerwiegende Konsequenzen mit sich ziehen, so dass die Mächtigen diese Tribüne wohl immer nur für ihre eigenen und spezifischen Interessen nutzen werden. Rassis­mus, der zwischen den Menschen, irgendwo auf der Welt passiert, ist für Re­gie­rungen nur von Relevanz, wenn ihre In­teressen in irgendeiner Weise davon berührt werden. Ob dies dann aber einen positiven Effekt auf die zuvor diskriminierten Menschen hat, ist äußerst fraglich. Ebenso fraglich ist es, ob gemeinsame Lippenbekenntnisse der Staatsvertre­ter_in­nen, in Form von verabschiedeten Deklarationen gegen Rassismus und Diskriminierung tatsächlich Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben. Und wie zynisch muss solch Heuchelei oben­drein in den Ohren derer klingen, die unter deren institutionalisierter rassistischer Diskriminierung leiden?

Demzufolge ist es auch irrelevant darüber zu debattieren, ob Deutschland an der UN-Rassismuskonferenz hätte teilnehmen sollen. Selbst wenn es kein Stimmenübergewicht der antisemitisch motivierten Regierungsvertreter gäbe und Israel nicht mehr das alles dominierende Thema wäre, so hätte die Konferenz dennoch einen heuchlerischen Charakter. Denn leider sind beim UN-Staatenbund die Staaten immer die Chefs.

Rassismus von unten bekämpfen

Rassismus hat vielerlei Gesichter und wird von Nationalstaaten zumindest indirekt durch diskriminierende Gesetze gefördert. Während die Liste der Ungleichbehand­lungen in einzelnen Staaten von der Länge her sicherlich differiert, kann sich ins­gesamt wohl kein Staat damit rühmen, nicht in seinen Grenzen zu diskriminieren. Im deutschen Kontext sei hier kurz die Residenzpflicht für Asylbewer­ber_in­nen erwähnt, die im Grunde auch gegen das Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit verstößt (4). Durch solche Regelungen werden Staaten auch oft Wegbereiter für den Rassismus zwischen den Menschen, der verletzt oder sogar tötet. Auch wenn dieses Problem global ist, muss es auf lokaler Ebene in Angriff genommen werden. Will heißen, dass es nicht die Staatschefs sein sollten, die abstrakt über Rassismus reden, um sich am Ende nur selbst zu feiern, sondern dass solche Austauschplattformen den NGOs, sozialen Vereinen und Organisationen zur Verfügung stehen sollten, um sich konkret austauschen, absprechen und Lö­sungsv­orschläge erarbeiten zu können. Dann würden Probleme, die von Staaten inszeniert und befördert werden auch radikaler und offener thematisiert werden. Gegen Rassismus vorzugehen und das Problembewusstsein bei den Menschen zu schärfen, ist extrem wichtig – nicht nur wegen der vielen Opfer von Übergriffen, sondern auch, um das Fundament für eine Gesellschaft zu legen, die sich jenseits rein äußerlicher Merkmale orga­nisiert und solidarisiert. Setzt man dabei auf den Staat, wird dieses Fundament allerdings auf Sand gebaut.

(momo)

(1) Achmadinedschad sprach u.a. auch vom Zionismus als „personifiziertem Rassismus“. Link zum englischsprachigen Text der Rede, die während der Konferenz als Flugblatt verteilt wurde: www.image. guardian.co.uk/sys-files/Guardian/documents/2009/04/21/speech.pdf

(2) Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ oder „UN-Menschenrechtscharta“, wurde 1948 von der UN-Generalversammlung (dem höchsten beschlussfassenden Gremium) verabschiedet. Zwar müssen Staaten mit ihrem Beitritt zur UNO die Charta anerkennen, allerdings besitzt sie keinen völkerrechtlich verbindlichen Charakter, so dass eine Verletzung der Menschenrechte nicht automatisch negative Konsequenzen für den Staat hat oder zum Ausschluss aus der UNO führt.

(3) Analytisch betrachtet ist es höchst umstritten, was begrifflich unter Rassismus zu verstehen ist und wird auch unterschiedlich definiert. Grundsätzlich können Schlüsse von äußerlichen Merkmalen auf Charaktereigen­schaf­ten, Intellekt oder soziale Verhaltensweisen als rassistisch betrachtet werden (biologischer Rassismus). Während einige Vertre­ter_innen den Begriff sehr eng fassen und auf bestimmte Ethnien (sog.“Völker“) beziehen, begreifen andere Rassismus umfassender als Diskriminierung von Menschen, die sich z.B. auch im Geschlecht, der Religion oder anderen Kategorien unterscheiden (kultureller Rassismus). Von institutionalisiertem (oder funktionalem) Rassismus kann hingegen gesprochen werden, wenn bestimmten Bevölkerungsgruppen Leistungen vorenthalten werden, die anderen garantiert sind.

