Archiv der Kategorie: Feierabend! #25

Grenzen und Weiten des G8-Protestes

Auftauchen zum Freistilschwimmen!

Seit über einem Jahr laufen nun schon Initiativen, Bündnis­bildungen und angestrengte Wochenend­en, um sich beim diesjährigen Treffen der acht selbst ernannten mächtigsten Länder der Welt im Ostsee­badeort Heiligendamm vom 6. bis 8. Juni globalisie­rungs­kritisch zu äußern. Gründe dafür gibt es wie Sand am Meer. Aber wo kann ich mich dann an Protest und Widerstand beteiligen? Grobe Schätzungen über die Zahl der Mitarbeiter­Innen am Gipfel, am Protest und an der polizeilichen Absicherung bewegen sich jeweils im 10 000er Bereich. Zunächst einmal muss also geklärt werden, wo ich nicht mitmachen will. Wenn z.B. die Rede von „gierigen Kapitalisten“ und „jüdischer Weltherrschaft“ ist oder nationa­listische Ar­gu­men­ta­tionen fallen. Die Glo­balisierungsgegnerInnen von NPD und „Kameradschaften“ wollen am Samstag vor dem Gipfel in Schwerin marschieren, während in Rostock eine Großdemonstration aller Globalisierungs­kritierInnen stattfindet. Aber auch bei anbiedernden Forderungen und Verbesser­ungs­vorschlägen durch einige NGO´s wird im Trüben gefischt, weil auf die Art „ganz friedlich und seriös“ zum Ansehen der nicht demo­kra­tisch legitimierten „Gruppe der Acht“ bei­ge­tra­gen wird, für die Pseudo-Schulden­erlässe und ähnliches Blendwerk inzwischen zum Programm gehören, wie das gemeinsame Abschlussphoto.

Initiativen und Aktionen

Empfehlenswert sind frühzeitig gebildete „Bezugsgruppen“, die gemeinsam campen und koordiniert an Entscheidungen und Aktionen teilnehmen können. Auch in Sachsen und Leipzig gibt es inzwischen eine breite Anti-G8-Vernetzung (g8-leipzig@gmx.de, siehe Termine). Für den notwendigen Widerstand wird es neben juristischen, medizinischen und psychologischen auch Anlauf­stellen für weit gereiste und rückzugs­bedürftige AktivistInnen in Form von Convergence-Centern in Rostock, Hamburg und Berlin (als ganze „Convergence-Zone“) sowie einen Grenzpunkt in Dresden geben.

Block G8 – Unter breiter Beteiligung, Respektierung individueller Grenzen und transparenten Entscheidungs­strukturen (dazu gibt es kontroverse Äußerungen) sollen Massenblockaden als kalkulierbare Situati­onen organisiert werden, die symbolisch und praktisch wirksam sind, indem sie etwa das Gipfelhotel infrastrukturell isolieren. Beteiligt an den Planungen sind bisher viele größere linke Gruppen, die ihrerseits viel Erfahrung aus Castor-Protesten, Nazi-Blockaden und Gipfelprotesten mitbringen. Außerdem ruft die P.A.U.L.A. „(überregionales Plenum – antiautoritär – unversöhnlich – libertär – autonom“) zu dezentralen Blockadeaktionen um die „Rote Zone“ auf. Zu den antimilitaristischen Aktivitäten siehe S.8. Gentechnik, Supermarktketten und anderes steht am Aktionstag Landwirtschaft (3.Juni) auf dem Programm. Von migrations­politischen und anderen Gruppen werden Karawanen vorbereitet, die (auch mit dem Fahrrad von Budapest und Brügge) an Asyl-Lagern und Atomkraft­werken Station machen werden, um spätestens am 2.Juni zur Großdemonstration in Rostock anzukommen Für die meisten MigrantInnen ist politische Betätigung schwer leistbar bzw. verboten, weswegen ein kraftvoller gemeinsamer Auftritt sehr wichtig ist. Ein migrationspolitischer Aktions­tag am 4. Juni wird weitere Interventionen ermöglichen. Auch kreative Protestformen wie z.B. die Clowns-Armee sind dabei, neben dem Grönemeyer-Konzert am 07.06. wird hoffentlich noch mehr künstlerische Ausdruck möglich sein.

Reclaim The Media

International verbundene freie Radios, Vi­­deoaktivistInnen und andere Me­dien­interessierte rufen zur alternativen G8-Berichterstattung auf: Un­kom­merziell und emanzipatorisch, also auch kritisch, soll im Vorfeld und während der Protestzeit möglichst vielsprachig produziert und gesendet werden, sowohl von einem geplanten un­ab­hängigen Medienzentrum in Rostock, als auch von mobilen Standorten aus. Trotz einiger Vorbehalte im Dissent-Spektrum gegenüber autorisierten PressesprecherInnen hat sich dort eine Arte Pressegruppe gebildet, die trans­pa­rent und offen arbeiten will, indem sie Infrastruktur und Hilfestellungen lie­fert. Das Sammeln, Strukturieren, Prüfen und Zugänglichmachen von In­for­mationen über laufende Aktionen wird ihrer Ansicht nach gerade not­wen­dig sein, wie auch die Teilnahme an Pressekonferenzen, um überhaupt wahr­genommen zu werden.

clara

Weitere Infos und Unter­stützungs­mög­lich­kei­ten gibt´s z.B. bei:
www.dissentnetzwerk.org.

Soziale Bewegung

Das Private ist das Politische

AnarchaFeminismus gestern und heute

Ich glaube, Männer müssen zumeist erst lernen, Anarchisten zu sein. Frauen brauchen das nicht zu lernen.“ (Ursula K. LeGuin, feministische Science-Fiction-Autorin, 1981.)

Im deutschsprachigen Raum wurde der Be­­­griff AnarchaFeminismus Ende der 70er Jahre durch Übersetzungen der ra­di­­kal­femi­nis­ti­schen US- Amerikaner­innen Peggy Korneg­ger und Carol Ehrlich be­kannt (1). Für Ra­di­kal­feministinnen liegt im Patriarchat die Wur­zel aller Zwangs­ver­hältnisse. Kornegger und Ehrlich um­rahmten ihren Ansatz mit der Theorie des kommunistischen Anarchis­mus im Sinne Alexan­der Kropotkins. Diese liefert eine um­fassende Kritik der gesell­schaft­lichen Herr­schaftsverhältnisse und ein klares Ver­ständ­nis von Hierarchie und Au­to­rität. Der radikale Feminismus seiner­seits hat den Zusammenhang aller Arten von Un­ter­­drückung erkannt und zwingt die männ­lichen Teile der Bewegung zu einer kri­tischen Reflektion ihres Rollen­ver­­ständ­­nisses. Der von Emma Goldman ge­präg­te Grund­satz „das Private ist das Po­li­­tische“ (2), sowie die Bevorzugung von nicht hierar­chischen Beziehungen und dem Arbeiten in Kleinstgruppen, sind bei­de Ansätze ver­pflich­tet. Stellenweise ent­sprechen bzw. ergänzen sich also Anar­chis­mus und radikaler Femi­nis­mus. Für viele Fe­mi­nistinnen galt aber aus­schließlich der Sexismus als Wurzel der Unter­drückung und so sind und waren die Hand­lungs­kon­sequenzen alles andere als anar­chis­tisch, wie mensch zum Beispiel an der weit ver­breiteten Matriarchatstheorie inner­halb der feministischen Bewegung sehen kann. Für den AnarchaFeminismus kann die Beendigung des Patriarchats nur ein Ziel im Kampf um Herrschaftsfreiheit sein.

Frühe Wurzeln

Mit der Entstehung der anarchistischen Be­wegung in den 60er und 70er Jahren des 19. Jahr­hunderts wendeten sich auch viele Frauen den neuen Ideen und Idealen zu. Die Mehr­zahl der anarchistischen Männer waren Antifeministen und standen der tradi­tio­nellen Rollenver­teilung völlig unkritisch gegen­über. Die anar­chistischen Frauen machten da­her auf die Bedeutung des Feminismus inner­halb der anarchistischen Theorie auf­merk­sam. Be­sonders hervor­zu­heben ist dabei Louise Michel, die führende Femi­nistin und Sozial-Revolutionärin zur Zeit der Pariser Kommune (3) und die damals wohl po­pu­lärste Wortführerin des anar­chis­­tischen So­zialismus. Im bewaffneten Kampf um die Kommune zeigte sich ihr deut­lich, dass die Frauen in Sachen Mut, Ent­­schlossen­heit und Fähigkeiten ihren männ­lichen Mit­streitern in nichts nach­stan­den. Dies be­stätigte sie in ihrer An­sicht, dass die Frau nicht von Natur aus dem Manne unter­wor­fen ist, sondern bereits in der Kindheit zur Unter­würfig­keit erzogen wird. Des­halb gründete sie auch mehrere auto­nome selbst­verwaltete Schulen. Trotz­dem blieb der Kampf der Frauen innerhalb der anar­chistischen Be­wegung von unter­ge­ord­ne­ter Priorität, da er sich mit der Ablösung des bürgerlich-ka­pitalistischen Systems, nach ihrer Über­zeugung, von selbst erledigen würde.

