Archiv der Kategorie: Feierabend! #38

Hand in Hand mit den Bossen

Es war wohl ein schwerer Schlag für die DGB-Vorstände, als das Bundesarbeitsgericht in Erfurt am 23. Juni 2010 sein Urteil verkündete: Das bislang gültige Prinzip der „Tarifeinheit“ widerspricht dem Grundrecht der Koalitionsfreiheit und muss folglich aufgegeben werden. So könnten in einem Betrieb auch mehrere Tarifverträge gleichzeitig bestehen – entscheidend sei dabei nicht die Betriebs- sondern die Gewerkschaftszugehörigkeit. Bis dato hatten die DGB-Gewerkschaften dank des „Mehrheitsprinzips“ eine fast uneingeschränkte Monopolstellung gegenüber kleineren Gewerkschaften. Denn damit waren die von der mitgliederstärksten Gewerkschaft im Betrieb abgeschlossenen Verträge auch für die Mitglieder anderer Gewerkschaften bindend, ebenso wie die mit dem Tarifvertrag einhergehende Friedenspflicht, also der für einen bestimmten Zeitraum vorgeschriebene Verzicht auf Streiks und sonstige Arbeitskämpfe. Damit ist nun erstmal Schluss, auch kleinere Gewerkschaften können jetzt eigene Tarifverträge abschließen und unabhängig streiken. Von der Neuregelung profitieren z.B. Spartengewerkschaften wie die GdL oder Cockpit, die in den letzten Jahren durch für deutsche Verhältnisse ungewohnt energische Arbeitskämpfe auf sich aufmerksam machten.

Im DGB-Vorstand sieht man nun das althergebrachte Monopol bedroht. Auch die Unternehmer sind unzufrieden, sicherte ihnen die „Tarifeinheit“ und die daran orientierte Rechtsauslegung der Arbeitsgerichte doch jahrzehntelang ein geringes Streikaufkommen, niedrige Löhne und damit handfeste Standortvorteile. Kein Wunder also, dass beide Parteien nun gemeinsame Sache machen. Schon vor dem Urteil präsentierten DGB-Chef Sommer und Arbeitgeberpräsident Hundt am 4. Juni einen gemeinsamen Gesetzesentwurf, mit dem die Tarifeinheit verbindlich festgeschrieben werden soll. Sommer machte dabei unmißverständlich klar, auf welcher Seite er selbst und der DGB stehen: „Die Gewerkschaften und die Arbeitgebervertreter übernehmen Verantwortung in der Krise. Sie arbeiten zusammen, wo dies möglich und nötig ist“. Der Boss und der Genosse zeigten sich zuversichtlich, dass die Regierung ihre Initiative unterstützen würde. Justiz- und Arbeitsministerium wollten sich zwar bislang noch nicht festnageln lassen, wollen den Sachverhalt aber prüfen. Man darf auf das Ergebnis gespannt sein.

Auch ein weiterer Versuch, sich auf juristischem Wege einer unliebsamen Gewerkschaft zu entledigen, ist mittlerweile vor Gericht gescheitert. Am 10. Juni hob das Kammergericht Berlin die von der Geschäftsführung des Kinos Babylon gegen die Freie ArbeiterInnen-Union Berlin angestrengte Einstweilige Verfügung (siehe FA!# 36) auf. Die Berliner FAU darf sich nun offiziell wieder als Gewerkschaft bezeichnen.

(justus)

Arge Job und Klassenkampf – Was viele nicht zu fragen wagen

KEINE ARBEIT DURCH VIELE BEWERBUNGEN?

 

SOCKE, 21: Vor ein paar Wochen hab ich einen Brief vom Arbeitsamt bekommen, den ich gestern aufgemacht hab. Darin steht, daß ich bei einer Firma zum Vorstellungsgespräch soll. Ich hab gehört, wenn ich das nicht mache, dann streichen die mir das Geld. Muss ich jetzt da arbeiten oder kann ich da noch was machen? Bitte helft mir, ich habe solche Angst.

Hallo Socke, ich kann gut verstehen daß Du beunruhigt bist. Das ist ganz normal, wenn man so hart aus seiner Lebensrealität gerissen wird. Aber keine Angst, es gibt für alles eine Lösung und Du wirst schon nicht gleich arbeiten müssen. Also zuerst solltest Du nachschauen ob der Brief per Einschreiben gekommen ist, oder mit normaler Post (die Regel). Dann schau noch mal in Deinen Briefkasten und vergewissere Dich, daß das gefährliche Jobangebot nur Illusion war. Hintergrund ist nämlich, daß die Arge beweisen muss, daß der Brief zugegangen ist, und nicht anders herum. Achtung!: Gib nicht an, der Brief sei zu spät angekommen. Damit hast Du den Zugang eingestanden und wirst beweispflichtig, daß der Brief tatsächlich zu spät angekommen ist!

Du kannst aber auch im Vorfeld schon Maßnahmen treffen: Du kannst von Dir aus viele Bewerbungen für Stellen, die Du sowieso nicht bekommst, schreiben. Die Verwendung von Vorlagen macht dabei Sinn. Verschicken kannst Du die Bewerbungen per Mail. Das kostet Dich nichts, im Gegenteil: Du bekommst dafür sogar noch Geld, und zwar vom Amt. Fünf Euro müssen sie pro Bewerbung an Dich abdrücken – mehr ist Verhandlungssache mit dem Vermittler. Der Gesamtbetrag kann zwar nach oben pro Jahr gedeckelt werden, aber ohne Geld kannst Du keine Bewerbungen mehr schreiben… Das tut Dir natürlich aufrichtig leid, da im Laufe des Jahres noch aussichtsreichere Stellenangebote auf Dich zukommen könnten. Sollte es nun doch zu einem Vorstellungsgespräch kommen, so hast Du auch hier viele kreative Möglichkeiten. Häufiges Kratzen während des Gesprächs, eine durchzechte Nacht und dann aus der Kneipe direkt zum Chef, die Frage ob es denn schon einen aktiven Betriebsrat oder andere Gewerkschaftsvertreter im Betrieb gibt, Redewendungen wie „Ich sollte mich hier melden…“ oder Fragen nach Elternzeitregelungen, nun, Du weißt was ich meine. Wichtig!: Niemals direkt sagen, Du willst den Job nicht! Auch vor zu großen Verspätungen rate ich Dir ab, wenn Du keine Kürzung riskieren willst.
Solltest Du dennoch richtig Pech haben, so können Dir vielleicht die Tipps weiterhelfen, die Lulle von uns bekommt:

UNGEWOLLT BERUFSTÄTIG

 

LULLE, 28: Hallo Dr. Flaschenbier! Ich habe ein großes Problem und weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll. Ich habe bei einem Bewerbungsgespräch nicht richtig aufgepasst und nun stecke ich mitten in einem ungewollten Arbeitsverhältnis. Ich möchte ja auch gar nicht arbeiten, ich habe doch Besseres mit meiner Zeit vor.  Meine Freunde wissen auch noch nichts davon, aber lange kann ich das nicht mehr verheimlichen. Ich schäme mich so, was soll ich nur tun?

 

Ich kann Deine Angst verstehen, aber das ist dennoch kein Weltuntergang. Arbeit zu bekommen, das kann jedem mal passieren. Noch hast Du jedenfalls genügend Möglichkeiten, sie wieder loszuwerden. Neben dem klassischen Krankheitsfall, der, wenn er nur lange genug dauert, übrigens auch häufig dazu führt, daß mensch aus 1-Euro-Jobs und Fortbildungen geworfen wird, gibt es noch einen bunten Strauß von Möglichkeiten, dem Job ade zu sagen: Bist Du noch in der Probezeit, ist es immer sinnvoll die Wahl eines Betriebsrates zu organisieren.

Denkst Du, Du bekommst zu wenig Lohn oder musst zu lange arbeiten? Na klar, zu wenig Geld bekommst Du immer, sonst würde Dich keiner beschäftigen. Aber wenn darüber hinaus auch nur kleine Anhaltspunkte für eine zu geringe Lohnzahlung in Deinem Arbeitsvertrag zu finden sind, drohe damit Deine Rechte einzuklagen! Verstehst Du Dich mit dem Chef einigermaßen? Dann kannst Du Dir von ihm aus „betriebsbedingten Gründen“ kündigen lassen, hier droht  keine Sperre. Achtung!: Um Kürzungen zu vermeiden, kündige nicht selbst! Liefere keine Kündigungsgründe, die Dir angelastet werden können (zu spät kommen, dem Chef sagen was für ein Arsch er ist, etc.) Eine Sperre droht auch, wenn Du einen Aufhebungsvertrag unterschreibst! Ich hoffe, Du kannst mit meinen Ratschlägen etwas anfangen und alles wird wieder gut.

Dein Dr. Flaschenbier

Editorial FA! #38

Wer die Monate gezählt hat, wird’s bemerkt haben: Diesmal hat es mit der neuen Ausgabe sogar noch länger gedauert als üblich. Das Sommerloch hat uns eben voll erwischt. Und wenn wir unser Heft schon Feierabend! nennen und so das mögliche Ende der Arbeitshetze vorwegnehmen, gehört eine entspannte Herangehensweise einfach dazu. Und auch mit 3/4-Kraft ist ja am Ende noch ein schönes Dickerchen herausgekommen, das sogar durch eine neue Rubrik bereichert wurde. In der Ökoecke rumort es ja schon länger, und so geben wir dem Kampf gegen die globale Umweltzerstörung, aber auch gegen den Schein nachhaltigen Wachstums nun einen eigenen Namen: Biotopia. Auch unser treuer Dr. Flaschenbier hat für seine Tipps & Tricks zum Thema Hartz IV eine neue Bühne bekommen. Was es sonst noch Spannendes im aktuellen Heft zu entdecken gibt, müsst ihr schon selbst rausfinden. Viel Spaß beim Schmökern wünscht

Euer Feierabend!

