Archiv der Kategorie: Feierabend! #38

Die deutsche Presse und der Fall „Griechenland“

An Krisenereignissen der relativ neuen Art hat man in den letzten drei Jahren einiges mitbekommen. Da gibt es eine Krise bei Finanzprodukten, die angeblich die Banker selber nicht verstehen. Dann gibt es eine weltweite Bankenkrise. Darauf folgt eine Krise in der Automobilwirtschaft und sowieso eine gesamtwirtschaftliche Krise. Zwischendurch sind auch schon immer wieder Staaten kurz vor dem Staatsbankrott gewesen und mussten Hilfegesuche an den IWF stellen. In jüngster Zeit war zunächst ein Mitgliedsstaat der Euro-Zone in Bedrängnis geraten – Griechenland, aber mittlerweile sind es mehr geworden, u.a. Spanien. Gegen Griechenland ist in dieser Phase eine richtige Hetzkampagne in den deutschen Medien losgetreten worden. Ein Auszug davon, der berüchtigte Brief der BILD an den Ministerpräsidenten Griechenlands, soll hier stellvertretend kritisiert werden.

Dass die BILD ein Stück schlechter Journalismus ist, in diesem Urteil sind sich vor allem Menschen mit einem höheren Bildungshintergrund einig. Und sicherlich entstammen Aussagen, dass „wir“ Griechenland den Trainer Ihrer Fußball-Europameister „geschickt haben“, so dass „die“ Griechen uns mal so richtig dankbar sein sollten, dem nationalistischen Absurditätenkabinett. Warum sich also mit der BILD ernsthaft argumentativ auseinandersetzen? Nicht nur aufgrund der Auflage und des Einflusses der Zeitung halten wir das für wichtig. Sondern vor allem finden sich in dem Brief Vorstellungen über Staatsschuld, Korruption und Wirtschaftskraft, über Fleiß und Faulheit, über „Wir“ und „Die“, die sich anders formuliert auch jenseits des Boulevards im Spiegel oder der FAZ finden und zum Standardrepertoire des Bürgerverstands gehören. Wir meinen also, es lohnt sich, diese Vorstellungen einmal genauer zu betrachten und sie zu kritisieren. Zugleich soll damit der Weg etwas frei gemacht werden für die Fragen anlässlich der aktuellen Krise, die es erlauben, zu verstehen, was da passiert.

„Lieber Herr Ministerpräsident, wenn Sie diese Zeilen lesen, haben Sie ein Land betreten, das ganz anders ist als das Ihre. Sie sind in Deutschland. Hier arbeiten die Menschen, bis sie 67 Jahre alt sind. Ein 14. Monatsgehalt für Beamte gibt es schon lange nicht mehr.“

Griechenland hat ein Problem mit seiner Staatsverschuldung, Deutschland nicht. Die „Analyse“ der BILD zeichnet sich hier schon ab: In Griechenland lebten die Menschen besser und arbeiteten weniger. Der Staat gebe mehr aus und die Wirtschaft bekomme wegen der geringen Arbeitsleistungen weniger hin. Kein Wunder also, dass die Finanzmärkte zu dem Resultat gekommen sind, dass der Rückzahlung der griechischen Staatsverschuldung nicht zu trauen sei. Das gesetzliche Rentenalter in Deutschland hat die vergangene Regierung jüngst von 65 auf 67 Jahre angehoben. In Griechenland, so will es z.B. die Financial Times Deutschland weismachen, würde das Rentenalter bei 53 Jahren liegen. In anderen Artikeln steht, dass das durchschnittliche Rentenalter bei 61 Jahren liege. Das ganze Durcheinander kommt darüber zustande, dass laufend gesetzliche Bestimmungen zur Rente (z.B. wann darf jemand frühestens Rente bekommen und welches Alter muss jemand erreichen, um ohne Abzüge in Rente zu gehen) durcheinander gebracht werden, mit nicht zuletzt der Frage, in welchem Alter denn tatsächlich der Durchschnitt der Lohnarbeiter oder Staatsbeamte in Rente geht. Mit diesen Verwechslungen lässt sich natürlich eine erstaunliche Differenz konstruieren. Kaum jemand in Deutschland geht aber erst mit 67 Jahren in Rente. Auch vorher ist schon kaum jemand mit 65 Jahren in Rente gegangen. Selbst das Statistische Bundesamt Deutschland rechnet in seinen Prognosen mit dem bisherigen – sogar noch großzügig ausgelegten – tatsächlichen Renteneintrittsalter von 60 Jahren im Durchschnitt in der BRD. Wenn der Durchschnitt bei 60 Jahren liegt, dann ist auch klar, dass sich auch in Deutschland Leute finden, die bereits in den 50er Jahren in Rente gehen. Wenn die Bundesregierung also vor kurzem das gesetzliche Rentenalter von 65 Jahre auf 67 Jahre angehoben hat, dann ändert das an dem tatsächlichen Renteneintrittsalter nichts. Damit hat die Regierung nur die Abschläge von der Rente erhöht, die die Rentner hinnehmen müssen. Sie hat über diesen Umweg schlicht die Renten gekürzt. Durch diese Verarmung von Lohnarbeitern im Alter wurde natürlich eine Zwangslage geschaffen, derzufolge die Leute von sich aus länger arbeiten wollen. Aber auch in der Vergangenheit, z.B. im Zuge der Agenda 2010, hat ein so geschaffener Zwang nicht zu einem höheren tatsächlichen Renteneintrittsalter geführt. Das hat seinen Grund darin, dass die Lohnarbeiter es in der Regel gar nicht selber in der Hand haben, wie lange sie beschäftigt sind. Unternehmen tun einiges dafür, dass alte Menschen frühzeitig im Betrieb aufhören, weil sie öfter krank werden. Einen neuen Job finden ältere Menschen, die arbeitslos geworden sind, daher in der Regel sowieso nicht. Die Unternehmen sorgen ja auch dafür, dass die Anstrengungen bei der Arbeit laufend hoch bleiben und höher werden, so dass ältere Menschen den Job einfach gar nicht mehr aushalten können.

Kurzum: Der Rentenvergleich von der BILD ist konstruiert. Nicht zuletzt ist die ganze Argumentation vom Zynismus her kaum zu überbieten, wenn ausgerechnet mit der vorhandenen Armut in Deutschland gewuchert wird, um mehr Armut in Griechenland einzufordern. In dieser Hinsicht bleibt also die miese Frage: Schafft es Deutschland tatsächlich besser, die für kapitalistische Berechnungen nutzlosen und den Reichtum der Gesellschaft einfach auffressenden Rentner effizienter zu verarmen als Griechenland? Keine Frage, Deutschland hat schon immer eine Altersarmut besessen und in letzter Zeit wurde diese ordentlich ausgebaut. Aber das griechische Renten- und Lohnniveau sowie die Beamtengehälter liegen alle deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Auch ein 14. Monatsgehalt bei den Staatsdienern macht bei einem Durchschnittslohn im öffentlichen Dienst von 1.200 € und durchschnittlichen Lebenshaltungskosten, die nur leicht unter den deutschen liegen, das Leben nicht einfacher, wenn von diesem Gehalt aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit in der Regel noch mehrere Familienmitglieder unterhalten werden müssen (Der herkömmliche Lohn jenseits des Staatssektors beträgt dagegen je nach Branche und Region zwischen 700 und 1000 €). Das ist auch der Grund dafür, warum sich die meisten Griechen darum kümmern müssen, neben dem offiziellen Job hie und da noch was dazuzuverdienen, auch die Ärzte. Daher ist der folgende Hinweis der BILD zwar zur Hälfte vielleicht richtig, aber kein guter Beitrag zur Klärung der Verschuldungskrise:

„Hier muss niemand tausend Euro Schmiergeld zahlen, damit er rechtzeitig ein Bett im Krankenhaus kriegt.“

