Archiv der Kategorie: Feierabend! #12

HEROIN-Dealer verpisst Euch?

Im Stadtteil Connewitz sind in den letzten Wochen massenhafte Plakate mit der Aufschrift „Heroin-DEALER verpisst euch!“ verklebt worden. Um mehr über die Hintergründe dieser Aktion zu erfahren, haben wir uns wieder einmal in den Dschungel des Bermudadreiecks gewagt. Als Erstes versuchte lydia mit den Urhebern der Plakataktion Kontakt aufzunehmen. Nach längerem Herumirren mit verbundenen Augen, findet sich lydia in einem tropfig-feuchten Keller wieder. Nebenan probt eine Punk-Band und an den Wänden sind Sprüche gegen´s „Scheißsystem“ gesprüht. Ihr gegenüber sitzt ein Typ, der sie mit einer Taschenlampe blendet, damit sie sein Gesicht nicht erkennt. …O.K., ganz so war es vielleicht doch nicht.

lydia: Es geht um die HEROIN-Dealer-Hass-Plakate. Wir glauben jemanden gefunden zu haben, der sich damit identifizieren kann…

Ralf: Nee, also ganz so ist das nicht… Ich hab damit eigentlich überhaupt nichts zu tun und billige die Aktion größtenteils auch nicht. Mir sind aber zumindest die Leute und die dahintersteckenden Intentionen bekannt. Fakt ist jedenfalls, in Connewitz – speziell im Bermudadreieck – gibt´s ein ziemliches Problem was Drogen betrifft. Es gibt im ersten Quartal 2004 schon den ersten Drogentoten. Der taucht allerdings in keiner offiziellen Drogenstatistik auf, weil er aufgrund seiner massiven Drogenprobleme Selbstmord begangen hat. Desweiteren ist bekannt, dass laut offiziellem Drogenbericht der Stadt Leipzig, das Einstiegsalter für Heroin bei ungefähr 13 Jahren liegt. Eine Tendenz, die auch in diesem Viertel zu beobachten ist. Auslöser dieser ganzen Geschichte war eigentlich, dass es seit diesem Jahr einen rapiden Anstieg an Einbrüchen gibt, wobei vermehrt und wiederholt alternative Projekte und Wohnungen betroffen sind. In sämtlichen bekannten Kneipen wurde eingebrochen, wobei teilweise von Beschaffungskriminalität ausgegangen wird; d.h. ein direkter Zusammenhang zwischen Konsum und Einbrüchen hergestellt werden kann. Außerdem wurde vermehrt versucht Falschgeld in Umlauf zu bringen.

lydia: Was stellt diesen Zusammenhang her – was deutet darauf hin?

Ralf: Zum einen, dass bei vielen von diesen Sachen, sei es jetzt Einbrüchen oder Falschgeld-in-Umlauf-bringen Leute verwickelt waren, die heroinabhängig sind.

lydia: Es wurden also auch schon Leute erwischt?

Ralf: Bei den Einbrüchen kam es teilweise später heraus. So Sachen wie mit Falschgeld bezahlen – das ist meist gleich aufgeflogen. Oft wurde halt auch versucht in Projekten damit zu bezahlen.

Es gab ja vor 3-4 Jahren schon mal den Versuch mit der Drogenproblematik konstruktiv umzugehen ….mit den Drugscouts und so, was aber im Endeffekt nicht wirklich was gebracht hat. Daraufhin ist dann halt diese Idee mit dieser Plakataktion entstanden. Die Intention der Aktion selber und auch des Plakates, das ja auch leicht missverständlich ist, wenn man die Hintergründe des ganzen nicht kennt, ist provokativer Natur. Es soll eine Diskussion losgetreten werden – was anscheinend auch gelungen ist. Außerdem bestand die Hoffnung die Folgen der Beschaffungskriminalität zu minimieren. Es sollen jetzt nicht Menschenjagden veranstaltet werden, oder so.

lydia: Es gab ja nun auch den Vorwurf, dass damit das Problem nicht direkt angegangen wird, sondern nur die Drogenproblematik aus dem eigenen gemütlichen Kuschelkiez verdrängen will.

