Archiv der Kategorie: Feierabend! #46

Syrien: Das Rückgrat der Revolution

Die Gruppe Adopt a Revolution unterstützt weiter den friedlichen Widerstand in Syrien

Das Projekt Adopt a Revolution unterstützt seit Ende vergangenen Jahres den friedlichen Widerstand gegen das Regime in Syrien. Die Idee hatte der Poli­tikwissen­schaftler Elias Perabo von einem Aufenthalt in Damaskus zurückkam, wo er den Beginn der Revolution erlebt hatte. Schnell fand er eine handvoll syrische und deutsche Mitstreiter, die mit ihm eine politische „Hilfsorganisation“ schufen, die mit Spenden spezifisch die politische Arbeit der Pro-Demokratie-Aktivisten unterstützen sollte. Ein Beirat, in dem Vertreter der syrischen Exilopposition sitzen und der Organisationen medico, der Bewegungsstiftung und vom Bund für Soziale Verteidigung, berät die Kerngruppe. Außerdem gibt es rund 20 freiwillige Helfer.

Als Adopt a Revolution im Dezember 2010 an den Start ging, glaubten wir noch, dass sich eine militärische Eskalation in Syrien verhindern ließe und wollten durch unsere Initiative neben dem dringend benötigten Geld für die Demokratie-Aktivistinnen und Aktivisten vor Ort auch Kontakte zwischen der deutschen und syrischen Zivilgesell­schaft aufbauen. Neun Monate später stellt sich die Frage: Bringt das überhaupt noch etwas? Ist nicht längst in Syrien ein Stellvertreterkrieg entbrannt, bei dem man sich auf keine Seite stellen kann?

Das syrische Regime hat einen unerbittlichen Kampf gegen die eigene Bevölkerung angekündigt. Der Präsident Baschar Al-Assad hat Aleppo, die größte Stadt des Landes, mit einem gnadenlosen Flächenbombardement belegt, um dasselbe wenige Wochen später in der Hauptstadt Damaskus zu wiederholen. Unabhängige Augenzeugen, wie Journalisten und Mitarbeiter von Amnesty International, berichten, dass dabei keinerlei Schonung von Zivilisten beobachtet werden kann. Im Gegenteil: Ein Bruchteil der Opfer der Luftangriffe sind kämpfende Rebellen, auch Kinder werden gezielt erschossen und gefoltert.

Die Zahl der zwischenzeitlich Inhaftierten erreicht die 100.000. Bei Razzien in Oppositionellen Hochburgen werden häufig gar keine Gefangenen mehr gemacht. Aktivisten berichten, das beispielsweise in dem Damaszener Vorort Daraya die Sicherheitskräfte des Regimes von Haus zu Haus gingen und ausgewählte Bewohner erschossen.

Viele derer, die aus dem Folterknast entlassen werden, greifen zu den Waffen und reihen sich ein in die Freie Syrische Armee. Das gnadenlose Vorgehen des Regimes hat sie brutalisiert. Es herrscht Krieg, aber keine der Parteien hält sich an das Kriegsrecht. Viele Gefangene werden ohne Prozess erschossen – auf beiden Seiten. Auf die Seite der Revolution haben sich Dschihadisten aus aller Herren Länder gesellt. Es ist eine verschwindende Minderheit. Aber sie sind deutlich besser ausgerüstet unter anderem mit Geld aus Saudi Arabien. Mit schaurigen Methoden eskalieren sie den Konflikt. So zeigten Youtube-Videos wie Schabiha-Milizionäre, die im Namen Assads Jagd auf Oppositionelle machen, geköpft werden.

Über 30.000 Tote hatte die Revolution in Syrien bis Ende September gekostet – und es gibt derzeit kaum Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges. Nach Monaten der Proteste und Streiks, die das wirtschaftliche Leben in Syrien weitgehend lahm gelegt haben, und verstärkten Offensiven der Freien Syrischen Armee, wankt das Regime zwar immer deutlicher. Nach dem Seitenwechsel von General Manaf Tlass und Premierminister Riyad Hijab sind noch etliche andere Politiker und Militärs zu den Rebellen übergelaufen. Es heißt, das Regime finde keine neuen Rekruten mehr, um die gefallenen Soldaten zu ersetzen. Wer eingezogen werden soll, flieht. Mehr als 240.000 Syrer haben sich in die umliegenden Länder geflüchtet. Doch gerade der Überlebens­kampf des Regimes führt zu immer brutalerer Gewalt.

Hinzu kommt eine komplexe weltpolitische Interessenlage. Die Golfstaaten, allen voran Saudi Arabien und Qatar, haben schon früh in der syrischen Revolte die Möglichkeit erkannt, die sogenannte schiitische Achse zu schwächen. Assad, der Alawit, der mit dem schiitischen Iran und der schiitischen Hisbollah im Libanon alliiert ist, soll ersetzt werden durch einen sunnitischen Herrscher. Aus Sicht des Emirs von Qatar darf das ruhig eine Art Demokrat sein, am liebsten ein Muslimbruder. Das saudischen Königshaus setzt lieber auf die Salafisten, die eine religiöse Diktatur installieren wollen nach dem Vorbild Saudi Arabiens. Zwischen Saudi Arabien und Qatar gibt es daher Streit: Sie haben eine gemeinsame Infrastruktur aufgebaut, um die Freie Syrische Armee (FSA) zu unterstützen, sind sich aber nicht einig, welche Bataillone sie bevorzugt behandeln sollen. Diejenigen unter der FSA, die sich nicht religiös definieren, beklagen, dass islamistische Milizen inzwischen bestens ausgerüstet sind, während sie keinerlei Unterstützung bekommen.

Die USA haben sich erstaunlich lange aus dem syrischen Konflikt herausgehalten. Nach monatelangem Mahnen an die Adresse Assads ergriffen sie erst diesen Sommer deutlich Partei für die Rebellen und stellten 25 Millionen Dollar bereit. Eine geheime Direktive des Präsidenten soll dem CIA schon im Frühjahr freie Hand zur Unterstützung der Revolution gegeben haben. Aber auch das wäre dann ein ganzes Jahr nach Beginn der Proteste gewesen. Insofern ist es absurd, eine westliche Verschwörung des Westens gegen das Assad-Regime anzunehmen, wie es einige Linke wie auch Rechte tun.

Zweifellos gibt es ein westliches Interesse am Sturz Assads. Fällt das syrische Regime, schwächt das den Iran, die libanesische His­bollah wäre weitestgehend von Waffen­lie­ferungen abgeschnitten. Doch wurde dieses Interesse bisher eben nicht wahrgenommen. Aus Nato-Kreisen wird verlautet, dass man auf gar keinen Fall eine Inter­vention wolle. Kriegsmüdigkeit und Wirtschaftskrise spielen hier eine Rolle, aber auch die unübersichtlich Lage in Syrien.

Wenig zögerlich waren hingegen die Freunde Assads. Russland und Iran schickten Waffen, Iran und libanesische Hisbollah auch Scharfschützen – schon bevor die Freie Syrische Armee begann zurückzuschießen.

Doch inzwischen sind alle regionalen und Weltmächte dabei. Dass ein bewaffneter Konflikt in Syrien zu einem Stellvertreterkrieg führen würde, war den syrischen Pro-Demokratie-Aktivisten von Anfang an bewusst. „Die geostrategische Lage ist für die Revolution ein echtes Problem“, erklärte mir der Medienaktivist Hussein Ghrer, der nun schon seit Februar in Haft sitzt, im Frühjahr 2011. Keine Gewalt und keine Hilfe von außen war deshalb lange die Devise. Über ein Jahr haben die Aktivisten der Versuchung standgehalten, zu den Waffen zu greifen und auch noch nach 6000 Toten friedlich für Freiheit und Demokratie demonstriert. Sie haben simliya, silmya (friedlich) gerufen, während Soldaten mit scharfer Munition in die Demos feuerten.

Doch gerade wegen der geostrategischen Lage ließ sich eine Militarisierung des Konflikts nicht verhindern. Insofern war die Hoffnung von Adopt a Revolution Ende letzten Jahres blauäugig. Zu stark waren die Interessen der regionalen Mächte. Insbesondere Iran und die libanesische Hisbollah sehen im arabischen Frühling ihre letzten Felle davon schwimmen: Sie verlieren mit Assad nicht nur einen Verbündeten. Die Revolutionen sind an sich ein Angriff auf ihr Herrschaftsmodell und mit ihrem Lieblingsfeind Israel können sie zur Zeit nicht punkten.

Das heißt aber nicht, dass die Unterstützung des friedlichen Widerstands sinnlos ge­­worden wäre. Noch immer gibt es täglich gewaltfreie Proteste, Streiks und Boykotte. Sie werden organisiert von den Lokalen Koordinierungskomitees, die sich in na­hezu allen syrischen Städten gegründet ha­­ben. Sie sind zu einem Netzwerk zusam­men­­gefasst, in dessen Gründungserklärung Men­schenrechte und Demokratie als Ziele aufgeführt sind. Auch wenn ihre Arbeit zwi­schen den Kriegshandlungen unterzu­ge­­hen scheint, ist sie jetzt wichtiger denn je.

Die Komitees bleiben auch im Krieg das Rückgrat der Revolution, wo Perspektiven diskutiert und Kritik geübt wird. Für die Teile der kämpfenden Rebellen, die sich auf ein freies demokratisches Syrien beziehen, sind sie moralische Instanz – schließ­lich hat sich die Freie Syrische Armee zunächst nur gegründet, um den friedlichen Aktivisten das Demonstrieren zu ermöglichen. Anfang September startete das Netzwerk der rund 300 Komitees eine Kampagne der „Würde und Moral“, um an die Prinzipien der Revolution zu erinnern. Unter anderem verteilten sie Flugblätter an die Rebellen der Freien Syrischen Armee, in denen sie mahnten: „Werdet nicht so wie das, was Ihr bekämpft.“

In den Komitees diskutieren zumeist junge Männer und Frauen, Muslime und Christen gemeinsam, was für ein Syrien sie sich wünschen. Debatten über Demokratie, Rechtsstaat, Toleranz zwischen den Religionen und Ethnien werden regelmäßig von den Lokalen Komitees angestoßen und in die Gesellschaft getragen. Innerhalb der Komitees wird Demokratie erprobt: Manche legen Wert auf Konsensentschei­dungen, andere stimmen ab, hierarchiefreier Umgang miteinander wird diskutiert und ausprobiert. Immer wieder versuchen die Komitees durch Aktionen und Aufklärung religiösen und ethnischen Spannungen zwischen den verschiedenen Bevöl­kerungsgruppen entgegen zu wirken. Wo sich Wut gegen „die“ Alawiten äußert, weisen sie daraufhin, dass die Revolution keinen Unterschied macht zwischen den Konfessionen.

In den befreiten Gebieten übernehmen die Komitees die Aufgabe der Selbstverwaltung. Überall bereiten sie sich auf die Zeit, nach dem Sturz des Regimes vor. Sie erstellen detaillierte Pläne, wie Gewalt und Racheakte verhindert werden können.

Nach Monaten der Proteste und des Krieges sind sie mehr denn je auf Unterstützung angewiesen. Immer mehr Mitglieder müssen im Untergrund leben, mehr Gefangene müssen betreut und für ihre Freilassung gestritten werden, Verletzte müssen in Untergrundkrankenhäusern behandelt und Hinterbliebene versorgt werden.

Bei Adopt a Revolution stellen wir erstaunt fest, dass trotz großer Ankündigungen keinesfalls die Millionen aus dem „Westen“ den Aktivisten zufließen. Viele Komitees erhalten nach wie vor allein von unseren Spendern in Deutschland Geld. Das ist nicht viel: 30 Komitees bekommen je rund 800 Euro monatlich. Es reicht für Miete, Telefonrechnungen, Unterstützung von Untergetauchten und gelegentlich neue Kameras und Handys.

Auch die moralische Unterstützung ist immer wichtiger geworden. Denn mit der Militarisierung, durch Einmischung anderer Mächte und Islamisierung des Konflikts haben sich weite Teile der politisch Aktiven in Europa entsolidarisiert. Die Artikel des ehemaligen CDU-Politikers Jürgen Todenhöfer, die Teilnahme eines Frankfurter CDU-Abgeordneten und eines Abgeordneten der Linken an einer Friedensdemo mit Pro-Assad-Sprechchören zeigen, dass dies nicht nur ein Phänomen innerhalb der Linken ist.