Emma Goldman

Emma Goldman (1869-1940) versuchte in ihrem Leben ihren Grundsatz „Das Pri­vate ist das Politische“ konsequent um­zu­setzen. So verzichtete sie aus Protest gegen die herrschenden Rollenvorstellungen auf die Mög­lichkeit Kinder zu bekommen, in­dem sie eine notwendige medizinische Be­hand­­lung unterließ. Diese Konsequenz, die ihre politischen Positionen begleitete, stieß bei fast allen männlichen Mit­streitern und sogar in der feministischen Bewegung auf Be­frem­dung. In ihrem Werk entwickelte sie revo­lu­tionäre Vorstellungen zur Ge­schlechts­rollen­zu­weisung und freier Liebe. Leider war es ihr unmöglich, die alternativen Rollen­muster zu leben, die sie in ihrer Utopie ent­wickelte, da diese sogar von den anarchis­tischen Männern in ihrem direk­ten Umfeld abgelehnt wurden. In ihrer Schrift „Das Tragische an der Emanzi­pa­tion der Frau“ (1911) kritisiert Goldman die damalige Emanzipationsbewegung. Für diese Be­wegung war der Kampf um Gleich­­be­rech­tigung, ein Kampf um eine Gleich­machung von Frau und Mann. Dessen Ziel war es, die Frau dem Mann po­litisch und ökonomisch anzugleichen; der Mann wurde dabei vor allem als ein Konkurrent gesehen. (4)

Doch am Wesen der Politik und dem Kampf um Macht änderte sich schon da­mals auch mit Beteiligung der Frauen nichts. Im ökonomischen Bereich waren die Frauen ihren männlichen Kollegen oft kör­per­lich unterlegen und mussten sich phy­sisch verausgaben, um gleiche Leis­tungen zu erreichen. Auch das Vertrauen in die Fähigkeiten der Frauen und ihre Be­zahlung lagen weit unter denen der Männer. Außerdem musste sich die Frau oft auch zusätzlich mit den Pflichten im Haus­halt und der Kindererziehung aus­ein­andersetzen. So war es für viele ar­bei­tende Mädchen sogar angenehm, in die Ehe zu flüchten und sich ausschließlich der Heimarbeit zu widmen. Die Frauen, die sich ausschließlich auf einen Beruf kon­zentrierten und sogar eine hohe Stellung erreicht hatten, opferten dafür ihr Ge­fühls- und Liebesleben. Die Medien ihrer Zeit entwarfen von der emanzi­pier­ten Frau ein moralisch anrüchiges Bild: „…Eman­zi­pa­tion war ein Synonym für leicht­sinniges Leben voller Lust und Sünde, ohne Rücksicht auf Gesellschaft, Religion und Moral.“(5) Die Frauenrechtlerinnen taten da­rum alles, um diesem Bild nicht zu ent­sprechen und legten sich selbst neue Fesseln an. Der Mann wurde generell ab­ge­lehnt und nur not­wendiger­weise als Vater ihrer Kinder akzeptiert.

Nach Goldman unterdrückten sie damit ihr Innerstes, das sich nach Liebe sehne, an­statt gegen diese spießbürgerlichen Moral­­vorstellungen zu kämpfen. Der Kampf für eine freie Gesellschaft könne nur zusammen mit den Männern geführt werden und sei ohne das Ziel der Be­frei­ung beider Ge­schlech­ter nicht möglich.

Neuere Theorien

Auf der Suche nach einer anarchistischen Theorie, die den Rahmen für eine Analyse der gesellschaftlichen Be­ding­ungen und deren Ver­änderung dar­stellt, stieß die anfangs erwähnte Carol Ehrlich auf den Si­tua­tionis­mus. Für die Si­tua­tio­nis­ten leben wir alle in ei­nem „Welt­theater“, in dem wir als passive Zu­schauer teil­neh­men.(6) Hier­bei in­ter­essierte sie sich vor allem für die auch auf zwischen­mensch­liche Beziehungen aus­ge­dehnten Begriffe Ware und Schauspiel, die sich be­sonders treffend auf das Leben der Frauen beziehen ließen: In der Waren­­wirtschaft treten Frauen sowohl in der Rolle der Konsumen­tinnen als auch in der Rolle der Kon­sumier­ten auf. Sie wer­den zu sexuellen Objekten, die von Männern konsumiert werden können oder zu „Super­müttern“, die sich selbstlos und auf­opferungsvoll von ihren Kindern kon­­sumieren lassen. Ehrlich meint, dass wir in ein Leben hineingeboren werden, in dem wir nur passive Zuschauer sind. Re­bellisches Verhalten gegen das Schau­spiel der Ge­sellschaft könne als eine Art Sicher­ungs­ventil angesehen werden und stelle meistens nur das Gegenteil des er­war­teten Verhaltens dar. Eine Frau, die viele Affären hat und sich so der vor­herr­schen­den Moral widersetzt, kann sicher­lich bei den Konservativen für Aufruhr sor­gen, wird aber nicht eine Veränderung der Gesellschaft ermög­lichen. Das Schaus­piel ist nur zu zerstören, indem mensch es durchschaut und greifbar macht.

Der soziale Ökofeminismus von Janet Biehl (1991) stellt wohl den umfassendsten An­satz des AnarchaFeminismus dar und be­zieht sich u.a. auf Ynestra King. Diese ging davon aus, dass die Frauen aufgrund ihrer weiblichen Werte und feinfühligen Moral be­sonders geeignet sind, das bedrohte Le­ben auf der Erde zu retten. Für Biehl lenkt je­doch die Gleichsetzung von Natur und Frau davon ab, dass die „typischen“ Eigen­schaften der Geschlechter kulturell produziert sind, und somit auf einem pa­triarchalen Konstrukt basieren. Sie pro­pagiert eine „Ethik des Sorgens“ als Ver­ant­wortung gegenüber der Natur und die “Ethik des Rechts“, also eine Besinnung auf Gerechtigkeit und Menschen­rechte. Auch sie fordert die Aufhebung der Trennung vom Privaten und Poli­tischen, so­dass beide Geschlechter die Möglichkeit zur freien Entfaltung haben. (7) Dies solle mit Hilfe des libertären Kommunalismus Murray Bookchins ge­schehen: „Der soziale Öko­feminismus strebt nichts anderes an, als die Ab­schaffung von Kapit­alismus und Na­tio­nal­staat und die Re­struk­tur­ier­ung der Ge­sell­schaft auf eine de­zen­trali­sierte, ge­mein­schaf­tliche Wei­­se, so dass für alle ein aus­ge­füll­tes öffentliches und pri­vates Le­ben möglich wird.“(8) Bookchin führt aus, dass die urbanen Gebiete an die spezifischen Öko­systeme angepasst werden müssen um die Voraussetzung für Öko­ge­mein­schaften zu bieten. Moderne Tech­nik, sogenannte Ökotechnologie, muss eingesetzt werden, um in einem gehaltvollen Maß mit und von der natürlichen Umwelt zu leben. Damit bereichert der soziale Öko­femi­nis­mus den Anarcha­Feminismus um eine ökologische Komponente und bietet durch den ökologischen Anarchismus Bookchins eine konkrete Alter­native.

Gender-trouble

Sex meint das biologische Ge­schlecht, gender das soziale oder kulturelle Geschlecht, also die in einer Kultur mit dem biologischen Geschlecht verknüpften Er­wartungen und Hand­lungs­mög­lichkeiten.“ (9) Hierbei soll deutlich werden, dass Ge­schlechterrollen nicht auf biologischen Ursachen basieren, sondern das sie soziale Konstrukte sind. Wenn dies erkannt ist, kann mensch diese Konstrukte auch de­kons­truieren und sich und sein/ihr Leben je nach Bedürfnissen und Fähigkeiten individuell gestalten.

Für Jürgen Mümken kommt dabei die De­batte um die Dekonstruktion von Geschlecht und die Zwei­ge­schlecht­lich­keit der Gesellschaft zu kurz. Er versteht seinen Text „Gender trouble im Anar­chis­mus und Anarchafeminismus?“ (10) als Er­gänzung zum allgemeinen anar­chis­tischen gender- Diskurs. Für Mümken sind dabei die Gleichheits- und die Differenztheorie zentral: Gleich­heits­theoretikerInnen be­halten die binäre Ord­nung Mann und Frau bei, jedoch keines­wegs die unterschiedlichen Rollen­er­war­tungen. Die Differenz­theore­tiker­Innen gehen hingegen davon aus, dass auch das so­ziale Geschlecht biologischen Ursprungs ist. Für sie gibt es ein typisches Frau-Sein, dass vom Patriarchat unterdrückt wird. Für Mümken wird in beiden Theorien der Dua­lismus Kultur-Natur und das Konzept einer natürlichen sexuellen Dif­ferenz über­nommen, wodurch „die naturali­sierende, biologische Konzeption von der Kate­gorie Geschlecht nicht aufgehoben son­dern lediglich in sex verlagert wird.“ (11) His­to­rische Forschungen haben aber be­wiesen, dass die gegenwärtigen Ge­schlechts­körper und die binäre Ordnung der Geschlechter das Ergebnis historischer Pro­­zesse sind. So wurde der bürger­liche Mann erst durch die Entwicklung einer weib­lichen Sonder­anthropologie im 18. Jh. konstruiert.

Für Judith Butler ist der Körper eine „kulturelle Situa­tion“ und als „Ort kul­tureller Interpretation ist der Körper eine materielle Realität.“ Der Mensch kann aus bestimmten Geschlechts­normen und Kör­perstilen wählen, auf welche Art er/sie seinen/ihren Körper annimmt und “trägt“. Die Normenspielräume werden dabei von regulativen Diskursen festgelegt, die gegebene Macht­ver­hältnisse innerhalb der Gesellschaft widerspiegeln. Jede „Rede von Natur dient vor allem dazu, jene Zwänge, Dis­zi­plinierungs­techniken und Dis­­kurs­strategien unkenntlich zu machen, die die alternativlose Unterwerfung unter das Zwei­geschlechtermodell in jeder kon­kreten Subjekt­werdung neu erzwingt.“ (12)

Schön und gut…

Durch die Dekonstruktion von sex als natürlich gegebener Tatsache würde auch die Einteilung in homo- oder hetero­sexuell ihre Basis verlieren und somit Raum für weitere Formen von zwischen­menschlichem Sich-aufeinander-beziehen geschaffen werden.