Ralf: Bei Gesprächen mit den InitiatorInnen der Aktion wurde ja schon klar, dass die selbst heftigste Bauchschmerzen mit der Aktion haben. Speziell diese Reduzierung auf Dealer, was den Menschen hinter dem Dealer ja ausklammert. Dann diese Fixierung auf das Thema Heroin, wo man doch gleich noch Poster gegen „Sternie“-Dealer aufhängen könnte. Allerdings war man sich halt schon einig; man muss sich nichts vormachen – Genussfreiheit hin und her, wenn du heroinabhängig bist, dann bist du auch nicht mehr selbstbestimmt, sondern hängst an der Nadel. Außerdem wirkt das Ganze mit diesem „Verpisst Euch“ sehr aggressiv, aber es sollte halt auch, wie gesagt, provokativ sein. Man war sich aber trotzdem sogar mit den sogenannten „Hippierunden“ einig: Diskussionen und Konzepte um Drogenmündigkeit etc. bringen anscheinend nichts.

lydia: Was erhofft man sich damit loszutreten? Wie könnte das jetzt im Idealfall weitergehen?

Ralf: Der negativste Fall wären Gesprächsrunden oder Betroffenheitsflyer, die ideologisch vielleicht korrekt sind, aber keinerlei Praxisansätze beinhalten, wie sie z.B. vom Linxxnet (1) jetzt schon ausgehen. Was die sagen, ist ja alles schön und gut, aber das bringt uns hier nicht weiter.

Ideal wäre… ja, wenn irgendwas praktischer Natur entstehen würde. Sei es jetzt eine Anfrage über Abgeordnete oder Sozialarbeiter an Städtische Institutionen (Streetworker, Jugend- & Gesundheitsamt) Wie sehen die reellen Statistikzahlen für den Süden aus? Der offizielle Bericht ist oft geschönt. Wie viele User/Drogentote gibt es – was für Möglichkeiten und Hilfeangebote gibt es? Altersgruppen? Was für Drogen? Was gibt es für Hilfsangebote? Welche Ärzte substituieren (=Methadonvergabe). Was für Möglichkeiten gibt es das ins Viertel zu transportieren etc.

Das Plakat sollte auch eine Signalwirkung haben; an die KonsumentInnen, aber auch an „Verticker“ der Drogen: „Hier läuft etwas schief. Es ist Eure Entscheidung, was Ihr nehmt, dann müsst Ihr aber auch selbst mit den Begleitumständen klarkommen. Hilfe könnt Ihr jederzeit haben, aber keine Kohle. Uns ist eigentlich völlig egal, was Ihr Euch in den Arm jagt – solange ihr´s selbstbestimmt tut“. Aber anscheinend läuft hier irgendeine Schiene, die mit selbstbestimmt nichts mehr zu tun hat.

lydia: Ich bedanke mich fürs Gespräch.

Es lag natürlich nahe gleich im Anschluss jemand vom Linxxnet zum Thema zu befragen…

lydia: Ja, wie war das mit den Anti-Heroin-Dealer Plakaten? Ihr wart auf alle Fälle nicht so begeistert von der Aktion…

Jule: Ja also, mir sind im März diese Plakate ins Auge gefallen, ich war schockiert und hatte den Eindruck, dass hier irgendeine rechte Bürgerinitiative, die die farbigen Dealer mit Besen oder so aus dem Stadtteil jagen will, am Werk war. Ich habe zuerst vermutet, dass es aus irgendeiner Spießer- oder konservativen Ecke kommt. Mittlerweile weiß ich, dass die Sache von Leuten aus der sogenannten Alternativszene ausgegangen ist.

Ist gibt natürlich einen Hintergrund dazu. Das wahrscheinlich jemand, der einen Heroin-Todesfall hatte, seine persönliche Wut auslässt. Ich finde es aber problematisch, Dealer zu kriminalisieren, als Verantwortliche, für die Misslage im Stadtteil. Die Droge wird kriminalisiert. Es wird überhaupt nicht reflektiert, dass Heroin keine böse Droge an sich ist – dass das Problem eher darin liegt, dass Heroin illegalisiert ist, dass es keine Möglichkeiten der Qualitätsprüfung beim „Stoff“ gibt und dass es den KonsumentInnen beschissen geht. Ich fand es auf alle Fälle eine ziemlich gefährliche und wirre Aktion.

lydia: Von den InitiatorInnen wird es ja eher so dargestellt, dass sie keine andere Lösung mehr für das Problem gesehen haben, weil das Ganze, gerade auch in Bezug auf Beschaffungskriminalität, ziemlich grassiert hat.