Für die AktivistInnen in Syrien ist es schmerzhaft von den Menschen im Stich gelassen zu werden, deren Demokratien sie bei aller Kritik für Vorbilder halten. Anfang September rief die Bloggerin Razan Al Ghazzawi dazu auf, das syrische Volk für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen mit den Worten: „Ich bitte Euch nicht deshalb zu unterschreiben, weil viele von uns täglich getötet werden, Hunderte obdachlos sind und Tausende in Haft. Ich bitte Euch zu unterschreiben, weil dieses Volk ganz alleine kämpft gegen monströse ‘Achse des Widerstands’-Regimes (so nennen sich die Feinde Israels), alleine gegen westliche Experten, die sich auf Assads Seite stellen und Linke, die für Mord Partei ergreifen. Ich bitte Euch zu unterschreiben, weil dieses Volk dringend soziale Solidarität, die Solidarität der Völker und Eure Solidarität braucht.“

Hannah Wettig

Weitere Informationen zu „Adopt a Revolution“ im Internet unter www.syrischer-fruehling.de

Soziale Bewegung

Spanien: Eine andere Krise ist möglich

Die Eurozone kriselt weiter ungemütlich vor sich hin. Allem Zweckoptimismus der professionellen Gesund­beter_innen zum Trotz bleibt die Wachs­tums­perspektive trübe. Um den schwäch­eln­den Profiten auf die Sprünge zu helfen, mahnte die EZB in ihrem Monatsbericht vom August 2012 die „Notwendigkeit weiterer Struktur- und Haushaltsreformen“ an, also eine weitere Absenkung des Lebensstandards für weite Teile der Bevölkerung. So sei „eine weitere erhebliche Verringerung der Lohnstückkosten […] dringend geboten. Hierzu muss erstens der Lohnfindungsprozess flexibler gestaltet werden, etwa durch Lockerung der Kündigungsschutzbestimmungen, Beseitigung von Lohnindexierungssystemen und Senkung der Mindestlöhne. Zudem sollte es ermöglicht werden, Tarifverhandlungen auf Unternehmensebene zu führen.“ (1)

Freilich gibt die EZB nicht nur allgemeine Empfehlungen ab. Ende August veröffentlichte der britische Guardian (2) Auszüge aus einem Brief der „Troika“, welche sich aus der EZB, der Europäischen Kommission und dem IWF zusammensetzt. Das Schreiben richtete sich an die griechischen Ministerien für Arbeit und Finanzen und forderte eindeutige Maßnahmen ein: “Erhöhte Flexibilität der Arbeitszeiten; die Maximalzahl der Werktage sollte für alle Sektoren auf sechs Tage pro Woche erhöht werden“. Eine weitere Forderung war die „Festsetzung der minimalen täglichen Ruhezeit auf 11 Stunden“, was im Umkehrschluss eine Erhöhung der täglichen Arbeitszeit auf 13 Stunden zulassen würde.

Früher nannte man so was Klassenkampf – und wie man sieht, weiß zumindest die Kapitalseite ziemlich genau, wo dabei ihr Interesse liegt. Abseits der höheren Mathematik des Derivatenhandels gestaltet sich die kapitalistische Wirtschaft ziemlich simpel: In letzter Instanz dreht sich immer noch alles um die Abpressung von Mehrwert, also unbezahlter Arbeitszeit.

Ausschreitungen

Die spanische Regierung kann in dieser Hinsicht sehr mit sich zufrieden sein. Schließlich hat sie mit ihrer Ende März verabschiedeten Arbeitsrechtsreform die wichtigsten Forderungen der EZB schon vorab erfüllt, also Arbeitszeiten verlängert, Mindestlöhne gesenkt, den Kündigungsschutz faktisch abgeschafft und die betriebliche Mitbestimmung drastisch eingeschränkt.

Am 27. September präsentierte die Regierung nun ihren Haushaltsentwurf für das Jahr 2013. Und natürlich wurden auch für das kommende Jahr neue Einschnitte angekündigt – insgesamt sollen etwa 38 Mrd. Euro eingespart werden.

Natürlich geht das nicht ohne Protest ab. Schon am 15. September hatten hundert­tausende Menschen in der Hauptstadt demonstriert. Mit diesem „Marsch auf Madrid“ wollten die beiden größten spanischen Gewerkschaften, die CC.OO und die UGT (3) ihrer Forderung nach einem landesweiten Referendum über die Sparpolitik der Regierung Nachdruck verleihen.

Am 25. September dann wurde das Parlament in Madrid von tausenden Demons­trant_innen belagert. Der Aufruf zur friedlichen Blockade kam aus dem Umfeld der 15M-Bewegung (benannt nach den Platzbesetzungen, die ab dem 15. Mai 2011 begonnen hatten). Im weiteren Verlauf dieses Protests ging die Polizei mit Schlagstöcken und Tränengas gegen die Menge vor. Mehr als 60 Menschen wurden verletzt.

Allem Anschein nach musste die Polizei durch agents provocateurs bei der Eskalation selbst ein wenig nachhelfen. Ein Video (4) zeigt den Beginn der Auseinandersetzungen: Etwa zwanzig Vermummte mit schwarzen und roten Fahnen liefern sich ein provokatives Hin und Her mit den Polizisten und schlagen schließlich mit ihren Fahnenstangen in deren Richtung. Die Polizei knüppelt in die Menge und verhaftet anscheinend zwei Vermummte. Drei Minuten später tauchen die beiden wieder auf dem Video auf, wie sie zusammen mit den Polizisten einen Demonstranten zur Seite schleifen. Was tut man nicht alles, um die gewünschten Medienbilder zu produzieren…

Am Folgetag gab es eine Spontankund­gebung, bei der sich etwa 10.000 Menschen zusammenfanden, um gegen die Polizeigewalt und für die Freilassung der Verhafteten zu demonstrieren. Eben­falls am 26. September fand im Baskenland und in der Provinz Navarra ein eintägiger Generalstreik statt. Dieser wurde von den linksnationalistischen Gewerkschaften LAB und ELA zusammen mit der anarchosyndikalistischen CNT und der CGT und anderen Basisgewerk­schaften organisiert. In gut zwei Dritteln der Industrieunternehmen wurde die Produktion durch den Streik ganz oder teilweise lahmgelegt. Beim öffentlichen Dienst, der Verwaltung und im Transportgewerbe sah es ähnlich aus.

Aneingungen

Ob es den Basisbewegungen gelingt, der staatlich forcierten Verarmungspolitik etwas Wirksames entgegenzusetzen, bleibt abzuwarten. Neuen Schwung brachten in den letzten Monaten vor allem die Kämpfe der Bergarbeiter_innen in Asturien und anderen Regionen, die landesweit große Aufmerksamkeit und Sympathien auf sich zogen. Die Arbeiter_innen waren Ende Mai in den Streik getreten, um gegen die angekündigte Kürzung der Subventionen für den Bergbau zu protestieren.

Drei Schächte wurden 50 Tage lang besetzt gehalten. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, blockierten die Arbeiter_innen Autobahnen und Schienenwege und lieferten sich Scharmützel mit der anrückenden Guardia Civil, wobei sie Zwillen und Feuerwerkskörper einsetzten.

Am 18. Juni gab es in den Bergbaugebieten einen Generalstreik, der von weiten Teilen der Bevölkerung unterstützt wurde. Vier Tage später dann begann ein Protestmarsch von etwa 400 Bergarbeiter_innen nach Madrid. Am 10. Juli wurden sie dort von einer großen Menge empfangen. Eine Demonstration am nächsten Tag brachte zehntausende Menschen auf die Straße. Ende Juli wurde der Streik vorerst beendet, für den Herbst sind aber weitere Aktionen angekündigt.

Aber auch in anderen Regionen regt sich was: Am 4. März 2012 besetzten etwa 500 arbeitslose Landarbeiter_innen die Finca Somontes in Andalusien (Region Córdo­ba). Die Finca, ein ca. 300 Hektar umfassendes Areal, das vor der Besetzung lange Zeit ungenutzt brachlag, ist Eigentum der andalusischen Regionalregierung. Drei Wochen später wurde das Gelände durch Polizei und Guardia Civil geräumt, in der folgenden Nacht jedoch umgehend von neuem besetzt.

Am 24. Juli folgte die Besetzung von Las Turquillas, einem 1200 Hektar großen Landstück in der Nähe von Sevilla. Das Gelände gehört dem spanischen Militär. Auch hier, wie auch bei der Finca Somon­tes, sollen die okkupierten Flächen für genossenschaftlich betriebene Landwirtschaft nutzbar gemacht werden (5).

Alle diese Besetzungen wurden von der andalusischen Gewerkschaft SAT (6) getragen, die auch anderweitig auf sich aufmerksam machte: So führten Anfang August arbeitslose Feldarbeiter_innen und Gewerkschaftsaktivist_innen in zwei Supermärkten „Enteignungsaktionen“ durch. Im einen Fall scheiterte das Unterfangen zwar an der Polizei, welche die Eingänge des Supermarkts blockierte. Andernorts gelang es den Aktivist_innen, etwa 20 Einkaufswägen mit Lebensmitteln, Milch, Zucker, Nudeln und Reis, zu füllen und damit den Markt zu verlassen. Die Waren wurden später an Wohltätigkeitsorgani­sationen zur Verteilung übergeben. Die betroffenen Märkte gehörten zu den Großhandelsketten Mercadona bzw. Carrefour – diesen wird von der SAT vorgeworfen, sie würden durch billige Importgüter die heimische Landwirtschaft ruinieren.

Während die anarchosyndikalistische Gewerkschaft CNT sich offiziell mit der SAT solidarisch erklärt, gab es auch aus linken Kreisen vereinzelte Kritik an den Aktionen. In der Tat ist schwer zu entscheiden, wo hier die Selbstermächtigung aufhört und das mediale Spektakel anfängt. So waren die „Enteignungen“ per Pressemitteilung angekündigt, und ohnehin nur als symbolischer Appell an den Staat gedacht, wie ein SAT-Aktivist in einem Interview (7) erklärt: „Wir haben die Lebensmittel aus den Supermärkten geholt und unter den Erwerbslosen verteilt, um Druck auf die Regierung auszuüben. Sie muss sicherstellen, dass die Grundbedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung befriedigt werden.“ Letztlich sollen also nicht die Proleten und Proletinnen selber handeln, sondern die Regierung.

Vor allem entzündet sich die Kritik aber an der Person von Juan Manuel Sanchez Gordillo. Dieser sitzt als Mitglied der kleinen, trotzkistisch geprägten Partei Izquier­da Unida (Vereinigte Linke) im andalu­sischen Regionalparlament. Zudem ist er seit 33 Jahren Bürgermeister von Marina­leda, einer Ortschaft bei Sevilla. Bei den beiden Supermarkt-Enteignungen spielte er eine zentrale Rolle und leitete die Aktionen mit einem Megaphon. Dadurch hat Gordillo es mittlerweile zu landesweiter Berühmtheit gebracht, in den Medien wird er als „der spanische Robin Hood“ bzw. „der andalusische Revolutionär“ präsentiert.

Wobei auch Gordillo selbst sich nur zu gerne in die Pose des aufrechten Einzelkämpfers wirft: Mitte August besuchte er auf einem Fußmarsch quer durch Anda­lusien verschiedene Städte, um Gespräche mit den Bürgermeistern zu führen und seine Amtskollegen zum Boykott der Sparmaßnahmen aufzurufen (8).

