Leser_innenbrief FA! #55

Sagt mal, Feierabend! – geht‘s noch? Was sollte das denn?

Vorsichtig formuliert, ist der Inhalt eures Kommentars aus der Ausgabe 54 bestenfalls „kontrovers“, aus meiner Sicht leider wenig „libertär“. Daher wunderte ich mich sehr, dass ihr nicht wenigstens ein „Pro-Contra“-Thema draus gemacht habt… Zwei Junkies, die beim Klauen erwischt wurden, sind nicht dem Staat überantwortet worden, sondern es wurde das Naheliegendste durchgezogen: Das Diebesgut wurde ihnen abgenommen und es wurde vor Ihnen gewarnt (auf Mailinglisten, also einem relativ begrenzten Szene-Rahmen, nicht durch wildes Plakatieren oder Ähnliches). Das als „bürgerlich“ zu beschimpfen ist einfach nur absurd! Weder wird wirklich argumentiert, warum die bemängelte Aktion der „Selbstjustiz“ nun „Unrecht“ war, noch macht der Autor die Wertmaßstäbe für seine eigene Moral klar. Die ergriffenen Maßnahmen werden verurteilt ohne eine Alternative zu beschreiben – oder soll es etwa emanzipatorisch sein, die Polizei zu rufen? Falls das behauptet werden sollte, dann soll der Autor doch bitte mal ´nen Artikel schreiben warum das bürgerliche Rechtssystem (dem er die zwei Junkies gerne übereignet hätte) eigentlich eine anarchistische Form des Umgangs mit Konflikten darstellt! Ich war wirklich geschockt, denn der Text trieft vor einer bürgerlichen Moral – in der die Schuldigen ihrer gerechten Strafe durch die neutrale Polizei zugeführt werden sollten – und verurteilt den Versuch, mit einer schwierigen Situation selbst umzugehen, der (wie „primitiv“ und unperfekt er auch immer sein mag) eigentlich solidarische Kritik und Anerkennung verdient hätte. Ganz nach dem Motto „fragend schreiten wir voran“… Ich hoffe, Ihr findet eine der beteiligten Personen, die eine Gegendarstellung schreibt…

konne

 

Hey konne,

schön, dass du den Kommentar als kontrovers empfindest. Kontroversen sind ja prinzipiell eine feine Sache, und fragend Voranschreiten klappt eben auch nur, wenn man nicht bloß rhetorische Fragen stellt, wie „soll es etwa emanzipatorisch sein, die Polizei zu rufen?“

Diese Fragestellung geht nämlich an der Sache großzügig vorbei. Was Leute tun und was sie bleiben lassen, sind zwei verschiedene Dinge. Wenn du das Handeln von Leuten beurteilen willst, musst du dir auch dieses selbst mal anschauen. Ist ja schön und gut, dass die beteiligten Wagenplätzler_innen nicht die Polizei gerufen haben – aber was haben sie denn stattdessen getan?

Naheliegend wäre es gewesen, die beiden Junkies mit der Ansage „Haut ab und kommt nicht wieder“ nach Hause zu schicken – umso mehr, weil die beiden wohl gar nicht beim Klauen erwischt wurden, sondern bloß vermutet wurde, das sie klauen wollten. Aber so geht das eben bei der Selbstjustiz: Gerade die Grundsätze, die an der bürgerlichen Rechtssprechung sinnvoll sind, werden meist als erste fallengelassen – etwa die Unschuldsvermutung.

Dann auf bloßen Verdacht hin eine selbstorganisierte Hausdurchsuchung zu veranstalten und zur Beschlagnahmung vermeintlichen Diebesguts zu schreiten, ist auch nicht gerade ein Musterbeispiel für „emanzipatorisches“, nicht mal für pragmatisches Verhalten. Und nebenbei erwähnt, wird eine Denunziation auch nicht besser, wenn sie „nur“ im halböffentlichen Rahmen einer Mailingliste läuft (dort dann allerdings mit allem Drum und Dran, inklusive Fotos und Angabe der Wohnadresse).

Viel mehr als das Bestreben, die eigene subkulturelle Nische mit allen nötigen oder auch unnötigen Mitteln zu verteidigen, ist darin nicht zu erkennen. Es fragt sich, wofür du den Beteiligten hier „Anerkennung“ zollen willst. Weil sie sich in dieser ja doch arg „schwierigen Situation“ so wacker geschlagen haben?

Im Übrigen scheinst du den Kommentar recht persönlich genommen zu haben, zumindest lässt dein Tonfall das vermuten. Auch da fragt sich, woher das kommt – man muss ja nicht zwanghaft mit allem einverstanden sein, was Leute so machen, nur weil diese zufällig im selben Milieu rumhängen wie man selbst. Könnte es vielleicht sein, dass du dich von der Kritik in deiner Identität betroffen fühlst? Deine Frage „soll es etwa emanzipatorisch sein, die Polizei zu rufen?“ weist haargenau in diese Richtung. Viel mehr als die Aussage „in unseren Kreisen macht man das nicht!“ steckt in dem Satz leider nicht drin. Und das ist nun mal kein Argument, sondern nur eine Beschwörung der eigenen Identität.

In dieser Hinsicht ist dein Leserbrief ähnlich symptomatisch wie die Aktion selbst. Es ist natürlich ärgerlich, wenn man feststellen muss, dass sich die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft nicht einfach aussperren lassen – wenn man das plötzlich bemerkt, kann man schon mal überreagieren, sei es nun verbal oder handgreiflich. Wobei es immerhin schön ist, dass du dich mit dem Thema mindestens ein paar Minuten lang beschäftigt hast, wie dein Brief zeigt. An der Stelle könntest du ansetzen und deine Position noch mal überdenken.

In diesem Sinne…

justus

P.S.: Der Kommentarschreiber shy hatte keinen Bock, dem Leserbrief etwas zu erwidern. Ich weise darauf hin, dass es sich bei meiner Antwort um eine individuelle Äußerung handelt, die nicht notwendig der Meinung der FA!-Gesamtredaktion entspricht.

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