Anhand der oben beschriebenen Ansätze und Ausführungen wird klar, dass – im Gegensatz zu den älteren anarcha­femi­nis­tischen Theorien – mit dem Festhalten an einem natürlich gegebenen Geschlecht gebrochen werden muss. Es kann jedoch nicht reichen, nur die patriarchal fest­ge­leg­ten Zuschreibungen zu kritisieren, um Patriar­chat und Zwangsheterosexualität zu über­winden. Carol Ehrlich plädiert z.B. für eine Praxis der direkten Aktion; in subversiven Aktionen soll der Alltag neu erfunden, für Aufsehen gesorgt und provoziert werden: „Die AkteurInnen müssen sich der ent­fremdenden Wirkung des kapitalistischen Medienmarktes bewusst sein, der sie zu ZuschauerInnen ihrer selbst werden lässt.“ (13) Frauen könnten dies am Besten, in dem sie entgegen ihrer Rollenerwar­tungen und Geschlechterzuweisungen handeln und so die gängigen Klischees brechen. Wichtige Ziele, wie die Zer­störung von Macht­verhältnissen und Unterdrückungs­mecha­nis­men, die Kon­trolle über den eigenen Körper, die Entwicklung von Alternativen zur Klein­familie und Heterosexualität, eine gleich­berechtigte Kinderbetreuung, öko­no­mische Unabhängigkeit, die Abschaffung re­­­pressiver Ge­setze, ge­schlechts­­­­­ab­hängige Rollen­­­zuweisungen in der Familie, den Me­dien und am Ar­beits­platz und die Über­windung von Beziehungen mit emo­tio­naler Zwangs­abhängigkeit werden nur erreicht, wenn Menschen bereit sind, sich ihr anerzogenes bzw. ansozialisiertes Ver­halten bewusst zu machen und die Mög­lichkeit und Not­wendigkeit dieser Hand­lungs­mög­lich­keiten erkennen. Dies ist ein, wie ich denke, langwieriger, überwiegend indivi­dueller und oft schwieriger Weg, der häufig an seine praktischen Grenzen stößt und innere und äußere Konflikte provo­ziert, da Rollen­vorstellungen und Macht­ver­­hält­nisse tief verwurzelte gesamt­ge­sell­schaft­liche Kon­strukte darstellen. Die Hinter­fragung und Auflösung eigener und ge­sellschaftlicher Kategorien kann sehr be­freiend aber auch sehr verunsichernd auf den/die EinzelneN wirken, da Ge­schlecht und Sexualität stark auf die Identitäts­bil­dung einwirken . Deshalb sehe ich es für den/die EinzelneN als hilfreich, sich inner­halb des vertrauten privaten Um­feldes auszutauschen und über die inneren Kon­flikte und Widersprüche bezüglich Rollenerwartungen, Rollen­vor­stellungen, eigenen Rollenbildern, sexuellen Inter­essen, Machtverhältnissen oder Domi­nanzen zu diskutieren und zu reflektieren. Dies könnte zumindest ein praktischer Weg sein, um sich des täglichen Schaus­piels bewusst zu werden und so vom/von der passiven ZuschauerIn seiner/ihrer fest­ge­legten Rollen, zur aktiven Selbst­be­stimmung und Ausgestaltung ebendieser zu gelangen. Meiner Meinung nach wird die komplette Auflösung von Geschlecht und den dazu­ge­hörenden Zuweisungen und Rollen­er­wartungen erst in einer, gegenwärtig als Utopie zu bezeichnenden, befreiten Gesell­schaft möglich sein. Nichtsdestotrotz halte ich es für sinnvoll, durch zum Beispiel Carol Ehrlichs Vorschlag der subversiven Aktion, am vorherrschenden Bewusstsein zu rütteln und es so öffentlich kritisch zu hinter­fragen und gleichzeitig noch ein bisschen Spaß zu haben…!

Qkuck

(1) Kornegger, Peggy; Ehrlich, Carol: „Anarcha-Feminismus“. Berlin 1979
(2) Goldman, Emma: „Gelebtes Leben“. Karin Kramer Verlag, Berlin 1978-1980
(3) Anm.: Als Pariser Kommune wird der Pariser Stadtrat von 18. März 1871 bis 28. Mai 1871 bezeichnet, der gegen den Willen der Regierung versuchte, Paris nach sozia­lis­tischen Vorstellungen zu verwalten. Die Pariser Kommune gilt als Vorbild für die Rätedemokratie.
(4) Goldman, Emma: „Frauen in der Revolution“. Bd. 2, Berlin 1977
(5) Emma Goldman: „Das tragische an der Emanzipation der Frau“, 1911, Seite 19
(6) Guy Debord: „Die Gesellschaft des Spektakels“, Edition Tiamat, Berlin 1996
(7) Biehl, Janet: „Der Soziale Ökofeminismus und andere Aufsätze“. Grafenau 1991
(8) Bookchin, Murray: „Natur und Bewusstsein“. Winddruck Verlag 1982
(9) Lohschelder, Silke u.a.: „AnarchaFeminismus“. Unrast Verlag, Münster 2000, S. 151
(10) Mümken, Jürgen: „Gender trouble in Anarchismus und Anarchafeminismus?“
www.postanarchismus.net/texte/gender_trouble.htm
(11) Mümken, Seite 2
(12) Hauskeller, Christine: „Das paradoxe Geschlecht. Unterwerfung und Widerstand bei Judith Butler und Michel Foucault“. Tübingen 2000, Seite 59
(13) Kornegger/Ehrlich (Berlin 1979), Seite 98

Theorie & Praxis

Der lange Weg in die Autonomie

Ein kleiner Bissen zapatistischen Politikverständnisses

13 Jahre ist es nun her, dass die za­pa­tis­ti­sche Be­we­gung der Campesin@s (1) (Kleinbauern/Klein­bäuerinnen) mit ihrem Ruf nach An­er­ken­nung als Teil der mexi­ka­ni­schen Ge­sell­schaft in die Öffent­lichkeit trat. Die For­derung nach Auto­no­mie, die alle gesell­schaft­lich relevanten Bereiche, wie die kulturelle Ei­gen­ständigkeit, die Kontrolle über die Ressourcen, politische Selbstver­waltung und ein eigenes Rechts­system umfasst, existierte da­bei eigentlich schon lange bevor die Guerilla der Za­patistischen Armee der Natio­nalen Befreiung (EZLN) erschien und hat sich bis heute kaum verändert.

Sichtbar verändert hat sich dagegen, dass seit dem Aufstand der Zapatistas am 01. Januar 1994 die Autonomie in den auf­stän­dischen Gebieten nicht mehr nur gefordert, son­dern gegen den Willen der Regierung und mit der Unterstützung der EZLN in die Tat um­gesetzt wird. Dabei verstehen die Za­pa­tis­tas unter Autonomie ausdrücklich nicht die „Fragmentierung des Landes oder Se­pa­ra­tismus, sondern die Ausübung des Rechtes, uns selbst zu regieren, wie in Artikel 39 der po­litischen Verfassung [Mexikos] verankert“ (Sub­comandante Mar­cos). Ihr Politik­ver­ständ­nis und ihre Vor­stel­lungen vom re­vo­lu­tio­nären Kampf, für eine radikale Basis­de­mo­kra­tie, ihre Selbst­be­stim­mung und für die Wür­­de stellen da­bei nicht nur ab­strakte Zie­le dar, sondern sind in ihrem Alltag allgegen­wärtig.

Durch die großflächige Wiederaneignung und Besetzung von fruchtbarem Land wur­den seit 1994 nötige Freiräume ge­schaffen, in denen autonomes Denken und Handeln über­haupt erst möglich wurde. Bis heute hat sich somit ein alternatives Verwaltungssystem eta­bliert, in dem die einzelnen Comunidades (Ge­meinden) die oberste Entscheidungs­ebene darstellen. Die staatlich festgelegten Mu­nicipios (Land­kreise) wurden nach geo­graphischen und kulturellen Aspekten neu auf­geteilt und sind heute Orte der Planung kollektiver Landwirtschaft und Entwicklung so­wie der Streitschlichtung.

Überregional or­ga­nisieren sich die Za­pa­tis­tas über fünf zen­trale Ver­samm­lungssorte, sog. Caracoles (2), die unter­einan­der weit­gehend unabhängig sind und denen die je­weils umliegenden Muni­cipios zugeordnet wur­den. Die Caracoles fun­gieren in ers­ter Linie als Kom­muni­kations- und Logistik­zent­ren, in denen sich neben den großen Ver­samm­lungsstätten auch Läden, Werk­stätten, Kultur­ein­rich­tungen und ver­einzelt auch weiter­führende Schulen und Hos­pitäler be­­finden. Sie dienen als An­lauf­­stelle für jene, die Kontakt mit den Za­pa­tistas aufnehmen wollen. Hier finden auch die Treffen mit der na­tionalen und inter­nationalen Zi­vil­­ge­sellschaft (3) statt.

Das ent­schei­den­de Merk­mal der zapa­tis­­tischen Selbst­­ver­wal­tung ist der Grund­satz, dass die Ent­schei­dungsmacht über die Ge­stal­tung des Zusammen­lebens bei den Ge­mein­den liegt, die alle Belange in Voll­ver­sammlungen diskutieren und im Konsens be­schließen. Dies gilt ebenfalls für Entschei­dun­gen, die das militärische und politische Vor­­gehen der Guerilla betreffen. Die EZLN sieht sich ihrer Basis verpflichtet und handelt nicht, ohne vorher Absprachen mit ihr zu treffen.

Die gewählten Vertreter_Innen werden als Ver­antwortliche für die politischen Ämter in den Landkreisen und Caracoles ent­sandt, wo sie nach dem Grundprinzip des „gehorch­en­den Regierens“ jederzeit wieder von ihren Auf­­gaben enthoben werden können, sofern diese nicht nach den Beschlüssen ihrer Ge­meinde handeln. Ein weiteres ent­scheiden­des Merkmal ist die ständige Rotation der Ver­­ant­wort­lichen zwischen den einzelnen Äm­tern. Je nach Gebiet haben somit die je­weiligen Entsandten nur wenige Wochen ei­nen Aufgabenbereich inne. Dies soll zum ei­nen einen wirksamen Schutz gegen Korrup­tion und Amtsmissbrauch bieten, zum anderen aber auch möglichst vielen Men­schen die Möglichkeit geben, selbst an den Ver­waltungsaufgaben teil­zu­haben, die als Mul­tiplikatoren ihre Er­fahrungen in die Ge­meinden zurück tra­gen und somit ein breites Ver­ständnis für die An­for­der­ungen der Selbst­ver­waltung in der Be­völ­kerung er­zeugen.