P.S. Wer will, kann ja mal unsere Verkaufstelle des Monats, den Infoladen im Conne Island, besuchen. Da wird nicht nur der FA! archiviert, sondern auch noch jede Menge andere spannende Lektüre geboten.

Kernkompetenzen stärken

Vom Atomkompromiss nach Gorleben

Der deutsche Staat sorgt sich um seine Unternehmen – auch dort, wo die Wertschöpfung vorrangig auf der Produktion von giftigem Scheißdreck beruht. Solange die Steuergelder fließen, ist es egal, woher die Gewinne kommen. Der Atomkompromiss (1), auf den sich Regierung und Konzerne am 6. September 2010 einigten, liefert den Beweis dafür, ist er doch ein voller Erfolg für die Atommafia.

So sollen die sieben ältesten Kraftwerke acht, die übrigen zehn 14 Jahre länger laufen. RWE, E.ON, Vattenfall und EnBW bekommen damit Zusatzeinnahmen von etwa 4,4 Mrd. Euro pro Jahr. Die Beute wird brüderlich geteilt: Per Brennelementesteuer sichert sich die Regierung einen Anteil von 2,3 Mrd. Euro jährlich. Zusätzlich sollen die Konzerne Förderbeiträge (300 Mio. in den ersten zwei, 200 Mio. in den nächsten vier Jahren) in einen Fonds für den Ausbau der Ökoenergie zahlen. Nach 2016 tritt an die Stelle der Steuer eine neue Regelung, knapp ein Drittel der Gewinne (etwa neun Euro je Megawattstunde Strom) soll dann in  besagten Fonds fließen.

Heikel ist vor allem Abschnitt 4 des Vertrags, der die Konzerne durch diverse Klauseln vor eventuellen Mehrkosten (etwa infolge eines Regierungswechsels) schützt. So sinkt der Förderbeitrag entsprechend, wenn „Bestimmungen zur Laufzeitverlängerung und zur Übertragbarkeit von Elektrizitätsmengen (…) verkürzt, verändert, unwirksam oder aufgehoben werden“. Gleiches gilt, wenn die Nachrüstungs- oder Sicherheitsanforderungen eine Höhe von 500 Mio. Euro pro Meiler überschreiten. Anfangs hatte Umweltminister Röttgen noch Investitionen von durchschnittlich 1,2 Mrd. pro Kraftwerk gefordert. Und auch wenn die  Steuer erhöht oder länger als geplant erhoben wird oder die Konzerne durch neue Abgaben belastet werden, sinken die Beiträge. Die jetzigen Beschlüsse sind also nicht so einfach rückgängig zu machen.

Der von der rot-grünen Regierung geplante Atomausstieg wird damit weiter vertagt. Nun könnte es noch bis 2040 dauern, bis der letzte Reaktor vom Netz geht. Oder noch länger, denn die Laufzeiten werden nicht nach Jahren, sondern nach Strommenge berechnet. Das haben die Konzerne schon früher genutzt, um Kraftwerke länger am Netz zu halten, indem Meiler mit gedrosselter Leistung betrieben und Strommengen von einem Reaktor zum andern übertragen wurden.

Umweltminister Röttgen versucht, den Rückschritt als großen Schritt voran zu verkaufen: „Wir haben den Fahrplan ins Zeitalter der erneuerbaren Energien aufgestellt.“ Die Kernkraft wird rhetorisch glatt zum Ökostrom gemacht. Sie sei „das geeignete Instrument, um auch im Stadium des Übergangs in das regenerative Zeitalter das Ziel einer wirtschaftlichen, sauberen und sicheren Energieversorgung zu sichern“. Entscheidender dürfte sein, dass die Regierung sich davon „volkswirtschaftlich positive Effekte“ erhofft: Die weitere Förderung der Kernkraft ist eben der bequemste Weg, die CO2-Emission zu verringern, ohne die Wirtschaft zu belasten.

Laut dem Bundesfinanzministerium sollen die zusätzlichen Steuereinnahmen „auch dazu beitragen, die aus der notwendigen Sanierung der Schachtanlage Asse II entstehende Haushaltsbelastung des Bundes zu verringern.“ Ob es dazu kommt, ist fraglich, denn das Geld wird auch benötigt, um den Staatshaushalt zu stabilisieren. Und dem derzeitigen Atomgesetz nach trägt der Bund die Kosten für Betrieb und Stilllegung des Lagers. Nicht nur die Lage in der Asse II beweist, dass die Kernkraft keineswegs so sicher und sauber ist, wie die Regierung behauptet. Das ehemalige Salzbergwerk wird seit 1967 zur Lagerung von radioaktivem Müll genutzt. Seit 1988 dringt Wasser ein, was nicht nur zu einer Verseuchung des Grundwassers, sondern auch zum Einsturz der Anlage führen könnte. Ähnlich sieht es in Morsleben aus. Auch dort sickert Grundwasser ein, in den letzten Jahren stürzten wiederholt tonnenschwere Salzbrocken von der Decke.

Der desolate Zustand dieser Lagerstätten setzt die Regierung zusätzlich unter Druck, endlich ein geeignetes Endlager zu präsentieren. Denn längere Laufzeiten bedeuteten natürlich auch mehr Atommüll (Greenpeace zufolge zusätzlich 4800 Tonnen), und die müssen irgendwo hin. Ab Oktober soll darum nach zehnjähriger Pause die Erkundung des Salzstocks Gorleben wieder beginnen, angeblich um zu prüfen, ob dieser als Endlager geeignet sei. Allerdings ist Gorleben bislang der einzige Standort, der so „geprüft“ wird, die Entscheidung ist also wohl längst gefallen. Die schwarz-gelbe Koalition muss ein  Endlager vorweisen – Sicherheitsbedenken werden aus diesem politischem Interesse heraus ignoriert.

Und weil das Atomgesetz ohnehin geändert werden muss, soll auch gleich eine Klausel aufgenommen werden, mit der z.B. Bauern, unter deren Land sich Teile des Salzstocks befinden, enteignet werden können. Auch das könnte den alljährlichen Anti-Castor-Protesten in diesem Herbst neue Schubkraft verleihen. Der diesjährige Castor-Transport wird am ersten Novemberwochenende anrollen. Am 6. November findet eine Großdemonstration statt, am 7. November wird der Zug mit den Castorbehältern voraussichtlich das Wendland erreichen, bevor am 8. November der Transport über die Straße weitergeht (2). Hier gibt es Gelegenheit, sich der Atommafia auch ganz praktisch entgegen zu stellen. Also, auf ins Wendland – um der schwarz-gelben Regierung einen heißen Herbst zu bescheren!

(onkel mo)

 

(1) Das Dokument ist als PDF unter www.spiegel.de/media/0,4906,24307,00.pdf zu finden.

(2) Diese Termine könnten sich kurzfristig noch ändern. Mehr Infos findet ihr unter www.castor2010.de.

Es war einmal: Militante Gruppe Leipzig

Von der Militanten Gruppe Leipzig, die Anfang des Jahres Angst und Schrecken in unserem beschaulichen Städtchen verbreitete (siehe FA!#36) und Hoffnungen weckte, auch die unfriedliche Revolution könnte in Leipzig starten, gibt es Neuigkeiten. So wurde „Tommi T.“, mutmaßlich alleiniges Mitglied der Gruppe und begeisterter Bekennerschreibenverfasser, am 31. August der schweren Brandstiftung, Störung des öffentlichen Friedens und versuchtem Diebstahl sowie des versuchten Einbruchs für schuldig befunden und zu 3 ½ Jahren Haft verurteilt. Nachweisen konnten ihm die Büttel des Systems dabei nur den Karossentod eines BMW X5 vom 31. Januar, der finalen Zündelei des dreiteiligen und dann abrupt endenden revolutionären Flächenbrandes. Andere Brandstiftungen und vor allem die Mitgliedschaft in der Militanten Gruppe Leipzig konnten T. jedoch nicht angehängt werden. Dazu beigetragen haben könnte u.a. die Truecrypt-Verschlüsselung von T.’s Festplatte, die das sächsische Landeskriminalamt in vier Wochen nicht öffnen konnte. Relativ geschlossen blieb auch der Gerichtssaal, in dem sich außer Journalist_innen kaum jemand einfand. Was nicht zuletzt daran gelegen haben könnte, daß die von Richter Jens Kaden angeordneten strengen Sicherheitskontrollen den einen oder die andere abschreckten. So wurden am Einlaß Namen notiert, Ausweise und Mobiltelefone einbehalten. Doch immerhin war „Genosse“ Tommi vor Gericht standesgemäß mit Kapuze, Schal und Sonnenbrille im autonomen Schwarz vermummt, während der U-Haft nicht allein. Unterstützung bekam er von der Roten Hilfe OG Magdeburg und der Redaktion der Gefangeneninfo, die ihn als politischen Gefangenen betrachten. Allerdings nur aufgrund der  aus ihrer Sicht politischen Anklage, aus der politischen Einschätzung der Militanten Gruppe und ihrer Texte soll die Solidarität nicht rühren. Gerade nicht unterstützt, ja weitestgehend ignoriert hat ihn jedoch die hiesige linksradikale Szene. Die konnte seinen mutmaßlichen verbalradikalen Ausflügen und blindem Aktionismus rein gar nichts abgewinnen, schon aus der Angst vor drohender Repression der eigenen Strukturen. Doch ist ja alles auch schon lange her und es erinnert sich jetzt schon kaum noch jemand an die Ereignisse im Januar. So verwaist auch das „vorläufige offizielle Blog“ der Gruppe seit dem Tage Tommi T.s Verhaftung, die darin angekündigten Anschläge gegen Bonzen, ARGE und Medien bleiben unangetastet von staatlichen Stellen als ein stummes Mahnmal stehen. Lassen wir uns diese revolutionäre Schlappe eine Lehre sein und heben uns eigene militante Aktionen für das nächste Sommerloch auf!