Die Sitte, bei jeder Geschäftsgelegenheit neben dem offiziellen Preis noch mal ein gesondertes „Dankeschön“ abdrücken zu müssen, ist wohl in Griechenland weiter verbreitet als in Deutschland. Der Grund dafür liegt ja gerade darin, dass auch 14 Monatsgehälter nicht mal zum schlichtesten Leben reichen und damit der flächendeckende Anreiz besteht, Zusatzverdienste einzustreichen. Korruptionsskandale gibt es in der BRD auch immer wieder. Wenn sie aufgedeckt werden, zeigt sich z.B., wie ein halbwegs gut bezahlter Politiker einen Millionenbetrag von einer Baufirma angenommen hat. Hier ist die Aussicht, von der Einkommens-Mittelklasse in die Oberklasse zu gelangen, der Grund für die Korruptionsbereitschaft des Politikers. Genau deswegen werden Staatsangestellte ein wenig besser gestellt als der Rest, um so besser, je mehr die Machtbefugnisse reichen. Der Staat will damit einigermaßen sicherstellen, dass die Staatsdiener auch das tun, was das Gesetz vorsieht und nicht ihre Machtbefugnisse für Privatmanöver aller Art ausnutzen. Wenn in einem Land wie Griechenland scheinbar ein Schmiergeld mehr die Regel ist, zeigt das doch nur, dass der Staat sich die Loyalität nicht im entsprechenden Umfang erkauft, weil er es sich selber nicht leistet. Das Verhältnis der Korruption wird von der BILD auf den Kopf gestellt: Sie sagt, dass die Korruption der Grund dafür sei, dass die griechische Wirtschaft nicht entsprechend flutscht. Die Wahrheit ist, dass sich die Korruption dort um so mehr breit macht, wo die Wirtschaft nicht so flutscht.

Noch ein kurzer Hinweis: Korruption als Ausdruck von nicht-gesetzlich vorgesehenen Einnahmen mag es in den deutschen Krankenhäusern noch nicht so umfangreich geben. Natürlich weiß aber heutzutage jeder Mensch, dass die normale Krankenversicherung eine ordentliche Behandlung nicht mehr gewährleistet. Eine private Krankenversicherung ersetzt hier für diejenigen, die es sich leisten können, das Schmiergeld.

„Deutschland hat zwar auch hohe Schulden – aber wir können sie auch begleichen.“

Dieser Satz soll die Staatsverschuldungskrise Griechenlands erklären und ja nicht einfach die Tatsache feststellen, dass Griechenland derzeit Probleme hat und Deutschland nicht. Deutschland hat einen absoluten Schuldenstand von ca. 1500 Mrd. Euro. Griechenland hat ca. 200 Mrd. Euro Schulden. Jährlich muss ein Teil dieser Schulden bezahlt werden. Weil es auch Staatsanleihen mit längeren Laufzeiten gibt, müssen also nicht jährlich alle Schulden zugleich zurückbezahlt werden. So musste z.B. im Jahr 2009 alleine der Bundeshaushalt der BRD ca. 250 Mrd. Euro nur für die bisherigen Schulden bezahlen. Griechenland hat derzeit Probleme, seine jährlich fälligen Schulden zu bezahlen. Die BILD tut hier aber so, als wenn Deutschland tatsächlich seine Schulden begleichen könnte, also auszahlen könnte. Das wird Deutschland aber niemals wirklich schaffen, denn um bei dem Vergleich mit dem Bundeshaushalt zu bleiben: Die gesamten Steuereinnahmen des Jahres 2009 für den Bund betrugen ca. 228 Mrd. Euro. Die Staatsschuld „funktioniert“ nur solange, wie die Staaten für die fälligen Altschulden neue Investoren finden, die ihnen das Geld leihen, damit sie die bisherigen Investoren auszahlen können. Im Bundeshaushalt wird dieser Haushaltsposten so bezeichnet: „Schuldentilgung am Kreditmarkt durch Kredite vom Kreditmarkt“. Dass dieses Verfahren für fast jedes Land der Welt so gilt, kann man leicht in den zugänglichen Statistiken im Netz nachschauen.

Das Problem, was Griechenland derzeit hat und Deutschland eben nicht, ist, dass sich nicht genügend Investoren finden, die neues Geld verleihen wollen, damit die alten Schulden bezahlt werden können. Von „Begleichen“ kann also keine Rede sein. Hier wäre ein richtiger Anfangspunkt der Frage gefunden, warum Griechenland Probleme hat: Warum misstrauen die Finanzmärkte ihrer langjährigen Praxis, die fälligen Altschulden von Griechenland durch neues verliehenes Geld fortzuführen? Das ist aber nicht die Frage der BILD, die sie dann so beantwortet:

„Weil wir morgens ziemlich früh aufstehen und den ganzen Tag arbeiten. Weil wir von unserem Gehalt immer auch einen Teil für schlechte Zeiten sparen. Weil wir fitte Firmen haben, deren Produkte rund um den Globus gefragt sind.“

Wie gesagt, könnte Deutschland mit seinen privaten Ersparnissen und den Gewinnen der Weltmeister-Unternehmen nie und nimmer seine Schulden zahlen. Von daher ist diese Antwort absurd. Nimmt man die Frage jetzt aber anders: Warum misstrauen die Finanzmärkte Griechenland und nicht Deutschland, dann könnte man sich denken, dass da was dran ist. Es stimmt, Deutschland als Exportweltmeister hat fitte Firmen, Griechenland kaum. Die BILD legt nahe, das liege daran, dass Menschen hier in Deutschland mehr und länger arbeiten, die Griechen dagegen einfach faul sind. In der Zusammenstellung der BILD ist wieder alles auf den Kopf gestellt: Erstens liegt es in der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt nicht im Willen der Menschen, zu arbeiten oder auch intensiv oder lange zu arbeiten. In Deutschland gibt es zig Millionen Arbeitslose, die von Hartz IV sehr schlecht leben. Dass diese sich sogar um die 1-Euro-Jobs reißen und der Staat sie dazu gar nicht sonderlich zwingen muss, zeigt, wie verzweifelt die Menschen sich nach jedem zusätzlichen Einkommen strecken wollen. Dieses Wollen der Lohnabhängigen beruht wiederum schlicht auf der hiesigen gesellschaftlich eingerichteten Alternativlosigkeit, den eigenen Lebensunterhalt durch nichts anderes als durch Lohnarbeit bestreiten zu müssen. Die Frage in kapitalistischen Gesellschaften ist für die übergroße Mehrheit der Menschen nie, ob sie arbeiten wollen oder nicht, sondern ob ihnen ein Unternehmen eine Beschäftigung anbietet. In dieser Hinsicht sieht es in Griechenland abgesehen von Tourismus, ein paar Werften und dem Staatssektor einfach mau aus, sie haben keine fitten Firmen. Sind Arbeitsplätze vorhanden, ist es in Griechenland wie in Deutschland dasselbe: Kein Lohnarbeiter handelt mit seinem Unternehmen aus, wie lange und wie intensiv er rangenommen wird. Das definieren die Unternehmen vorweg, bieten einen fertig eingerichteten Arbeitsplatz an und warten, wer da kommt. In der Regel haben sie dabei nie das Problem eines mangelnden Angebots an willigen Lohnarbeitern. Und ist der Vertrag erstmal unterschrieben, dann ist es wiederum das Management, das Überstunden fordert oder die Maschine schneller stellen kann. Hier am letzten Punkt ist die Absurdität der BILD perfekt: Als wenn bei VW und BMW in ihren Maschinenparks irgendetwas von der individuellen Leistung des Arbeiters abhängig gemacht würde. Die Unternehmen haben sich durch die Maschinen davon unabhängig gemacht und der Arbeiter muss sehen, wie er damit zurechtkommt. Lange und intensiv arbeiten wollen, schafft keine fitten Firmen. Fitte Firmen schaffen lange und intensive Arbeitstage.