Diese Art der Politikgestaltung ist natürlich sehr zeitintensiv und verlangt von den Za­pa­tistas sehr viel Geduld. Gerade dieser As­pekt spiegelt aber auch den Anspruch des za­patistischen Politik­ver­ständ­nises wieder, “im Tempo des Langsamsten zu gehen”, um auch alle, die es wollen, am Aufbau alter­na­tiver Formen des Zu­sammen­lebens zu be­tei­ligen. Gemäß dieses Prinzips und dem des Pre­gun­tando caminamos („fragend gehen wir voran“) probieren die Zapatistas ihre Vor­stellungen von Auto­no­mie immer wieder neu aus und modifizieren ihr Konzept nach auf­ge­tretenen Schwierig­keiten in der prak­tischen Um­setzung. Das hat auch zur Folge, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Ge­meinden zum Teil erheblich sind und ge­neralisierende Aussagen über das Leben dort kaum getroffen werden können. Jede Dorf­ge­meinschaft lebt die Au­tonomie auf ihre ei­gene Art, wobei die ver­schiedenen indi­ge­nen Traditionen eine ent­scheidende Rolle spie­len. Auch dieser Um­stand bildet einen grund­legenden Konsens im Auto­no­mie­kon­zept der Za­pa­­tis­tas. Das erklärte Ziel „eine Welt“ auf­zu­bauen, „in der viele Welten ihren Platz haben“, beinhaltet gerade eben den Ver­such, eine Vielzahl von möglichen Le­bens­for­men neben­einander existieren zu lassen, ohne sich gegenseitig aus­zu­schließen. Eben da­rin un­ter­scheidet sich der zapa­tis­­tische Auto­nomie­anspruch von dem homo­geni­sieren­den Kon­zept des mo­dernen ka­pi­ta­lis­tischen Staates, in dem das In­di­vi­duum unabhängig von seiner kul­turellen Iden­tität (bspw. als An­ge­hö­rige_R einer indigenen Kultur) als bloßes Wirt­­schafts­subjekt (bspw. als Klein­bauer/Klein­bäuerin) oder poten­zielle Wähler_In ver­standen wird. Darüber hinaus stößt dieser Anspruch in der Selbst­be­trach­tung aber gleichzeitig auch an eigene tra­di­tions­be­stimmte Ungleichgewichte sozialer Macht­­verhältnisse, die einer kritischen Re­flexion unterzogen werden. Das betrifft an dieser Stelle insbesondere das Rollen­ver­ständ­nis von Mann und Frau. So wurde be­­reits ein Jahr vor dem Aufstand der Za­pa­­tis­tas in den Gemeinden das als ‚Revolu­tion in der Revolution‘ bekannt gewor­dene „Re­vo­lu­tionäre Frauengesetz“(4) verabschiedet.

Leben im Süden Mexikos

Die meisten der zapatistischen Ge­mein­den wur­­den im Zuge der Land­besetzung nach 1994 gegründet und befinden sich auf Ge­bie­­­ten ehemaliger Groß­grund­be­sit­zer_­Innen, die teilweise vertrieben wurden oder freiwillig ihr Land aufgaben.

Ei­nige der Gemeindeländereien wurden mittlerweile durch den Kauf des Landes le­­ga­lisiert, was allerdings nur wenigen der za­­pa­tistischen Gemeinden möglich ist. Der Groß­teil lebt währenddessen nach wie vor mit einer kaum abschätzbaren Be­drohungs­lage der Landvertreibung. Im Rahmen des staatlichen Programms zur “Aufstands­be­kämpfung” zielt die Schaf­fung eines per­mantenten Zustandes der Angst und Un­sicher­heit in erster Linie auf die Zer­mürbung und Spaltung der zi­vilen Basis der EZLN und ist in vielen Fällen bereits auch ge­glückt. In Chiapas sind der­zeit ca. 60 000 Soldaten in 118 Camps (da­von 57 direkt auf Ge­meindeland der Indigenen und Bauern) (5) stationiert, so dass die Be­völkerung selbst in den ent­le­gensten Winkeln des Landes einer ständigen Re­pression durch die An­wesenheit des Militärs aus­ge­setzt ist.

Zur staatlichen Strategie des Krieges Niederer In­tensität (6) gehört zu­dem die Land­ver­gabe und An­­sied­lung re­gierungs­treuer Bauern (sog. Priistas – abgeleitet von ihrer Unter­stützung der Staats­partei PRI), die propor­tional über­durch­schnitt­liche staatliche Zu­wendungen erfahren und somit den sozialen und öko­no­mischen Druck auf die za­pa­tis­tischen Familien erhöhen. Gleich­zeitig stellen diese in vielen Fällen auch die Basis für para­mi­li­tä­rische Organisationen. Die Dul­dung und Unterstützung para­mili­tärischer Gruppen durch die politische und wirt­schaftliche Elite des Landes zielt vor allem auf die Ver­schleierung der staatlichen Ver­antwortung für Übergriffe auf zapa­tis­tische Gemeinden, indem der Konflikt in Chia­pas in der Öffentlichkeit als Problem zwischen unterschiedlichen indigenen Ge­meinden oder Gruppen dargestellt wird.

Trotz dieses Umstandes hat sich die Lage der zapatistischen Kleinbauern in den letzten 13 Jahren vielerorts sichtbar verbessert, vor allem im Hinblick auf die Nahrungs­mit­telversorgung, die neben der Selbst­ver­sor­gung durch die vielen unter­schiedlichen Ko­operativen für Kaffee, Kunsthandwerk und an­dere Agrar­pro­dukte erreicht wurde. Ein za­patistischer Dorfbewohner kommen­tierte dies mit Blick auf die dicken Bäuche der Män­­ner in seiner Gemeinde. Allgemein sollte das aber nicht darüber hinweg­täuschen, dass das Leben der Campesin@s nach wie vor von absoluter Armut geprägt ist. Noch heute sind die häufigsten Todes­ur­sachen leicht heilbare Krankheiten, zu einem Groß­teil hervorgerufen durch die meist fehlende Trinkwasser- und Abwasser­ver­sorgung sowie die Bereitstellung öffent­licher Ba­sis­dienste (7).

Der Konstruktion eines regierungs­un­ab­hän­gigen Gesundheits- und Bildungs­systems kommt daher im Kampf um die Autonomie eine besondere Bedeutung zu. In fast jeder Ge­meinde wird über die Er­nennung von Pro­mo­toren (als eine Art Be­auf­tragte) für den Schul­bereich und die me­dizinische Ver­sor­gung eine schrittweise Ver­besserung der Le­bens­bedingungen an­ge­strebt. Zum einen bie­tet dies die Ge­legenheit, traditionelles und auf die Region abgestimmtes Wissen, das teil­weise bereits verlorengegangen schien, wieder zu beleben und auch weiterhin zu nutzen. Zum anderen dient gerade das staat­liche Gesundheits- und Bildungs­wesen im­mer wieder zur massiven Ein­fluss­nahme und rassistischen Unter­drückung der indi­ge­nen Bevölkerungs­schichten (so z.B. zur Zwangssterilisation indigener Frauen oder dem “Verloren­gehen” der Mayasprachen durch aus­schließlich in spanischer Sprache ge­führten Unterricht).

Widerständige Praxis zwischen Alltag und revolutionärer Utopie?

Auf dem Weg in die kulturelle Selbst­be­stimmung stehen die Zapatistas dabei auch wei­terhin erst am Beginn eines langen, aber not­wendigen Pro­zesses, was ihnen auch sehr be­wusst ist. Auto­nomie kann dabei in vielen Fällen aber gerade nicht mit Au­­tar­kie gleich­gesetzt werden. Nach wie vor sind ge­rade die Projekte zur grund­legenden Ver­besserung der allge­meinen Lebens­situation nicht ohne die Un­ter­stützung von außen realisierbar. Dies betrifft beispiels­weise die technische und finanzielle Abhängigkeit der za­pa­tis­tischen Campe­sin@s von soli­da­rischen Or­­ganisationen und Einzelpersonen aus dem In- und Ausland beim Aufbau einer un­­abhängigen Trink­wasser- und Strom­ver­­sor­gung, wie auch die Notwendigkeit einer weiterhin breiten, weltweiten Öffent­lich­keit, die durch alle aktiven Un­ter­stüt­zer_Innen, insbesondere aber durch die Men­schenrechtsbeobachtung er­reicht wird. Dass es trotz aller politischer Ab­wägungen da­bei auch zu Grenzfällen zwischen der guten Ab­sicht konkreter Unterstützung und fehlender Konflikt­sensibilität mit Blick auf die langfristigen Fol­gen einer nicht genügend re­flektierten Ein­wirkung von außen kommen kann, ist nicht auszuschließen. Gerade die Ar­beit als inter­natio­nale_R Unter­stützer_In ver­langt in die­ser Hin­sicht die Re­flexion des ei­genen kul­turel­len Selbst­ver­ständnisses und der Vielschichtigkeit des politischen Kampfes, der in den bestehenden Ver­hält­nissen und alltäglichen Mög­lich­keits­räumen zum Widerstand unterschiedlich gegeben ist, in Chiapas ebenso wie in allen anderen Teilen der Welt.

Dabei bleiben auch die zapatistischen Cam­pe­sin@s hinsichtlich ihres eigenen Emanzi­pa­tions­prozesses selbstkritisch im Bezug auf die Reflexion ihrer eigenen Tradition und Wer­te. Seit der Rebellion 1994 wurde vieles hin­sichtlich der Ver­wirklichung einer al­ter­na­tiven Lebens­praxis erreicht, dagegen in vie­len sozialen Teil­bereichen erst zögerliche Schritte begonnen. Daher wird es auch zu­künftig nötig sein, weiterhin das nötige Durch­haltevermögen bei­zu­behalten und den all­täglichen Wider­stand poco en poco um­zu­setzen.

LottenLise

(1) Als gendergerechte Schreibweise wird in der kastilen (allg. als Sp. bekannten) Sprache das „a“ für die weib­liche bzw. das „o“ für die männliche Form durch ein „@“ ersetzt & so im Artikel verwendet.
(2) Übersetzt „Schneckenhaus“. Dieses Symbol wurde bewusst gewählt, um den zapatistischen Ent­scheidungs­pro­zess zu veranschaulichen, in dem die vielen Stimmen am Ende der basisdemokratischen Entscheidungsfindung zu einem Konsens führen sollen.
(3) „Zivilgesellschaft“ wird im zapatistischen Diskurs in Abgrenzung zur europäischen Definition generalisierend als der Teil der Bevölkerung verstanden, der außerhalb der staatlichen Strukturen den Kampf um die Wiederaneignung seiner Lebensbedingungen aufgenommen hat.
(4) Eine deutsche Version der ersten Fassung von 1993 unter www.npla.de/poonal/p134.htm.
(5) Vgl. www.sipaz.org/data/chis_de_03.htm (Stand 2005).
(6) Der Krieg der Niederen Intensität zielt weniger auf eine direkte militärische Zerschlagung der Guerilla, son­dern ist vielmehr als eine psychologische Kriegsführung gegen die Basis, also den zivilen Teil der Bewegung, zu verstehen. Diese Strategie wurde bereits in den 40er Jahren an der in Panamá, durch US-amerikanisches Mi­li­tär, gegründeten School of the Americas (S.O.A.) entwickelt, wo die Mehrzahl lateinamerikanischen, militärischen Führungspersönlichkeiten ausgebildet wurde. Heut befindet sich die Schule unter dem Namen Western Hemisphere Institute for Security Cooperation (WHINSEC) in Fort Benning im US- Bundesstaat Wisconsin. Mehr unter: www.imi-online.de/download/AUSDRUCK-08-2004JP-Chiapas.pdf#search=%22Krieg%20niederer%20Intensitaet%22
(7) Vgl. sipaz.org/fini_deu.htm

Nachbarn

Menschenrechtsarbeit in Chiapas

Im Sommer des letzten Jahres war ich über vier Monate als Menschen­rechts­beo­­bach­terin in verschiedenen za­pa­tis­­tischen Gemeinden unterwegs. Vor­be­­reitet wurde ich auf die Ar­beit bereits in Deutschland über den ge­meinnützigen Verein CAREA e.V. in Berlin. Zu­sammen mit anderen inter­na­tionalen Beo­bach­ter_Innen ar­bei­tete ich für das Men­schen­rechts­zen­trum Fray Bartólome de las Casas in San Christobal, der zweit­größten Stadt in Chiapas. Von dort aus wurden wir je­weils für zwei Wochen in unter­schied­liche Dör­fer entsandt, um even­tuelle Men­schen­rechts­ver­letzungen und die der­zeitige Mi­li­tär­bewegung zu do­­ku­men­­tieren.