(shy)

Eure Zukunft war gestern

Es ist wieder so weit: Die Leipziger Neonazis wollen einen neuen Anlauf wagen. Im Oktober 2009 bewegte sich die von Freien Kräften und Jungen Nationaldemokraten initiierte Großdemonstration keinen Meter weit vom Fleck. Schließlich verloren einige eher erlebnisorientierte „autonome Nationalisten“ die Nerven und attackierten die Polizei mit Steinen und Flaschen. Die Einsatzkräfte reagierten, indem sie ihre Wasserwerfer gegen die Neonazis in Stellung brachten und die Kundgebung auflösten (siehe FA!# 35).

In den Monaten nach dieser Schlappe griffen die Leipziger Neonazis erst einmal auf Plan B zurück: Bis zum März 2010 führten sie mehrere Spontandemos, u.a. in Grünau, Lößnig und Reudnitz durch. Mehr als jeweils 50 Teilnehmer konnten sie dabei aber nie mobilisieren, und da die Aufmärsche sicherheitshalber immer nachts stattfanden, war die Außenwirkung minimal. Ein Jahr nach dem Debakel wollen die Kameraden es nun am 16. Oktober ein zweites Mal versuchen. Aber statt mit nur einem wollen die Nasen nun mit gleich vier (!) Aufmärschen gleichzeitig punkten.

Der erste soll von Plagwitz, Engertstraße/Ecke Karl-Heine-Straße aus losgehen, um dann über die Jahnallee Richtung Hauptbahnhof zu ziehen. Das Motto ist „Kapitalismus abschalten – Zinsherrschaft brechen“ (man beachte den antisemitischen Unterton…). Der zweite soll dagegen unter dem Motto „Gegen Polizeiwillkür und staatliche Gewalt“ von Hauptbahnhof aus eine Runde den Innenstadtring entlang drehen. Demo Nummer drei (unter dem Slogan „Zukunft statt Krisenzeiten“) soll am Rathaus Wahren starten. Die vierte Demo ist für den Leipziger Süden angekündigt, laut der LVZ soll die Route von der Connewitzer Straße ausgehend über Bornaische und Karl-Liebknecht-Straße Richtung Ring führen. Die Anmeldung ging dabei einscheinend von der rechten Hooligantruppe Blue Caps aus, die (noch unbestätigten Informationen zufolge) mit diesem Aufmarsch gegen den „linken Terror des Roten Stern Leipzig“ demonstrieren will.

Auch die anderen Anmelder sind alte Bekannte aus der Leipziger rechten Szene. Tommy Naumann und Istvan Repaczki  sind schon länger bei den Freien Kräften, und seit einiger Zeit auch bei den Jungen Nationaldemokraten aktiv. Beide traten bei den letzten Stadtratswahlen als Kandidaten für die NPD an und waren bei verschiedenen Übergriffen, z.B. auf das AJZ Bunte Platte beteiligt (siehe FA!# 30). Naumann hatte schon die Demonstration vor einem Jahr angemeldet. Dritter im Bunde ist Maik Scheffler, der als NPD-Abgeordneter im Delitzscher Stadtrat sitzt.

Ob der Plan der Kameraden aufgeht, die zahlenmäßige Übermacht von Gegendemonstrant_innen und Polizei mit dieser Strategie auszugleichen, bleibt abzuwarten. Wegen der bundesweiten Mobilisierung muss immerhin davon ausgegangen werden, dass ähnlich viele Neonazis wie im letzten Jahr den Weg nach Leipzig finden. Allerdings werden die Aufmärsche sehr wahrscheinlich zusammen- und auf andere Routen gelegt. Vor allem der geplante Marsch durch Connewitz dürfte auf massive Sicherheitsbedenken seitens der Polizei stoßen. In Plagwitz dürfte es ähnlich aussehen. Auch ob die Neonazis über den Innenstadtring laufen dürfen, ist fraglich, wegen eines zeitgleich im Zentralstadion stattfindenden Fussballspiels auch die Strecke über die Jahnallee.

Zum Ausgleich für solche möglichen Einschränkungen wird die Polizei die Neonazis dieses Jahr wohl etwas zuvorkommender behandeln als beim letzten Mal. Immerhin läuft beim Leipziger Verwaltungsgericht immer noch eine von Anmelder Tommy Naumann im November 2009 eingereichte Klage. Naumann fühlt sich vom Freistaat Sachsen, der Stadt Leipzig und insbesondere dem Leipziger Polizeichef Wawrzynski ungerecht behandelt, u.a. weil die von ihm vor einem Jahr angemeldete Demonstration nach der Auflösung eingekesselt und alle (ca. 1350) Beteiligten erkennungsdienstlich behandelt wurden.

Mensch sollte also nicht darauf warten, dass die Polizei das Problem für eine_n löst. So ist es auch zweitrangig, wie die üblichen rechtlichen Querelen im Vorfeld der Demonstrationen letztendlich ausgehen. Denn mit Verboten lässt sich akute Dummheit ohnehin nicht wirksam bekämpfen. Statt auf staatliche Hilfe zu hoffen, sollten wir auch diesmal das Mittel der direkten Aktion wählen und uns den Nazis in den Weg stellen, setzen oder legen – damit sich für sie auch dieser Tag in ein Desaster verwandelt!

(onkel mo)

Mehr Infos unter:
1610.blogsport.de
und leipzignimmtplatz.de

„Wir wollen gleichwertige medizinische Versorgung für jeden“

Interview mit einem Medinetz-Aktivisten in Leipzig

Am 07.06. belebte eine kleine aber feine Demo die Leipziger Innenstadt und die Eisenbahnstraße. Circa 120 Aktivist_innen, die vorwiegend  in den bundesweit verstreuten Medinetzen aktiv sind, informierten und sensibilisierten dort die Öffentlichkeit für ihre Arbeit, die Situation der Menschen ohne Papiere in Deutschland und ihre Forderungen nach Veränderung. Zuvor trafen sie sich ein Wochenende lang zu ihrem dritten Vernetzungstreffen in der G16 in Leipzig, um sich auszutauschen, gemeinsame politische Standpunkte zu finden und die bundesweite Vernetzung voranzutreiben. Feierabend! sprach mit einem Aktivisten aus Leipzig über die konkrete Medinetz-Arbeit, Hintergründe, Organisation und Anspruch: 

PRAXIS & RECHT

FA!: Hallo. Du bist ja einer der Aktiven im Leipziger Medinetz. Was macht ihr dort eigentlich konkret?
Unsere Arbeit orientiert sich hauptsächlich in zwei Richtungen: Zum einen organisieren wir medizinische Versorgung für Menschen, die keinen Aufenthaltsstatus haben, und zum zweiten versuchen wir politisch dahingehend zu arbeiten, dass sich ihre rechtliche Situation verbessert. Die rein praktische Arbeit nimmt momentan die meiste Zeit in Anspruch. Wir hatten bisher 13 Patientinnen und Patienten und haben u.a. eine Operation organisiert.

FA!: Wie funktioniert eure Arbeit, also die medizinische Versorgung der illegalisierten Migrant_innen, konkret?
Wir haben vor unserem wöchentlichen Plenum jeden Dienstag von 16-18 Uhr unsere Sprechstunde in den Räumen des Eurient e.V.. Je nachdem, was der oder die Patientin dann braucht, schicken wir sie direkt zu Spezialisten oder zum Allgemeinarzt. Da wir uns keine Differentialdiagnose zutrauen – also wenn z.B. jemand mit Bauchschmerzen kommt – gucken wir unsere Karteikarten durch, wen wir von den Fachmedizinern ansprechen können, rufen dann an und vermitteln gleich einen Termin. Wenn es gewünscht ist auch mit Begleitung. Dann organisieren wir in der Regel noch Dolmetscher oder Dolmetscherinnen, weil es meistens etwas schwierig mit der Kommunikation ist. Das heißt, wir selber behandeln überhaupt nicht, sondern vermitteln! Das ist auch unser Anspruch: Wir wollen gleichwertige medizinische Versorgung für jeden. Wir wollen nicht so ein Parallelsystem etablieren, wo die Leute dann „Hinterhofmedizin“ bekommen, sondern wir wollen richtig für die Leute das, was ein Mensch der hier legal lebt, auch bekommen würde.

FA!: Warum ist es für Menschen ohne Papiere denn so schwierig medizinisch adäquat versorgt zu werden?
Das ärztliche Personal ist ja vor die Aufgabe gestellt, das Geld zu bekommen für die medizinische Dienstleistung, die sie erbringen. Weil die Menschen aber mittellos sind und keine Krankenversicherung haben, ist eigentlich rein rechtlich das Sozialamt für sie zuständig. Das heißt, die Menschen gehen zum Arzt, geben ihre Personalien ab, der Arzt bzw. das Verwaltungspersonal schickt dann die persönlichen Daten zum Sozialamt und bittet um die Rückerstattung der Kosten. Das Sozialamt ist rein rechtlich verpflichtet die Kosten zu  übernehmen. Nach § 4 und § 6 des Asylbewerberleistungsgesetzes müssen sie Akutbehandlung, Schmerzbehandlung, schwangerschaftsbegleitende Maßnahmen und Maßnahmen, die zum Erhalt der Gesundheit notwendig sind, finanzieren. Das Problem ist, dass das Sozialamt verpflichtet ist, die Daten an die Ausländerbehörde weiter zu geben. Und die Ausländerbehörde ist natürlich daran interessiert diese Menschen zu finden und „rückzuführen“, so nennen die das. Und das bedeutet in letzter Konsequenz, dass die Leute erst dann zum Arzt gehen, wenn die Abschiebung nicht mehr schlimmer ist, als die Krankheit. Und das ist natürlich ganz schön krass.