Jule: Da stecke ich halt nicht so drin. Es geht ein Gerücht um, dass irgendwelche HeroinkonsumentInnen linke Projekte ausgeräumt hätten. Warum macht man dann eine Hatz auf vermeintliche Dealer? Danach stellt sich dann sofort die Frage: ist das Ganze auch rassistisch motiviert? Sind die vermeintlichen Dealer irgendwelche Farbigen im Stadtteil, zu denen die Junkies dann kommen? Das ist irgendwie alles offen und ich finde diese Kampagne bedient irgendwelche Vorurteile gegenüber HeroinkonsumentInnen und ist überhaupt kein Diskussionsangebot, wie das von Seiten der InitiatorInnen gern geschildert wird, sondern einfach nur ein Schüren von Vorurteilen. Es erklärt vor allem nichts – es ist vollkommen unklar. Einem Bürger der das auf der Straße liest, wird überhaupt nicht klar, was da passiert. Was ich wenigstens erwarte, ist eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Thema; eine Veranstaltung um zu informieren, was ist eigentlich los im Stadtteil?

lydia: Wie ist das jetzt bei Euch – habt Ihr irgendwelche Sachen initiiert, um dem entgegen zu wirken oder die Sache zu klären?

Jule: Unsere erste spontane Reaktion, war eine Überplakataktion mit Sprüchen wie „Mach meinen Dealer nicht an“ oder „Gegen Verschwörungstheorien“. Wir wollen aber auf alle Fälle auch sachkundige Hilfe, wie die Drugscouts (2) heranholen, um sobald wie möglich eine Veranstaltung zum Thema zu machen und nicht bloß abstrakt zu thematisieren. Das conne island ist ebenfalls schon auf eine Sozialarbeiterin zugegangen um zu fragen, wie man vermitteln kann in diesem Konflikt, weil sie selbst nicht wissen, wie man damit umgeht.

Es war vielleicht nicht so gut erst mal auf der selben Ebene zu reagieren, aber es ist auf alle Fälle geplant das Problem konstruktiver anzugehen.

lydia: Ich bedanke mich fürs Gespräch.

(1) siehe: www.linxxnet.de
(2) siehe: www.drugscouts.de

Lokales

Aufruf zur 3. Europäische Konferenz des Peoples´ Global Action (PGA)-Netzwerks

Belgrad 23.-29. Juli 2004

Was ist Peoples´ Global Action?

PGA ist ein globales Netzwerk lokaler Kämpfe, dass auf eine dauerhafte politische, soziale, grenzenlose und basisdemokratische Alternative zum Kapitalismus hinarbeitet. Es richtet sich gegen alle unterdrückerischen Systeme, weit weg von der Logik von Parteien und Staaten (staatlich orientierten Gewerkschaften, NGOs usw.). PGA ist Werkzeug zur Koordination, keine Organisation. PGA hat keine Mitglieder und ist keine juristische Person, keine Organisation, keine Person repräsentiert PGA alleine.

Ziel des PGA-Austausches und des PGA-Netzwerks ist es, verschiedene lokale Gruppen zu verbinden, die mit folgenden Grundsätzen übereinstimmen: Eine klare Ablehnung von Kapitalismus, Imperialismus und Feudalismus; und aller Handelsabkommen, Institutionen und Regierungen; die Ablehnung aller Formen und Systeme von Herrschaft und Diskriminierung; die Bejahung der Direkten Aktion und zivilem Ungehorsam und des Aufbaus von lokalen Alternativen zum Kapitalismus; Dezentralisierung und Autonomie.

Warum in Belgrad?

* um in Zeiten militärischer Interventionen und wachsendem Militarismus eine alternative europäische Konferenz radikaler politischer Netzwerke zu organisieren.

* aufgrund der derzeit in Ost-Europa stattfindenden politischen Kämpfe. PGA-orientierte osteuropäische Gruppen sind bisher kaum vernetzt. Es ist an der Zeit, „Gipfel-Hopping“ hinter uns zu lassen und globale Vernetzung und lokale Kämpfe zu verbinden.

Ex-Jugoslawien ist heute ein Land mit 250.000 Kriegstoten (von 1991 bis heute), eineinhalb Millionen Menschen sind im Inneren des Landes umgesiedelt und können nicht zurückkehren, ihre Rückkehr bleibt politisch unmöglich. Die Zahl von EmigrantInnen ist annähernd genauso hoch und steigt immer weiter. Jeden Tag bereiten sich Menschen vor, die Grenze der „neuen Berliner Mauer“ in die Schengen-Staaten zu überwinden, die das (neue) „römische Imperium“ von der neuen „barbarischen Bedrohung“ trennt. Die Zahl der Verschwundenen verändert sich täglich durch die Aushebung von Massengräbern und die Überreste von unidentifizierten Opfern in Leichensäcken, die von einer Verwaltung an die nächste geschoben werden, um ihre „Fälle abgeschlossen“ zu bekommen (Tuzla).