Medientauglich ist so ein personalisierter Protest allemal – nur sollte mensch lieber nicht warten, bis ein Chef in Chefgesprächen die Sache richtet. Trotz allem Aktionismus und aller verbalen Radikalität, könnten sich Politiker_innen wie Gordillo und linke Gewerkschaften wie die SAT bald als Hemmschuh für eine wirkliche Bewegung erweisen. Trotz der wachsenden Unzufriedenheit mit den Verhältnissen wird es wohl noch eine Weile dauern, bis die Menschen in Spanien ihr Interesse ebenso nachdrücklich vertreten, wie es die Kapitalseite bereits tut.

justus

(1) EZB-Monatsbericht August 2012, S. 65-66. Zu finden unter www.bundesbank.de/Navigation/DE/Veroeffentlichungen/EZB_Monatsberichte/ezb_monatsberichte.html
(2) www.guardian.co.uk/business/2012/sep/04/eurozone-six-day-week-greece
(3) Die UGT (Unión General de Trabajadores – Allgemeine Arbeiterunion) wurde 1888 gegründet. Sie steht traditionell der Sozialistischen Partei nahe. Die CC.OO (Comisiones Obreras – Abeiterkommissionen), in den 1960er Jahren gegründet, war Anfangs eng mit der Kommunistischen Partei verbunden. Seit den 70er Jahren hat sie sich zur stärksten Gewerkschaft in Spanien entwickelt und organisiert heute gut eine Million Mitglieder.
(4) youtu.be/FYGnbG9QcCY – Unter youtu.be/zrO_t3vHovQ ist dieselbe Szene in Nahaufnahme zu finden.
(5) observers.france24.com/content/20120810-spain-andalusia-las-turquillas-farmers-fight-occupy-military-land-fight-begin-farm-collective
(6) Die SAT, im September 2007 gegründet, ist eine Nachfolgeorganisation der andalu­sischen Landarbeiter_innen-Gewerkschaft Sindicato de Obreros de Campo (SOC), welche 1977 nach dem Ende des Franco-Regimes entstand. Neben der Vertretung der Landar­beiter_innen ist sie in den letzten Jahren auch im Dienstleistungssektor aktiv geworden.
(7) jungle-world.com/artikel/2012/34/46112.html
(8) www.huffingtonpost.com/2012/08/15/juan-manuel-sanchez-gordillo-spanish-mayor-steals-food_n_1778253.html

Soziale Bewegung

Südafrika: Ende der Verhandlungen

Die Folgewirkungen des so genannten Marikana-Massakers haben das normale Verhandlungsverfahren hinweggefegt und die Schwäche der etablierten Gewerkschaften deutlich gemacht“ – so schreibt die Nachrichtenagentur Reuters. (1) Treffender kann man es kaum ausdrücken: Südafrika wird momentan von einer Welle der Arbeiterunruhe überrollt. Rund 100.000 Minen­arbeiter_innen sind derzeit im wilden Streik und bringen damit nicht nur die Weltmarktpreise, sondern auch das eta­blierte politische Machtgefüge ins Wanken.

Das Herrschaftspersonal bemüht sich entsprechend eifrig, die Lage wieder unter Kontrolle zu bekommen. Vertreter des Gewerkschaftsdachverbands COSATU (Congress of South African Trade Unions) fanden sich zu Krisensitzungen mit den großen Minenunternehmen zusammen. Der südafrikanische Präsident Jacob Zuma gab einigermaßen hilflose Statements ab, verurteilte die Ausschreitungen und Zerstörungen von Eigentum und rief die Arbeiter_innen auf, die Streiks zu beenden.

Diese Entwicklung war noch nicht abzusehen, als am 16. August 2012 schwer bewaffnete Polizeieinheiten anrückten, um das von Streikenden besetzte Gelände der Platinmine Marikana zu räumen. 34 Arbeiter_innen wurden bei dem Einsatz erschossen, weiter 78 verletzt. Ein Sprecher der Kommunistischen Partei Südafrikas (SACP), die seit 1994 zusammen mit dem ANC und dem COSATU die Regierung stellt, lobte hinterher das tapfere Vorgehen der Polizei.

Die National Union of Miners (NUM, Nationale Bergarbeiterunion) machte vor allem die linke Splittergewerk­schaft (AMCU) für die Eskalation verantwortlich – eine Interpretation, die von der nationalen und internationalen Presse weitgehend unhinterfragt übernommen wurde.

Die NUM hatte unter den Minen­arbeiter_innen lange Zeit ein unangefochtenes Monopol inne und müht sich nun verzweifelt, ihren schwindenden Einfluss zu bewahren. Als größte Gewerkschaft Südafrikas dominiert sie nicht nur den COSATU, sondern ist auch sonst eng mit dem Establishment verbunden: Viele frühere Funktionäre der NUM nehmen heute Führungspositionen beim ANC oder in der kommunistischen Partei ein. Und der ehemalige NUM-Vorsitzende Cyril Ram­phosa sitzt heute im Vorstand von Lonmin – des Unternehmens, das auch die Mine in Marikana betreibt.

Die AMCU (Association of Mineworkers’ and Construction Union) hatte sich 1998 von der NUM abgespalten und wird von dieser als unliebsame Konkurrenz betrachtet. Sie profitiert unbestreitbar von den derzeitigen Unruhen und der Schwäche der NUM. Allerdings ist auch die AMCU weit davon entfernt, die Streiks zu kontrollieren.

Zu diesem Schluss kommt der Industrieberater Gavin Hartford, der eine lesenswerte Analyse der Ereignisse verfasst hat (2). Darin betont er den autonomen Charakter der Kämpfe: „Trotz allem, was wir in der Presse lesen, gibt es keinen klaren Hinweis darauf, dass die AMCU oder irgendeine dritte Partei die Arbeitskämpfe geplant oder initiiert hätte. Tatsächlich ist es ein zentrales Merkmal dieser Kämpfe, dass sie von den Arbeitern für die Arbeiter, gegen den Rat ihrer Gewerkschaften und ohne jede gewerkschaftliche Unterstützung geführt werden.“

Als treibende Kraft unter den Minen­arbeiter_innen macht Hartford dagegen die Rock Drill Operators aus, also jene Arbeiter, die unter Tage die schweren Bohrhämmer bedienen. Diese, so Hartford, „machen den härtesten, gefährlichsten, kritischsten Teil der Produktion, die eigentliche Abbau-Arbeit; sie haben eine seit langem bestehende Wahrnehmung, im Vergleich zu ihren Kollegen unterbezahlt zu sein. In der Platinindustrie gibt es typischerweise keine Leistungszuschläge […] oder andere nennenswerte Zuschläge und somit kaum einen wirklichen finanziellen Anreiz, die Arbeit mit den Bohrhämmern zu übernehmen. […] Die Rock Drill Operators zeigen ein spezifisches demographisches Muster […] welches sie von ihren Kollegen abgrenzt: sie sind fast alle Arbeitsmigranten und praktisch analphabetisch; zu 80% sind es südafrikanische Wanderarbeiter vom Eastern Cape […] Sie haben eine lange Arbeitserfahrung von 25 bis 35 Jahren und sind meist zwischen 45 bis 55 Jahre alt.”

Die Unzufriedenheit der Rock Drill Operators über ihre vergleichsweise schlechte Bezahlung spielte bei den Kämpfen in Marikana eine zentrale Rolle – dort forderten die Arbeiter eine Verdreifachung ihres Lohns, der bei umgerechnet etwa 380 Euro lag. Und aus der gefährlichen und harten körperlichen Arbeit ergibt sich eine erhöhte Bereitschaft zu militantem, auch gewalttätigem Vorgehen. Dies zeigte sich bereits im Februar 2012 – damals kam es in der Platinmine von Impala Platinum zu einem wochenlangen Streik, der als Startpunkt der derzeitigen Entwicklung gelten kann. Anlass der Unruhen war eine plötzliche 18%ige Lohnerhöhung für die Vorarbeiter, mit der die Unternehmensleitung Abwerbungen durch andere Unternehmen vermeiden wollte. Das löste bei den Rock Drill Operators Unmut aus, welcher sich besonders gegen die NUM richtete. Die Gewerkschaft hatte bei Tarifverhand­lungen kurz zuvor Sonderzuschläge für die RDOs abgelehnt, außerdem waren die meisten Vorarbeiter NUM-Funktionäre – es lag also der Verdacht nahe, die Gewerkschaft wolle vor allem die eigene Klientel bedienen. Die Rock Drill Operators begannen einen Streik, dem sich bald der Großteil der Belegschaft anschloss. Es kam zu Angriffen auf NUM-Funktionäre, das Gewerkschaftsbüro auf dem Gelände konnte wochenlang nicht geöffnet werden. Nach dem Streik traten etwa 10.000 Arbeiter_innen aus der NUM aus und größtenteils der AMCU bei. Schon damals warf die NUM-Führung der AMCU vor, sie habe den Streik und die Übergriffe angezettelt. Die AMCU wies jedoch jede Verantwortung von sich (3).

Auch das Massaker von Marikana hat die Militanz der Arbeiter_innen nicht gebrochen. Ganz im Gegenteil weiteten sich die Kämpfe immer mehr aus. Nach monatelangen Unruhen erreichten die Arbei­ter_innen von Marikana im September eine Lohnerhöhung von 11 bis 22%. Gleichzeitig kam es nun auch bei anderen Unternehmen zu wilden Streiks – etwa bei Amplats, zunächst in vier Minen nahe der Stadt Rustenburg. Später breiteten sich die Unruhen auf drei weitere Minen aus. Amplats ist der größte Platinproduzent weltweit, die sieben bestreikten Minen liefern in Normalzeiten ein Viertel des weltweit geförderten Platins. Seit August sind die Platinpreise an den Börsen um 22% gestiegen.

Zugleich wurde die Militanz der Minen­arbeiter_innen und deren spektakuläre Erfolge zum Auslöser für weitere autonome Arbeiter_innenkämpfe. Die wilden Streiks haben sich mittlerweile nicht nur auf die Gold- und Diamanten- und Eisenerzminen ausgeweitet. Auch in einer Zulieferfabrik von Toyota gab es wochenlange Unruhen und Arbeitsniederlegungen, und Ende Oktober traten selbst die Angestellten der Kommunen in den Streik. Das trifft nicht nur die südafrikanische Wirtschaft hart (die Unruhen haben bislang Gewinnausfälle in Höhe von 6% des Bruttoinlandsprodukts verursacht). Es bringt auch die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse gehörig ins Wanken. Wo das hinführt, bleibt abzuwarten – in der jetzigen historischen Situation ist so gut wie alles möglich.

justus (24.10.12)

Soziale Bewegung

Flüchtlingslager Bernburg

Kakerlaken, Urin und vieles mehr…

In der von der AWO betriebenen Flüchtlingsunterkunft im Teichweg in Bernburg leben 177 Menschen auf engstem Raum. Am Rand der Stadt in einem Industriegebiet, mehr als 30 Gehminuten entfernt zur nächsten Einkaufsmöglichkeit, zum Sozialamt, einer Schule, Kindergarten oder auch eine/r Ärzt/in.

Aber noch unwürdiger sind die Zustände, unter denen die Menschen dort leben müssen: Es gibt keine Gemeinschaftsräume oder ein Spielzimmer für Familien mit Kindern. Fallrohre von Sanitäranlagen verlaufen teilweise durch Schlafräume. Für Männer und Frauen gibt es nur gemeinsam zu nutzende Sanitärräume und Duschen – ohne Vorhänge. Nach Angaben der Heimleitung beschäftigt die AWO zudem BewohnerInnen des Hauses für einen Stundenlohn von 1 Euro als Billig-Putzkräfte. Auch nach dem Einsatz eines Kammerjägers kriechen Unmengen Kakerlaken durch die Zimmer, unter den Kühlschränken und in jedem Kleiderspind herum.

Erst öffentliches Interesse und Medienberichte konnten den AWO-Ortsverband bewegen, die Zustände in der Unterkunft einzugestehen. Inzwischen gibt es zwar getrennte Duschräume für Frauen und Männer, allerdings ohne Duschvorhänge oder Sichtschutz. Die grundlegenden Missstände, besonders der massive Ungezieferbefall, sind unverändert. Besonders unerträglich ist das für Mütter, die fürchten müssen, dass ihren Säuglingen im Schlaf die Kakerlaken über den Körper laufen. Statt einer intensiven Beseitigung teilt die Heimleitung Kakerlakenfallen aus, die angesichts des Ausmaßes der Plage unwirksam sind. Zudem sollen die BewohnerInnen Kakerlakenspray in den Wohn- und Schlafräumen verwenden, dessen gesundheitliche Nebenwirkungen mindestens fragwürdig sind. Auch ein sogenannter Gemeinschaftsraum wurde der Presse vorgeführt, aber mittlerweile wieder verschlossen. Darüber hinaus wurden BewohnerInnen von der Heimleitung unter Druck gesetzt, weil sie sich über die Zustände beklagt hatten und zu Pressegesprächen bereit gewesen waren. Gleichzeitig behaupteten Betreiber und Verwaltung wiederholt, dass die Misere in Bernburg von den Flüchtlingen selbst verursacht wurde. Das lenkt von der Verantwortung der Heimbetreiber und des Landkreises ab, schürt aber Vorurteile und trägt zur Ausgrenzung der BewohnerInnen bei.