FA!: Und ihr hintergeht quasi diese Übermittlungsverpflichtung des Sozialamtes an die Ausländerbehörde, indem ihr die Ärzte überredet, sie anonym zu behandeln? Bekommen die dann das Geld von euch?
Ja, der Kern ist dieser § 87 des Aufenthaltsgesetzes. Und das ist auch das, was wir alle abgeschafft haben wollen – wo sich auch alle Medinetze einig sind. Weil diese Übermittlungspflicht verhindert, dass die Menschen ihre Personalien angeben können. Deswegen haben wir zu den Ärzten gesagt: „Wir möchten sie bitten diese Menschen zu behandeln, ohne dass sie die Personalien aufnehmen. Führen sie die Patienten unter einem Synonym“. So kann der Patient unter einer Kartei geführt werden und der Arzt soll uns dann die Rechnung schicken. Aber in vielen Fällen bekommen wir auch gar keine Rechnung, da machen die Ärzte das dann einfach kostenlos.

FA!: Setzen sich die Ärzte eigentlich rechtlich betrachtet irgendeiner Gefahr aus, wenn sie die Illegalisierten behandeln?
Nee, gar nicht. Denn Ärzte haben zum einen eine Schweigepflicht, d.h. sie dürfen gar nicht über das reden, was sie machen. Und sie sind zum anderen zu ärztlicher Hilfe verpflichtet. Also wenn ein Mensch mit Behandlungsbedarf zum Arzt kommt, dann muss der Arzt auch helfen. D.h. sie machen sich auf gar keinen Fall strafbar. Aber da gibt es auch noch viel Aufklärungsbedarf. Viele Ärzte denken, das ist „Beihilfe zum illegalen Aufenthalt“. Das ist der sog. Schlepperparagraph des Aufenthaltgesetzes, wo es heißt, dass wenn ein Mensch seinen illegalen Aufenthalt in Deutschland von der Hilfe eines anderen Menschen abhängig macht, dann macht sich dieser Andere strafbar und wird mit 3-5 Jahren Freiheitsentzug bestraft. Das ist eine ziemlich krasse Regelung. Das heißt aber konkret, wenn du einem Menschen deinen Pullover schenkst oder 10€ gibst, reicht das nicht aus, aber wenn du ihn bei dir wohnen lässt oder regelmäßig finanziell unterstützt, wird das bestraft. Das gilt aber nicht für Angehörige humanitärer Berufe, also für ärztliche Dienstleistung, für Sozialarbeiter und karitative Geschichten – also auch für uns. Das ist ganz interessant, denn die NPD in Dresden hat mal die dortige Medinetzgruppe angezeigt wegen „Beihilfe zum illegalen Aufenthalt“ – aber ist natürlich nicht durchgekommen.

ORGANISATION &THEORIE

FA!: Wie viele Leute seid ihr eigentlich in der Leipziger Kerngruppe, die das Ganze organisieren?
Na, ich sag mal so 10-15, die ziemlich aktiv sind und noch mal 10-15 im Umfeld, die immer mal aktiv werden. Wir sind im Vergleich zu anderen Städten eigentlich ziemlich viele.
Und dann haben wir zurzeit ungefähr einen Stamm von 25-30 in Leipzig niedergelassenen Ärzten. Die haben wir bekommen, indem wir 2009 über 1000 Ärzte angeschrieben haben.

FA!: Und wie lange gibt es das Leipziger Netzwerk schon?
Wir haben uns Anfang des Jahres 2009 zusammengefunden, das Gründungsdatum ist irgendwann im Februar. Es gab vorher eine Leipziger IPPNW Gruppe von den Medizinstudenten der Universität Leipzig. Das steht für International Physicians for the Prevention of the Nuclear War, auf deutsch: Ärzte in sozialer Verantwortung – frei übersetzt.  Die hatten sich vor 1990 zum Ziel gesetzt den Atomkrieg zu verhindern. Nach der Wende haben sie sich andere Aufgabenbereiche gesucht, u.a. die Abschaffung der Atomenergie zur Zivilnutzung und auch humanitäre Geschichten. Und die Leipziger IPPNW-Gruppe hat dann Ende des Jahres 2008 über eine Person, die aus dem Hamburger Medinetz gekommen ist und den Studienort gewechselt hat, erfahren, dass es so was wie ein Medinetz gibt und dass das in anderen Städten schon praktiziert wird. Ja ,und dann wollten sie das hier auch machen und haben sich als kleiner Kreis zusammengefunden. Daraufhin hat sich die bisherige IPPNW-Gruppe aufgelöst und ist zum Medinetz geworden. Mitte letzten Jahres hat sich dann auch wieder eine IPPNW-Gruppe gefunden. D.h. es gibt jetzt beides in Leipzig.

FA!: Wie seid ihr organisiert und wie finanziert ihr eure Arbeit?
Also wir sind auf jeden Fall völlig hierarchiefrei organisiert, auch wenn wir so was wie einen Vorstand und eine Kassenwärtin haben. Wir treffen uns 1x die Woche zum Plenum und besprechen dort alles was anliegt. Wir haben  immer ein paar Menschen die sich um die Stiftungen, ein paar die sich um die Finanzen und ein paar Menschen die sich um Presse kümmern. Es gibt also schon eine Arbeitsteilung, aber im Prinzip machen diejenigen die Lust und Zeit haben die Aufgaben die anfallen.
Das meiste Geld das wir haben, bekommen wir von Stiftungen. Eine andere Einnahmequelle sind Mitgliedsbeiträge, jeder von uns zahlt im Jahr 10€ ein. Dann kann man bei uns Spendenmitglied werden oder auch einfach so spenden – dafür bekommt man auch eine Spendenquittung, weil wir ein gemeinnütziger Verein sind. Und wir organisieren hin und wieder Soli-Partys, Cocktail-Bars und so’n Zeug.

FA!: Du hast vorhin gemeint, das eine ist die praktische Arbeit die ihr macht, was du ja jetzt auch ausführlich beschrieben hast, der andere Teil ist die politische Arbeit. Kannst du letzteres mal noch näher ausführen?
Ja, zur politischen Arbeit gehört v.a. Aufklärungsarbeit. Erstens versuchen wir die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren, zweitens versuchen wir den Ärzten klar zu machen, dass sie sich in keinster Weise strafbar machen, drittens versuchen wir den Sozialämtern klar zu machen, dass sie verpflichtet sind zur Übernahme der Kosten, und zum vierten versuchen wir bundesweit politisch zu arbeiten. Wobei wir da noch ganz in den Kinderschuhen stecken: Wir versuchen gerade die Medinetze untereinander zu vernetzen und eine Kampagnenfähigkeit hinzubekommen, um dann so Ziele wie die Abschaffung des § 87 des Aufenthaltsgesetzes durchzusetzen oder die Einführung des anonymen Krankenscheins [siehe Kasten].

FA!: Was ist die Motivation hinter eurem Engagement? Warum hast du z.B. beschlossen beim Medinetz mitzumachen und was ist generell euer Anspruch, also was kritisiert ihr an den bestehenden Verhältnissen?
Zumindest bei mir und vielen anderen Leuten die hier dabei sind, besteht ein recht radikaler Anspruch, nämlich dass jeder Mensch die gleichen Rechte hat und dass jeder Mensch die absolute Bewegungsfreiheit genießen sollte. Jeder sollte selber seinen Aufenthaltsort, seinen Arbeitsbereich, seine Lebensumstände frei wählen können und daran versuchen mit zu arbeiten. Ich bin auch dafür, dass die Grenzen geöffnet werden, dass die Menschen hier her können. Denn Deutschland hat in seiner Position in den letzten Jahrhunderten eigentlich daran mitgewirkt, dass in den Ländern der sog. „Dritten Welt“ so ein Mangelzustand entsteht, so dass die Menschen dort einfach nicht mehr leben wollen oder können. Auch jetzt noch z.B. durch diese Freihandelsabkommen [siehe FA! 37, Anm.d. Red.]. Wir verschlechtern die Situation dort einfach dermaßen, dass die Menschen nur noch weg wollen – und dann hindern wir sie daran. In meinen Augen besteht da ein ganz großes Unrecht und ich versuche einfach im Rahmen meiner Möglichkeiten einen Ausgleich zu schaffen. Und ich finde den Gedanken, dass ein Mensch verletzt ist und keine medizinische Versorgung bekommt, unerträglich. Egal was das für ein Mensch ist.

FA!: Ist dein politischer Anspruch auch ein Konsens innerhalb des Leipziger Medinetzes? Was habt ihr in eurem Selbstverständnis diesbezüglich festgehalten?
Naja, Konsens würde ich jetzt so nicht sagen. Die Meinungen gehen da schon auseinander. Aber ich glaube, die meisten würden das schon mit unterstützen. Was wir alle ganz zentral fordern, ist die Abschaffung des § 87 des Aufenthaltsgesetzes. Dann fordern wir als Leipziger Medinetz das Recht auf adäquate, gleichwertige medizinische Versorgung für jeden Menschen, Bewegungsfreiheit und freie Wahl des Aufenthaltsortes.

FA!: Wie kann man sich das Medinetzwerk bundesweit vorstellen? Was existiert da an Strukturen, wie viele Medinetze gibt es da?
Also meinem Wissen nach sind es 22 Medinetze, die auch in allen größeren Städten Deutschlands vertreten sind. Das erste Medibüro wurde 1994 in Hamburg gegründet, gefolgt 1995 vom Medinetz Berlin. Die sind total heterogen strukturiert. Ich glaube, meistens sind sie auch hierarchiefrei organisiert. Aber in Freiburg sind es fast ausschließlich Ärzte, die das organisieren, in Hamburg meist Geisteswissenschaftler und hier v.a. Medizinstudenten – also sehr gemischt. Diese Anlaufstellen tragen auch überall andere Namen – das muss nicht immer Medinetz heißen. Und wir haben uns in diesem Jahr das dritte Mal in Folge getroffen, dieses Mal hier in Leipzig. Es gab auch eine ziemlich gute Resonanz, es waren genau 100 Leute da. Also ungefähr 5 von jedem Medi-Büro, und das ist schon ziemlich gut.