Fitte Firmen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich gegen andere fitte Firmen in der Konkurrenz um die globale Nachfrage behaupten können und die nicht so fitten Firmen niederkonkurrieren. Die deutschen Exportweltmeister füllen ja auch die griechischen Warenhäuser, was als Tatsache nur ausdrückt, dass sich in Griechenland niemand gegen diese starken Konkurrenten durchsetzen konnte. Insofern ist Griechenland ein Verlierer des europäischen Binnenmarktes im Besonderen und der weltweiten Konkurrenz im Allgemeinen. Um heute eine fitte Firma zu gründen, braucht es Unsummen an Geld. Nicht weil die Löhne so hoch wären, sondern weil man vergleichsweise produktive Maschinenparks hinstellen muss. Daran entscheidet sich hauptsächlich, wer Gewinner ist und wer Verlierer. Als erstes braucht ein Land oder seine Unternehmen ordentliche Geldmassen, um eine Produktionsstätte aufzustellen, in der dann die Lohnarbeiter hart, lange und intensiv arbeiten dürfen. Erst mit dieser entscheidenden Bedingung – viel Geld für eine moderne Produktionsstätte – kommt es dann im zweiten Schritt darauf an, diese durch viel und intensive Arbeit zu betreiben, damit der Erfolg in der Konkurrenz gesichert wird. Nicht die Arbeitsleistung ist die entscheidende Waffe in der kapitalistischen Konkurrenz, sondern die Geld- bzw. Kapitalmassen. Wenn die gegeben sind, kommt die nötige Arbeitsleistung fast von alleine.

Diese Kapitalmassen gab es in Griechenland bis zum Eintritt in die Europäische Gemeinschaft 1981 gar nicht. Griechenland hat sich durch den Beitritt versprochen, dass es darüber zu einigen Kapitalmassen kommt. Ein paar Investoren sind ja auch hingegangen, ein paar Transferleistungen hat Griechenland auch bekommen. Ein wenig hat sich was entwickelt. Dies und der Beschluss 1992, in der Euro-Zone mitzumachen, hat Griechenland dann erst das Vertrauen der Investoren und damit den Kredit verschafft, der sich bis heute angesammelt hat. Die Hauptsummen wurden nämlich in den 90er Jahren aufgenommen, um eine Entwicklung in Griechenland zu fördern. Die hat sich nicht eingestellt und das ist recht einfach zu erklären: Wenn Griechenland seine nationale Wirtschaft mit Staatskredit in Höhe von 200 Mrd. Euro aufzupäppeln versucht, muss man sich nicht wundern, dass der Exportweltmeister Deutschland mit seinem Staatskredit von 1500 Mrd. Euro, seine Wirtschaft noch besser aufpäppelt und die Konkurrenz der Standorte dann sachgerecht Verlierer und Gewinner schafft.

Damit ist die Griechenland-Krise aber noch nicht erklärt. Die Hauptschuldenlast wurde in den 90er Jahren angesammelt, nicht erst im letzten Jahr. Griechenland versuchte, mit diesen Krediten die Grundlagen dafür zu schaffen, dass eine kapitalistische Entwicklung entstehe. Das hat nicht geklappt. Der Staat ist der Hauptarbeitgeber geblieben, nicht die Privatwirtschaft. Warum sind die Investoren dann ausgerechnet jetzt erst so verunsichert ob der Güte der griechischen Staatsschuld? Dass Griechenland die Kriterien der EU nicht eingehalten hat und bei den alljährlichen Reports sogar etwas geschummelt hat, also buchhalterisch kreativ geworden ist, ist ebenfalls lange Jahre bekannt. Weiter war Griechenland ja scheinbar erst der Anfang und weitere Euro-Staaten geraten unter Druck. Könnte es daher nicht sein, dass nicht der Euro das Opfer von Griechenlands Staatsverschuldung ist, sondern umgekehrt Griechenland das Opfer des Euros? Da wäre dann zu klären, warum die EU-Staatschefs eine solche Härte gegen Griechenland bzw. gegen die dortige Sozialpolitik einfordern. Die Phantasie der deutschen Presse in Sachen Grausamkeiten für die griechisches Masse an Lohnabhängigen unterscheidet sich dabei nicht von der der Politiker. Letztere haben nur einen ganz anderen Grund – die Rettung ihrer Euro-Konstruktion.

Als Fazit der BILD – aber auch der allgemeinen deutschen Pressehetze – kann man festhalten: Sie stellt das Verhältnis von dem, was der Staat und die Wirtschaft den Arbeitenden abverlangt und was Letztere deswegen wollen müssen, auf den Kopf. Sie stellt das Verhältnis von erfolgreich Reichtum vermehren und Schulden machen auf den Kopf. Sie tut so, als wenn die ganze Sache eine individuelle Fehlleistung des griechischen Staates ist, der seine Bürger nicht genug drangsaliert hat. Sie agitiert ihre Leser für eine unerbittliche Härte gegen die griechischen Lohnabhängigen. Dabei wuchert sie mit der Armut, die die BRD und deren Unternehmen hier in Deutschland hergestellt haben. Sie spekuliert darauf, dass die Leserschaft stolz auf ihre Armut ist, weil sie dabei arm, aber insgesamt erfolgreich sei. Das geht nur, weil sie sowohl im Falle Griechenlands als auch im Falle BRD immer von einem „Wir“ bzw. „Die“ redet. Dabei ist es erst einmal der Staat, der Schulden hat und nicht die Lohnabhängigen. Dabei ist es der Staat, der beschließt, wie stark er bei den Steuern zulangt oder nicht – und nicht die Steuerzahler. Dabei sind es die Unternehmen, die erfolgreich wachsen in der globalen Konkurrenz, während die Lohnarbeiter ständig einzusehen haben, dass ihr Lohn zu hoch ist – in der BRD wie in Griechenland.

(Junge Linke – Gegen Kapital und Nation)

EXKURS: Emissionshandel – Tauschbörse für Verschmutzung

Mit dem Emissionshandel soll die Erfüllung der Reduktionsverpflichtungen für die Industrieländer kostengünstig gestaltet werden. Unternehmen bestimmter Industriezweige bekommen dabei einen bestimmten Anteil an den national festgelegten Emissionsberechtigungen zugeteilt. Stoßen sie mehr CO2 aus, müssen sie zusätzlich Zertifikate kaufen, Unternehmen mit geringerem CO2-Ausstoß können diese dagegen verkaufen. So entsteht ein Handel mit den staatlich zugeteilten Verschmutzungsrechten. Durch die beim Kauf der Zertifikate entstehenden Kosten (so die Logik) werden die Unternehmen zu Klimaschutzmaßnahmen angeregt.

Doch bei genauerem Hinsehen erweisen sich viele Aspekte daran als suspekt oder gar fatal. So wurde bei der Umsetzung des Emissionshandels die Obergrenze für den CO2-Ausstoß und die Menge der Zertifikate zu hoch angesetzt. Das Überangebot führte zum Preissturz, und so wurde de facto nicht weniger CO2 produziert. Denn mit einem niedrigen Preis für eine Tonne CO2 gab es kaum Anreiz zum Klimaschutz, und selbst ein erhöhter Verbrauch fossiler Brennstoffe konnte durch günstige Zertifikate abgedeckt werden. Die Energiekonzerne konnten im Zuge der kostenlosen Zuteilung die theoretisch entstehenden Kosten auf die VerbraucherInnen abwälzen und satte Gewinne machen. Zudem wurden z.B. der Schiffsverkehr und die Forst- und Landwirtschaft, die einen Großteil der Emissionen verursachen, ganz vom Handel mit CO2 ausgenommen.