Es bleibt zu sagen: Es ist an der Zeit, aktiv zu werden und diese Zustände zu skandalisieren – damit die Sammelunterkünfte in Bernburg und anderswo bald der Vergangenheit angehören!

mona

Übrigens

Die anarchistische Bewegung in Japan: 1905 bis 1936

In den drei Jahrzehnten von 1905 bis 1936 hatten die anarchistischen Gedanken und Aktivitäten ihre Blütezeit in Japan. Trotz starker staatlicher Zensur und Repression verbreiteten sie sich seit 1905 so sehr, dass die „Landesweite Libertäre Föderation von Arbeitergewerkschaften“ (zenkoku rôdô kumiai jiyû rengôkai) eine Mitgliederzahl von bis zu 15.000 Personen aufweisen konnte. Schließlich wurde die anarchistische Bewegung in Japan jedoch durch innere Zerwürfnisse ebenso wie durch noch stärkere Unterdrückung durch den militaristischen Staat im Zweiten Weltkrieg nahezu dem Erdboden gleich gemacht.

In diesem Artikel will ich diese Entwicklung des Anarchismus in Japan möglichst prägnant aufzeigen. Angefangen bei der Entstehung der anarchistischen Bewegung aus der Spaltung der sozialistischen werde ich die Eckpfeiler des Anarchismus in Japan näher beleuchten: Die Ära der Volksunruhen, die geplante Ermordung des japanischen Kaisers und die sich daran anschließende „Winterzeit“ für die radikale Linke, die Reisunruhen mit Hunderttausenden von DemonstrantInnen, die jedoch weniger von anarchistischen oder anderen radikalen AktivistInnen, als vielmehr von der Bevölkerung Japans an sich getragen wurde, die Zusammenarbeit und der Bruch mit bolschewistischen Kommu­nistInnen, die Krise zwischen „reinen“ und syndikalistischen Anar­chistInnen und schließlich die fast endgültige Zerschlagung der Bewegung durch den Staat.

Anarchistischer Syndikalismus, anarchistischer Kommunismus und anarchistischer Terrorismus

Diese drei Strömungen des Anarchismus waren zu unterschiedlichen Zeitabschnitten der hier thematisierten drei Jahrzehnte vorherrschend in Japan. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung von Parlamentarismus und allgemeinem Wahlrecht als unzureichend für eine tatsächliche und radikale Veränderung der Gesellschaft. Als einzige Möglichkeit, wirklich etwas zu erreichen und zu verändern, betrachtete man die Direkte Aktion. (1)

Der anarchistische Syndikalismus hatte seine Blütezeit in den späten 1910er und frühen 1920er Jahren, vor allem unter dem Anarchisten Ôsugi Sakae. Er betonte die Notwendigkeit, die ArbeiterInnen in Gewerkschaften (Syndikaten) zu organisieren, die für ihn nicht nur das geeignete Mittel für ökonomische Aktionen waren, sondern auch ein Mikrokosmos, in dem die Lebensweise der idealen zukünftigen Gesellschaft schon jetzt verwirklicht werden könnte. Ökonomische Aktionen, wie z.B. Streiks, schätzte er vor allem, weil durch sie die ArbeiterInnen ihre eigene Stärke erkennen und weiterentwickeln könnten. (2)

Die Theorie der anarchistischen Kommu­nistInnen in Japan, die sich selbst „reine“ AnarchistInnen nannten, basierten vor allem auf den Schriften Kropotkins. Sie lehnten den syndikalistischen Ansatz ab, da er sich zu sehr auf die (noch) kleine Gruppe der ArbeiterInnen konzentriere. Wirklich revolutionäres Potential hatten für sie, wegen ihrer großen Anzahl und ihren kaum zumutbaren Lebensbedingungen, nur die BäuerInnen. Der Widerspruch zwischen Stadt und Land wurde als Hauptwiderspruch des Kapitalismus betrachtet. Für die Durchführung der Revolution sahen die „reinen“ Anar­chistIn­nen eine Kooperation von Bäu­erInnen und ArbeiterInnen in der Stadt zwar als unerlässlich an, doch für sie konnte die Revolution erst dann als erfolgreich beendet gelten, wenn das Leben in der Stadt zugunsten von bäuerlichen und klein-industriellen Kommunen aufgegeben worden war. (3)

Die zahlenmäßig kleinste Gruppe von anarchistischen TheoretikerInnen und AktivistInnen, aktiv vor allem in den Jahren 1909-11, waren diejenigen, die Anschläge gegen Staatsgebäude und auch Autoritätspersonen der herrschenden Verhältnisse favorisierten. Die bedeutendsten unter ihnen waren Kôtoku Shksui und Uchiyama Gudô. Uchiyama konzentrierte sich in seiner Theorie vor allem auf den japanischen Kaiser, dessen Göttlichkeit er anzweifelte. Kôtoku hingegen wollte die Revolution mit Gewaltakten einer kleinen Gruppe von 40-50 Revolutionären gegen staatliche Gebäude und Verant­wortungs­trägerInnen einleiten. Dies sollte die Bevölkerung dazu inspirieren, sich gegen die Missstände und die Unterdrückung zu erheben. (4)

Kôtoku Shûsui und der Beginn des Anarchismus

Als Startpunkt für die anarchistische Bewegung in Japan wird häufig das Jahr 1905 angegeben. In diesem Jahr schrieb Kôtoku Shûsui , Sozialist und Mitherausgeber der anti-militaristischen Zeitung Heimin Shimbun, aus dem Gefängnis an seinen amerikanischen Freund, den Anarchisten Albert Johnson:

Ich habe eine Menge dieser sogenannten „Kriminellen“ gesehen und studiert und kam zu der Überzeugung, dass nur die staatlichen Institutionen – Gericht, Gesetz, Gefängnis – verantwortlich sind für sie – Armut und Kriminalität … In der Tat, ich bin als marxistischer Sozialist [ins Gefängnis] gegangen und zurückgekehrt als ein radikaler Anarchist.“ (5)

Die anarchistische Bewegung in Japan entstand aus einer zweifachen Spaltung der selbst noch relativ jungen sozialistischen Bewegung. Als am 20. Mai 1901 die Sozialdemokratische Partei Japans (shakai minshutô) gegründet wurde, waren alle Mitglieder bis auf eines (Kôtoku Shûsui) christlich. Tatsächlich hatten christliche Ideen in der sozialistischen Bewegung in Japan einen so starken Einfluss, dass Kôtoku 1903 missbilligend schrieb:

In Japan wird Sozialismus lediglich als ein Produkt des Christentums angesehen, oder als sein Anhängsel. Die Men­schen gehen sogar so weit zu glauben, dass ‘sozialistisch’ gleichbedeutend mit ‘christlich’ ist.“ (6)

Die christlichen Ideen waren für die japanischen SozialistInnen vor allem wegen ihres „die Ländergrenzen überschreitenden Kosmopolitismus” und ihres „sämtliche irdische Autoritäten missachtenden Libertarismus“ (7) so attraktiv. Mit dem Beginn des Russisch-Japanischen Krieges 1904 brachen viele Sozialist_innen mit den Christentum, da sich die ChristInnen der allgemeinen nationalistischen Euphorie hingaben, wohingegen der größte Teil der SozialistInnen eine anti-militaristische, pazifistische Haltung einnahm. Ein Jahr später spaltete die sozialistische Bewegung über inhaltliche Fragen, wie z.B. die der freien Liebe, endgültig in eine christliche und eine nicht-christliche Strömung.

Die Anti-Kriegs-Haltung vieler Sozial­ist­Innen, wie sie unter anderem auch in der sozialistischen Zeitung Heimin Shimbun teilweise äußerst radikal ausgedrückt wurde, blieb von staatlicher Seite nicht ungestraft. Durch staatliche Repression im Namen der damals drakonischen Pressegesetze wurde die Zeitung dazu gezwungen, ihre Herausgabe einzustellen, und zwei ihrer Herausgeber, Sakai Toshihiko und Kôtoku Shûsui, verbüßten mehr­monatige Haftstrafen. Während dieser Haftzeit geschah es, dass Kôtoku Shûsui sich dem Anarchismus zuwandte.

Die zweite Spaltung der sozialistischen Bewegung war jene in die Lager der ParlamentaristInnen und der Direkten AktionistInnen. Sie wurde ausgelöst durch eine Rede, die Kôtoku am 28.6.1906 hielt.

Amerikanische Einflüsse und die Abkehr vom Parlamentarismus

Obwohl Kôtoku sich in seinem Brief von 1905 selber als Anarchist bezeichnet, wurde diese Einstellung nicht sofort in seinen Theorien deutlich.

Bis dahin dem japanischen Kaiser (tennô) trotz der eigenen sozialistischen Neigungen immer loyal, überdachte Kôtoku im Gefängnis diese Auffassung und gelangte zu der Erkenntnis, dass der tennô als Dreh- und Angelpunkt der japanischen Staatsideologie und -maschinerie ein grundlegender Stützpfeiler des Kapitalismus ist. Er entschied, nach Beendigung seiner Strafe einige Zeit in den USA zu verbringen, um seine Kritik am Kaiser frei äußern zu können. Bei seiner Ankunft in Kali­fornien im Dezember 1905 propagierte Kôtoku, trotz seiner vorherigen Selbsteinschätzung als Anarchist, noch immer den Parlamentarismus. Kritik an diesem Ansatz wurde ihm vor allem von Mrs. Fritz, einer aus Russland emigrierten Anarchistin, aufgezeigt. Sie war es auch, die ihn mit den Ideen des anarchistischen Terrorismus in Berührung brachte und ihn von der Notwendigkeit des politischen Mordes an Regie­rungs­mitgliedern zu überzeugen versuchte.

Weit wichtigere Einflüsse waren jedoch zunächst die des anarchistischen Kommunismus und des anarchistischen Syndikalismus. Mit letzteren kam Kôtoku vor allem durch die damals frisch gegründete Gewerkschaft Indus­trial Workers of the World (IWW) in Berührung.

Im Juni 1906 kehrte Kôtoku nach Japan zurück. Auf seiner Begrüßungsfeier am 28. Juni stellte er die Frage, was durch Parlamentarismus jemals erreicht worden sei und was dadurch überhaupt erreicht werden könne. Das beste und einzige Mittel seien, wie er in dieser Rede ausführte, nicht Parlamentarismus und allgemeines Wahlrecht, sondern Direkte Aktionen und der Generalstreik. (8)

Nach dieser Rede versammelte sich um Kôtoku eine Gruppe radikaler Sozial­istInnen, die den Parlamentarismus ablehnten und Direkte Aktionen befürworteten.