FA!: Was habt ihr da konkret besprochen und gemacht auf dem diesjährigen Vernetzungstreffen?
Es gab eine Workshop-Reihe, da war zum einen Thema: Schwangerschaft in der Illegalität, Frontex, § 87 des Aufenthaltsgesetzes, Probleme in den Medinetzen usw. Ein großes weiteres Thema war Vernetzung, und da hat sich jetzt herauskristalisiert, dass wir uns eine Kampagnenfähigkeit erarbeiten wollen. Und wir wollen eine gemeinsame Internetplattform aufbauen, wo dann auf einer zentralen Seite alle Medinetze miteinander verlinkt sind. Wir wollen auch einen Reader herausbringen, der inhaltlich und politisch Stellung beziehen soll, den man auch auslegen kann und der für die Öffentlichkeitsarbeit da ist.

FA!: Du hast vorhin erwähnt, dass es da auch politische Differenzen gibt: kannst du noch mal das bundesweite Spannungsfeld oder Spektrum von Medinetz-Aktivist_innen und ihren Positionen darstellen?
Ja, also es gibt Menschen, denen geht es primär um die medizinische Versorgung, also die handeln aus einem humanitären Beweggrund heraus, sind aber nicht daran interessiert die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu verändern. Zumindest nicht so massiv, wie das andere Medinetze wollen. Wir als Leipziger Medinetz stehen da schon deutlich weiter links, weil wir am liebsten die ganze Aufenthaltsgesetzgebung abschaffen wollen und fordern, dass alle Menschen sich überall frei bewegen können. Es gibt aber Medinetze, die dem nicht zustimmen würden, aus welchen Gründen auch immer. Um aber gemeinsam was in die Öffentlichkeit tragen zu können, haben wir uns in langen Diskussionen erstmal auf einen Minimalkonsens geeinigt.

FA!: Kannst du ungefähr sagen, wie viele Aktivist_innen in ganz Deutschland im Medinetzwerk so aktiv sind?
Na, ich denke mal, pro Medinetz kann man ca. 10-15 feste Leute rechnen, macht insgesamt so 200-300 Leute. Plus die Ärzte, Physiotherapeuten, Krankenschwestern, Dolmetscher und alles was noch in dem Umfeld hängt, da kommt man noch auf ganz andere Zahlen. Denn allein in Leipzig arbeiten insgesamt ca. 80 Leute für oder in gewisser Weise mit dem Medinetz. Aber so genau können wir das gar nicht sagen, denn wir erheben keine Studien.

GELEBTE SOLIDARITÄT

FA!: Wie viele der Illegalisierten suchen eure Sprechstunde inzwischen auf?
Ein Knackpunkt ist auch die Frage, wie wir unsere Zielgruppe erreichen. Das ist recht schwierig und tatsächlich auch unser größtes Problem. Wir arbeiten da mit Flyern, die wir an Orten auslegen, wo eine große Dichte an Menschen mit Migrationshintergrund ist. Bisher kommen so ca. 1-2 Menschen im Monat, mit steigender Tendenz. Das liegt natürlich auch daran, dass es unsere Sprechstunde erst seit knapp über einem Jahr gibt. Und es ist natürlich so, wenn die Menschen nichts von uns wissen und kein Vertrauen haben, dann ist erstmal ein sehr verhaltener Zulauf da. Aber das spricht sich auch rum. Wir wissen nicht genau, wie groß der Bedarf ist, aber es wird geschätzt, dass es in Leipzig so ca. 4000-10.000 Menschen ohne Aufenthaltstatus gibt und das wäre natürlich ein immenser Bedarf.

FA!: Die Menschen, die zu euch kommen, leben ja sicherlich schon in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen. Aber kannst du mal so allgemein erzählen, wie es den illegalisierten Leuten geht, die zu euch kommen – auch unabhängig von ihrer Krankheit? Was kannst du da beobachten?
Also das was sich so durchzieht, ist Verzweiflung. Jahrelang in der Illegalität zu leben, ist eine Situation, die hochgradig depressionsfördernd ist. Der Anteil an Menschen mit psychischen Erkrankungen, von denen die in der Illegalität leben, liegt bei 50% oder so. Und das ist Wahnsinn. Und was ich bei den Menschen beobachte, die ich auch persönlich kennen gelernt habe, ist, dass sie einfach völlig frustriert, verzweifelt und verunsichert sind. Ja, und die meisten sind ziemlich happy, wenn ihnen geholfen wird, da sie oftmals in einer ausweglosen Situation sind. Es erfordert auch Mut sich einer Organisation zuzuwenden, die man jetzt nicht kennt –  also, wenn ich in einem völlig fremden Land wäre, wo ich die Sprache nicht spreche und eine Verletzung oder Krankheit habe, ich würde mir dreimal überlegen, wo ich hingehe. Viele wissen auch gar nicht was wir machen, da steht nur ‚anonyme und kostenlose Behandlung“, aber das kann ja auch ein Fake vom Staat sein. Deshalb sind die Leute am Anfang auch oft zurückhaltend und schüchtern, aber wenn sie merken, dass wir es gut mit ihnen meinen, dann werden sie irgendwann sehr herzlich.

FA!: Kannst du abschließend noch sagen, wie man bei euch mitmachen kann, wo man euch findet und was ihr für die Arbeit gebrauchen könnt?
Ja, wer Interesse hat, uns kennen zu lernen, kann Dienstags 18 Uhr in die Räume des Eurient e.V. kommen (Kurt-Eisner-Str. 44). Dann können wir uns und unsere Arbeit kurz vorstellen und man kann auch beim Plenum mit dabei sein. Das ist meistens ganz spannend, weil man mal einen Einblick kriegt, wie wir so arbeiten. Und wer sich eine aktive Mitarbeit nicht vorstellen kann, der kann uns einmal mit Spenden unterstützen und auch durch z.B. Dolmetschertätigkeiten. Oder wenn jemand einen medizinischen Beruf hat, wie z.B. Hebamme, Krankenschwester, Arzt, Physiotherapeut, Logopäde, Psychotherapeut, wer da irgendwie examiniert ist oder eine abgeschlossene Ausbildung hat, kann sich an uns wenden und sich anbieten, für uns zu arbeiten. Und der oder diejenige wird dann in die Kartei aufgenommen und bei Bedarf angesprochen.

Vielen Dank für das Interview und viel Erfolg bei der weiteren Arbeit sowie dem nächsten Vernetzungstreffen in Mainz 2011.

(momo)

 

Anonymer Krankenschein &  Paragraph 87 des Aufenthaltsgesetzes:

Die bundesweiten Medinetze fordern gemeinsam die Abschaffung des §87 des Aufenthaltsgesetzes und unterstützen die Idee des anonymen Krankenscheines.
Der §87 besagt hauptsächlich, dass alle öffentlichen Stellen verpflichtet sind unverzüglich die Polizei oder zuständige Ausländerbehörde zu unterrichten, wenn sie Kenntnisse über Menschen ohne rechtlichen Aufenthalttitel erlangen, einen Verstoß gegen die räumliche Beschränkung (Residenzpflicht) bemerken oder zu Informationen kommen, die einen anderen Ausweisungsgrund betreffen. Seit September 2009 existiert jedoch eine neue Verwaltungsvorschrift, die besagt, dass auch für Verwaltungsangestellte und das Sozialamt der verlängerte Geheimnischutz (ärztliche Schweigepflicht) gilt, so dass diese bei akuten Behandlungen die Daten nicht weitergeben sollten. Leider wird diese Vorschrift bisher noch nicht von den Ämtern umgesetzt.
Im Konzept des „Anonymen Krankenscheines“ gibt es eine öffentliche Anlaufstelle, bei der sich Menschen ohne Aufenthaltstatus melden können. Sie bekommen dann bei Nachweis ihrer Statuslosigkeit, eine anonyme Krankenkarte, wo statt der Personalien ein Code erfasst ist, der auch dem Sozialamt übermittelt wird. Dieses übernimmt dann die Kosten für die medizinische Dienstleistung, da ja eine Person hinter dem Code registriert wurde. Im Berliner Stadtrat wurde die Einführung dessen bereits diskutiert, in Berlin und Hamburg laufen dazu auch Modellprojekte. Auch die Bundesärztekammer fordert die Einführung des anonymen Krankenscheines.

Die Intellektuellen und der Kommunismus

Bericht zum Kongreß „Idee des Kommunismus“ im Juni 2010

Am letzten Juni-Wochenende fand in Berlin, genauer in der schönen alten Volksbühne, eine Konferenz unter dem ambitionierten Titel „Idee des Kommunismus“ statt. Es war keine Veranstaltung einer marxistischen Partei, sondern der Versuch sich philosophisch und künstlerisch dem Begriff “Kommunismus” zu widmen, und zwar  „zwischen philosophischer Kritik und aktuellem Resümee der sozialistischen Staaten“ (1). Thematisiert wurden verschiedenste Aspekte der Überwindung des Kapitalismus und der zukünftigen Gesellschaft, immer auf hohem intellektuellen Niveau.

Praktisch hieß das, dass an 3 Tagen, in 4 „Panels“ und einer Podiumsdiskussion etwa 20 Intellektuelle sprachen. Durch den häufigen Bezug auf marxistische Theoretiker war das Folgen teilweise mühsam und der meist starke Akzent der auf Englisch Vortragenden erschwerte das Verständnis zusätzlich. Die angebotene Simultan-Übersetzung war zwar ziemlich gut, lies aber trotzdem Raum für Interpretationen. Die theoretischen Vorträge wurden am Abend durch ein Kulturprogramm ergänzt. Kryptische Performances, einige Filme und (Video-)Installationen versuchten der „Idee des Kommunismus und seines Potentials für die Kunst“ auf die Spur zu kommen, was auch der Titel einer Podiumsdiskussion am Freitagabend war. Dies war übrigens die einzige wirkliche Diskussion! Sonst saßen zwar immer drei Referenten pro Panel auf der Bühne, bezogen sich jedoch kaum aufeinander. Auch die Diskussion mit dem Publikum blieb beschränkt auf ein paar Fragen und Kommentare, auf die dann teilweise nicht mal eingegangen wurde. Die ganze Veranstaltung war also eher frontal ausgerichtet und außerdem männlich dominiert. Als einzige Frau sprach Cecile Winter.