Die wichtigsten Nachrichten sind nicht auf den Titelseiten der Zeitungen zu finden, sondern stehen versteckt zwischen „Sport“ und „Feuilleton“ bei den Kleinanzeigen: legale und illegale Visa, Menschenhandel, Arbeitslose, die jeden verfügbaren Job akzeptieren, Leiharbeit, genauso wie Angebote menschlicher Organe (oftmals bieten Unsichtbare ihre Nieren zum Verkauf an, um z.B. die Ausbildung ihrer Kinder zu sichern) – ein Wirtschaftszweig, der in Jugoslawien noch verboten ist.

Der Kapitalismus hat „Frieden“ gebracht. Die westlichen Medien und die internationale Gemeinschaft haben selbstverständlich großen Aufwand betrieben, das liberal-kapitalistische Modell zu präsentieren – und während dessen fanden der große Raub des öffentlichen Eigentums, die Privatisierung und die Anhäufung von Vermögen statt. Der Umsturz Slodoban Milosevics, als „dem letzten Kommunisten des Jahrhunderts“ ist verbunden mit der Einführung der liberalen Demokratie, eben mit dem Abwurf von Bomben.

Bürgerkrieg, militärische Aggression (des eigenen Militärs im eigenen Land), Embargo, NATO-Aggression und -Besatzung, Parlamentarismus, tobender Kapitalismus, Ethno-Faschismus, völlige Armut der Bevölkerung (der schlimmste Alttraum seit dem Zweiten Weltkrieg) sind nur einige Gründe, warum sich die Menschen in Jugoslawien vom Rest der „normalen Welt“ missverstanden fühlen, der nicht die Erfahrung von Bürgerkrieg und vom restlichen aufgelisteten politischen Unsinn der letzten 10 Jahre teilt.

Wir finden es extrem wichtig, direkte Demokratie und Selbstorganisation als legitimen Widerstand und mögliche „alternative Wege und Richtungen“ darzustellen, um der Bevölkerung eine Idee davon zu geben, dass hinter der Propaganda noch andere Seiten des Kapitalismus lauern. Unser Land steht zum Verkauf und wir sehen der massenhaften Deregulierung von Arbeitsrechten entgegensehen, was paradoxerweise die Menschen in westeuropäischen Staaten genauso beunruhigen müsste.

Es ist höchste Zeit ist, dass die radikale Bewegung in Europa sich weniger auf die Orte gelegentlicher Siege konzentriert (Bolivien, Mexico, Argentinien, Brasilien…) und statt dessen zurückkehrt zum Ort der totalen Niederlage: Ex-Jugoslawien.

Wann und wo?

23.-29. Juli 2004 in Resnik, Rakovica, Industriegebiet rund um Belgrad, Ex-Jugoslawien.

Brauchen wir eure Beteiligung?

Oh ja! Wir können die Konferenz nicht alleine machen.

Wer sind „wir“?

Einberufender Gastgeber ist diesmal „Drugaciji Svet je Moguc!“ DSM! ist ein Kollektiv von Kollektiven, die sich unter dem Slogan „Drugaciji Svet je Moguc“ sammeln. Zusammen bemühen wir uns neue politische Räume zu eröffnen, die nicht an politische Parteien oder NGO`s angegliedert sind. Diese neuen Räume ziehen dem akzeptierten Rahmen von Mitbestimmung, wie Lobby-Arbeit oder Wahlen, direkte politische Aktion vor. Wir bestehen auf einen sozialen Dialog, der sich von dem, was uns die Regierung und das NGO-Umfeld anbietet, unterscheidet. Der horizontale, soziale Dialog, dessen Teil wir sein möchten, schließt sozial marginalisierte Gruppen mit ein, die systematisch daran gehindert werden, ihre grundlegenden Rechte wahrzunehmen.

Obwohl DSM! eine relativ junge Bewegung ist, hat sie es geschafft, eine bedeutende Anzahl von Menschen mit verschiedenen sozialen Hintergründen anzuziehen. Unsere Verschiedenheit sorgt für einen beständigen Strom von Ideen, die wir durch kurze und lang angesetzte Projekte und Aktivitäten zu verwirklichen begonnen haben. Unser Land war eine sehr lange Zeit in der Isolation und was die Menschen am meisten brauchen ist ein Weckruf.

Und das ist es, was wir tun und auch weiter tun wollen – indem wir Informationen liefern, direkte Aktionen machen und durch eine offene Herangehensweise, die unser Versuch sind, die Menschen zu überzeugen, mit uns eine neue Welt zu schaffen, anstatt sich um die Krümel zu streiten, die ihnen von der herrschenden Oligarchie hingeworfen werden.