Die Arbeit als Menschenrechts­beo­bach­ter_In besteht vorwiegend darin, eine kritische Öffentlichkeit für die Ge­scheh­nis­se in Chiapas herzustellen, indem sowohl vor Ort als auch im Herkunftsland über die zapatistische Bewegung be­rich­tet wird und Men­schen­rechts­ver­letz­ungen angezeigt werden, um damit Druck auf die Politik der staatlichen Re­gierungen auszuüben. Beo­bach­ter_Innen werden dabei nur in Ge­mein­den ent­sandt, die sich im Vorfeld mit der Bitte um Un­terstützung an das Menschen­rechts­zentrum ge­wandt haben. Durch die Anwesenheit von Beo­bach­ter_­Innen sollen vor allem die be­reits be­steh­en­den Freiräume erhalten und auch neue geschaffen werden. Auf­grund der an­halten­den staatlichen und para­mi­li­tärischen Repression, wie die jüngsten Vorfälle der Räumung der chiapa­ne­kischen Gemeinden Chol de Tumbalá und Busiljá im Jahr 2006, bleibt dies leider auch weiterhin notwendig.

Die Menschenrechtsbeobachtung stößt allerdings auch an ihre Grenzen, wenn wie in Städten anderer mexi­kanischer Bundes­länder internationale Beo­­bach­ter_Innen als „ra­di­­kale“ Ak­ti­vist_Innen kriminalisiert werden und somit in den direkten Konflikt mit dem mexi­kanischen Staatsapparat ge­raten. In San Salvador Atenco waren Aus­länder_Innen eben­falls wie viele andere politische Gefangene der Folter und sexuellen Gewalt aus­ge­setzt. In Oaxaca kam es im Zuge der Vor­be­reitung einer Groß­demons­tration Ende des letzten Jahres ebenso zur ge­zielten Suche nach Aus­länder_Innen.

Für weitere Informationen zu den aktuellen Geschehnissen in Oaxaca siehe auch den Beitrag in diesem Heft… Mehr Informationen zur Menschen­rechts­­arbeit in Chiapas und wie du selbst aktiv werden kannst, erhältst du unter www.buko.info/carea

Nachbarn

Editorial FA! #25

Wer macht heutzutage überhaupt noch eine Zeitung? Wo es doch Blogs, Pod­cast, space nations, skype und irc/icq, thema­tische Internetportale und -foren und dergleichen mehr gibt. Und wer liest schon so ein Blättchen aus der hin­ters­ten Nische wie den Feierabend!, der in seiner unregel­mäßigen Erscheinung meist nur zu­fällig in die Hände fällt? – Nun offensichtlich gehörst du zu den Wenigen und hast sogar umgeblättert. Demnach hat dich wahrscheinlich unser rätselhaftes Titelbild neugierig gemacht und du fragst dich jetzt, „_ _ _ _ _ _ _ _ _ _? Wogegen denn?“.

Na z.B. gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm. Kontakte und Mög­lich­keiten zum andocken gibt es auf Seite 12. Protestvernetzung und vieles mehr wird Anfang April schon auf dem BUKO Thema sein. (Seite 9) Doch Bewegung und Vernetzung ist nicht alles. Das Wofür/Wogegen bleibt die wichtigste Frage. Zentral in der kri­tischen Auseinandersetzung mit dem herrschenden System bleibt dabei Über­wachung (Seite 3), Ab­schiebe­praxis in Ma­rokko (Seite 20f) oder Militarismus welt­weit (Seite 7) sowie direkt vor der Haus­tür (Seite 8).

Vor unserer Haustür ist auch Horst (dem neuesten rattigen FA!-Helfer) unsre treue FA!-Begleiterin Resi ab­handen ge­kommen. Man munkelt ja sie sei in Ber­lin abgetaucht… ab­getaucht und auf­bewahrt wird der Feierabend! übrigens in 3 Archiven. Anstatt einer Ver­kaufs­stelle des Monats wollen wir denen dies­mal danken.

Eure Feierabend!-Redaktion

Aufstand der Würde: ein Überblick

„La Otra va!“ – Die andere Kampagne

Im Juni 2005 veröffentlichte die EZLN die „Sechste Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald“. Darin kündigte sie eine neue Phase ihres politischen Kampfes an: Die Zapatistas wollen in einem mehrjährigen Prozess eine landesweite außer­parlamen­tarische Linksallianz aufbauen, um schließlich eine neue, anti­ka­pi­talistische Verfassung für Mexiko zu erarbeiten und diese zum Wohle aller Marginalisierten des Landes durchzusetzen. In Ab­grenzung zu den politischen Parteien nennen die Zapatistas ihre Mo­bi­lisierung die „Andere Kampagne“. Den völligen Bruch mit den etablierten Parteien begründen sie damit, dass alle großen Par­teien das neoliberale Projekt weiterführten und nur zugunsten einer privilegierten Elite und transnationaler Konzerne regierten. Der Aufruf stieß auf große Resonanz und Anfang 2006 waren be­­reits über 1.000 Organisationen in den Prozess involviert: Ar­beiter­Innen- und BäuerInnen-organisationen, Indígena-Zu­sammenschlüsse, Frauenorganisationen, Umweltgruppen, Schwulen- und Lesbenorganisationen, Netzwerke von Sex­ar­bei­ter­Innen, SchülerInnen, StudentInnen, unabhängige Medien- und Kunst­kollektive, linke und anarchistische Vereinigungen. Die Andere Kampagne setzt im Gegensatz zu vielen Bewegungen ex­plizit nicht auf eine Übernahme der Staatsmacht, sondern auf eine gesellschaftliche Basisorganisierung. Um Grundfragen zu klären und der Anderen Kampagne ein Gesicht zu verleihen, läuft seit Dezember 2006 eine interne Befragung Darüber hinaus ver­netzen sich die AktivistInnen global um gemeinsam gegen die Mis­s­stände anzugehen…Über Silvester fand in der autonomen Ge­meinde Oventik ein internationales Treffen statt, um über die Fortschritte und Probleme der zapatistischen Selbstverwaltung zu informieren und sich unter Anderem zu den Themen Auto­no­mie, Gesundheit, Frauen, Bildung, Land und Kultur aus­zu­tauschen

Infos: www.ezln.org.mx

Atenco resiste

Die Kleinstadt Atenco nahe Mexiko Stadt wurde am 4. Mai 2006 von 3.500 schwer bewaffneten Polizisten angegriffen. Die Be­gründung: engagierte Menschen hatten Tags zuvor in ent­schlossener Weise BlumenhändlerInnen der Nachbarstadt bei­ge­standen, die ihre Ware auf dem lokalen Markt verkaufen wollten und sich damit gegen die Pläne der Regierung wehrten, an dieser Stelle einen Supermarkt zu errichten. Die AktivistInnen aus Aten­co blockierten eine Hauptstraße, woraufhin die Polizei die gesamte Ort­schaft äußerst brutal angriff. Bei dem auch international kri­ti­sierten Vorgehen der Staatsgewalt starben zwei Menschen. 217 Per­sonen wurden willkürlich inhaftiert. Es kam zu Folterungen, sexuellen Misshandlungen bis zu Vergewaltigungen. Die rebellische Ge­meinde hatte sich bereits 2002 erfolgreich gegen den Bau eines neuen Großflughafens für Mexiko-Stadt gewehrt und sympathisiert mit den Zapatistas.

Die Kommune von Oaxaca

Im südlichen Bundesstaat Oaxaca gibt es seit Jahren Proteste gegen Menschenrechtsverletzungen. Vor allem indigene Gemeinden, die nach mehr Mitbestimmung streben, wurden von staatlichen Or­ganen immer wieder brutal angegriffen. Eine Vielzahl sozialer Akti­vistInnen wurde kriminalisiert und verschwand im Ge­fängnis.

Am 22. Mai 2006 begannen LehrerInnengewerkschaften und Basisorganisationen eine Besetzung des historischen Zentrums der gleichnamigen Landeshauptstadt, um gegen diese Verhältnisse und für bessere Bedingungen im Bildungssektor zu demons­trieren. Nachdem gegen die DemonstrantInnen am 14. Juni äußerst brutal vorgegangen wurde – es gab rund 100 Verletzte -, wur­de Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz von einem Großteil der Be­völkerung für abgesetzt erklärt. Der Zuwachs an Dörfern, LehrerInnen, Indígenas, ArbeiterInnen und Linken, die nun in der Bewegung mitmachen, hat dazu geführt, dass die Versammlung der Bevölkerung von Oaxaca (APPO) von 350 Organisationen ge­gründet wurde. Seit Juli findet ein explizit friedlicher Aufstand statt, der sich zu einer regelrechten Revolution ausgeweitet hat. Die Bewegung ging von der bloßen Blockade zur Ausgestaltung basis­demokratischer Organisierungsformen über.

Doch die alte Regierung des Gouverneurs griff auf verdeckte, para­militärische Aktionen zurück und ließ AktivistInnen attackieren, foltern und ermorden. Die Bundesregierung Mexikos wur­de aufgefordert, den Gouverneur abzusetzen. Stattdessen ent­sandte sie die „Präventive Bundespolizei“ (PFP) – eine militärisch auf­gebaute Spezialeinheit -, die den Bundesstaat regelrecht ok­kupierte. AktivistInnen der APPO wurden während Verhand­lungen und bei Straßenkontrollen verhaftet, was die Protest­be­wegung zeitweise in den Untergrund zwang.