Die zwei prominentesten Referenten waren die beiden Organisatoren, Slavoy Zizek und Alan Badiou, wobei gerade die Philosophie Badious einen zentralen Bezugspunkt für viele Referenten bildete. Auch Antonio Negri war kurzfristig angereist, der durch seine postmoderne Neudefiniton des Klassenkampfes als Kampf „Multitude“ vs „Empire“ Popularität erlangte. Sein Vortrag war eine Ausführung zu den veränderten Bedingungen im Spätkapitalismus, welche die Untersuchung der postmodernen Subjektivierung zur zentralen Frage machen würde. Dass er bei der Suche nach dem, eben nicht mehr soziologischen sondern, politischen Subjekt der Arbeiterklasse dann allerdings bei der Multitude (2) landet, wurde einige Male als unrealistisch angegriffen. Es gab also durchaus kleinere Differenzen, dennoch war man sich weitgehend einig. Konsens war ein grundsätzliches Festhalten und die Verteidigung des Begriffes „Kommunismus“, wenn auch selbstverständlich nicht des realsozialistischen Projektes. Da die Verbrechen im Namen des Kommunismus ja nicht wegzuleugnen sind, ging es vor allem um eine Restaurierung des Begriffes durch die Formulierung einer eigenen Kritik am Ergebnis des kommunistischen Versuches. Diese Selbstkritik sei überhaupt die exaktere. Die bürgerliche Kritik wäre dagegen nicht fähig die philosophischen Ursachen der Schrecken dieser (der realsozialistischen) Systeme zu verorten und beschränke sich daher auf das Erfassen und Zuschreiben von Greueltaten auf individuelle Akteure (3).

Das Festhalten am Begriff geschah je nach Theoretiker auf sehr unterschiedliche Weise. Während „Kommunismus“ für den eher künstlerischen Felix Ensslin, als ultimative Leerstelle, auf einer Stufe mit der Kunst steht, wurde auch einiges an rethorischem Klassenkampf geboten. Aufbau der Partei, revolutionäre Gewalt, das alles wurde nicht ausgespart, sondern auf geradezu klassische Art und Weise besprochen, wenn auch natürlich die philosophische Seite im Mittelpunkt stand und mehr Raum einnahm. Dadurch wurde die Sache auch selten konkret, es war eine Veranstaltung zum Denken und nicht zum Handeln, wie auch dem Zuschauer klargemacht wurde, der zur Revolution „hier und jetzt“ aufforderte. Gleich der erste Beitrag von Frank Ruda und Jan Völker betonte dass jetzt erstmal eine tiefe Reflektion angesagt sei. Denn jeder weitere ziellose Aktionismus würde die Verwirrung nur noch steigern, welche die „Signifikanten der Desorientierung“ Demokratie und Freiheit heute verbreiten. Dennoch wurden die Beiden am konkretesten, auch in ihrer Kritik an der heutigen „sozialistischen“ Politik, die durch das Streben nach staatlicher Macht und der dazu gehörenden Kompromisse zu purer Selbstverleugnung werde. Konkret forderten sie stattdessen Mut und Vertrauen in die eigene Geschichte der Kämpfe und der Fähigkeit zu kollektivem Handeln in einer Organisation. Diese dürfe eben nicht auf die staatliche Macht ausgerichtet sein, sondern die angestrebte Gleichheit der Menschen schon hier und heute verwirklichen. Dies war die Einzige (wenn auch nur indirekte) Stellungnahme zu dem Thema, das sonst gar nicht angesprochen wurde: die heikle Frage nach den hierarchischen Organisationsformen der kommunistischen Bewegung. Angesichts der Relevanz, die diese Frage sowohl in der Entwicklung der sozialistischen Staaten, als auch in der Bewegung als solcher hat (Spaltung der Ersten Internationalen), war dieses Übergehen ein großes Versäumnis. Vielleicht hätte eine derartige Thematisierung eine grundsätzlichere Distanzierung zu der sozialistischen Vergangenheit verlangt, denn obwohl der Realsozialismus heftig kritisiert wurde, wurde doch unter den vielen marxistischen Theoretikern auch fleißig Lenin und einmal sogar Stalin zitiert. Durch diese Bezüge, auch auf den Maoismus, und die fehlende Versicherung, dass die zukünftige Gesellschaft eine wirklich (hierarchie-)freie sein soll, bekam die ganze kommunistische Rhetorik der Konferenz einen gruseligen Beigeschmack.

Fraglich ist, wie viele aus dem Publikum das Ganze überhaupt ernst genug genommen haben, um diesen Grusel zu empfinden. Menschen verschiedenen Alters, Geschlechts und Milieus trafen zusammen, vom Gesamtbild her war es mehr studentisch und künstlerisch als „linksradikal“ geprägt. Der Kongress war zwar gut besucht, so richtig voll wurde es aber erst am Samstagmittag, als „der Star“ auftrat. Es war merkwürdig zu betrachten, wie viele eben doch nur für den Auftritt Zizeks kamen. Dabei war sein Beitrag inhaltlich zwar fundiert und durch seine typische, grundlegende Herangehensweise auch lohnender als viele andere, dennoch ein bißchen zu viel Wiederholung. Er versuchte „am Anfang anzufangen“ (4) und die gegenwärtige Situation zu beleuchten, zwischen der Stigmatisierung jeglicher sozialer Kollektivität als unmöglich und der eigenen Angst vor einem Scheitern des antikapitalistischen Projekts durch einen Sieg, der entgegen den eigenen Intentionen eine menschenverachtende Ordnung hervorbringen könnte. Anstatt letzteres jedoch tiefer auszuführen, verfiel er bald in eines seiner Lieblingsthemen. Ohne Zweifel: Das immer mächtigere Wirken der Ideologien im angeblich „post-ideologischen“ Zeitalter, die gerade durch die scheinbare Distanzierung von dem ganzen „Theater“, den Menschen immer mehr zu einem braven Konsumenten und Untertan machen, ist durchaus ein wichtiges und lohnendes Thema. Es wurde von ihm allerdings auch schon zur Genüge ausgeführt und ist in zahlreichen Versionen online nach zu recherchieren (5).

Die Frage ist also letztlich, inwiefern die Konferenz neben viel Altbackenem ihr Ziel wirklich erreicht hat, den Begriff des Kommunismus und die damit korrespondierenden Ideen zu restaurieren und damit zu einem aktuellen antikapitalistischen Projekt beizutragen. Zu einer Bewegung, wie die der Solidarnosc (Solidarität), die von einer kleinen Gewerkschaftsbewegung zu einem Sammelbecken des Widerstands gegen den Realsozialismus in Polen wurde (6), hat der Kongress wohl wenig beigetragen. Trotz der vielfach interessanten und inspirierenden Vorträge (für die, die genügend Vorwissen und Bildung hatten) war es insgesamt mehr ein Treffen alternder Professoren als wirklich aktiver AntikapitalistInnen. Auch wenn Theorie notwendig ist um nicht noch mehr zur allgemeinen Desorientierung beizutragen, so war der revolutionäre Gestus etwas übertrieben dafür, dass wiedermal „nur“ geredet wurde. In einem Interview im Internet spricht Zizek von den linken privilegierten Theoretikern, die soviel über die Revolution reden, eben damit sich faktisch nichts ändert. Durch den vermehrten Redeschwall würde nur überdeckt, wie akut die Situation schon ist und dass sich eben wirklich tiefgreifend etwas ändern müsste.

Trotz aller Kritik hat der offen vertretene Antikapitalismus doch immer eine erschreckende Wirkung. Weil die Konferenz so viele kritikwürdige Aspekte aufwies, konnte das von den Medien hemmungslos ausgeschlachtet werden, um auch den Inhalt zu diskreditieren. Da sind sich die Süddeutsche, der Spiegel und die Jungle World einmal einig: Der Kongress war lächerlich, der vertretene Antikapitalismus peinlich und Zizek ist ein gefährlicher Idiot. Soviel Ablehnung gegenüber einer angeblich nichtigen Konferenz macht stutzig. So scheint zumindest die offene Thematisierung des Kapitalismus als menschenfeindlich und daher zu überwinden so außergewöhnlich, dass es doch Respekt verdient, wenn dies jemand auf einer so großen Bühne tut.

Aus meiner Sicht liegt das Grundproblem des Kommunismus allerdings darin, zu versuchen eine andere Gesellschaft zu kreieren, aber unter Beibehaltung sowohl der Grundlagen als auch der Ziele der bürgerlichen Gesellschaft (zumindest was sie offen propagiert: Ein gutes Leben für Alle!). Die kommunistische Gesellschaft erscheint damit als der Versuch, die uneinlösbaren Versprechen der Aufklärung endlich zu verwirklichen. Das Festhalten am bürgerlich vereinzelten Subjekt, dem rationalen Individuum, scheint mir keine Möglichkeit zu lassen für die freie Entfaltung des Menschen, da dieses Individuum aus purem Überlebensdrang zum selbstzentrierten Egoisten wird. Und wenn der Mensch als absolute Partikularität gedacht wird, muss auf der anderen Seite die Universalität stehen, der Staat, der – auch als kommunistischer – ein Zwangskollektiv bleibt. Ausgehend von diesen Grundlagen eine gute Gesellschaft planen zu wollen, erfordert ein hohes Maß an philosophischem Geschick, dass eben im glücklichsten Fall bemüht, im schlimmsten Fall erschreckend wirkt. Die Folgen der Aufspaltung der menschlichen Existenz in die Pole der individuellen Freiheit und der Unterwerfung unter die absolute Staatsgewalt können wir schon in unseren Demokratien betrachten. Und auch wenn die Kommunisten mit ihrer Betonung der Freiheit des Individuums auch als die besseren Demokraten erscheinen wollen, so kann mensch doch vermuten, dass ihre Versicherungen nur wenig mehr wert sind als die der Kapitalisten. Es ist sicherlich richtig, dass die gegenwärtigen Probleme nicht von der Privatwirtschaft gelöst werden können, die sie zum Großteil erst hervorbringt, aber wenn das kollektive Handeln nur auf der Ebene des Staates passieren soll, dann wird wohl wenig gewonnen.