DSM! schätzt die Rolle des Balkans als filternder Korridor und Hinterhof vor den Toren Schengen-Europas ein. Nach der letzten UNHCR-Statistik ist die Bevölkerung von Serbien und Montenegro weltweit auf Platz drei der Asylsuchenden. Aus diesem Grund ist der Ort der diesjährigen Konferenz ein adäquater Ort, die entscheidende Frage von Migration in Angriff zu nehmen, die ja für Ost und West wichtig ist.

Alles in allem hoffen wir, dass alle, die betroffen und interessiert sind, unseren Anreizen und positiven Plänen zur Aktion vertrauen können und sich einbringen, um eine erfolgreiche Konferenz in unserem Ex-Zukunfts-Land zu organisieren.

Mailt an: drugacijimejl(at)yahoo.com
weitere ausführlichere Informationen rund um PGA und die Konferenz in Belgrad unter: www.pgaconference.org

Soziale Bewegung

Bordertour 04

Ein Kontakt- und Untersuchungsprojekt in Richtung Osteuropa

Bordertour 04 ist eine zweimonatige Reise vom Balkan ins Baltikum. In Zusammenarbeit mit lokalen Initiativen, Medien- und Kulturzentren, sollen die alten und neuen Grenzen des amtlichen Europa erkundet, umrundet und durchlöchert werden. Befindet sich jenseits der politischen Grenzen ein virtuelles Europa? Ein offenes Europa, dem es nicht länger um Ein- oder Ausschluss geht, sondern vielmehr um Kommunikations- und Bewegungsfreiheit?

Warschau: Angeblich lässt sich am alten Stadion, dem riesigen, täglichen Osteuropamarkt der polnischen Hauptstadt, nahezu alles kaufen, u.a. auch gefälschte Reisedokumente. Bei einer kurzen Stippvisite im Sommer letzten Jahres begegneten wir dort vor allem dem unbeschwerten Handel mit allen Varianten der Produktpiraterie, von den aktuellsten DVDs bis zu den modernsten Nike-Turnschuhen. Auffällig waren für uns insbesondere die zahlreichen Stände afrikanischer Verkäufer, die sich damit ihr Überleben organisieren bzw. das Geld verdienen, um den „nächsten Sprung“ zu finanzieren: weiter nach Westeuropa. Wir trafen welche, die hier schon einige Jahre festsaßen, ein anderer war sogar schon kurz in Deutschland, aber dann im Rahmen der sogenannten Sicheren Drittstaatenregelung von den deutschen Behörden nach Polen zurückgeschoben worden. Er wird es wieder versuchen, wie die Tausenden von TransitmigrantInnen, die nicht nur in Warschau auf ihre Chance warten …

Ushorod: Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Grenze von der Ukraine nach Ungarn oder in die Slowakei auch deswegen von den ukrainischen Grenzsoldaten so hermetisch abgeriegelt wird, um ihr Einkommen aufzubessern. Denn vom eigentlichen Gehalt läßt sich schlecht leben, die Bestechungsgelder der Schlepper sind ein notwendiger Nebenverdienst. Daran soll, im wahrsten Sinne des Wortes, niemand vorbeikommen. Doch die Verschärfung des Grenzregimes läuft in der Ukraine auf verschiedenen Ebenen. Eine EU-Mitgliedschaft steht zwar in weiter Ferne, doch der Druck der Schengenstandards wirkt bereits. Neue Auffang- und Abschiebelager für Flüchtlinge und MigrantInnen sind in den letzten Jahren nicht nur an den Außengrenzen der neuen Beitrittsländer errichtet worden, von Slowenien über Ungarn bis ins Baltikum. Die Situation in zwei militärisch abgeschirmten Lagern in der Nähe von Mukachevo, etwa 80 Kilometer von Ushorod entfernt, in denen bis zu 1000 Menschen unter übelsten Bedingungen gefangen gehalten werden, spricht Bände …