Ära der Volksunruhen

In der Zeit von 1905 bis 1918 kam es in Japan immer wieder zu Demonstrationen, Unruhen und Aufständen der Bevölkerung, weshalb diese Epoche auch als „Ära der Volksunruhen“ (minshu sôjôki) bezeichnet wird. Zwei davon will ich kurz erwähnen:

1906 wurden im von der Nachkriegsrezession geplagten Japan nicht nur zur Finanzierung der kriegerischen Auseinandersetzungen die Steuern erhöht, sondern auch eine Preiserhöhung für die Nutzung der Straßenbahnen in Tôkyô angekündigt. Daraufhin kam es im Hibiya-Park in Tôkyô zu mehreren von gemäßigten und radikalen SozialistInnen organisierten Demonstrationen mit mehr als tausend TeilnehmerInnen, in deren Verlauf es auch zu Beschädigungen und Zerstörungen von Regierungsgebäuden und Straßenbahnen kam. Zahlreiche DemonstrantInnen wurden verhaftet, doch die Preiserhöhung konnte zumindest für einige Zeit aufgeschoben werden. (9)

1907 mündete in den Kupferminen in Ashio, Präfektur Tochigi, ein sich seit Jahren hinziehender Konflikt in gewaltsamen Ausschreitungen. In den 1880ern durch Furukawa Ichibe vom Staat gekauft, gelangten mit der Ausdehnung der Förderung der Mine immer mehr Abfälle in den Watarase-Fluss, wodurch ganze Landstriche verschmutzt und Reisernten in großem Maßstab zerstört wurden. Bereits in den 1890ern wurde das Problem mehrfach dem Parlament vorgetragen, und im Jahr 1900 versuchten tausend Repräsent­antInnen der betroffenen Bäu­erInnen ihren Sorgen mit einem Protestmarsch nach Tôkyô Luft zu machen. Der Marsch wurde fast direkt nach dem Aufbruch von Polizei und Militär zerschlagen und das Problem blieb weiterhin unbeachtet… Bis zum Februar 1907, als in einem gewalttätigen Aufstand von mehr als 3000 Minen­arbeiterInnen und Bäu­erInnen die Mine mit Feuer und Sprengstoff fast vollständig zerstört wurde. Die Aufständischen lieferten sich Kämpfe mit Polizei und drei Infanterie-Kompanien, die zur Niederschlagung des Aufstandes geschickt wurden, bevor sie sich der Übermacht des Staates ergeben mussten. (10) Dieser Aufstand war „der erste Ausbruch von Gewalt in großem Maßstab in der Geschichte der japanischen Arbeiterbewegung“. (11)

Hochverratsaffäre, Winterzeit, Rice Riots

In den Jahren 1909/10 radikalisierte sichein Teil der anarchistischen Bewegung um Kôtoku Shûsui zusehends. Kôtoku selber versuchte zu dieser Zeit, eine Gruppe von 40 bis 50 bedingungslosen und hartgesottenen Radikalen zu rekrutieren, die durch Gewaltakte eine „Revolution des Terrors“ initiieren würden:

Das wesentliche Merkmal der Revolution des Terrors sollte eine Gruppe sein, dazu bestimmt Ausbrüche von Unruhen herbeizuführen, die den unterdrückten Arbeitern signalisieren sollten, dass etwas getan werden könne, um die Verteilung von Reichtum und Gütern zu ändern. […] Die Revolution würde aus Akten des Terrors und der Gewalt gegen Regierungen bestehen, einschließlich der Benutzung von Bomben gegen Personen mit Verantwortung, Anschläge auf die Überbleibsel der Macht, besonders die Polizei und die Gerichte, Freilassung von politischen Gefangenen und die Ausgabe von Nahrungsmitteln aus den Lagerhäusern der Reichen. Diese Akte würden das Volke dazu inspirieren, sich zu erheben und andere Akte der Missachtung zu begehen, wodurch die Machtverhältnisse, die die Regierungen aufrechterhalten hatten, beendet werden würden.“ (12)

Gleichzeitig versuchten zwei Gruppen unabhängig voneinander (obwohl es durchaus Kontakt zwischen beiden gab) Mitglieder der kaiserlichen Familie zu ermorden. Uchiyama Gudô, der die allgemein angenommene Göttlichkeit des tennô anzweifelte, war der Meinung, dass der Welt durch die Ermordung des Kaisers gezeigt werden müsse, dass „das Blut des Kaisers nicht anders war als das Blut, das in den Adern des durchschnittlichen Japaners floss.“ (13) Im Jahr 1910 plante er die Ermordung des Kronprinzen.

In Tôkyô plante derweil eine Gruppe, an der neben anderen die anarchistische Terroristin Kanno Sugako maßgeblich beteiligt war, auf Grundlage von Uchiyamas und Kôtokus Theorie die Ermordung des tennô selbst durch einen Bombenanschlag. Es ist nicht vollständig geklärt, inwieweit Kôtoku Shûsui an diesen Plänen beteiligt war. Es deutet jedoch alles darauf hin, dass er von der Herstellung der Bomben wusste und auch indirekt daran beteiligt war, indem er Kontakte zwischen einzelnen involvierten Personen herstellte. Weiterhin hatte er sich in Gesprächen mit den TerroristInnen zumindest theoretisch positiv über die Notwendigkeit der Ermordung des Kaisers geäußert, dies jedoch wohl nur sehr vage. Aus den endgültigen vorbereitenden Treffen, auf denen genau Pläne geschmiedet, Aufgaben verteilt und das Werfen von Bomben geübt wurde, hielt er sich jedoch wahrscheinlich raus.

Nichtsdestotrotz war Kôtoku, vor allem wegen seiner Bedeutung für die radikale linke Bewegung, das Hauptziel der polizeilichen Untersuchungen und letztendlich der Anklage, als sowohl die Anschlagspläne von Uchiyama und der Gruppe in Tôkyô, wie auch die Rekrutier­ungs­versuche Kôtokus aufgedeckt wurden. Was dann kam, war eines der bedeutendsten wie auch umstrittensten Gerichtsverfahren in der japanischen Geschichte: Zum ersten und einzigen Mal wurden Personen wegen eines Verstoßes gegen Artikel 73 (Verletzung oder Tötung des Kaisers und eines nahen Angehörigen, bzw. Planung desselben) angeklagt. 26 AnarchistInnen wurden vor Gericht gestellt, 24 von ihnen verurteilt, zwölf davon (darunter auch Kôtoku, Kanno und Uchiyama) zum Tode durch Erhängen. Umstritten ist das Verfahren vor allem deshalb, weil die Staatsanwaltschaft nur fünf der Angeklagten die ihnen zur Last gelegten Taten tatsächlich stichfest nachweisen konnte. Somit ist es ganz offensichtlich, dass die Anklage vor allem dazu diente, die anarchistische Bewegung im Kern zu treffen. (14) Die Rechnung ging auf: 1911 begann die sogenannte „Winterzeit“ für radikale Linke, die Bewegung war zersplittert und wenn über­haupt nur marginal und im Untergrund tätig.

1918 wurde die Winterzeit gewissermaßen von unten, vom Volke selbst, gesprengt. Ausgehend von einem kleinen Fischerdorf in Toyama rollte eine Aufstandswelle über ganz Japan hinweg, die von Juli bis September 1918 andauerte. In 42 der 47 Präfekturen Japans gingen Schätzungen zufolge zwischen 700.000 und 10 Millionen Menschen unterschiedlichsten Alters, Einkommens und Bildungsstandes auf die Straße, um ihrem Unmut Luft zu machen. Der Hauptgrund für diese Aufstände waren die täglich steigenden Reispreise, die Reisspekulation und das Horten des Grundnahrungsmittels durch einige Händler, die versuchten aus der Inflation größtmöglichen Gewinn zu schlagen.

Man kann diese „Rice Riots“ jedoch genauer in vier Kategorien unterteilen: die in den Fischerdörfern (15), in den Städten (16), auf dem Land (17) und in den Kohleminen (18). Dieser Einteilung entsprechend gab es weitere thematische Schwerpunkt der Aufstände. In den Städten protestierte man unter anderem auch gegen die geringen Löhne der Arbeit­erInnen bei einem allgemeinen Wachstum der japanischen Wirtschaft und für mehr politisches Mitspracherecht, besonders auch für die ArbeiterInnen. Auf dem Land forderte man die Senkung der Abgaben der PachtbäuerInnen an die Grund­besitz­erInnen und mehr Rechte für die BäuerIn­nen gegenüber den GrundbesitzerInnen. Die Aufstände in den Kohleminen waren schwerpunktmäßig Arbeitskämpfe, wobei die MinenarbeiterInnen vor allem höhere Löhne und bessere (und vor allem sicherere!) Arbeitsbedingungen forderten. Gleichzeitig kämpften sie für das Recht, über diese beiden Punkte mit den Arbeit­geberInnen verhandeln zu dürfen, denn Gewerkschaften, ArbeiterInnen­be­weg­ungen, Arbeitskämpfe und -ver­hand­lungen waren seit 1900 durch das Polizeigesetz zur Wahrung des öffentlichen Friedens (chian keisatsu hô) verboten. Die Formen des Aufstands reichten von gewaltfreien Sitzblockaden und friedlichen Märschen über den Boykott der Verfrachtung von Reis für den Export und die Aneignung von Reis zu Preisen, die als gerecht erachtet wurden, bis hin zu zum Teil heftigen und blutigen Straßen- und Barrikadenkämpfe mit Polizei und Militär, bei denen 30 Aufständische getötet, unzählige verletzt und verhaftet wurden. Im Anschluss an die Rice Riots wurden landesweit 8185 Menschen wegen unterschiedlichster Vergehen vor Gericht gestellt. Doch die Aufstände wurden nicht durch staatliche Repression zerschlagen, sondern durch Preissenkungen für Reis und Hilfsmaßnahmen der Regierung.

Es ist nicht vollständig geklärt, ob und inwieweit radikale oder anarchistische AktivistInnen an den Aufständen beteiligt waren, doch die Wahrscheinlichkeit ist gering, da die Polizei schon im Voraus alle als radikal oder potentiell gefährlich eingeschätzten Personen in Gewahrsam nahm oder unter Hausarrest stellte. (19)

Kooperation und Bruch mit den KommunistInnen

Als 1917 in Russland die Revolution ausbrach, reagierte man in Japan enthusiastisch und freudig erregt. Sie wurde als „außerordentlicher Ansporn für Anarchisten in allen Ländern“ (20) und als effektive vereinigte Front von ReformistInnen und SozialistInnen aller Couleur betrachtet. Zu dieser Zeit noch machte u.a. der anarchistische Syndikalist Ôsugi Sakae keine Unterscheidung zwischen der anarchistischen Strategie und der der bolschewistischen KommunistInnen. Erst 1921, nachdem Ôsugi die Berichte von Emma Goldman und Alexander Berkman über die weiteren Vorgänge in Russland und auch in der Ukraine gegen die Machnowschtschina (eine anarchistische BäuerInnen- und Partisanenbewegung in der Ukraine, benannt nach dem ukrainischen Anarchisten Nestor Machno) verfolgt hatte, kam er zu der Einsicht, dass die anarchistische und die bolschewistische Ideologie nicht miteinander vereinbar sind. Die Publikation der anarchistischen und bolschewistischen Zeitung rôdô undô (Arbeiterbewegung, gegründet: Januar 1921) wurde im Juni 1921 eingestellt und die von Bolsche­wistInnen und AnarchistInnen gegründete „Union der Arbeitergewerkschaften“ (rôdô kumiai dômeikai) löste sich auf. Ein erneuter Versuch der Kooperation zwischen BolschewistInnen und Anar­chist­Innen in Form der „Landesweiten Föderation der Arbeitergewerkschaften“ (zenko­ku rôdô kumiai sôrengô) scheiterte schon auf der Grün­dungs­versammlung an der Frage der Organi­sationsform: Föderalismus oder Zentralismus. Damit war auch die kurze Periode der Kooperation zwischen Bol­sche­wistInnen und Anarchist­Innen in Japan endgültig vorbei. (21)

Krise zwischen „reinen“ AnarchistInnen und anarchistischen SyndikalistInnen

Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg war in Japan die Strömung des „reinen“ Anarchismus vorherrschend, deren AnhängerInnen sich dem Ziel verschrieben hatten, den Anarchismus von dem als „unrein“ betrachteten Syndikalismus zu befreien. Die „reinen“ Anar­chistInnen kritisierten am Syndikalismus vor allem drei Dinge: Erstens sei im Syndikalismus notwendig der Abfall zum Reformismus enthalten. Laut dem „reinen“ Anarchisten Hatta Shûzô sei dies in einer fehlenden einheitlichen Theorie des Syndikalismus begründet. Dass er Momente des „Marxismus“ (da Hatta selbst nie marxistische Texte gelesen hat, meinte er hiermit das, was in Russland unter dem Slogan „Marxismus“ realisiert wurde) und des Anarchismus miteinander vereine, zwei für Hatta gegensätzliche Theorien, sei die Schwäche des Syndikalismus und mache ihn anfällig für den Abfall in den Reformismus. (22) Zweitens setze er durch die Konzentration der Gewerkschaften auf einzelne Industriezweige die Arbeitsteilung und Austauschbeziehungen fort, die wirtschaftliche Ungleichheiten und somit Hierarchien reproduzieren würden. Drittens wäre die „künstlich geschaffene Orga­nisationstheorie“ der Syndikal­istInnen unnötig, da der Mensch sich ganz natürlich zu einer freien Assoziation von Gruppen mit einem gemeinsamen Ziel zusammenfinden würde, wie dies auch unter Tieren und als „primitiv“ angesehenen Menschen der Fall wäre. (23) Vor allem die Ablehnung von Austauschbeziehungen wurde von einigen „reinen“ Anar­chist­Innen soweit radikalisiert, dass die Autarkie der Kommunen über die „Luxus“-Bedürfnisse der Menschen gestellt wurden. Dies bedeutet u.a. auch, dass eine Kommune, die ein bestimmtes Gut (selbst wenn es sich um ein Gut wie künstliches Licht handelt) nicht produzieren kann, Alternativen dafür suchen oder ganz darauf verzichten müsse. (24)

Organisatorisch stellte sich diese Krise vor allem durch den Rückzug der anarchistischen SyndikalistInnen aus den beiden anarchistischen Bündnissen in den Jahren 1927/28 dar: dem Anfang 1926 mit ca. 700 Mitgliedern gegründeten „Bündnis der Schwarzen Jugend“ (kokushoku seinen renmei), kurz: kokuren, und der 1926 von 400 Delegierten aus 25 Gewerkschaften gegründeten „Landesweiten Libertären Föderation von Arbeitergewerkschaften“ (zenkoku rôdô kumiai jiyû rengôkai), kurz: zenkoku jiren. Letztere hatte auf ihrem Höhepunkt eine vereinte Mitgliederzahl von 15.000.