(4) Die Residenzpflicht sieht vor, dass Asylbewerber_innen ihren ihnen zugeordneten Landkreis nur mit Genehmigung verlassen dürfen. Wird diese Verordnung übertreten, dann hat der oder diejenige eine Straftat begangen und demzufolge keine Aussichten mehr auf eine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland. Praktisch hat das verheerende Auswirkungen: Wer die bürokratische, deutsche Sprache nicht versteht, hat es schwer einen Antrag für „Ausgang“ zu stellen. Familienmitglieder, die in unterschiedlichen Heimen untergebracht sind, haben keine Möglichkeit sich öfter zu sehen. Der kleinflächige Bewegungskreis um das Heim, das meist in ländlichen Gebieten liegt, macht selbst Besuche in der Stadt zur großen Hürde und schlussendlich dauern die Verfahren bis zu einem (ohnehin eher unüblichen Aufenthaltsstatus) mitunter bis zu 5 Jahre. Das Gesetz der Residenzpflicht wurde 1982 in Deutschland im übrigen auch nur eingeführt, um Migrant_innen vor der Immigration abzuschrecken. Es gibt auch kein anderes Land mit solch einem diskriminierenden Gesetz.

Exkurs: Menschenrechtsrat versus Menschenrechtskommission

Der Menschenrechtsrat (MRR) ist nun ein Nebenorgan der UN-Generalversammlung und kein Unterorgan vom UN-Wirtschafts- und Sozialrat mehr, wie die Menschen­rechts­­kommission (MRK). Der MRR ple­niert jetzt 10 statt sechs Wochen im Jahr und besteht aus 47 von der UN-Generalversammlung gewählten Mitgliedern (die MRK bestand aus 53 Mitgliedern). Wichtig für die Neukonstitution ist v.a., dass der MRR schneller auf Menschenrechtsverletzungen reagieren kann, weil er das Recht hat, Sondersitzungen einzuberufen und nun auch das Mandat besitzt Men­schen­rechts­ver­letzungen in einzelnen Ländern zu thematisieren und Hand­lungs­em­pfeh­lungen für andere UN-Kommissionen zu formulieren. Zudem besteht jetzt die Möglichkeit einer Abwahl von Staaten im MRR, wenn sie nachweislich gegen Menschenrechte verstoßen. Außerdem gibt es nun eine Rechenschaftspflicht der Staaten, die im MRR aktiv sein wollen bezüglich ihrer eigenen Menschen­rechts­­situation. Eine differenzierte Re­gionalzusammen­set­zung im MRR hat zudem dazu geführt, dass sich die Stim­menmacht der europäischen und lateinamerikanischen Staaten verringert hat. So stellen Afrika und Asien jeweils 13 Sitze, 6 Sitze gehen an Osteuropa, 8 an Lateinamerika und die Karibik, sowie 7 Sitze an Europa und die restlichen Staaten. Obgleich diese strukturellen Veränderungen dem Rat bessere Voraussetzungen bieten, Menschenrechts­ver­letzun­gen unabhängig zu behandeln und anzuklagen, hat sich an der Praxis bisher wenig verändert.

Thor Steinar ist verkauft

Die Nazi-Marke Thor Steinar hat ihren Besitzer gewechselt. Was erst im März breiter bekannt wurde, ist schon seit November 2008 Realität: Die hinter der Marke stehende Mediatex GmbH wurde an den arabischen Großinvestor Faysal al Zarooni, der sich ansonsten auf Immobi­lien­geschäfte und Beratungsdienstleistun­gen spezialisiert hat, verkauft. Der neue Eigentümer aus Dubai hat seinen Berater und engen Mitarbeiter Mohammed M. Aweidah als neuen Geschäftsführer von Mediatex eingesetzt. In Nazikreisen ist nun die Aufregung groß: Einige meinen, die alten Geschäftsführer Uwe Meusel und Axel Kopelke hätten sie verraten und sich jahrelang aus der Szene bereichert, ohne dieser was zurück zu geben. Weitere sind am Überlegen, ob die Marke jetzt boykottiert werden sollte, da sie ja nun keinem „ech­ten Deutschen“ mehr gehöre. Wiederum andere finden die Klamotten so cool, dass ihnen der Besitzer egal ist, oder heben die kollektive Identifikationswirkung von Szene-Klamotten heraus. Und schlussendlich gibt es auch solche, die das abgehen auf derlei Marken nie verstanden haben und sich eher das „braune Hemd“ als Identi­fika­tionsmerkmal zurückwünschen. Großes Kino – kruder Film. Solange sich die rechte Szene jedoch in ihrer Ablehnung nicht einig ist, solange muss sich auch die Ladenschluss-Kampagne nicht umorien­tieren und kann diese Marke weiter den Faschisten zuordnen.

(momo)