Durch den Emissionshandel wird ein Markt geschaffen, der auf wundersame Weise für Umwelt-, in diesem Falle Klimaschutz sorgen soll. Der Markt funktioniert aber nicht nach ökologischen, sozialen oder politischen Kriterien, sondern wird durch den Preis reguliert. Und der ist flexibel – das Klima jedoch nicht. Durch den Handel mit Zertifikaten wird das CO2, ein bisher wertloses Abfallprodukt der Industrie, zur Ware gemacht. Das verursacht weitere Probleme, denn jede Ware kann Spielball von Spekulationen werden, und der Markt schließt sozial Schwächere aus. Emissionshandel kommt einer Privatisierung der Atmosphäre gleich: Wer Zertifikate besitzt, hat das Recht, die Atmosphäre als Müllkippe zu benutzen. Der Klimawandel wird als kalkulierbares Faktum behandelt. Und indem lediglich der hohe Ausstoß von CO2, die Output-Seite, als Problem behandelt wird, werden die Ursachen des menschengemachten Klimawandels ignoriert, die in der kapitalistischen Produktionsweise, dem Zwang zur Akkumulation und immerwährendem Wachstum liegen.

Präventiverfassung von politischen AktivistInnen – Ein deutscher Exportschlager

Seit den Gipfelprotesten von 2001 in Genua und Göteborg sind Polizei und Strafverfolgung auf der Hut vor „schwerbewaffneten Gipfelgegnern“. Über etliche bilaterale Zusammenarbeit wurden und werden Informationen auf europäischer Ebene ausgetauscht, ausgewertet und gespeichert. Diesen EU-Flickenteppich will das „Stockholmer Programm“ in den nächsten Jahren zusammenfügen – und Deutschland will sich seine Vorreiterrolle in Sachen Überwachung von AktivistInnen dabei nicht streitig machen lassen.

Vor dem EU-Innenministertreffen Ende April 2010 hat die EU-Kommission einen umfangreichen Vorschlag zur Ausgestaltung des „Stockholmer Programms“ vorlegt. Dieser Vorschlag zielt in den nächsten fünf Jahren auf eine weitreichende Reform verschiedener Bereiche ab, angefangen beim VerbraucherInnenschutz über die gegenseitige Anerkennung rechtsverbindlicher Dokumente bis hin zur stärkeren Zusammenarbeit von Polizei und Strafverfolgungsbehörden zur Bewältigung „gestiegener grenzüberschreitender Herausforderungen“.

Dabei wird von der Kommission ein generalisiertes System zum Datenaustausch zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten angestrebt, welches als grundlegende Priorität „Anti-Terror-Maßnahmen“ besitzen soll. Begleitend soll dazu der Datenaustausch der bereits bestehenden Agenturen Europol, Eurojust und Frontex verstärkt werden. Zwar stockt die technische Umsetzung bestimmter Informationssysteme für den angestrebten Datenaustausch, so steht das Großprojekt SIS II (Schengener Informationssystem) mehr oder weniger kurz vor dem Scheitern, allerdings werden Alternativprojekte weiterhin parallel verfolgt.

Im Kontext der gesammelten Erfahrungen der meist bilateralen Zusammenarbeit bei Großereignissen wie Fußballwelt- und Europameisterschaften sowie internationalen Politik- oder Wirtschaftsgipfeln, fordert Deutschland dabei die Einrichtung einer europäischen Datei für GipfeldemonstrantInnen. Damit will es seine bisher nur auf nationaler Ebene gepflegte Datei „IgaSt“ (International agierende gewaltbereite Störer) auf die europäische Bühne hieven – neben Deutschland führt bisher nur Dänemark eine vergleichbare Datei von politischen AktivistInnen.

Die Inhalte der „IgaSt“-Datei werden dabei auf äußerst willkürliche Weise gesammelt. Um als potentiell gewaltbereiteR StörerIn an der Ausreise gehindert zu werden, können schon die häufige Teilnahme an Gipfelprotesten, das Besuchen von Info-Veranstaltungen oder intensive politische Betätigung in den entsprechenden Kreisen genügen – lieber zu viel als zu wenig Daten ist, wie auch bei anderen Sammeldateien [z.B. der „LiMo“ (linksmotivierte Gewalt) oder der „Gewalttäter Sport“], die Devise. Eine Löschung aus diesen Dateien ist meist nur sehr schwer zu bewerkstelligen, meistens wissen die Betroffenen nichts über ihre Erfassung.

Bei entsprechenden Großereignissen werden die gespeicherten Informationen dann im Zusammenspiel etwa mit dem Aussetzen des Schengener Abkommens (und damit dem zeitweiligen Wiedereinführen von Grenzkontrollen) genutzt, um politische AktivistInnen an der Ausreise in Richtung Gipfel zu hindern. Desweiteren gehören Meldeauflagen und sogenannte Gefährderansprachen im Vorfeld zum repressiven Repertoire von Polizei und Justiz.

Ein Hoffnungsschimmer bezüglich der Datensammelwut stellten im Verlauf des Jahres 2009 Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg sowie des Verwaltungsgerichts Karlsruhe dar, die eine Speicherung von persönlichen Daten in der bundesweiten Datei „Gewalttäter Sport“ als rechtswidrig angesehen haben. Da viele andere Dateien nach dem gleichen Muster gestrickt sind, bestand die Hoffnung, dass auch diese auf den Prüfstand kommen. Im Vorfeld der Fußball-WM 2010 in Südafrika sowie des heimischen „Public Viewings“ drückte das Bundesinnenministerium jedoch am 04.06.2010 per Eilverfahren einen Entwurf durch den Bundesrat, welches Sammeldateien wie „Gewalttäter Sport“ oder „IgaSt“ auf eine rechtliche Grundlage stellten. Laut des verabschiedeten Entwurfs können somit eine ganze Palette von personenbezogenen Daten, angefangen von Namen und Geburtsort bis hin zu Stimm- und Sprachmerkmalen, in Dateien gespeichert und von Polizeistellen abgerufen werden. Den Schritt zur verstärkten Repression auf europäischem Level stellen die ebenfalls durch den Entwurf des Bundesinnenministeriums abgedeckten Anpassungen bezüglich des SIS II-Projekts dar – die aufgebaute Vorreiterrolle will man sich schließlich nicht streitig machen lassen.

Eure Rote Hilfe
OG Leipzig

weitere Texte und Infos:
Antwort zur Anfrage der Linksfraktion im Bundestag zu vom BKA geführten Dateien: dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/135/1613563.pdf

Entwurf des BI zur neuen Rechtsgrundlage:
www.bundesrat.de/cln_161/SharedDocs/Drucksachen/2010/0301-400/329-10,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/329-10.pdf

Strategien gegen Architektur

„Architektur ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“, das wusste schon der General von Clausewitz. Ob in Marmor gemeißelt oder in Beton gegossen – wer wissen will, wie es um den Geisteszustand einer Gesellschaft bestellt ist, der muss sich nur ihre Bauten anschauen. Und gleich wieder wegschauen. Denn was dort von geschmacksverwirrten Architekten für Brocken in die Landschaft gekotzt werden, darauf lässt sich nur mit spontaner Abscheu reagieren. Und anschließend steht das Zeug noch für Jahrzehnte klobig und hässlich im Weg rum, macht depressiv, verursacht Pickel und nervt einfach nur.

Aber das muss nicht sein! Wir, eine Gruppe von kritisch denkenden Leuten, Architekt_innen, ausgebildeten Sprengmeister_innen und autonomen Planierraupenjockeys, haben uns in der AG Architekturkritik organisiert, weil wir nicht länger wegschauen wollen. Wir wollen nicht länger schweigend die baulichen Missetaten hinnehmen, die das Regime der bis zur Altersdemenz fortgeschrittenen Marktwirtschaft zu verantworten hat. Wir sagen: Es ist Zeit, die Herrschaft des Menschen über die Materie endlich den entscheidenden Schritt voranzubringen!

Von den flächendeckenden Mondlandschaften aus verchromten und verglasten Multifunktions-Würfeln, in die sich unsere Innenstädte mittlerweile verwandelt haben, wollen wir dabei gar nicht reden – unsere menschlichen und materiellen Ressourcen sind leider begrenzt. Dementsprechend wollen wir vor allem auf lokaler Ebene wirken und uns auf ausgewählte Zielobjekte von besonderer symbolischer Bedeutung konzentrieren.