Staatliche Repression und die Zerschlagung der anarchistischen Bewegung im Zweiten Weltkrieg

Dabei konnte der Zeitpunkt für Streitigkeiten innerhalb der anarchistischen Bewegung kaum ungünstiger gewählt worden sein. Mit dem Einfall der japanischen Armee in die Mandschurei 1931 begann nicht nur eine Zeit der Aggression nach außen, sondern auch eine steigende Repression gegen alle Dissidenten innerhalb des Landes.

Die anarchistische Bewegung versuchte mittels dreier Strategien, sich dieser Repression zum Trotz am Leben zu halten:

Im Jahr 1934 kam es zur Wiedervereinigung der zenkoku jiren mit der anarchistisch-syndikalistischen „Landesweiten Konferenz der Libertären Föderation der Arbeitergewerkschaften“ (zenkoku rôdô kumiai jiyû rengô kyôgikai) zu einer großen, dezentralen anarchistischen Organisation, die jedoch deutlich reformistische Züge aufwies. Nach der Machtergreifung der Nazis in Deutschland kooperierte man dann zunehmend auch wieder mit Bol­schewistInnen und Sozial­demo­kratInnen. Doch die Repression stieg auf ein Maß an, wo Versammlungen binnen Minuten aufgelöst wurden, was eine Arbeit der zenkoku jiren nahezu unmöglich machte. (25)

Zweitens gründete sich im Februar 1931 die deutlich anti-syndikalistische „Assoziation der Landjugend“ (nôson seinen sha), die sich v.a. auf ländliche Gegenden konzentrierte. Diese Gruppe radikalisierte das Prinzip der Dezentralisierung bis hin zu der Frage, ob überhaupt noch eine Art verbindende Organisation zwischen den einzelnen Grüppchen nötig sei. Im Februar 1932 löste sich die Gruppe auf, teils aus strategischen Gründen, zum Teil aber auch nachdem mehrere Mitglieder nach einer Reihe von Raubüberfallen in Tôkyô zur Beschaffung von finanziellen Mitteln für die Revolution verhaftet worden waren. Im Oktober 1934 wurden vor einem Militärmanöver, an dem der tennô teilnehmen sollte, vorsorglich noch weitere anarchistische AktivistInnen verhaftet, besonders auch ehemalige Mitglieder der nôson seinen sha. (26)

Am 30.1.1934 wurde, drittens, die streng geheim gehaltene „Anarchistisch Kommunistische Partei Japans“ (nihon museifu kyôsantô) gegründet, die nie mehr als ein Dutzend handverlesener Mitglieder hatte. Diese Gruppe sah die derzeitige Situation als so bedrohlich an, dass sie es für gerechtfertigt hielt, bolschewistische Methoden anzuwenden und absoluten Gehorsam von ihren Mitgliedern zu verlangen, der die Hinterfragung von getroffenen Entscheidungen verbat.

Die Existenz der Partei wurde jedoch 1935/36 aufgedeckt und etwa 400 als solche bekannten AnarchistInnen wurden verhaftet. 1936 wurden erneut 300 AnarchistInnen verhaftet und obwohl letztlich nur wenigen führenden Mitgliedern der Partei und der nôson seinen sha der Prozess gemacht wurde, saßen viele der Verhafteten für mehrere Monate in Untersuchungshaft. Gemeinsam mit den Medien wurde im ganzen Land eine anti-anarchistische Hysterie geschürt, die die Verbreitung von anarchistischen Gedanken unmöglich machte. 1936 löste sich auch die zenkoku jiren auf und die AnarchistInnen hatten kaum eine andere Möglichkeit, als sich ins Private zurückzuziehen und die Kriegsjahre abzuwarten. (27)

Ausblick: Anarchismus in Japan nach 1945

Nach dem Ende des Zweitens Weltkrieges musste die anarchistische Bewegung in Japan von Grund auf wiederaufgebaut werden. Dabei galt es, sowohl innere, als auch äußere Hindernisse zu überwinden. Vor allem der Konflikt zwischen anarchistischen SyndikalistInnen und „reinen“ AnarchistInnen war noch immer nicht überwunden. Im Jahr 1951 spaltete sich die 1946 gegründete „Japanische Anarchistische Föderation“ (nihon anakisuto renmei) aufgrund eben dieses Konflikts in den „Japanischen Anarchistischen Verein“ (nihon anakisuto kurabu) der „reinen“ AnarchistInnen, der bis 1980 existierte, und die neugegründete „Japanische Anarchistische Föderation“ der anarchistischen SyndikalistInnen, die 1968 aufgelöst und 1988 wiederbelebt wurde. Daneben gab es noch andere anarchistische Organisationen, keine von ihnen erreichte jedoch die Mitgliederstärke der Zeit vor dem Krieg.

Staatlich wurden Gewerkschaften und politische Linke zwar zuerst im Kampf gegen die politischen Rechten gefördert, doch spätestens mit Beginn des Kalten Krieges schlug diese Taktik ins Gegenteil um. Repräsentativ dafür ist die sogenannte „Red Purge“: Die Entfernung von politischen Linken aus öffentlichen Ämtern aufgrund einer politischen Strategie, die ursprünglich die ursprünglich gegen die Rechten gerichtet war, gegen 1950 jedoch ins Gegenteil gekehrt wurde. Gleichzeitig sorgten der langanhaltende wirtschaftliche Aufschwung Japans und ein bewusst propagiertes Konsum- und Mittel­stands­denkens für eine Ent­poli­tisierung eines Großteils der Bevölkerung. (28)

Dies bedeutet natürlich keineswegs, dass es keine anarchistischen Aktivitäten oder Organisationen gab oder gibt. Außerdem bietet die zunehmende Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse neuen Zündstoff für politische Ideen. Und besonders nach der Erdbeben- und Atomkatastrophe im März 2011 erlebt Japan einen Aufschwung der Protestkultur, der auch für politische Meinungsbildung nicht irrelevant sein dürfte.

Die weitere Entwicklung der anarchistischen und emanzipatorischen Bewegungen in Japan ist natürlich keineswegs isoliert, vielmehr betrifft sie alle, die sich für eine tiefgreifende Veränderung auf der gesamten Welt einsetzen.

kyon

(1) Vgl. Notehelfer, Fred G. (2010): Kôtoku Shûsui. Portrait of a Japanese Radical. Cambridge (Mass.); New York, Melbourne; Madrid; Cape Town; Singapore; São Paulo; Delhi; Dubai, Tokyo: Cambridge University Press, S.134
(2) Vgl. Stanley, Thomas A. (1982): Ôsugi Sakae. Anarchist in Taishô Japan. The Creativity of the Ego. Cambridge (Mass.); London: Harvard University Press, S.118
(3) Vgl. Crump, John (1993): Hatta Shûzô and Pure Anarchism in Interwar Japan. New York: St. Martin’s Press, S.63
(4) Vgl. Plotkin, Ira L. (1990): Anarchism In Japan. A Study of the Great Treason Affair. Lewiston; Queenston; Lampeter: The Edwin Mellen Press, S.29
(5) Nach: Notehelfer (2010), S.113. Alle Übersetzungen sind Übersetzungen der Autorin.
(6) Nach: Crump (1993), S.49
(7) Ôsugi Sakae, Jijôden: www.aozora.gr.jp/cards/000169/files/1273.html
(8) Vgl. Notehelfer (2010), S.134f
(9) Vgl. ebd. S.136f
(10) Vgl. ebd. S.65f, Crump (1993), S.141
(11) Notehelfer (2010), S.141
(12) Plotkin (1990), S.29
(13) Ebd. S.31
(14) Eine detaillierte Analyse des Falles (der auch alle hier verwendeten Informationen entnommen sind) liefert Ira L. Plotkin, Anarchism In Japan. A Study of the Great Treason Affair. Lewiston; Queenston; Lampeter: The Edwin Mellen Press, 1990.
(15) Vgl. Lewis, Michael (1990): Rioters and Citizens. Mass Protest in Imperial Japan. Berkeley; Los Angeles; Oxford: University of California Press, S.34-81
(16) Vgl. ebd. S.82-134
(17) Vgl. ebd. S.135-191
(18) Vgl. ebd. S.192-241
(19) Vgl. Lewis (1990); libcom.org/library/osugi-sakae-biography, libcom.org/library/1918-rice-riots-strikes-japan
(20) Ôsugi Sakae, Nihondasshutsuki: www.aozora.gr.jp/cards/000169/files/2582_20705.html
(21) Vgl. Crump (1993), S.39-42
(22) Vgl. Crump (1993), S.63
(23) Vgl. Crump (1993), S.101-103
(24) Vgl. ebd. S.143
(25) Vgl. ebd. S.159-171
(26) Vgl. ebd. S.172-180
(27) Vgl. ebd. S.181-185
(28) Vgl. www.spunk.org/texts/places/japan/sp001883/japchap3.html

Theorie & Praxis

Gekommen, um zu bleiben

Karl Meyerbeer, Pascal Späth (Hrsg.): „Topf & Söhne – Besetzung auf einem Täterort“, Verlag Graswurzelrevolution 2012

Mit dem Topf-Squat in Erfurt verbinde ich nicht viele, aber gute Erinnerungen. Ein Konzert mit anschließender Party, bei der trashiger Elektropop und eine rosa Federboa zum Einsatz kamen… Ein böllernder Kanonenofen im Veranstal­tungsraum, der den Kunststoff meiner Regenjacke noch auf 40-Zentimeter-Distanz zum Schmelzen brachte. Verdammt leckeres Essen. Zu zwölft im Hochbett pennen. Ein verkatertes Frühstück, flockende Sojamilch im Kaffee. Im Regal neben der Couch Aktenordner mit politischem Bildungsmaterial. Der Ausblick aus dem Fenster im ersten Stock zeigt trübes Wetter und Industrieruinen… Und dann 2009, kurz nach der Räumung des Hauses, eine recht verpeilte Soli-Aktion in Leipzig, die schon im Polizeikessel startete. Später versuchten wir, ein Häufchen von ca. zwanzig Leuten, weit abgeschlagen vom Hauptfeld der Demonstration, den Berufsverkehr am Connewitzer Kreuz zu stoppen…

In ähnlicher Weise erinnern sich offenbar viele Menschen. Acht Jahre lang, vom April 2001 bis April 2009, war das besetzte Haus auf dem ehemaligen Gelände der Firma Topf & Söhne ein wichtiger Anlaufpunkt für Erfurt und darüber hinaus. Ein Ort für Subkultur und Politik, für Diskussionen und Partys, ein Ort, der geschichtliche Bedeutung mit aktueller antifaschistischer Praxis vereinte. Und es gibt unzählige Menschen, deren Lebensläufe durch die Besetzung geprägt wurden, die sich in irgendeiner Weise mit dem besetzten Haus verbunden fühlten.

So sollte „Topf & Söhne – Besetzung auf einem Täterort“, kürzlich im Verlag Graswurzelrevolution erschienen, auch ursprünglich bloß eine Broschüre werden. Wegen der Vielzahl der Zuschriften wurde dann doch ein Buch daraus…

Die Zeit der Besetzung wird im ersten Teil des Bandes beleuchtet. Die Form der Texte ist vielfältig, Analytisches wechselt sich mit persönlichen Rückblicken und Interviews ab. So entsteht nach und nach ein Gesamtbild der verschiedenen Fraktionen und Individuen, die das Haus belebten: Polit-Aktivist_innen und Party-Macher­_innen, gelegentliche Gäste und dauerhaft Engagierte. Bauwagenpunks erteilen gute Ratschläge an die jüngere Generation („Nicht so viel Müll rumliegen lassen, sonst kommen Ratten“). Und ganz nebenbei wird so auch ein Stück Bewe­gungs­geschichte geschrieben, spiegeln sich in der Geschichte des Hauses die großen Debatten der letzten zehn Jahre wider. So geht es natürlich um Antisemitismus und Israelsolidarität, um Antifaschismus und Arbeitskritik, aber auch um szeneinternes Macker­tum und die Definitionsmacht bei sexuellen Übergriffen.