Infos: www.asambleapopulardeoaxaca.com

Das Ya-Basta-Netzwerk

Ya basta ist ein Netz von Menschen, von denen viele durch den Aufstand der Zapatistas zur Rebellion ermutigt wurden oder sich darin bestärkt sehen und in Solidarität mit den auf­stän­dischen Menschen in Chiapas leben. Es ist ein lernendes Netz, in dem die verschiedenen emanzipatorischen Kämpfe und Wi­der­standsformen nebeneinander bestehen können und auf­einander (kritisch) Bezug nehmen, ohne sich auszuschließen. Es soll ein Netz sein, in dem die Menschen sich gegenseitig in ihren lo­kalen Kämpfen unterstützen. Ein Netz, das Menschen er­mu­tigen will, sich zu engagieren und „Ya basta“ zu sagen.

Infos: www.ya-basta-netz.de.vu

Ein „Ya Basta!“ aus Leipzig…

Aus den Geschehnissen um Atenco, Oaxaca und die Andere Kam­pag­ne hat sich bundesweit das Interesse an den sozialen Kämpfen in Mexiko verstärkt. In Leipzig ist es dazu recht ruhig geblieben. Ne­ben einer Veranstaltungsreihe zu Chiapas und Zapatismus im November gab es am 20.1.07 eine kleine Solikundgebung bei der Eisenbahnstraße, die von Menschen der Montagsdemos und um den libertären Stadtteilladen Libelle herum getragen wurde. Hier haben sich auch Leute zusammengefunden, die weiter Solidaritätsaktionen für die zapatistische Selbstverwaltung organisieren und auch lokal auf der Basis zapatistischer Ideen wirken wollen. Wer mitmachen oder per Newsletter auf dem Laufenden bleiben möchte.

Kontakt: yabasta-leipzig@riseup.net

Nachbarn

Und der Goldfisch, der hat Zähne

Von Räumung und Abriss bedroht, denkt im Projekt Gieszer 16 momentan keine/r viel ans Feiern des 9. Jubiläumsfestival Ende April. Die Stadt Leipzig und speziell das Liegenschaftsamt halten ein selbstor­ga­ni­siert, unkommerziell und ohne Fördermittel auszukommenden gemeinnützigen Verein nicht gerade für unterstützenswert. Denn be­­reits letztes Jahr wurde der G16 das Vor­verkaufsrecht entzogen und in anbe­tracht zusätzlicher Jahreskosten, der Tendenz des verstärkten Ausverkaufs von Grund­stücken und Häusern – nicht nur in Plagwitz – sowie der fehlenden Gesprächsbereitschaft der Behörden wird die Situation bedrohlich.

Als beliebter Treffpunkt, Projekt- und Veranstaltungsort ist die G16 überlokal bekannt, zieht jährlich tausende Besucher­Innen an und lässt Nazis keinen Raum. Klar, dass nach Investitionen im Vorfeld zur WM, Sicherheit durch Überwachung und Image­projekt Citytunnel die Kassen leer sind.

Die Rechnung ist ohne den Wirt gemacht. Um einen Verkauf auf dem freien Markt zu verhindern, haben sich mehrere Gruppen gebildet, um den Fortbestand der G16 und die damit verbunden alternativen und kreativen Projekte des Vereins zu sichern. Durch Presse- und Öffentlichkeitsarbeit soll eine breite Unterstützung mobilisiert werden, um auch laut genug für städtische Ohren klar zustellen, dass man mit Geld nicht alles kaufen kann.

droff

Kommentar

Marokko: Menschenrechtsverletzungen im Namen des EU-Grenzregimes

Wenig mehr als ein Jahr nach dem Sturm von TransitmigrantInnen auf die spa­nischen Enklaven Ceuta und Melilla im Oktober 2005, als mindestens 11 Men­schen zu Tode kamen und Massen­ab­schiebungen in die Wüste stattfanden, sowie sechs Monate nach der Euro-afrikanischen Regierungskonferenz „Mi­gra­tion und Entwicklung“ in Rabat bewies die marokkanische Regierung erneut, wie sie ihre Rolle als Grenzwächter Europas wahrnimmt und dabei selbst die von ihr unterzeichneten Menschenrechts- und Flüchtlingskonventionen sowie marok­kanische Gesetze mit Füßen tritt. Über 500 Menschen schwarzer Hautfarbe wurden seit dem 23.12.06 bei Razzien festgenommen und an der algerischen Grenze ausgesetzt. Die marokkanische Regierung erhofft sich von der EU Visaerleichterungen für einige ihrer BürgerInnen, wenn sie sich als Hilfs­polizist der EU betätigt und die Transit­migrantInnen abschiebt, statt sie in die EU einreisen zu lassen. Aber es gibt auch Widerstand gegen diese Politik, der unsere Unterstützung braucht.

Hintergründe der Versuche erneuter Massenabschiebungen aus Marokko

Auch nach den Massenabschiebungen im Herbst 2005 befinden sich noch mindes­tens 10.000 Flüchtlinge und Migrant­Innen aus Subsahara-Afrika in Marokko, die meisten von ihnen ohne einen recht­lich anerkannten Status. Einige, vor allem Flücht­linge aus der De­mo­kra­tischen Republik Kongo und der Elfen­bein­küste, ha­­ben beim UNHCR Asyl be­an­tragt und z.T. auch eine Anerkennung durch ihn be­kommen, nicht jedoch Auf­ent­halts­papiere von den marok­kanischen Behörden. Sie leben ohne juristische Ab­sicherung, politische Rechte und soziale Versorgung vor allem in den Ar­beiter­vierteln der großen Städte und in den Wäldern rund um Ceuta und Melilla. Die provisorischen Lager dort wurden allerdings von den Sicherheits­kräf­ten weitgehend zerstört. Nach inter­na­tionalen Protesten gegen die Aus­setzungen in der Wüste und aufgrund der Schwierig­kei­ten, Her­kunfts­länder zur Rück­über­nahme zu bewegen, fanden eine Zeitlang keine Massen­ab­schiebungen aus Marokko mehr statt.

Dies änderte sich im Dezember 2006, und über die (Hinter-)Gründe kann nur spe­ku­liert werden: Ein Grund ist wahr­schein­lich der Druck, von der EU bis zum Jahresende für Abschiebungen zur Ver­fügung gestelltes Geld noch auszugeben. Die Wahl des Zeitpunkts um das christ­liche Weihnachts­fest herum hatte sicher da­mit zu tun, dass dann die meisten Büros so­­wohl des UNHCR als auch inter­na­tio­naler Menschenrechts­organisationen und Me­­dien geschlossen haben und so Proteste aus­­bleiben würden. Evtl. ging es aber auch um eine gezielte Beleidigung und Schi­kane der überwiegend christlichen Flücht­linge aus Subsahara-Afrika, als Ausdruck einer re­aktionären islamistisch-rassis­tischen Kam­pagne, die in Marokko gegen be­stimmte MigrantInnen geführt wird. An­dererseits fielen die Tage um Silvester in diesem Jahr mit einem mos­lemischen Fest zu­sammen, so dass auch Mitglieder marokkanischer Organisationen in Urlaub wa­ren. Ein weiterer Grund für die Re­gierung, noch vor Jahresbeginn 2007 mit spektakulären Aktionen gegen so­ge­nannte „illegale Migration“ ihre Kooperations­bereitschaft zu zeigen, waren anstehende Verhandlungen mit der EU über Ein­wanderungskontingente für Marok­kaner­Innen als benötigte Billigarbeitskräfte, z.B. in Spanien.

Die Ereignisse seit Weihnachten 2008

Seit dem 23. Dezember 2006 wurden in Marokko über 500 Personen, die aus Ländern südlich der Sahara stammen, bei Razzien durch Sicherheitskräfte fest­genommen, zunächst in Rabat, dann in Nador (bei Melilla), Lâayoune (West­sahara) und Ende Januar in Casablanca. Dabei wurde nicht beachtet, ob sie eine Auf­ent­halts­erlaubnis oder Flücht­lings­papiere vom UNHCR besitzen, ob sie schwanger, krank oder behindert sind. Ihr einziges „Vergehen“: ihre schwarze Hautfarbe. Alle wurden am frühen Morgen aus den Betten gerissen, in Busse gesetzt und nach kurzem Aufenthalt im Polizeikommissariat in Oujda in ein Wüstengebiet an der algerischen Grenze (die offiziell geschlossen ist) gefahren, mitten in der Nacht bei Tempera­turen um die 0 Grad dort ausgesetzt und mit Schüssen ge­zwungen, Marokko zu ver­lassen. Algerien vertrieb die MigrantInnen seinerseits mit Schüssen.

Vierzehn Tage nach Beginn dieser Ver­haftungen war es ca. 200 Personen gelungen, nach Oujda zurückzukehren, wo Menschen­rechts- und Flüchtlings­organisationen ein provisorisches Camp errichtet haben, das inzwischen aber mehrfach von der Polizei zerstört wurde. Nach Zeugenaussagen der an der Grenze abgesetzten MigrantInnen wurden den meisten von ihnen ihre Wertsachen abgenommen (Handys, Geld) und vielen ebenso ihre Pässe (Personal­aus­weise und Bescheinigungen des UNHCR). Einige von ihnen wurden gewaltsam angegriffen und Frauen Opfer von Ver­gewaltigungen. Viele sind körperlich sehr schwach, eine Frau aus der Republik Kongo, im fünften Monat schwanger, verlor ihr Baby. Busunternehmen und Taxifahrer weiger­ten sich, Schwarze mitzunehmen, so dass sie sich nur zu Fuß fortbewegen konnten.