Andere Formen von Kollektivität, wie zum Beispiel der syndikalistische Entwurf der Selbstverwaltung der Fabriken durch die Produzenten direkt, werden von diesen Theoretikern leider noch nicht mitgedacht. Der Bruch mit dem Kapitalismus muss ein vollständiger sein und dazu gehört in erster Linie, sich auf die Suche nach neuen Möglichkeiten der sozialen Organisation und damit auch der Subjektivierung zu machen und nicht immer nur zu „…. scheitern, nochmals scheitern, besser scheitern …“ (7).

(konne)

 

(1) Laut Untertitel des Kongresses

(2) Die Multitude ist einerseits die Gesamtheit der heute Ausgebeuteten und Marginalisierten, am sichtbarsten in ihren zahlreichen und globalen Protesten rund um Events wie Gipfeltreffen, Weltsozialforen usw.. Allerdings sieht Negri als archetypische westliche Vertreter die modernen „nichtmateriellen“ Arbeiter, d.h. die Kreativen und Kommunikationsarbeiter, die unter neuen Bedingungen leben und ausgebeutet werden.

(3) So Zizek während des Kongresses

(4) Titel seines Vortrags

(5) Bspw. “Slavoj  Zizek – Maybe we need just a different chicken” auf www.video.google.com

(6) Von dem antikapitalistischen Graswurzel-Think-Tank “GOLDEX POLDEX COLLECTIVE” aus Polen vorgetragen

(7) So Zizek in seinem Vortrag

Leipzig schwarz-rot (Teil 4)

Ein Rückblick auf 20 Jahre autonome Linke in Leipzig

Trotz des steten Kleinkriegs mit den Behörden und ihrer harten „Leipziger Linie“ hatte sich die Connewitzer Szene in der zweiten Hälfte der 90er Jahre längst zu einer festen Größe entwickelt. Aber die Situation blieb unsicher, der rechtliche Status vieler Häuser war immer noch ungeklärt. Man war also dem Gutdünken der städtischen Behörden ausgesetzt, die im Zweifelsfall allemal am längeren Hebel saßen.

So stand ein Großteil der Szene der gutbürgerlichen „Außenwelt“ nach wie vor misstrauisch gegenüber. Ein Misstrauen, das mitunter zur ausgewachsenen Paranoia werden konnte, aber nicht ganz unberechtigt war. Denn umgekehrt galt Connewitz nicht nur dem örtlichen Bürgerverein, sondern auch den Hardlinern der Leipziger CDU-Fraktion und der Landesregierung nach wie vor als potentieller Krisenherd, den es mit allen Mitteln des staatlichen Gewaltmonopols zu befrieden galt. Die Rede vom angeblich „rechtsfreien Raum Connewitz“ wurde so zum wahren Mantra, das von den Fans von Ruhe und Ordnung bei jedem Anlass mahnend wiederholt wurde. Andererseits trug gerade das zum „Mythos Connewitz“ bei, der weit über die Grenzen des Kiezes hinauswirkte. Das zog neue Leute ins Viertel, die für neue Dynamik, aber auch für neue interne Konflikte sorgten.

Organisieren!

Die Leipziger Linie stellte eine permanente Bedrohung für  die „Szene“ dar. So wurde nun das Fehlen einer offiziellen Instanz, welche die Besetzer_innen bei den Verhandlungen mit der Stadt hätte vertreten können, zunehmend als Mangel empfunden. In der Wendezeit hatte die Connewitzer Alternative diese Funktion übernommen, der Verein war aber letztlich an den Alleingängen seines Vorsitzenden gescheitert (siehe FA! 35). 1995 war es Zeit für einen neuen Versuch.

Im September dieses Jahres wurde die Alternative Wohngenossenschaft Connewitz (AWC) gegründet. Die meisten der besetzten Häuser und selbstverwalteten Projekte waren daran beteiligt, 41 Personen und fünf Vereine waren bei der Gründung dabei. Die AWC verstand sich als „selbstorganisiertes Jugendprojekt zum Aufbau, zur Entwicklung und Weiterführung von alternativer Kultur im weitesten Sinne“, war also ähnlich wie die Connewitzer Alternative nicht vordergründig politisch, sondern eher lebensweltlich ausgerichtet. Die damit einhergehende implizite oder explizite Abgrenzung gegen Antifa- und sonstige Politgruppen provozierte dabei freilich auch szeneinterne Kritik. Aber immerhin: Neben den informellen internen Organisationsstrukturen bekam die Besetzer_innen-Szene damit nun einen offiziell-institutionellen Rahmen.

Auch als Folge der Erfahrungen mit der Connewitzer Alternative sollte die neue Genossenschaft auf einer breiteren Basis stehen. Die Verantwortlichkeit für alle größeren Entscheidungen wurde der Mitglieder-Vollversammlung übertragen. Während der Verein die Verhandlungen mit Stadt und Hauseigentümer_innen übernahm, blieb die Vergabe des Wohnraums den einzelnen Projekten überlassen. Dieser basisdemokratische Anspruch konnte aber nicht verhindern, dass sich auch bei der AWC bald eine informelle Arbeitsteilung herausbildete, die lästigen Routineaufgaben also an wenigen Verantwortungsträger_innen hängen blieben.

1997 wurde die AWC ins Genossenschaftsregister eingetragen und erlangte dadurch Rechtsfähigkeit. Aber schon vorher kam die Stadt der AWC entgegen. Denn auch den Behörden war an einer Verrechtlichung der wechselseitigen Beziehungen gelegen – auch aus handfestem Interesse heraus, denn schließlich gingen mit einer Legalisierung der Häuser auch neue Möglichkeiten zur Kontrolle und Einflussnahme einher. So wurde in einem am 26. August 1996 verabschiedeten Stadtratsbeschluss (der sogenannten Connewitz-Vorlage) der Bestand der besetzten Häuser garantiert. Die Häuser sollten schrittweise von der Stadt ihren jeweiligen Eigentümer_innen abgekauft und der AWC zur Erbpacht überlassen werden.

Leipziger Bruchlinien

Diese Entwicklung wurde nicht nur freudig aufgenommen. So interpretiert z.B. ein im Szeneblatt Klarofix (6/96) erschienener Artikel die „OBM-Vorlage“ als weiteren Versuch, die Szene politisch ruhigzustellen: „Spaltung, der Rückzug des einen Teils in Teilbereichspolitik oder das Private und die repressive Zerstreuung des ´unsozialisierbaren´ Restes sind vorprogrammiert.“ Damit ist die Zielsetzung der städtischen Politik, die Trennung von „braven“ und „bösen“ Besetzer_innen, wohl treffend beschrieben.

Die AWC wurde dabei nur als Teil eines größeren Problems gesehen: Der zunehmenden Entpolitisierung und Entsolidarisierung innerhalb der Szene, die der Artikel am Beispiel der Stockartstraße verhandelt, wo sich im halb verfallenen Hinterhaus der Stö 3/5 eine Clique von Jugendlichen eingerichtet hatte. Die Alteingesessenen standen den Kids eher ablehnend gegenüber. Nicht ganz ohne Grund. Der Artikel zitiert die Aussage einer anonymen Connewitzerin: „Die Inhalte, die hier in Connewitz vorherrschend waren, fallen hinten runter, durch die Beschäftigung mit Kleinkriminalität und Dealerei (…) Heute gehst du an der Stö vorbei und wirst von Leuten, die du nicht mal kennst mit ´eh du Votze´ belegt. Früher wären solche Leute rausgeflogen, heute ist das ganz normal.“

Das scheint tatsächlich eine allgemeine Tendenz wiederzugeben, denn etwa zur selben Zeit wurde im Klarofix rege über die homophoben Ausfälle von Connewitzer Punks debattiert. Ein Teil der „ersten Generation“ der Connewitzer Szene hatte sich in der einmal erkämpften Nische häuslich eingerichtet, ein weiterer Teil wieder in alle Himmelsrichtungen zerstreut, die ursprünglichen personellen Zusammenhänge zerfielen also teilweise. Gleichzeitig zog die einmal etablierte Nische neue Leute mit anderen Motiven und Hintergründen an. So ging auch der ursprünglich (vielleicht) vorhandene gemeinsame Grundkonsens nach und nach verloren.

Das Fazit des Artikels ist dementsprechend düster: „Wenn aber der Freiraum zum Leerraum wird, wenn Möglichkeiten immer mehr ungenutzt bleiben“, dann verwandle sich der Mythos Connewitz „spätestens jetzt in eine Bedrohung, wird doch dadurch notwendige Analyse verhindert. Die Genossenschaft, derzeit Hoffnungsträger Nummer eins, wird an den bestehenden Problemen genauso wenig ändern können, wie die Resignation, die sich breit gemacht hat.“

Die Reaktionen auf den Artikel waren gespalten. „Es gibt einen Weg, und dieser Weg heißt Genossenschaft, und die wiederum macht nur Sinn mit einer umgesetzten OBM-Vorlage. Wie viele Häuser müssen denn noch den Bach runtergehen, bevor auch der letzte kapiert, dass man mit den brachialromantischen Revoluzzerkonzepten (…) nicht weiter kommt?“ Andere begriffen die Connewitz-Vorlage eher pragmatisch als „einzige Chance, von Connewitz zu retten, was noch zu retten ist“. Andere dagegen sahen die AWC (entgegen der ursprünglichen Intention) schon als „verlängerter Arm der Stadtverwaltung“ enden.