Der zweite Abschnitt des Buches befasst sich dann mit der Geschichte des Geländes und führt damit tief in die Abgründe der deutschen Vergangenheit.– die Firma Topf & Söhne produzierte während des 2. Weltkriegs Krematoriumsöfen für Ausch­witz. Nach einem kurzen Abriss der Unternehmensgeschichte werden die Biographien der am Ofenbau beteiligten Ingenieure behandelt. Dabei ist es erschreckend, wie indifferent diese dem Zweck ihres eigenen Handelns, der industriellen Vernichtung von Menschen, gegenüberstanden. Dabei waren die weit davon entfernt, bloße Befehlsempfänger zu sein, sondern bemühten sich vielmehr darum, immer effizientere Methoden der Leichenverbrennung zu entwickeln. Auch die Lage der bei Topf & Söhne beschäftigen Zwangsarbeiter_innen wird beleuchtet, die Entwicklung der Firma nach 1945, und schließlich das Bemühen der Besetzer_innen um eine angemessene Auseinandersetzung mit der Geschichte des Ortes – durch eigene Nachforschungen, Rundgänge, Vorträge und durch eine aktuelle antifaschistische und gesellschaftskritische Praxis.

Umso krasser erscheint es im Rückblick, dass das Gelände im April 2009 mit einem Großaufgebot schwer bewaffneter Polizei geräumt wurde – anschließend wurden mit dem ehemals besetzten Haus auch die meisten anderen Gebäude dem Erdboden gleich gemacht, um Raum für Gewerbeflächen, einen Supermarkt und einen Parkplatz zu schaffen. Die dramatischen Ereignisse der Räumung nehmen den dritten Teil des Buches ein. Auch hier wechselt die Form der Texte zwischen Interviews, Analysen und persönlichen Berichten. Wut, Hilflosigkeit und Enttäuschung scheinen ebenso durch wie der „kaputte Charme der letzten Tage“ (so eine Kapitelüberschrift). Und Bernd das Brot darf natürlich auch nicht fehlen…

Dabei wird noch einmal klar, was für eine riesige Lücke das Ende des Hauses hinterlassen hat. Dieses Buch ist ein würdiger, bewegender, vielschichtiger, komischer, chaotischer, wütender und natürlich auch etwas wehmütiger Nachruf auf ein Projekt, das in dieser Form sicher einzigartig war.

justus

Rezension

Waldbesetzungen von Räumung bedroht

Die Besetzungen von Wäldern und verlassenen Landstrichen, bspw. zur Verhinderung von Flughafen-, Straßen- oder Tagebau, werden zunehmend mehr zur Aktionsform konsequenter Aktivist_innen aus der ganzen Welt. Dabei geht es den meisten von ihnen sowohl um den konkreten lokalen Schutz der Natur, als auch um den aktiven Widerstand gegen allgemeine kapitalistische Ausbeutungsverhältnisse, durch die Menschen unterdrückt und Lebensräume von Pflanzen und Tieren zerstört werden. Um diese Art des Protestes per Kriminalisierung zu unterbinden, arbeiten wirtschaftliche Großkonzerne oftmals Hand in Hand mit politischen Eliten.

Diverse Besetzungen dieser Art gibt es kurzfristig oder langjährig in vielen Ländern Europas. Aktuell sind mindestens zwei akut räumungsbedroht: der Hambacher Forst in Deutschland und La Zad in Frankreich.

Hambacher Forst

Der Hambacher Forst, ein Waldstück in Nordrhein-Westfalen, nahe Köln, wird seit April 2012 von Aktivist_innen dauerhaft besetzt, um die Rodung durch den RWE-Konzern zu verhindern. RWE betreibt direkt nebenan den größten Braunkohletagebau Europas (8.500 Hektar). Um den Tagebau erweitern zu können, sollen die Waldbesetzer_innen samt ihrer in diesem Jahr gebauten Hütten und Baumhäuser mit Hilfe deutscher Polizist_innen geräumt werden. Seit Oktober besteht akute Räumungsgefahr, denn da endete die Brut- und Setzzeit, welche die Baumrodung natur­schutzrechtlich unterbindet. Die Aktivist_innen vor Ort sind vorbereitet, ein „Unräumbar-Festival“ Ende Oktober soll weitere Menschen mobilisieren. Der Aktionskonsens ist breit, die Besetzungsformen sind kreativ, die Besetzer_innen sind entschlossen. Was es jedoch am meisten braucht, sind weitere Aktivist_innen, die bereit sind den Protest mit ihrer Anwesenheit in dieser heißen Phase zu unterstützen. Weitere Infos: hambacherforst.blogsport.de

La Zad (Zone A Defendre)

Circa 2.000 Hektar Land nahe Notre Dame in der französischen Bretagne, mehrheitlich Weide- und Waldfläche, sollen einem neuen Flughafen weichen (siehe FA!#43). Pläne dazu bestehen schon seit 40 Jahren – konkrete Drohungen gegen die dort Wohnenden wurden vom Konzern Vinci mit Hilfe der französischen Regierung seit diesem Jahr wieder verstärkt. Seit 2009 wird der langjährige Protest der ansässigen Bauern durch zahlreiche linksalternative Besetzer_innen aus aller Welt unterstützt. Ihre Anzahl hat sich in den letzten zwei Jahren vervielfacht. Sie haben viele der verlassenen Häuser besetzt, neue Hütten und Baumhäuser gebaut, Gärten angelegt und allerlei selbstorganisierte Projekte und Protestformen vorangetrieben. Am 16. Oktober fanden die ersten Zwangsräumungen statt, Weitere werden in den nächsten Wochen erwartet. Die Aktivist_innen brauchen jede Unterstützung, um die Räumungen verhindern und die Plätze neu besetzen zu können. Infos zur aktuellen Lage und dem geplanten re-occupation-Aktionstag: zad.nadir.org

momo

Uebrigens

Friedenskrieger

Der EU wird am 10. Dezember für „die Förderung von Frieden und Versöhnung über sechs Jahrzehnte“ der Friedensnobelpreis verliehen.

Ein Nobelpreis also für eine Weltmacht im Aufbau, die sich eifrig bemüht, mit der EUFOR eine gemeinsame militärische Hand­lungs­fähig­keit herzustellen und führende Kraft im Rüstungsgüterexport zu sein, Battle Groups aufzustellen, Polizei im Inneren aufzurüsten und mit Hilfe der europäischen Frontex-Agentur Flüchtende in den angrenzenden Meeren ersaufen zu lassen. Ein Nobelpreis auch für die „Förderung von Demokratie und Integration“: Diese wird besonders im Finanzkrisenmanage­ment und der zunehmenden Machtzentrali­sierung deutlich – die vielen protestierenden Menschen in Griechenland und Spanien haben das einfach nur noch nicht verstanden. Die in Deutschland gleich gar nicht.

Mit anderen Worten würdigt das fünfköpfige norwegische Nobelpreiskomitee also eine neue Supermacht im Aufbau, die gekonnt ein friedfertiges Image von sich zu präsentieren weiß und bisher nur bei denen Repressionen ausübt, die wenig Lobby genießen. Was zukünftig wird, ist ja auch schlecht voraussehbar. Damit steht diese Entscheidung auch in der Tradition des Komitees: Schließlich sind Henry Kissinger und Barack Obama auch Friedensno­bel­preis­träger geworden. Mahatma Ghandi hat diesen Preis hingegen trotz mehrmaliger Nominierungen nie erhalten – wahrscheinlich war er einfach zu schlecht angezogen. Allerdings könnte sich das Komitee mal Gedanken über eine Namensänderung machen, mein Vorschlag zur Debatte: Friedensvorgaukel-Nobelpreis.

Wenn ich groß bin will ich auch einem Preiskomitee angehören und ich weiß auch schon wen ich ehren will: McDonalds – für sein globales Engagement gegen den Hunger in der Welt. Schließlich kann man auch im hintersten Zipfel des afrikanischen Kontinents eine McDoof Filiale erspähen.

momo

Kommentar

Wawa for Mayor

Der Leipziger Polizeichef Horst, oder kurz „Wawa“, wie er sich seit Bekanntgabe seiner OBM-Kandidatur nennen lässt, findet keine Ruhe. Kurz bevor er seinen strafversetzten Nachfolger Bernd Merbitz – brutaler Haudrauf, versierter Nebelkerzenwerfer und CDU-Amigo wie er selbst – einlernt, lässt Hotte noch mal den Knüppel aus dem Sack, um sich mit großem Knall in den Wahlkampf zu verabschieden.

Freitag Nachmittag lässt er mit mehreren Hun­dertschaften eine Hälfte der Stockart­straße, unsereins auch als Stö bekannt, über Stunden abriegeln. „Drogenlabor“ lau­tet der Schluss der „monatelangen Ermittlungen“. Woher die Polizei das weiß? „Ver­dächtige Kabel und Schächte“ auf dem Dach wurden „durch die Auswertung von Luft­bildern“ ausgemacht. Das euphorisch gefeierte Ergebnis der fünfstündigen Suchaktion: ein paar Kilo Gras und Hasch im Wert von etwa 60.000 Euro (die genaue Ki­lo­menge variiert ständig in den Stellungnahmen) sowie „mehrere Stich- und Schuss­waffen“. Die dann aber so gefährlich nicht sein konnten, schließlich sind sie inzwischen nicht mehr der Erwähnung wert.

Aber zwei 36-Jährige Schwerverbrecher sind dingfest gemacht, Leipzig atmet auf!. Für ein Wochenende ist Hotte der Held und Retter in der Not, die reflexhaften Krawalle in Connewitz werden als Schuldeingeständnis der „Linksautonomen“ eingestuft, ein paar Scherben vor der Plag­witzer Wache als „Molotowcocktails, die aber nicht zün­den wollten“ deklariert.

So weit, so schmierig, möchte mensch meinen, doch schon am Montag wendet sich das Blatt. Denn der MDR berichtet, dass einige Dutzend Kleinkinder in unmittelbarer Nachbarschaft zur Stö gelegenen Kita Bieder­mannstraße die Stürmung ihres Spielplatzes gar nicht so doll fanden. Erst dann geben auch die örtlichen Medien ihr anfängliches Jubelgeschrei auf. Die beiden Polizeichefs sehen sich zerknirscht gezwungen, aus eigener Tasche ein paar Plastikbälle zu kaufen und diese persönlich in der Kita zu übergeben. Dazu gibt´s noch eine kleine Spende, womöglich damit sich die Erzie­her_innen in Traumatherapie begeben können.

Tags darauf ist Hotte aber wieder ganz der Alte. In seiner neunten Komplexkontrolle stellt sich heraus, was wir schon immer ahnten: Leipzigs eigentliches Problem sind die vielen Radfahrer_innen. Hunderte Cops stehen sich einen halben Tag lang die Beine in den Bauch, genießen die frische Luft und stellen dabei Dutzende Delinquent_innen mit technischen Mängeln am Rad oder bei-Rot-über-die-Ampel-Fahrer_innen. Da kann wenigstens niemand sagen, die Polizei würde wegschauen, wenn das Gesetz missachtet wird.

Und falls doch, verteidigt sich Wawa eben mit Erinnerungslücken. Wie an seinem letzten Arbeitstag vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des sächsischen Landtags. Mehr als 20 Mal versagte ihm, der von 2000 bis 2004 Polizeichef in Chem­nitz war, das Gedächtnis. Über die Arbeit seines Mobilen Einsatzkommandos hatte er keine Kenntnis, auch die Videoüber­wachung der Chemnitzer Wohnung des Trios durch seine eigenen Leute war ihm unbekannt. Vermutlich hat der gute Gendarm einfach die vorab zugeschickten Fragen der Parlamen­tarier_innen nicht richtig verstanden, denn diese waren, so verteidigte er sich, „sehr umfangreich und schwer verständlich formuliert“. Wie können sie nur?! Der Horst ist eben einer aus dem Volk, der weiß schon, was die Bürger_innen wollen. Zum Beispiel einen debilen bayrischen Rentner als Leipziger OBM, der in Naumburg wohnt.

bonz

Lokales

Der Clara-Zetkin-Park

Ein kleines Stück Leipziger Kolonialgeschichte.