Arad: Seit vielen Jahren kommen Frauen aus dem rumänischen Arad als Saisonarbeiterinnen nach Deutschland. Sie arbeiten z.B. in der Spargel- oder Erdbeerernte für einen für hiesige Verhältnisse geringen Lohn. Doch zwei Monate dieser Plackerei bringen – auf die rumänische Situation bezogen – mehr als einen Jahresverdienst. Wenn er denn gezahlt wird! Im Sommer 2002 wurden 18 Frauen aus Arad von einem Bauern im hessischen Lampertsheim um ihren Lohn betrogen. Doch sie wehrten sich, mit Hilfe einer Unterstützungsinitiative auch juristisch, und konnten vor Gericht ihren Lohnanspruch erfolgreich geltend machen. Die Frauen sind zwischen 40 und 60 Jahre alt und tragen mit ihrer Resolutheit bestimmt nicht dazu bei, das verbreitete Bild der armen ausgebeuteten Opfer zu bestätigen. Gleichwohl war es eher einer Kette von Zufällen zu verdanken, die es den Frauen möglich machte, ihr hart verdientes Geld noch gerichtlich einzuklagen. Im Rahmen eines Videoprojektes haben wir einige der betroffenen Frauen interviewt und auch über ihre Motivationen und Abwägungen befragt, sich auf diese harte Arbeit im Westen einzulassen…

Warschau, Ushorod, Arad …, sicherlich drei der Stationen der für kommenden Sommer geplanten „bordertour“, die sich für voraussichtlich acht Wochen entlang der neuen EU-Außengrenzen bewegen wird. Wenn alles entsprechend bisheriger Vorüberlegungen klappt, wird die Tour Mitte Juli in Slowenien losgehen und bis Mitte September im Baltikum ankommen. Auf der Strecke liegen dann mit Ungarn, der Slowakei und Polen nicht nur weitere Beitrittsländer, die ja ab 1. Mai offiziell zum EU-und Schengenclub gehören. „Exkurse“ wird es auch nach Kroatien und Serbien (u.a. zur Ende Juli in Belgrad stattfindenden Konferenz von Peoples Global Action…) geben, oder eben auch nach Rumänien und in die Ukraine. Die konkrete Ausgestaltung der Tour hängt letztlich entscheidend davon ab, in welcher Form Leute und Initiativen vor Ort die Projektidee mitaufgreifen. In den letzten Jahren haben sich vor allem über das No-Border-Netzwerk (www.noborder.org) sowie die auch in Osteuropa organisierten Grenzcamps vielfältige Kontakte entwickelt. Zum zweiten sind es osteuropäische Medieninitiativen, die zunehmendes Interesse signalisieren, und das nicht zufällig.

„Freedom of movement – Freedom of communication“ – bereits im vergangenen Jahr haben wir als „temporäre Assoziation jeder mensch ist ein experte“ versucht, die Verbindung dieser beiden Slogans in den Mittelpunkt von Debatten und Mobilisierungen zu rücken. Und auch das aktuelle Tourprojekt zielt auf eine neue praktische Umsetzung dieser Doppelparole. Denn wir halten wenig davon, zum 100sten Male die Festung Europa, nun mit ihren erweiterten Festungsmauern, anzuklagen und die neue EU allein als erweiterte Billiglohnzone zu analysieren. Und damit dann wahlweise das Leiden der gestrandeten Flüchtlinge oder der überausgebeuteten ArbeitsmigrantInnen zu bejammern. Tatsache ist doch auch, dass seit vielen Jahren TransitmigrantInnen wie ArbeitsmigrantInnen beständig die Konstruktion von Schengeneuropa und dessen Ausbeutungsgefälle unterminieren und herausfordern. Die Autonomien der Migration konnten und können nicht gebrochen werden. Die sogenannte

Osterweiterung kann insofern auch als Reaktion darauf gelesen werden, dass die bisherigen Kontroll- und Steuerungsmechanismen nur unzureichend funktionierten. Die unmittelbare Einbeziehung in EU- und Schengenstandards als Versuch, den Durchgriff neu zu organisieren. Und ob bzw. inwieweit das hinhaut, ist doch eine mehr als offene Frage.

Jedenfalls stellen wir das Tourprojekt in diesen Kontext, ein (freilich bescheidener) Versuch, an der weiteren Unterminierung der konstruierten Grenzen Europas mitzuwirken. Die Tour wird dementsprechend weniger auf spektakuläre Protestformen setzen, als auf Kontakte und Untersuchungen auf der Alltagsebene. Im Gepäck haben wir nicht nur einen internetfähigen Kleinbus sowie Dokumentationstechnik. sondern auch diverses Ausstellungs- und Videomaterial für Workshops und kleinere Vorführungen.

Warschau, Ushorod, Arad…, einige thematische Schwerpunkte der Tour waren nicht zufällig in den genannten Beispielen angesprochen. Die Vorverlagerung des Grenzregimes aber vor allem die Art und Weise, wie (Transit-)MigratInnen damit umgehen, sich dennoch in ihren Netzwerken durchschlagen.  Die Ausbeutung in Niedriglohnsektoren, aber vor allem die Umgangsformen und Erfahrungssuche der osteuropäischen SaisonarbeiterInnen.