Die zwiespältige Rolle des UNHCR

Erst durch (späte) Intervention des UNHCR schafften es einige als Flücht­linge oder AsylbewerberInnen re­gis­trierten Personen, wieder in ihre Wohn­orte zurück zu gelangen. Mehrere von ihnen sind jedoch erneut von Razzien betroffen. Die Regierung behauptet, es seien keine AsylbewerberInnen und anerkannten Flüchtlinge unter den Ver­hafteten. Die von der Polizei eingezogenen bzw. zerrissenen UNHCR-Papiere seien gefälscht. Der UNHCR ist nicht in der Lage, die bei ihm registrierten Flüchtlinge zu schützen. Er wird von der EU unter Druck gesetzt, die Politik der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes mitzutragen und dient mehr und mehr als Alibi für diese Politik. Von der marokkanischen Re­gierung, die seinen Status nicht voll anerkannt hat, wurde dem UNHCR-Repräsentanten vorgeworfen, im Herbst 2005 eine Presseerklärung herausgegeben zu haben, dass er keinen Zugang habe zu den am Zaun von Ceuta und Melilla festgenommenen registrierten Flücht­lingen (die es nach Behauptungen der Regierung auch dort nicht gab), und auf Druck aus der UNHCR-Zentrale in Genf musste er sich dafür entschuldigen. Anfang Januar gab es Gespräche des UNHCR-Vertreters mit der marok­kanischen Re­gierung, in denen vom UNHCR u.a. zugesichert wurde, fäl­schungs­sichere Flüchtlingsausweise her­aus­zugeben, Ab­kommen mit der Re­gierung über die Registrierung der Flüchtlinge zu treffen und Proteste nicht mehr öffentlich zu äußern.

Regierungspositionen und Rechtlosigkeit der Migranten

Die marokkanischen Behörden stellten die Razzien als Maßnahmen auf Grundlage der Beschlüsse der Regierungskonferenz zum Thema Migration dar, die am 10. und 11. Juli 2006 in Rabat stattfand. Da sie keinerlei Interesse haben, trotz Un­ter­zeichnung der Genfer Flüchtlings­konven­tion und der Konvention über den Schutz der Wander­arbeiter und ihrer Familien durch die marokkanische Re­gierung sowie Ve­r­abschiedung eines entsprechenden na­tio­nalen Gesetzes (02/03), menschen­würdige Aufnahme- und Lebensbe­ding­ungen für Flüchtlinge und MigrantInnen zu schaffen, wird einfach geleugnet, dass es schutz­bedürftige Personen gibt. Men­schen­rechts- und Flüchtlings­organisa­tionen sollten bei der Sortierung in „gute“ und „schlechte“ MigrantInnen mitwirken, weigerten sich aber, dies zu tun und forderten stattdessen eine menschen­wür­dige Behandlung aller MigrantInnen, was z.B. das Recht auf Wohnung, Arbeitssuche und gesundheit­liche Versorgung ein­schließt. All diese Rechte werden Migrant­Innen aus dem sub­saha­rischen Afrika in Marokko ver­weigert. Sie sind gezwungen, in Ab­bruch­häusern oder auf der Straße zu schlafen, zu betteln, im Müll nach Nahrungsmitteln zu suchen und/oder sich zu prostituieren, um zu überleben.

Widerstand

Auf der euro-afrikanischen NGO-Kon­ferenz „Mi­grationen, Grundrechte und Be­­­we­gungs­­freiheit“, zu der sich am 30.6./1.7.06 mehr als 150 VertreterInnen von Flüchtlings- und Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­tionen aus Europa, Subsahara- und Nord­afrika bei Rabat trafen, stellten Flüchtlinge und MigrantInnen ihre Si­tua­tion dar, es wurde über die EU-Mi­gra­tionspolitik diskutiert und ein Manifest mit gemeinsamen For­­derungen ver­ab­schie­det (siehe Bericht auf www.fluecht­lingsrat-hamburg.de unter dem Kon­ferenzdatum). Be­wegungs­­frei­heit wurde als Grundrecht und Vor­aussetzung zur Wahr­neh­mung anderer Grund­rech­te de­fi­niert. Eine Kund­ge­bung vor dem Par­la­ments­ge­bäude, in dem eine Woche spä­ter die Re­gierungs­kon­ferenz statt­fand, wurde or­ga­ni­siert. Ein „Nachfolge-Ko­mi­tee“ (co­mi­té de suivi) und eine E-Mail­liste wurden ein­ge­richtet, über die seitdem ein Infor­ma­tions­aus­tausch und die Ko­ordi­nierung von Aktivitäten, u.a. zum trans­nationalen Aktionstag am 7.10.06 und zum Weltsozialforum Ende Januar 2007 in Nairobi, laufen. Auch die Unter­stützung der von den Razzien und Abschiebungen be­troffenen Migrant­Innen und die Herstellung internationaler Öffentlichkeit darüber wurden erst durch diese Vernetzung möglich.

Am 22.1.07 fand im Unterausschuss für Menschenrechte des EU-Parlaments ein Hearing zu den Vorgängen in Marokko statt. Der ausführliche Bericht dafür ist auf terra.rezo.net/IMG/doc/VALLUY060107.doc nachzulesen (leider nur auf Französisch). Weitere Berichte und Dokumente, auch auf Deutsch, sind auf der oben angegebenen Website des Flücht­lingsrats Hamburg (unter dem Datum 23.12.06) zu finden.

Die aktiven Menschenrechts- und Flücht­lingsorganisationen in Marokko, die durch die dortige Regierung ständig über­wacht und von Festnahmen und Ent­führungen bedroht sind und kaum über finanzielle Mittel verfügen, benötigen dringend unsere Unterstützung und haben dafür auf einer Versammlung am 4.1.07 in Rabat einen Offenen Brief ver­ab­schiedet, der ebenfalls auf unserer Home­page steht und verbreitet werden sollte.

Conni Gunßer

Flüchtlingsrat Hamburg

(Der Artikel basiert auf Berichten von AktivistInnen aus Marokko)

Migration

Antifaschistische Notizen

Nazi-Opfer!

Die Opferberatungsvereine in Sachsen (www.RAA-sachsen.de und www.AMAL-sachsen.de) erhielten im letzten Jahr Kennt­nis von 208 Übergriffen (2005: 168) – sicher nur ein Bruchteil der gewaltvollen Reali­tät individueller und struktureller Dis­kriminierungen. RAA/AMAL: „wöch­ent­­lich ereigneten sich in Sachsen etwa vier rechtsextrem moti­vierte Übergriffe. Das ist die höchste Anzahl an rechts­ex­tremen Gewalttaten, von der wir in uns­erer bisherigen Arbeit je Kenntnis er­hiel­ten.“ In Leipzig sind die Hälfte der Op­fer Mi­grantInnen: „Wobei hier auf­fällig ist, dass die Täter nicht nur dem rechts­ex­tremen Rand, sondern in einer sehr hohen Zahl auch der Mitte der Ge­sellschaft zu­zu­ordnen sind“, so die Mit­ar­bei­terin Diana Eichhorn (0341/2618647).

Vor sieben Jahren war z.B. ein gebürtiger Iraner vor einer Leipziger Diskothek von der „Black-Rainbow“-Security derart am Zutritt gehindert worden, dass er nach OP und Reha bis heute Schmerzen hat. Die Ver­antwortlichen wurden kürzlich freige­sprochen und die vierstelligen Gerichts­kos­ten muss das Opfer tragen. Sein Konto wur­de gepfändet und ein Pflichtlohnteil sei­nes Arbeitgebers wird nicht ausgezahlt!

Am 05.02.07 wurden im Cineding vom Bür­gerverein Plagwitz/Lindenau diverse TV-Reportagen zur rechtsextremen Szene im Leipziger Westen gezeigt. Während dessen und danach gab es vor dem Pro­grammkino handfeste Auseinander­setzungen, provoziert von einem ca. 20-köp­figem Nazimob, der gekommen war, um zu drohen und zu stören; es gab mehr­ere Verletzte. Außer dem bürger­lichen En­ga­gement gibt es daher in­zwi­schen u.a. ei­ne Sammeladresse für Vorfälle ähn­­licher Art: zeitzumkennenlernen@web.de.

Übrigens hat sich in Leipzig vor kurzem auch eine Antifa-Jugendgruppe gegründet (ajl-leipzig@gmx.net).

Opfer-Nazis?

Mit einem Flugblatt wurde auf die der­zeitige Ausstellung „Flucht, Vertrei­bung, Inte­gration“ im Zeit­ge­schicht­lichen Forum reagiert: „Sie ist ein Teil der neuen deutschen Erinnerungspolitik, die als zentrales Element die Selbstpräsen­tation der Deutschen als Opfer der Geschichte enthält… Mit einer ausführ­lichen Kritik dieser Ausstellung, des geschichts­po­li­tischen Diskurses in der BRD und der Rolle der sog. Vertriebenen­verbände“ werden sich von Ende März bis April durch Leipziger AntifaschistInnen (Lea) geladene Refe­rent­Innen beschäfti­gen (www.left-action.de).

Geschichtsrevisionismus in Reinform konnte am 13. Februar in Potsdam, Borna, Aulendorf, Krefeld, München und natürlich Dresden von zwischen 50 und 1500 Nazis (Dresden) auf so genan­nten Gedenk-Aufmärschen wegen der Bombardierung Dresdens zum Ende des NS vertreten werden – mit tatkräftigen antifaschistischen „Behinderungen“.

Mobilisiert wird nun zu einer „von NPD und parteifreien Kräften gemeinsam geplanten mitteldeutschen 1.-Mai-De­mon­s­tra­­tion“ (C. Worch) in Erfurt. „Globalismus“-feindliche, antisemitische und rassistische Positionen sind dort erwartbar, ist doch am Samstag vorm G8-Gipfel ein weiterer Nazi-Auflauf in Schwerin angemeldet. … am Ball bleiben!

rabe

Lokales

„Die Zähne zeigt, wer das Maul aufmacht!“

Wie und Warum Aussageverweigerung Sinn macht

Bei politischen Aktionen bewegt man sich schnell am Rande der Legalität. Sei es die Verhinderung eines Naziaufmarsches, die aus einer emanzipatorischen Sicht legitim ist – per Gesetz aber der „Behinderung einer genehmigten Demonstration“ entspricht oder die Stürmung des Arbeitsamtes, die der Wut über ein System der Zwangs-Erwerbsarbeit bzw. Erwerbslosigkeit Ausdruck verleiht, jedoch gesetzlich unter Strafte steht.

Es war lange selbstverständlich vor Gericht keine Aussagen zu machen und nur politische Erklärungen zu verlesen. So verschieden die politischen Analysen und Aktionsformen der jeweiligen Bewegungen auch immer waren, in einem waren sie sich einig: Der Repressions­apparat des bürgerlichen Staates ist gegen sie gerichtet und wird mit allen Mitteln versuchen, Bewegungen zu kriminalisieren und zu zerschlagen. In letzter Zeit scheint dieses Wissen innerhalb der Linken zu schwinden. Immer mehr Menschen vergessen zu oft, ihren Mund bei der Polizei zu halten.

Warum Aussageverweigerung?