Wenn Leipziger den Namen Clara Zetkin hören, verbinden sie damit meistens zwei Dinge: ein kleines Stück historische Revolution und einen wunderschönen Park. Was die meisten nicht wissen ist, dass die imposanten Bäume nicht nur im Herbst schön aussehen und Schatten spenden, sondern wachsende Produkte einer dunkel-deutschen Kolonial-Geschichte sind. Tatsächlich wurde „unser Clara-Park“ für eine Garten-Ausstellung entworfen, dessen zentraler Teil eine großzügig angelegte Menschenschau war. Informationen darüber zu bekommen, ist noch immer nur über alternative Quellen (1) möglich. Beispielhaft dafür liest sich der Text zur Geschichte des Clara Zetkin-Park auf der Homepage der Stadt Leipzig:

Wer sich mit den genannten Parkanlagen etwas näher beschäftigt, begibt sich auf einen interessanten Streifzug durch die Leipziger Geschichte der Gartenkunst von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart.“ (2)

Die Frage, weshalb die Leipziger Geschichte der Gartenkunst für die Besucher_innen/Bürger_innen von Interesse sein sollte, aber nicht die Kolonialgeschichte, bleibt so unbeantwortet wie die Frage, weshalb der Bundestag das Thema deutsche Kolonien in seinen Diskursen gekonnt ignoriert. Grund genug weiter zu forschen und Informationen zu teilen.

Als Clara Zetkin (1857-1933) in Leipzig eine Ausbildung zur Volks­schullehrerin machte, knüpfte sie Kontakte mit der revolutionären, antimilitaristischen Arbeiter_innen- und Frauenbewegung. Sie gehörte bis 1917 der marxistischen Fraktion der SPD an, die sich später in den Spartakus-Bund (USPD) abspaltete. Wie August Bebel und Wilhelm Liebknecht übte Zetkin massive Kritik an der Deutschen Kolonialpolitik. Mit dieser Position machte sich die Frauenrechtlerin in der Mehr­heitsbevölkerung nicht beliebt. Das wurde spätestens durch die so genannten „Hottentottenwahlen“ 1907 deutlich. Dort verlor die SPD ein Drittel ihrer Reichstag-Sitze, weil sie sich nach dem Genozid an den Herero und Nama in „Deutsch-Südwest“ (heutiges Namibia) gegen die Gewährung weiterer Gelder für die Kolonialtruppen entschieden hatte.

10 Jahre zuvor eröffnete die Deutsch-Ostafrikanische Ausstellung im heutigen Clara-Zetkin-Park unter der Leitung von Leutnant Blümcke, der zuvor unter Gouverneur Hermann von Wissmann in der „Schutztruppe“ in Deutsch-Ostafrika diente. Sie war Teil der Sächsisch-Thüringischen Gewerbe-Ausstellung und eine von vielen Ausstellungen, die zu Beginn des Deutschen Kolonialismus auch das Fußvolk für die „Koloniale Idee“ begeistern sollte. Und das Fußvolk kam in Scharen. Denn die als Sensationen angepriesenen Kolonialausstellungen erfreuten sich zu einer Zeit, zu der es noch kein Fernsehen oder Billigflüge gab, großer Popularität.

Ziel der Ausstellung, zu der insgesamt rund 635.000 Gäste pilgerten, sollte es sein „…neben die hoch entwickelte moderne europäische Kultur die eigenartig gestaltete afrikanische, welche die ersten Stufen unseres Kulturlebens etwa erst zu erreichen bestrebt ist, zum Vergleich zu setzen.“ (3).

Auch Fabrikanten und Unternehmer sollten durch die Ausstellung angeregt und auf die neuen deutsch-kolonialen Absatzmärkte aufmerksam gemacht werden. Gesponsert wurde der massentauglich verbreitete Sozialdarwinismus von Leipziger Unternehmern, dem Stadtrat und dem Staat. Um sich mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie zu brüsten wurden keine Kosten und Mühen gescheut. So sollte das „Schutzgebiet“ möglichst originalgetreu nachgebaut werden. Dazu zählten zwei Kolonialstationen (Usungula und Mquapua), ein militärisches Expeditionslager, eine evangelische Missionsstation und die Haupthandels-Straße Barra-Rasta in Dar es Salaam, die in der Ausstellung als Souvenir- und Cafémeile diente.

In den Gebäuden selbst fanden die Besucher_innen unzählige ethnographische Gegenstände, landestypische Produkte und Bilder. Darunter auch

einige sehr interessante Stücke aus der Sammlung des Herrn Gouverneur v. Wissmann, von ihm (…) in den Gefechten gegen die Wawamba erbeutet.“ (4).

Um den Besuchern ein „wahrhaftiges“ Antlitz der „schützenswerten“ Zone zu verleihen, wurden auch Menschen aus Fleisch und Blut ausgestellt. Für dieses „authentische“ Erlebnis reiste der Beamte Karl Kaufmann am 27. Dezember 1896 mit Erlaubnis der Kolonial-Abteilung des Auswärtigen Amtes und des Gouverneurs DOAs nach Dar es Salaam. Sein Auftrag: Anwerbung von „Eingeborenen“. Vier Monate später erreichte Kaufmann mit 47 Bewohner_innen DOAs Leipzig. Bei der Auswahl der „Eingeborenen“ achtete Kaufmann darauf, dass sie vorher mög­lichst wenig Kontakt mit Europäern hatten. Schließlich ging es laut seinem Auftrag darum

„…Vertreter der innerafrikanischen Stämme zu gewinnen, da die Suaheli als etwas Bekanntes – wie viele Suaheli-Karawanen gab es in den letzten Jahrzehnten in Deutschland zu sehen! – niemals die Anziehungskraft ausüben konnten, wie Repräsentanten anderer Stämme.“ (5).

Das gesteigerte Interesse wurde durch Kannibalen-Gerüchte angeheizt. Die Ausstellungs-Zeitung verkündete am 12.April 1897:

…dass bei besonderen Festlichkeiten dort Menschen verspeist wurden, und dass auch drei Matrosen von Sr. Majestät Schiff ‚Leipzig‘, die sich im Jahre 1888 zur Zeit des Buschiri-Aufstandes vom Schiffe entfernten, von ihnen verspeist sein sollen. Herrn Kaufmann gaben die Leute auf sein Befragen die Erklärung ab, dass sie früher Menschen gegessen hätten, der drei Matrosen könnten sie sich aber nicht entsinnen…“.

Auf diese und ähnliche Weise konstruierte mensch die „Anderen“ entlang einer Differenz, die sich bis heute durch Dualismen auszeichnet: „Primitive“ vs. hochentwickelte Kulturen. „Naturkinder“, „Ungläubige“, „schwarze Teufelsanbeter“, die vor noch mehr Unheil geschützt werden müssen – durch eine als hochentwickelt geglaubte westliche Zivilisation. Ein „Schutz“, der heute auch gerne von so genannten Nicht-Regierungsorganisationen als Entwick­lungszusammenarbeit verkauft wird. Aber das nur am Rande.

Die in ihren nachgestellten Behausungen eingesperrten „Primitiven“ durften ihre „gut beheizten Räume“ nur einmal für einen Rundgang mit ihrem Fänger verlassen, wo dieser sie in Tänze, Kämpfe und traditionelles Handwerk einführte.

Trotz der „guten Beheizung“ und der medizinischen Betreuung starb ein junger Angehöriger der Wassukuma kurz nach der Eröffnung der Ausstellung an einer Lungenentzündung. Er wurde auf dem Leip­ziger Südfriedhof bestattet. Er war nicht das einzige Todesopfer. Viele der „Ausgestellten“ starben. Dokumente von ihnen gibt es nur sehr wenige. Eines davon stammt von Abraham. Er wurde in der „Eskimo-Völkerschau“ ausgestellt und starb wie alle anderen Ausgestellten dieser Schau an Pocken. In seinem Tagebuch vermerkte er:

…Donnerstag, 7 November. Hatten wir wieder betrübtes gehabt. Unser Gefährte, der led. Tobias wurde von unserem Herrn Jakobsen mit der Hundepeitsche gehauen…“ (6).

Herr Jakobsen und sein Bruder waren auch von Interesse für das Leipziger Völker­kundemuseum. Das kaufte nämlich 1885 deren ethnographische Sammlung aus Nordwestamerika. Wie die ausgestellten Gegenstände erworben wurden, wird dem Besucher_innen damals wie heute nicht verraten. Zum Völkerkundemuseum gäbe es noch viel zu sagen, doch dazu ein anderes Mal. Nur so viel: An der Fassade der Stadtbibliothek am Wilhelm-Leuschner-Platz, das damals als Völkerkundemuseum erbaut und genutzt wurde, prangt noch heute die Amazone aus der Armee der Dahomey (heutiges Benin), das zu jener Zeit gerade von Frankreich besiegt worden war.

Koloniale Spuren in Leipzig gibt es viele. Sie führen unter anderem zu akademischen Elite-Institutionen wie dem Institut für Ethnologie, dem Institut für Geographie, sie führen aber auch zu öffentlichen Orten wie dem Grassi-Museum, dem Ring-Messehaus, zum Krystallpalast-Varité, zur Nikolaikirche, zum Völkerschlacht-Denkmal, aber vor allem zum Leipziger Zoo, dem Ort, der früher Menschenschauen bewarb wie heute neue Tiergeburten. Im Leipziger Zoo werden die kolonialen Spuren zwar geleugnet, aber weiterhin „authentisch“ reproduziert:

Abendveranstaltung ‚Hakuna Matata‘ in der Kiwara-Lodge. Erleben Sie eine spannende Tour mit den Zoolotsen durch den abendlichen Zoo, ein spannendes Programm mit afrikanischen Tänzern und Trommlern und ein Buffet im exotischen Ambiente der Kiwara-Savanne. Tickets und weitere Infos im Safari-Büro.“

Clara Fall

(1) www.engagiertewissenschaft.de
(2) www.leipzig.de/de/buerger/freizeit/leipzig/parks/clara/allg/
(3) Ausstellungs-Zeitung vom 29.4.1897
(4) D.K. Blümcke 1897, S.23
(5) Ausstellungs-Zeitung vom 29.5.1897
(6) Tagebuch von Abraham, übersetzt von Bruder Kretschmer 7.11.1880 nach Thode-Arora 1989, S. 125
Wer sich stärker für das Thema interessiert, dem sei die Homepage www.leipzig-postkolonial.de empfohlen, auf der in Kürze Texte zu postkolonialen Orten in Leipzig erscheinen. Die Seite wird von der Arbeitsgruppe Postkolonial/Engagierte Wissenschaft e.V. betrieben, die regelmäßig auch „postkoloniale“ Stadtrundgänge in Leipzig anbieten.

Kasten:

Deutschland begann mit der Kolonisierung verstärkt „erst“ Ende des 19. Jahrhunderts. Die größte Kolonie war Deutsch-Südwestafrika, auf dem Gebiet des heutigen Namibia, das von 1884 bis 1915 kolonisiert wurde. Ab 1904 kämpften deutsche Truppen gegen die Herero, die erbitterten Widerstand leisteten. Später schlossen sich auch die Nama, die im Süden des Landes lebten und von den Deutschen „Hottentotten“ genannt wurden, dem Kampf gegen die deutsche Kolonialmacht an. Die meisten Historiker_innen bezeichnen den Krieg gegen die Herero und Nama als Genozid, da die Ziele nicht nur Sieg und Unterwerfung mit einschlossen, sondern vor allem Vertreibung und Vernichtung.

Schätzungen gehen davon aus, dass damals 50 bis 70 Prozent der bis zu 100.000 Herero und die Hälfte der damals rund 20.000 zählenden Nama, ums Leben kamen. Tausende von ihnen starben in Konzentrationslagern. Zu den verfolgten Völkern gehörten auch die Damara und San. Der Krieg wurde offiziell am 31. März 1907 für beendet erklärt. Erst 1908 wurden die letzten Konzentrationslager aufgelöst. Am 22.3.2012, einen Tag nach dem 22. namibischen Unabhängigkeitstag und dem internationalen UN-Tag gegen Rassismus, lehnte der Bundestag einen Antrag der Linksfraktion vom 29.2.2012 ab, in dem diese forderte, das Parlament möge den Krieg gegen die Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika als Völkermord anerkennen.

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