Denn auch hier in Leipzig gibt es schon genug Problemfelder zu beackern – etwa das kurz vor der Vollendung stehende Paulinum. Diesem Bauwerk sieht man nur zu deutlich an, dass die beteiligten Interessengruppen sich von Anfang an nicht einigen konnten, was dort eigentlich gebaut werden sollte. Sollte man es den Dresdner_innen und ihrer Frauenkirche gleichtun und einen faden Abklatsch der 1968 gesprengten Universitätskirche hinzimmern? Oder doch eher die neue Aula der Uni? Das langwierige Gezeter und Gezerre endete 2008 in einem verbalen Amoklauf von Pfarrer Christian Wolff, der in einer simplen Plexiglaswand den Leibhaftigen persönlich zu erkennen meinte [siehe FA!# 31 – d. Red.]. Erst durch ein Sonderkommando der Polizei und eine große Tasse Baldrian-Tee konnte der Pfaffe wieder zur Räson gebracht werden.

Kein Wunder also, dass am Ende nur ein fauliger Kompromiss herauskam, eine auf halbem Weg versumpfte Synthese aus altem Gemäuer und neumodischem  Glasfassaden-Fetischismus. Mit diesem Ergebnis ist natürlich niemand zufrieden, hinter den Kulissen geht das Genörgel weiter. Damit endlich mal Ruhe ist im Karton, plädieren wir für eine ebenso pragmatische wie öffentlichkeitswirksame Lösung: die als  feierlicher Festakt inszenierte erneute Sprengung des Gebäudes!

Stellen wir uns das mal vor: Zu Anfang darf Oberbürgermeister Jung eine Rede halten. Anschließend singt Peter Maffay „Über sieben Brücken musst du gehen“, bevor die unnachahmlich glamouröse Katharina Witt unter tosendem Applaus die Bühne betritt. Sie bekommt Blumen überreicht. Dann drückt sie den roten Knopf, woraufhin das Paulinum mit lautem Knall in sich zusammenbricht und in einer Wolke aus Schutt und Asche versinkt. Eine symbolpolitische Maßnahme von eindrucksvoller Drastik! Damit würde nicht nur der notwendige Mindestabstand zwischen Religion und Wissenschaft gewährleistet, es würde auch Platz für eine an den Uni-Innenhof angeschlossene Grünfläche frei, die dieses triste Areal entscheidend aufwerten würde. Künftige Generationen werden es uns danken…

Aber bei all dem schlechten Neugebauten sollten auch die historischen Altlasten nicht vergessen werden – das Völkerschlachtdenkmal zum Beispiel. Dass dieser martialische Gedächtnisbunker einfach nur potthässlich ist, wäre ja noch zu verzeihen. Er ist aber noch mehr. Nämlich ein Symbol für eine gut 200jährige Geschichte von teutonischer Nationaltümelei, Kriegshetze und Franzosenhass. Die sächsische CDU formulierte es in der Begründung ihres Versammlungsgesetzes [siehe FA!# 36 – d. Red.] sogar noch prägnanter: Das Völkerschlachtdenkmal ist ein Symbol für „das nationale Pathos und die Heldenhaftigkeit soldatischen Sterbens“! Besser hätten wir es auch nicht ausdrücken können – das ist doch mal ein verdammt guter Grund, um gegen dieses Bauwerk vorzugehen!

Dabei war es gar nicht so gemeint: Die CDUler_innen finden „soldatisches Sterben“ nämlich grundsätzlich super, solange nicht sie selbst es sind, die dabei draufgehen. Wir müssen die Sache also wieder einmal selbst in die Hand nehmen.

Denn das „nationale Pathos“ sickert dem ollen Klotz tatsächlich aus jeder Ritze. Als Auffangbecken für diese ranzige Soße fungiert dabei die so genannte Ruhmeshalle. Auch bei der Inneneinrichtung des Denkmals scheint man dem Irrglauben gefolgt zu sein, alles von drei Meter an aufwärts sei automatisch große Kunst – darauf lassen jedenfalls die hier installierten Monumentalfiguren schließen. Wie das Bauwerk als Ganzes stehen auch diese symbolisch für diverse hohle Ideale, in diesem Fall für „Volkskraft“, „Glaubensstärke“, „Tapferkeit“ und „Opfermut“. Die „Heldenhaftigkeit soldatischen Sterbens“ dagegen zeigt in der Krypta eine Etage tiefer ihr freudloses, kaltes Gesicht: Griesgrämig glotzende Ritterfiguren erinnern hier an jene, die sich im Dienst des Vaterlandes per Heldentod vom Leben verabschiedet haben – ein Monument menschlicher Blödheit.

Wir sagen: „Hundert Jahre sind genug!“ Dieser düstere Protzbrocken hat lang genug seinen Schatten auf unsere Stadt geworfen!

Einfach in die Luft sprengen lässt sich dieser massive Granitklumpen leider nicht. Nach langer Debatte präsentieren wir deshalb hier unseren Drei-Punkte-Plan zur Lösung des Problems:

Schritt 1: Die Umwandlung des völkischen Klotzes in eine luftige Säulenkonstruktion. Mit Hammer und Meißel kann dies von der Leipziger Bevölkerung selbst (mit tatkräftiger Unterstützung durch japanische Touristengruppen) bewerkstelligt werden. Diese Methode hat sich schon beim Abriss der berüchtigten Berliner Mauer bewährt, sie ist zudem kostengünstig und ein großer Spaß für jung und alt.

Schritt 2: Die Umgestaltung der innen und außen am Bauwerk installierten überdimensionalen Ritterfiguren. Bei groben Klötzen braucht es schließlich auch grobe Keile! Um sozialethische Desorientierung vor allem bei minderjährigen Besucher_innen zu vermeiden, werden die Statuen mit großen Kasperle-Nasen aus witterungsbeständigem Beton versehen (siehe Abb.).

Schritt 3: Ein flächendeckender Neuanstrich in freundlichem Rosa.

Damit würde der gigantomanische Gedenkbrocken nicht nur ein ganz neues, freundlicheres Aussehen bekommen. Auch nutzlose Verbots- und Gesetzgebungsverfahren wie jenes, mit welchem die sächsische CDU-Regierung das Denkmal zur No-go-area für konkurrierende nationalistische Splittergruppen machen wollte, könnte mensch sich künftig sparen – eventuelle Nazi-Aufmärsche lösen sich bei diesem Anblick von ganz alleine auf. Der positive Effekt für ganz Leipzig wäre kaum zu übertreffen: Kinderaugen strahlen heller, die Herzen schlagen schneller, als wären sie plötzlich von einer großen Last befreit, das Atmen fällt leichter… Ja, mehr noch, die Menschheit als Ganzes wäre einen großen Schritt in ihrer geistigen Evolution vorangekommen. Braucht es noch mehr Gründe, um mit dem Völkerschlachtsklumpen kurzen Prozess zu machen? Packen wir´s an!

Für die Freiheit, für das Leben – für eine klotzfreie Stadt Leipzig!

(AG Architekturkritik)

Hand in Hand mit den Bossen

Es war wohl ein schwerer Schlag für die DGB-Vorstände, als das Bundesarbeitsgericht in Erfurt am 23. Juni 2010 sein Urteil verkündete: Das bislang gültige Prinzip der „Tarifeinheit“ widerspricht dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit und muss folglich aufgegeben werden. So könnten in einem Betrieb auch mehrere Tarifverträge gleichzeitig bestehen – entscheidend sei dabei nicht die Betriebs- sondern die Gewerkschaftszugehörigkeit. Bis dato hatten die DGB-Gewerkschaften dank des „Mehrheitsprinzips“ eine fast uneingeschränkte Monopolstellung gegenüber kleineren Gewerkschaften. Denn damit waren die von der mitgliederstärksten Gewerkschaft im Betrieb abgeschlossenen Verträge auch für die Mitglieder anderer Gewerkschaften bindend, ebenso wie die mit dem Tarifvertrag einhergehende Friedenspflicht, also der für einen bestimmten Zeitraum vorgeschriebene Verzicht auf Streiks und sonstige Arbeitskämpfe. Damit ist nun erstmal Schluss, auch kleinere Gewerkschaften können jetzt eigene Tarifverträge abschließen und unabhängig streiken. Von der Neuregelung profitieren z.B. Spartengewerkschaften wie die GdL oder Cockpit, die in den letzten Jahren durch für deutsche Verhältnisse ungewohnt energische Arbeitskämpfe auf sich aufmerksam machten.