Erweiterte Ost-West wie auch Ost-Ost-Kontakte, Zugang zu Wissen über Asyl-, Heirats- oder Arbeitsmigration, Austausch über verschiedenste Erfahrungen der Saisonarbeit, Lohn- und Sozialstandards, die Zirkulation von Kampferfahrungen, individuellen wie auch kollektiven … all das interessiert uns, da haben wir viel zu lernen, gleichzeitig weiterzuvermitteln, zu kommunizieren, wenn es uns ernst ist mit Schritten in Richtung einer Globalisierung von unten. Der Bezug auf Bewegungs- und Kommunikationsfreiheit halten wir in diesem Spannungsfeld jedenfalls für zentral, damit verwoben die Frage nach transnationalen Austausch- und Organisierungsformen. Und das Tourprojekt soll in dieser Richtung als weiterer Katalysator wirken.

Wir hoffen, dass sich weitere Interessierte für diesen Ansatz vor allem in Ost-, aber auch in Westeuropa finden. Jetzt in den kommenden Wochen der Vorbereitung, aber auch dann unmittelbar in und während der Tour. Kaum jemand wird acht Wochen dabei sein, doch das Projekt soll so strukturiert sein, dass auch eine Beteiligung für eine oder zwei Wochen durchaus Sinn macht. In voraussichtlich fünf mehrtägigen „meetingpoints“ entlang der Route wird es Bilanz- und Vorbereitungstreffen für die nächsten Tourabschnitte geben, die einen Neueinstieg bzw. ein temporäres Assoziieren erleichtern sollen.

Doch wie erwähnt: die konkrete Umsetzung der Tourplanungen ist in vielerlei Hinsicht noch offen. Bei anstehenden Treffen Anfang Mai in Warschau und Novisad sowie auf der neueingerichteten Mailinglist wird das Projekt in den kommenden Wochen hoffentlich zunehmend Gestalt annehmen.

Wer Interesse an Mitarbeit und Beteiligung hat, kann sich über info@border04.org an uns wenden.

h. (everyone is an expert)

Soziale Bewegung

Kulturlandschaften der EU-Osterweiterung

Die Armenschächte von Walbrzych

Wenn Sie Ruhe, Erholung und saubere Natur sowie einen nahen Kontakt mit der Umwelt suchen, können Sie das alles in Walbrzych finden.” Mit diesen Worten wirbt die Stadt Walbrzych (Waldenburg) im polnischen Niederschlesien um Besucher. Nach der Stilllegung des Steinkohlebergbaus arbeitet man nun am Image eines sauberen Kurortes. In Wirklichkeit gleicht die ganze Region mittlerweile einer Mondlandschaft: Arbeitslose Bergleute sind gezwungen dort illegal Kohle abzubauen.

Rund um Walbrzych gibt es unzählige Krater, Erdhügel, meterbreite Löcher. Eine „Kulturlandschaft“ besonderer Art: hier wird illegal Steinkohle gefördert. Walbrzych war bis vor wenigen Jahren ein traditionelles Bergbaugebiet. Bereits im 6. Jh. wurde hier Kohle abgebaut. Vor drei Jahren haben dann die großen Zechen Niederschlesiens dicht gemacht. Niemand in Walbrzych versteht, warum der polnische Staat ausgerechnet die Steinkohlereviere aufgegeben hat, wo doch jeder weiß, dass unter der Erde noch genug Kohle für die nächsten 50 Jahre liegt. Die Verantwortlichen argumentierten, dass die Kosten für den Abbau des „Schwarzen Goldes“ dreimal so hoch seien, wie der Erlös der Kohle. Doch die Kumpel verstehen unter Rentabilität etwas Anderes.

Mit der Einstellung desselben, hielt das Elend Einzug in dieser Gegend. Zur zerstörten Umwelt kam nun noch Massenarbeitslosigkeit hinzu. 15.000 Kumpel ohne Arbeit; dazu kommen noch 12.000 verloren gegangene Arbeitsplätze aus der Zulieferindustrie. Macht eine Arbeitslosenquote von ca. 50 % für die 140.000-Einwohner-Stadt. Quint-Essenz ist bittere Armut in den Familien. Die Regierung kümmerte sich bisher nur unzureichend um neue Arbeitsplätze und als dann auch noch die dünne staatliche Arbeitslosenhilfe von 300 Zloty, also umgerechnet rund 75 Euro, im Monat versiegte (in Polen gibt es nur für 6 Monate Arbeitslosenunterstützung), nahmen die ehemaligen Bergwerksarbeiter das Zepter selbst in die Hand.