Weltfestspiele

Während die Szene in Connewitz so vor sich hinkriselte, gab es in anderen Stadtteilen neue Bewegung. In Plagwitz zum Beispiel, ähnlich  wie Connewitz ein altes Arbeiterviertel mit vielen leerstehenden Häusern und Industriebrachen. Am 19. April 1997 machte eine Gruppe von jungen Menschen mit einer Aktion auf sich aufmerksam: Eine symbolische Hochzeit mit einer Villa in der Karl-Heine, die sie sich als künftiges Domizil ausgesucht hatten. Die anschließende Besetzung wurde zwar von der Polizei in der üblichen rabiaten Weise beendet, aber immerhin brachte die Performance Aufmerksamkeit und Sympathien ein – selbst die sonst eher obrigkeitstreue LVZ berichtete wohlwollend. Im Februar 1998 ging der Protest mit einer Aktionswoche in die zweite Runde. Die Plagwitzer errichteten in der Innenstadt ein Zeltlager, um gegen die Leipziger Linie zu protestieren, die sie trotz des hohen Leerstandes im Leipziger Westen vom eigenen Wohn- und Kulturprojekt trennte. Die Verhandlungen mit Behörden und Eigentümer_innen sollten sich noch eine Weile hinziehen, bis 1999 aus dieser Initiative die Gieszer 16 hervorging (siehe FA! 20).

Der letzte größere Anlauf zur Durchbrechung der „Leipziger Linie“ wurde mit den „Weltfestspielen der Hausbesetzer“ im April 1998 unternommen. Das Ordnungsamt sah sich deswegen sogar genötigt, eine allgemeine Verfügung für das Wochenende zu erlassen: „Es ist verboten, im Stadtgebiet offene Feuer zu entfachen, Barrikaden zu errichten und Straßenfeste zu veranstalten.“

Aus dem angestrebten Eintrag ins Guiness-Buch der Rekorde für die meisten Hausbesetzungen in 24 Stunden wurde leider nichts. Zwar beteiligten sich etwa 250 Leute, in Connewitz, der Südvorstadt, Plagwitz, Neuschönefeld, Eutritzsch und Kleinzschocher wurden Häuser besetzt, die aber nicht gehalten werden konnten. „Meist gingen die Leute vorn rein, hängten Plakate aus und verschwanden hinten wieder raus“, erläuterte ein Polizeisprechen gegenüber der LVZ die Taktik.

Bei einem Haus in der Südvorstadt hatte sich eine Gruppe von 15 Besetzer_innen auf dem Dach verschanzt und verteidigte sich mit Steinwürfen gegen die Polizei. Die setzte schließlich Wasserwerfer ein, um die Besetzer_innen zum Verlassen des Daches zu bewegen. Gegen die Besetzer_innen wurden Strafverfahren eingeleitet, u.a wegen „versuchten Totschlags“. Die Polizei vermeldete insgesamt 88 Festnahmen, 11 Häuser seien geräumt, weitere 22 auf Aufforderung von den Besetzer_innen wieder verlassen worden. Die Veranstalter_innen sprachen dagegen von 120 besetzen Häusern.

Holger Tschense, Dezernent für Ordnung, Umwelt und Wohnen, wertete die Festspiele als „Provokation“. Die hätte als gelungen gelten können, wäre die Aktion nicht durch einen tragischen Zwischenfall überschattet worden: Ein Besetzer stürzte beim Anbringen eines Transparents vom Balkon und kam dabei ums Leben.

Im nächsten (und voraussichtlich letzten) Teil dieser Serie nähern wir uns schnurstracks dem Ende der 90er Jahre. Dann erfahrt ihr u.a., warum das Connewitzer Kreuz bei der Polizei als „gefährlicher Ort“ gilt und wo Christian Worch die Inspiration für seine regelmäßigen Aufmärsche hernahm. 

(justus)

Debattenkultur – quo vadis?

Er mag einigen Glücklichen entgangen sein, der Medienrummel der letzten Wochen um die „problematischen Zuwanderer,“ um Integrationswille, Vererbbarkeit von Intelligenz, in letzter Konsequenz auch um „Juden-Gene“ und andere vermeintliche Tabuthemen. Tatsächlich hat niemand etwas verpasst, denn Erkenntnisgewinn bot die grob als „Integrationsdebatte“ zusammengefasste Diskussion keinen. Vielmehr nahm eine Reihe von Politikern und so genannten „Personen des öffentlichen Lebens“ die Gelegenheit wahr, die üblichen rhetorischen Seifenblasen und Schimpftiraden auszutauschen und das Scheinwerferlicht zur gnadenlosen Selbstdarstellung zu nutzen.

Angefangen hatte alles mit einer sorgsam orchestrierten Beschimpfungskanonade: Bild und Spiegel hatten die Vorabdrucksrechte an dem Buch „Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen“ (allein der Titel!) bekommen und dafür dem Bundesbankvorstand und erprobten Populisten Thilo Sarazzin Schützenhilfe geliefert. Anstatt sich von den klassistischen und rassistischen Beleidigungen zu distanzieren, wurden die „Thesen“ zum wertvollen Meinungsbeitrag und der Autor selbst zum „Klartext“-Redner stilisiert: Einer, der endlich ausspricht, was viele schon lange denken. Dabei sind es die Behauptungen Sarazzins gar nicht wert, im gemütlichen Kreis oder auch in der breiten Öffentlichkeit diskutiert zu werden. Wer Zuwanderergruppen nach Herkunftsland pauschal in einen Topf wirft, sich um den moralischen Volkszustand sorgt und über die Vererbbarkeit von Intelligenz räsoniert, der hat sich als ernst zu nehmender Diskussionspartner von vornherein disqualifiziert.

Im Gespräch mit einem Reporter der Süddeutschen Zeitung erlaubte Sarrazin zum Glück einen Einblick in seine Recherchemethoden. Auf die Frage, woher seine viel zitierte Behauptung, dass siebzig Prozent der türkischen und neunzig Prozent der arabischen Bevölkerung Berlins den Staat ablehnten und in großen Teilen weder integrationswillig noch -fähig seien, erklärte er unumwunden, dass er keinerlei Statistiken dazu hat, weil es solche bislang auch gar nicht gibt. Wenn man aber keine Zahl habe, erklärte Sarrazin weiter, müsse „man eine schöpfen, die in die richtige Richtung weist, und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch.“ (1)

Trotz seiner dummdreisten Anmaßung hat der Autor aber offensichtlich einen Nerv getroffen, denn die zahlreichen Reaktionen aus der Bevölkerung lassen erahnen, dass eine nicht geringe Zahl ähnlich denkt. Obwohl die xenophobe Hetze starke Parallelen zu Flugblättern der NPD aufweist, behaupteten manche Medienberichte gar, ein Wählerpotential von 18% für eine neue rechte Bewegung ausgemacht zu haben (2). Wieso auch nicht: Die Art und Weise, wie diese angebliche „Integrationsdebatte“ von vielen Beteiligten geführt wird, bedient das dumpfe Bauchgefühl der ängstlichsten Mitglieder der Gesellschaft, eine konstruktive Debatte wird erschwert.

Stammtischniveau

Beinahe vergessen scheint, dass in der Vergangenheit schon dutzendweise gute Bücher zum Themenkomplex Integration erschienen sind. Doch leider beweist das aktuelle Beispiel, wie leicht sich mit Stammtischniveau Quote machen lässt, und weil unter dem Strich jede beteiligte Seite gewinnt, mischen alle kräftig mit. So funktioniert die schnelllebige Informationsgesellschaft heute: Wenn Bild und Spiegel unkommentiert „Meinungen“ verbreiten, muss ja etwas dran sein. Wenn sich dann noch andere Akteure wie Die Zeit und die dpa beteiligen, wird es aus Sicht der anderen MedienvertreterInnen beinahe schon Fakt. Zugleich muss immer auf die Quote geschielt werden.

Weil Sarazzin seine populären Privatängste öffentlich äußerte, musste er schnell seinen Posten abgeben, sein Parteibuch dürfte demnächst folgen. Dies illustriert, wie stark umkämpft die politische Deutungshoheit auf diesem sensiblen Feld ist. Vor allem die Behauptung des Autors, alle Juden auf der Welt teilten ein bestimmtes Gen, bot den Kritikern der Gegenseite so viel Angriffsfläche, dass diese seine mediale Demütigung mühelos vorantreiben konnten. Manche unter den Journalisten machten sich dennoch die geringe Mühe, den Inhalt des Buches auf Faktizität abzuklopfen. Ergebnis: langweilig und ärgerlich (3). Die simple Masche, populistischen Unfug zu verzapfen, um das „Wir-Gefühl“ im unaufgeklärten Teil der Bevölkerung zu bedienen und jene gegen krude konstruierte Feindbilder aufzubringen, funktioniert eben nur bedingt. Bis heute macht es den Eindruck, dass die mediale Inszenierung zu diesem Reizthema im Sinne der Provokateure verlaufen ist. Wurde sie doch von Beginn an politisch vereinnahmt und vermutlich auch mit dem Ziel, sie für klientelpolitische Zwecke einzusetzen, in Gang gesetzt. Letztendlich spiegelt sich der Untergang des aufklärerischen und meinungsbildenden Journalismus auch in Defiziten im parlamentarischen Systems, das sich ständig nach imaginierten Mehrheiten richtet und die Machtdemonstration mehr schätzt als das begründete Argument. Bleibt zu hoffen, dass die Bewohnerinnen und Bewohner des Landes klüger sind als ihre Regierung, die Realität im – immer mehr medial gestalteten – Alltag wahrnehmen und sich mit anderen Auffassungen auch kultiviert auseinandersetzen, nicht etwa so, wie es ihnen vorgemacht wird. Denn wohin so eine Hetzkampagne auch führen kann, ist derzeit in Frankreich zu beobachten. Dort erlebte kürzlich das, was als mediale Debatte zur „nationalen Identität“ Frankreichs begann, seinen Höhepunkt in der illegalen Abschiebung vieler Sinti und Roma.

(ate)

 

(1) sz-magazin.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/33007/

(2) exemplarisch: www.ksta.de/html/artikel/1283329917995.shtml

(3) www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/1260558/