Im DGB-Vorstand sieht man nun das althergebrachte Monopol bedroht. Auch die Unternehmer sind unzufrieden, sicherte ihnen die „Tarifeinheit“ und die daran orientierte Rechtsauslegung der Arbeitsgerichte doch jahrzehntelang ein geringes Streikaufkommen, niedrige Löhne und damit handfeste Standortvorteile. Kein Wunder also, dass beide Parteien nun gemeinsame Sache machen. Schon vor dem Urteil präsentierten DGB-Chef Sommer und Arbeitgeberpräsident Hundt am 4. Juni einen gemeinsamen Gesetzesentwurf, mit dem die Tarifeinheit verbindlich festgeschrieben werden soll. Sommer machte dabei unmißverständlich klar, auf welcher Seite er selbst und der DGB stehen: „Die Gewerkschaften und die Arbeitgebervertreter übernehmen Verantwortung in der Krise. Sie arbeiten zusammen, wo dies möglich und nötig ist“. Der Boss und der Genosse zeigten sich zuversichtlich, dass die Regierung ihre Initiative unterstützen würde. Justiz- und Arbeitsministerium wollten sich zwar bislang noch nicht festnageln lassen, wollen den Sachverhalt aber prüfen. Man darf auf das Ergebnis gespannt sein.

Auch ein weiterer Versuch, sich auf juristischem Wege einer unliebsamen Gewerkschaft zu entledigen, ist mittlerweile vor Gericht gescheitert. Am 10. Juni hob das Kammergericht Berlin die von der Geschäftsführung des Kinos Babylon gegen die Freie ArbeiterInnen-Union Berlin angestrengte Einstweilige Verfügung (siehe FA!# 36) auf. Die Berliner FAU darf sich nun offiziell wieder als Gewerkschaft bezeichnen.

(justus)

Arge Job und Klassenkampf – Was viele nicht zu fragen wagen

KEINE ARBEIT DURCH VIELE BEWERBUNGEN?

 

SOCKE, 21: Vor ein paar Wochen hab ich einen Brief vom Arbeitsamt bekommen, den ich gestern aufgemacht hab. Darin steht, daß ich bei einer Firma zum Vorstellungsgespräch soll. Ich hab gehört, wenn ich das nicht mache, dann streichen die mir das Geld. Muss ich jetzt da arbeiten oder kann ich da noch was machen? Bitte helft mir, ich habe solche Angst.

Hallo Socke, ich kann gut verstehen daß Du beunruhigt bist. Das ist ganz normal, wenn man so hart aus seiner Lebensrealität gerissen wird. Aber keine Angst, es gibt für alles eine Lösung und Du wirst schon nicht gleich arbeiten müssen. Also zuerst solltest Du nachschauen ob der Brief per Einschreiben gekommen ist, oder mit normaler Post (die Regel). Dann schau noch mal in Deinen Briefkasten und vergewissere Dich, daß das gefährliche Jobangebot nur Illusion war. Hintergrund ist nämlich, daß die Arge beweisen muss, daß der Brief zugegangen ist, und nicht anders herum. Achtung!: Gib nicht an, der Brief sei zu spät angekommen. Damit hast Du den Zugang eingestanden und wirst beweispflichtig, daß der Brief tatsächlich zu spät angekommen ist!

Du kannst aber auch im Vorfeld schon Maßnahmen treffen: Du kannst von Dir aus viele Bewerbungen für Stellen, die Du sowieso nicht bekommst, schreiben. Die Verwendung von Vorlagen macht dabei Sinn. Verschicken kannst Du die Bewerbungen per Mail. Das kostet Dich nichts, im Gegenteil: Du bekommst dafür sogar noch Geld, und zwar vom Amt. Fünf Euro müssen sie pro Bewerbung an Dich abdrücken – mehr ist Verhandlungssache mit dem Vermittler. Der Gesamtbetrag kann zwar nach oben pro Jahr gedeckelt werden, aber ohne Geld kannst Du keine Bewerbungen mehr schreiben… Das tut Dir natürlich aufrichtig leid, da im Laufe des Jahres noch aussichtsreichere Stellenangebote auf Dich zukommen könnten. Sollte es nun doch zu einem Vorstellungsgespräch kommen, so hast Du auch hier viele kreative Möglichkeiten. Häufiges Kratzen während des Gesprächs, eine durchzechte Nacht und dann aus der Kneipe direkt zum Chef, die Frage ob es denn schon einen aktiven Betriebsrat oder andere Gewerkschaftsvertreter im Betrieb gibt, Redewendungen wie „Ich sollte mich hier melden…“ oder Fragen nach Elternzeitregelungen, nun, Du weißt was ich meine. Wichtig!: Niemals direkt sagen, Du willst den Job nicht! Auch vor zu großen Verspätungen rate ich Dir ab, wenn Du keine Kürzung riskieren willst.
Solltest Du dennoch richtig Pech haben, so können Dir vielleicht die Tipps weiterhelfen, die Lulle von uns bekommt:

UNGEWOLLT BERUFSTÄTIG

 

LULLE, 28: Hallo Dr. Flaschenbier! Ich habe ein großes Problem und weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Ich habe bei einem Bewerbungsgespräch nicht richtig aufgepasst und nun stecke ich mitten in einem ungewollten Arbeitsverhältnis. Ich möchte ja auch gar nicht arbeiten, ich habe doch Besseres mit meiner Zeit vor.  Meine Freunde wissen auch noch nichts davon, aber lange kann ich das nicht mehr verheimlichen. Ich schäme mich so, was soll ich nur tun?

 

Ich kann Deine Angst verstehen, aber das ist dennoch kein Weltuntergang. Arbeit zu bekommen, das kann jedem mal passieren. Noch hast Du jedenfalls genügend Möglichkeiten, sie wieder loszuwerden. Neben dem klassischen Krankheitsfall, der, wenn er nur lange genug dauert, übrigens auch häufig dazu führt, daß mensch aus 1-Euro-Jobs und Fortbildungen geworfen wird, gibt es noch einen bunten Strauß von Möglichkeiten, dem Job ade zu sagen: Bist Du noch in der Probezeit, ist es immer sinnvoll die Wahl eines Betriebsrates zu organisieren.

Denkst Du, Du bekommst zu wenig Lohn oder musst zu lange arbeiten? Na klar, zu wenig Geld bekommst Du immer, sonst würde Dich keiner beschäftigen. Aber wenn darüber hinaus auch nur kleine Anhaltspunkte für eine zu geringe Lohnzahlung in Deinem Arbeitsvertrag zu finden sind, drohe damit Deine Rechte einzuklagen! Verstehst Du Dich mit dem Chef einigermaßen? Dann kannst Du Dir von ihm aus „betriebsbedingten Gründen“ kündigen lassen, hier droht  keine Sperre. Achtung!: Um Kürzungen zu vermeiden, kündige nicht selbst! Liefere keine Kündigungsgründe, die Dir angelastet werden können (zu spät kommen, dem Chef sagen was für ein Arsch er ist, etc.) Eine Sperre droht auch, wenn Du einen Aufhebungsvertrag unterschreibst! Ich hoffe, Du kannst mit meinen Ratschlägen etwas anfangen und alles wird wieder gut.