Staatliche Behörden betrachten es als gefährlich, wenn Menschen sich organisieren, um die sozialen Verhältnisse zu ändern. Denn Pro­teste und Widerstand etwa gegen Kriegspolitik, Ab­schiebungen, die kapitalistische Globalisierung oder Atomtransporte können auch dazu führen, dass Menschen diese Miss­stände nicht nur als kosmetische Probleme betrachten, sondern be­ginnen, die be­stehenden Machtverhältnisse zu hinterfragen. Bei jeder Fest­nahme und jedem Strafverfahren wollen Polizei und Jus­tiz neben der Repression gegen Einzelne immer auch Infor­ma­tio­nen über poli­tische und sogar persönliche Zusammen­hänge ge­winnen. Denn eine unbekannte Bewegung ist ei­ne potentielle Gefahr.

Es gibt keine gesetzliche Grundlage, Informationen zu er­­zwingen: Bei der Polizei braucht niemand Aussagen zu machen. Als Beschuldigte/R kann man da­rüber hinaus die Aussage auch bei der Staatsanwaltschaft und vor Gericht verweigern. Laut Gesetz darf das nicht zu Ungunsten des/der Angeklagten ver­wen­det werden. In der Realität sieht es je­doch anders aus. Schon das Gefühl, bei einer Festnahme ganz und gar der Polizei aus­geliefert zu sein, verleitet viele dazu, Aus­sagen zu machen. Oft muss die Polizei nicht mal mit üblen Tricks arbeiten. Doch sie ha­ben auch Methoden, um uns unter Druck zu setzen und Aus­sagen herauszupressen.

Oft geschieht das durch Einschüchterung (Anschreien, Gewalt­an­drohung und manchmal auch -ausübung, Drohen mit Konse­quen­zen bei den Eltern, in der Schule oder im Job) oder verständnisvoll („Wir sind ja auch gegen die Rechten, wir wollen ja das Gleiche“). Manchmal will die Polizei Dich auch zu scheinbar „harm­losen“ oder „entlastenden“ Aussagen überreden. Dabei gibt es keine „harmlosen“ Aussagen. Jede Äußerung hilft der Polizei bei Ermittlungen, ent­weder gegen Dich oder andere. Scheinbar „entlastende“ Aus­sagen können andere belasten, oder der Polizei helfen weitere Beweise zu suchen oder zu er­finden. Deshalb: bei der Polizei und Staatsanwaltschaft kon­se­quente Aussageverweigerung!

Aussageverweigerung konkret

Es gibt viele Situationen, die ganz harmlos erscheinen, in denen die „Aussage“ trotzdem verweigert werden sollte: An­quatsch­ver­suche des Verfassungsschutzes, Gespräche mit „Deeska­la­tions­beamten“ der Polizei… Auch hier gilt: Mund halten!

Bei der Polizei

Einer Vorladung der Polizei braucht niemand Folge zu leisten, weder Beschuldigte noch ZeugInnen, daraus entstehen keine Nachteile. Auf eine Ladung soll gar nicht reagiert werden, also auch nicht telefonisch.

Es ist allerdings ratsam, dass FreundInnen, Mitbetroffene, Anwälte und Rechtshilfegruppen wie die Rote Hilfe informiert werden! Leider gibt es auch mißliche Lagen wie Festnahmen, denen man sich nicht entziehen kann. Hier hilft es nur, die eigenen Rechte genau zu kennen.

Bleib ruhig und reagiere nicht auf Provokationen. Versuch, jeden Kontakt auf eine formale Ebene zu ziehen. Du bist nur verpflichtet, Angaben zu Deiner Per­son zu machen (Name, Adresse, Geburtsdatum, Geburtsort, Familienstand, Staatsangehörigkeit und allgemeine Berufsangabe (z.B. Schülerin, Angestellte, Arbeiter usw.). Sonst gar nix!

Beim Haftrichter

Manchmal kommt es vor, dass die Polizei meint, es gebe Gründe, Dich nach Ablauf von 48 Stunden nicht zu entlassen. Aber: Eine Aussage zur Sache wendet keine Untersuchungshaft ab!

Der Haftbefehl lautet auf „dringendem Tatverdacht“. Einlassungen zu den Tatvorwürfen, auch wenn es ein „Alibi“ ist, bedeuten nicht, dass keine U-Haft verhängt wird. Zu Vorwürfen, die zum Haftbefehl führen können, kommen noch so ge­nannte „Haftgründe“ hinzu. Der Haftbefehl kann, wenn die „Haftgründe“ nicht zutreffen, außer Vollzug gesetzt werden. Das heißt aber nicht, dass damit auch die Tatvorwürfe aus der Welt wä­ren, was die Unsinnigkeit von Aussagen zur Sache vor dem/der HaftrichterIn zeigt. Haftgründe sind: Fluchtgefahr, Ver­dunklungsgefahr, Wieder­holungsgefahr und besonders schwere Tat­vor­würfe.

Bei Vorwürfen, wie Mord, Totschlag und §129a wird grundsätzlich Haft­befehl erlassen. Zu den anderen Haftgründen kann nach dem Ge­setz ein/e BeschuldigteR Stellung nehmen. Wenn überhaupt, sollte dies nur zum Punkt Fluchtgefahr und nach anwaltlicher Beratung gemacht werden. Sagt man etwas zu den Punkten Verdunklungs- und Wieder­holungs­ge­fahr, ist unweigerlich eine Diskussion über den Tatvorwurf die Folge. Klar sein muss unbedingt, dass mit einer Aussage zur Sache keine U-Haft abgewendet werden kann.

Beim Staatsanwalt

Der Staatsanwalt führt das Ermittlungsverfahren und entscheidet über die Anklage des Beschuldigten vor Gericht. Dort führt er in der Haupt­verhandlung die Anklagevertretung. Bei einer Zeugen­vorladung raten wir unbedingt, sich davor mit einer Rechts­hilfegruppe und einem Anwalt, einer An­wältin zusammenzusetzen.

ZeugInnen müssen vor dem Staatsanwalt erscheinen und Angaben zur Person machen (s.o.), ansonsten kann eine Vorführung an­ge­ord­net werden. Beschuldigte können die Aussage verweigern. Mensch hat das Recht zu erfahren, um welches Verfahren es sich handelt (besteht auf einer genauen Bezeichnung der einzelnen Tatvorwürfe) und wer der/die Beschuldigte ist. Denn man muss die Mög­lichkeit haben zu prüfen, ob ein Aussageverweigerungsrecht be­steht.

Es gibt Gründe, warum ZeugInnen vor dem Staatsanwalt nicht aus­­sagen wollen. Sie können zu diesem Zeitpunkt nicht ermessen, wo­zu ihre Aussagen verwendet werden. Sie wissen nicht sicher, in wel­che Richtung der Staatsanwalt ermittelt, der Staatsanwalt darf die ZeugInnen darüber auch weitgehend in Unkenntnis halten – und auch darüber, ab wann in seinen Augen eine Aussage den/die ZeugIn selbst belasten könnte! Ein Überblick über die Zusammenhänge, in der die Aussagen stehen, dürfte den Befragten unmöglich sein. Jede Aus­­sage beim Staatsanwalt liefert ein Steinchen im Mosaik und kann weitere Anhaltspunkte lie­fern.

Das Aussageverweigerungsrecht für ZeugInnen wird durch die Strafprozeßordnung (StPO) geregelt. Verwandte (auch Ehe­leute und Verlobte (!) und in derselben Sache Angeklagte ha­ben ein Aussageverweigerungsrecht, ebenso wenn man sich durch eine Aussage selber belasten würde.

Was droht Menschen, die die Aussage verweigern, ob­wohl sie kein Aussageverweigerungsrecht haben? Oder mit Zeu­gInnen, die einer staatsanwaltschaftlichen Ladung nicht fol­gen wollen?

Da­für werden erst mal die entstandenen Kosten aufgedrückt. Dazu kann der Staatsanwalt ein Ordnungsgeld erlassen. Wenn dieses nicht gezahlt wird, kann ein Richter maximal 42 Tage Ordnungshaft verhängen. Es kann die zwangsweise Vorführung vor einen Ermittlungs­richter angeordnet werden.

ZeugInnen, die hingehen, aber nichts sagen

Zunächst läuft alles so wie oben ab. Wichtiger Unterschied aber ist, dass damit die Ordnungsmittel verbraucht, also nicht wiederholbar sind! Möglicherweise beantragt der Staatsanwalt nun die Erzwingungshaft (Beugehaft). Wird diese durchgesetzt, ist danach auch dieses Erzwingungsmittel verbraucht. Die Beugehaft kann über maximal sechs Monate verhängt werden. Zuerst aber müssen die Ordnungsmittel angewandt werden.

Staatsanwälte, die behaupten, der ZeugIn könne gleich in Beugehaft gesteckt werden, vermischen bewusst Ordnungs- mit Erzwingungs­mitteln.

Aussageverweigerung als ZeugIn beim Richter

Die Folgen sind die gleichen wie bei der Staatsanwaltschaft, dazu kommt, dass die Eidesverweigerung ebenso behandelt wird wie eine Aussageverweigerung. ZeugInnen können zu allen Vernehmungen einen Anwalt, eine Anwältin mitnehmen. Sie können eine wichtige – auch psychologische – Funktion haben, doch sollten ihre Möglichkeiten nicht überschätzt werden. Sie haben lediglich die Funktion eines Rechtsbeistandes, d.h. sie können nicht in die Vernehmung eingreifen und dürfen nur bei formalen Fehlern des Vernehmenden tätig werden. Etwa wenn eine Frage juristisch so nicht gestellt werden darf, wie sie gestellt wurde, oder der Staatsanwalt keine Rechtsmittelbelehrung erteilt hat. Aber man hat das Recht, sich mit dem Anwalt/ der Anwältin über die gerade gestellte Frage im Nebenzimmer zu beraten. Dadurch ist es möglich, sich erst mal Luft zu verschaffen und sich dem psychischen Druck zu entziehen.

Du hast das Recht:

* den Grund für die Festnahme zu erfahren.

* alle Aussagen zu verweigern.

* nichts zu unterschreiben!

* gegen eine erkennungsdienstliche Behandlung schriftlich

Widerspruch einzulegen.

* im Verletzungsfalle einen Arzt zu verlangen und

die Verletzung attestieren zu lassen.

* einProtokoll über beschlagnahmte Dinge zu erhalten.

* einen Anwalt bzw. eine Anwältin, eine Person des

eigenen Vertrauens zu benachrichtigen. (Aber nicht

unnötig am Telefon quasseln!)

Rote Hilfe