Dein Dr. Flaschenbier

Editorial FA! #38

Wer die Monate gezählt hat, wird’s bemerkt haben: Diesmal hat es mit der neuen Ausgabe sogar noch länger gedauert als üblich. Das Sommerloch hat uns eben voll erwischt. Und wenn wir unser Heft schon Feierabend! nennen und so das mögliche Ende der Arbeitshetze vorwegnehmen, gehört eine entspannte Herangehensweise einfach dazu. Und auch mit 3/4-Kraft ist ja am Ende noch ein schönes Dickerchen herausgekommen, das sogar durch eine neue Rubrik bereichert wurde. In der Ökoecke rumort es ja schon länger, und so geben wir dem Kampf gegen die globale Umweltzerstörung, aber auch gegen den Schein nachhaltigen Wachstums nun einen eigenen Namen: Biotopia. Auch unser treuer Dr. Flaschenbier hat für seine Tipps & Tricks zum Thema Hartz IV eine neue Bühne bekommen. Was es sonst noch Spannendes im aktuellen Heft zu entdecken gibt, müsst ihr schon selbst rausfinden. Viel Spaß beim Schmökern wünscht

Euer Feierabend!

P.S. Wer will, kann ja mal unsere Verkaufstelle des Monats, den Infoladen im Conne Island, besuchen. Da wird nicht nur der FA! archiviert, sondern auch noch jede Menge andere spannende Lektüre geboten.

Kernkompetenzen stärken

Vom Atomkompromiss nach Gorleben

Der deutsche Staat sorgt sich um seine Unternehmen – auch dort, wo die Wertschöpfung vorrangig auf der Produktion von giftigem Scheißdreck beruht. Solange die Steuergelder fließen, ist es egal, woher die Gewinne kommen. Der Atomkompromiss (1), auf den sich Regierung und Konzerne am 6. September 2010 einigten, liefert den Beweis dafür, ist er doch ein voller Erfolg für die Atommafia.

So sollen die sieben ältesten Kraftwerke acht, die übrigen zehn 14 Jahre länger laufen. RWE, E.ON, Vattenfall und EnBW bekommen damit Zusatzeinnahmen von etwa 4,4 Mrd. Euro pro Jahr. Die Beute wird brüderlich geteilt: Per Brennelementesteuer sichert sich die Regierung einen Anteil von 2,3 Mrd. Euro jährlich. Zusätzlich sollen die Konzerne Förderbeiträge (300 Mio. in den ersten zwei, 200 Mio. in den nächsten vier Jahren) in einen Fonds für den Ausbau der Ökoenergie zahlen. Nach 2016 tritt an die Stelle der Steuer eine neue Regelung, knapp ein Drittel der Gewinne (etwa neun Euro je Megawattstunde Strom) soll dann in  besagten Fonds fließen.

Heikel ist vor allem Abschnitt 4 des Vertrags, der die Konzerne durch diverse Klauseln vor eventuellen Mehrkosten (etwa infolge eines Regierungswechsels) schützt. So sinkt der Förderbeitrag entsprechend, wenn „Bestimmungen zur Laufzeitverlängerung und zur Übertragbarkeit von Elektrizitätsmengen (…) verkürzt, verändert, unwirksam oder aufgehoben werden“. Gleiches gilt, wenn die Nachrüstungs- oder Sicherheitsanforderungen eine Höhe von 500 Mio. Euro pro Meiler überschreiten. Anfangs hatte Umweltminister Röttgen noch Investitionen von durchschnittlich 1,2 Mrd. pro Kraftwerk gefordert. Und auch wenn die  Steuer erhöht oder länger als geplant erhoben wird oder die Konzerne durch neue Abgaben belastet werden, sinken die Beiträge. Die jetzigen Beschlüsse sind also nicht so einfach rückgängig zu machen.

Der von der rot-grünen Regierung geplante Atomausstieg wird damit weiter vertagt. Nun könnte es noch bis 2040 dauern, bis der letzte Reaktor vom Netz geht. Oder noch länger, denn die Laufzeiten werden nicht nach Jahren, sondern nach Strommenge berechnet. Das haben die Konzerne schon früher genutzt, um Kraftwerke länger am Netz zu halten, indem Meiler mit gedrosselter Leistung betrieben und Strommengen von einem Reaktor zum andern übertragen wurden.

Umweltminister Röttgen versucht, den Rückschritt als großen Schritt voran zu verkaufen: „Wir haben den Fahrplan ins Zeitalter der erneuerbaren Energien aufgestellt.“ Die Kernkraft wird rhetorisch glatt zum Ökostrom gemacht. Sie sei „das geeignete Instrument, um auch im Stadium des Übergangs in das regenerative Zeitalter das Ziel einer wirtschaftlichen, sauberen und sicheren Energieversorgung zu sichern“. Entscheidender dürfte sein, dass die Regierung sich davon „volkswirtschaftlich positive Effekte“ erhofft: Die weitere Förderung der Kernkraft ist eben der bequemste Weg, die CO2-Emission zu verringern, ohne die Wirtschaft zu belasten.

Laut dem Bundesfinanzministerium sollen die zusätzlichen Steuereinnahmen „auch dazu beitragen, die aus der notwendigen Sanierung der Schachtanlage Asse II entstehende Haushaltsbelastung des Bundes zu verringern.“ Ob es dazu kommt, ist fraglich, denn das Geld wird auch benötigt, um den Staatshaushalt zu stabilisieren. Und dem derzeitigen Atomgesetz nach trägt der Bund die Kosten für Betrieb und Stilllegung des Lagers. Nicht nur die Lage in der Asse II beweist, dass die Kernkraft keineswegs so sicher und sauber ist, wie die Regierung behauptet. Das ehemalige Salzbergwerk wird seit 1967 zur Lagerung von radioaktivem Müll genutzt. Seit 1988 dringt Wasser ein, was nicht nur zu einer Verseuchung des Grundwassers, sondern auch zum Einsturz der Anlage führen könnte. Ähnlich sieht es in Morsleben aus. Auch dort sickert Grundwasser ein, in den letzten Jahren stürzten wiederholt tonnenschwere Salzbrocken von der Decke.

Der desolate Zustand dieser Lagerstätten setzt die Regierung zusätzlich unter Druck, endlich ein geeignetes Endlager zu präsentieren. Denn längere Laufzeiten bedeuteten natürlich auch mehr Atommüll (Greenpeace zufolge zusätzlich 4800 Tonnen), und die müssen irgendwo hin. Ab Oktober soll darum nach zehnjähriger Pause die Erkundung des Salzstocks Gorleben wieder beginnen, angeblich um zu prüfen, ob dieser als Endlager geeignet sei. Allerdings ist Gorleben bislang der einzige Standort, der so „geprüft“ wird, die Entscheidung ist also wohl längst gefallen. Die schwarz-gelbe Koalition muss ein  Endlager vorweisen – Sicherheitsbedenken werden aus diesem politischem Interesse heraus ignoriert.

Und weil das Atomgesetz ohnehin geändert werden muss, soll auch gleich eine Klausel aufgenommen werden, mit der z.B. Bauern, unter deren Land sich Teile des Salzstocks befinden, enteignet werden können. Auch das könnte den alljährlichen Anti-Castor-Protesten in diesem Herbst neue Schubkraft verleihen. Der diesjährige Castor-Transport wird am ersten Novemberwochenende anrollen. Am 6. November findet eine Großdemonstration statt, am 7. November wird der Zug mit den Castorbehältern voraussichtlich das Wendland erreichen, bevor am 8. November der Transport über die Straße weitergeht (2). Hier gibt es Gelegenheit, sich der Atommafia auch ganz praktisch entgegen zu stellen. Also, auf ins Wendland – um der schwarz-gelben Regierung einen heißen Herbst zu bescheren!

(onkel mo)

 

(1) Das Dokument ist als PDF unter www.spiegel.de/media/0,4906,24307,00.pdf zu finden.

(2) Diese Termine könnten sich kurzfristig noch ändern. Mehr Infos findet ihr unter www.castor2010.de.

Es war einmal: Militante Gruppe Leipzig

Von der Militanten Gruppe Leipzig, die Anfang des Jahres Angst und Schrecken in unserem beschaulichen Städtchen verbreitete (siehe FA!#36) und Hoffnungen weckte, auch die unfriedliche Revolution könnte in Leipzig starten, gibt es Neuigkeiten. So wurde „Tommi T.“, mutmaßlich alleiniges Mitglied der Gruppe und begeisterter Bekennerschreibenverfasser, am 31. August der schweren Brandstiftung, Störung des öffentlichen Friedens und versuchtem Diebstahl sowie des versuchten Einbruchs für schuldig befunden und zu 3 ½ Jahren Haft verurteilt. Nachweisen konnten ihm die Büttel des Systems dabei nur den Karossentod eines BMW X5 vom 31. Januar, der finalen Zündelei des dreiteiligen und dann abrupt endenden revolutionären Flächenbrandes. Andere Brandstiftungen und vor allem die Mitgliedschaft in der Militanten Gruppe Leipzig konnten T. jedoch nicht angehängt werden. Dazu beigetragen haben könnte u.a. die Truecrypt-Verschlüsselung von T.’s Festplatte, die das sächsische Landeskriminalamt in vier Wochen nicht öffnen konnte. Relativ geschlossen blieb auch der Gerichtssaal, in dem sich außer Journalist_innen kaum jemand einfand. Was nicht zuletzt daran gelegen haben könnte, daß die von Richter Jens Kaden angeordneten strengen Sicherheitskontrollen den einen oder die andere abschreckten. So wurden am Einlaß Namen notiert, Ausweise und Mobiltelefone einbehalten. Doch immerhin war „Genosse“ Tommi vor Gericht standesgemäß mit Kapuze, Schal und Sonnenbrille im autonomen Schwarz vermummt, während der U-Haft nicht allein. Unterstützung bekam er von der Roten Hilfe OG Magdeburg und der Redaktion der Gefangeneninfo, die ihn als politischen Gefangenen betrachten. Allerdings nur aufgrund der  aus ihrer Sicht politischen Anklage, aus der politischen Einschätzung der Militanten Gruppe und ihrer Texte soll die Solidarität nicht rühren. Gerade nicht unterstützt, ja weitestgehend ignoriert hat ihn jedoch die hiesige linksradikale Szene. Die konnte seinen mutmaßlichen verbalradikalen Ausflügen und blindem Aktionismus rein gar nichts abgewinnen, schon aus der Angst vor drohender Repression der eigenen Strukturen. Doch ist ja alles auch schon lange her und es erinnert sich jetzt schon kaum noch jemand an die Ereignisse im Januar. So verwaist auch das „vorläufige offizielle Blog“ der Gruppe seit dem Tage Tommi T.s Verhaftung, die darin angekündigten Anschläge gegen Bonzen, ARGE und Medien bleiben unangetastet von staatlichen Stellen als ein stummes Mahnmal stehen. Lassen wir uns diese revolutionäre Schlappe eine Lehre sein und heben uns eigene militante Aktionen für das nächste Sommerloch auf!

(shy)

Eure Zukunft war gestern

Es ist wieder so weit: Die Leipziger Neonazis wollen einen neuen Anlauf wagen. Im Oktober 2009 bewegte sich die von Freien Kräften und Jungen Nationaldemokraten initiierte Großdemonstration keinen Meter weit vom Fleck. Schließlich verloren einige eher erlebnisorientierte „autonome Nationalisten“ die Nerven und attackierten die Polizei mit Steinen und Flaschen. Die Einsatzkräfte reagierten, indem sie ihre Wasserwerfer gegen die Neonazis in Stellung brachten und die Kundgebung auflösten (siehe FA!# 35).

In den Monaten nach dieser Schlappe griffen die Leipziger Neonazis erst einmal auf Plan B zurück: Bis zum März 2010 führten sie mehrere Spontandemos, u.a. in Grünau, Lößnig und Reudnitz durch. Mehr als jeweils 50 Teilnehmer konnten sie dabei aber nie mobilisieren, und da die Aufmärsche sicherheitshalber immer nachts stattfanden, war die Außenwirkung minimal. Ein Jahr nach dem Debakel wollen die Kameraden es nun am 16. Oktober ein zweites Mal versuchen. Aber statt mit nur einem wollen die Nasen nun mit gleich vier (!) Aufmärschen gleichzeitig punkten.

Der erste soll von Plagwitz, Engertstraße/Ecke Karl-Heine-Straße aus losgehen, um dann über die Jahnallee Richtung Hauptbahnhof zu ziehen. Das Motto ist „Kapitalismus abschalten – Zinsherrschaft brechen“ (man beachte den antisemitischen Unterton…). Der zweite soll dagegen unter dem Motto „Gegen Polizeiwillkür und staatliche Gewalt“ von Hauptbahnhof aus eine Runde den Innenstadtring entlang drehen. Demo Nummer drei (unter dem Slogan „Zukunft statt Krisenzeiten“) soll am Rathaus Wahren starten. Die vierte Demo ist für den Leipziger Süden angekündigt, laut der LVZ soll die Route von der Connewitzer Straße ausgehend über Bornaische und Karl-Liebknecht-Straße Richtung Ring führen. Die Anmeldung ging dabei einscheinend von der rechten Hooligantruppe Blue Caps aus, die (noch unbestätigten Informationen zufolge) mit diesem Aufmarsch gegen den „linken Terror des Roten Stern Leipzig“ demonstrieren will.

Auch die anderen Anmelder sind alte Bekannte aus der Leipziger rechten Szene. Tommy Naumann und Istvan Repaczki  sind schon länger bei den Freien Kräften, und seit einiger Zeit auch bei den Jungen Nationaldemokraten aktiv. Beide traten bei den letzten Stadtratswahlen als Kandidaten für die NPD an und waren bei verschiedenen Übergriffen, z.B. auf das AJZ Bunte Platte beteiligt (siehe FA!# 30). Naumann hatte schon die Demonstration vor einem Jahr angemeldet. Dritter im Bunde ist Maik Scheffler, der als NPD-Abgeordneter im Delitzscher Stadtrat sitzt.

Ob der Plan der Kameraden aufgeht, die zahlenmäßige Übermacht von Gegendemonstrant_innen und Polizei mit dieser Strategie auszugleichen, bleibt abzuwarten. Wegen der bundesweiten Mobilisierung muss immerhin davon ausgegangen werden, dass ähnlich viele Neonazis wie im letzten Jahr den Weg nach Leipzig finden. Allerdings werden die Aufmärsche sehr wahrscheinlich zusammen- und auf andere Routen gelegt. Vor allem der geplante Marsch durch Connewitz dürfte auf massive Sicherheitsbedenken seitens der Polizei stoßen. In Plagwitz dürfte es ähnlich aussehen. Auch ob die Neonazis über den Innenstadtring laufen dürfen, ist fraglich, wegen eines zeitgleich im Zentralstadion stattfindenden Fussballspiels auch die Strecke über die Jahnallee.

Zum Ausgleich für solche möglichen Einschränkungen wird die Polizei die Neonazis dieses Jahr wohl etwas zuvorkommender behandeln als beim letzten Mal. Immerhin läuft beim Leipziger Verwaltungsgericht immer noch eine von Anmelder Tommy Naumann im November 2009 eingereichte Klage. Naumann fühlt sich vom Freistaat Sachsen, der Stadt Leipzig und insbesondere dem Leipziger Polizeichef Wawrzynski ungerecht behandelt, u.a. weil die von ihm vor einem Jahr angemeldete Demonstration nach der Auflösung eingekesselt und alle (ca. 1350) Beteiligten erkennungsdienstlich behandelt wurden.

Mensch sollte also nicht darauf warten, dass die Polizei das Problem für eine_n löst. So ist es auch zweitrangig, wie die üblichen rechtlichen Querelen im Vorfeld der Demonstrationen letztendlich ausgehen. Denn mit Verboten lässt sich akute Dummheit ohnehin nicht wirksam bekämpfen. Statt auf staatliche Hilfe zu hoffen, sollten wir auch diesmal das Mittel der direkten Aktion wählen und uns den Nazis in den Weg stellen, setzen oder legen – damit sich für sie auch dieser Tag in ein Desaster verwandelt!

(onkel mo)

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