Irgendwie müssen die Leute überleben und da dieses Gebiet immer noch über reiche Kohlevorkommen verfügt, sind mittlerweile viele dazu übergegangen diese Kohle, die man teilweise schon nach wenigen Zentimetern Graben erreicht, in Eigenregie “schwarz” abzubauen. Manchmal liegt die Kohleflöze dicht unter dem lehmigen Boden, doch meist müssen sie bis zu 30 Meter tiefe Erdlöcher graben, um an die Kohle heranzukommen. Während sich die polnische Regierung auf den Beitritt in die Europäische Union vorbereitet, buddeln die „Kohlespechte“ mit bloßen Händen und unter Lebensgefahr, in den so genannten „Bieda Szybs“ (Armenschacht), unter mittelalterlichen Bedingungen, nach Steinkohle. Rund 5000 ehemalige Bergarbeiter fördern auf diese Weise, in kleinen Gruppen zu je 4 Männern, tagtäglich Tonnen von minderwertiger Steinkohle aus den Wäldern rund um Walbrzych. Bei jedem Wetter, Sommer wie Winter, um sich und ihre Familien zu ernähren.

An ausreichende Sicherheit denkt dabei oft niemand. Die Verhältnisse in den behelfsmäßig mit Baumstämmen abgestützten Gruben sind trostlos, so stellt man sich eher sibirische Arbeitslager vor. Männer mit Ruß geschwärzten Gesichtern und dreckverschmierter Kleidung kauern vor kleinen Feuerstellen, über denen sie sich die Hände wärmen, Tee kochen oder ein paar Würste grillen. Meist aber hilft der Wodka gegen Kälte und Schinderei. Überall schleppen die Männer stumm und verbissen ihre Kohlesäcke an den Rand der Gruben. Dort warten bereits die Händler mit LKWs und kleinen Lieferwagen. Sie machen das eigentliche Geschäft mit der illegalen Kohle. Pro 50-Kilosack bekommen sie etwa zwei Euro von den Händlern. Die fahren dann hinaus auf die Dörfer oder bringen die gelben Säcke direkt zu den Kunden, von denen sie dann das Vielfache von dem verlangen, was die Bergarbeiter bekommen. Trotzdem ist die illegal geförderte Kohle um einiges erschwinglicher für die Not leidende Bevölkerung, als die im normalen Verkauf.

Täglich passieren Unfälle, doch über gequetschte Rippen, Kopfverletzungen oder Knochenbrüche spricht in den Kohlegruben schon niemand mehr. Von solchen „Bagatellen“ lassen sich die Männer nicht abhalten. Auch immer wiederkehrende Unfälle mit tödlichem Ausgang schrecken die Arbeiter nicht ab. Stattdessen flüchten sich die Kumpel in Zweckoptimismus. Tödliche Unfälle habe es immer gegeben – auch damals in den staatlichen Zechen. Einer der Kumpel fügt fast zornig hinzu: „Glauben Sie, wir würden das hier alles mitmachen, wenn wir eine andere Wahl hätten? Unser Land will der EU beitreten und hat noch nicht einmal einen einzigen Arbeitsplatz für uns. Sie haben uns ein Papier in die Hand gedrückt, auf dem steht, dass wir uns selbstständig machen dürfen. Das sei alles, was sie für uns tun könnten. Jetzt helfen wir uns eben selbst. Wenn wir hier verschüttet werden, dann haben unsere Familien wenigstens die Beerdigungskosten gespart.“

Bis vor kurzem tolerierten die Behörden das Ganze stillschweigend. Doch mittlerweile wurde damit begonnen, die Illegalen an der Förderung zu hindern. Wahrscheinlich wegen der massiven Unfallgefahr in den nicht ausreichend gesicherten Gruben. Eventuell aber auch auf Drängen Brüssels, dass sich in der Vergangenheit schon in Warschau beschwerte, weil die Region angeblich eine Freihandelszone werden wolle. Anfang März demonstrierten ca. 1000 Kumpel für die Legalisierung der “Armeleutegruben” oder die lange fällige Umsetzung der Neubeschäftigungspläne für arbeitslose Kumpel, sowie gegen die Konfiszierung ihrer Werkzeuge und der illegal geförderten Kohle. Die einzige Alternativ-Jobs, die ihnen nun angeboten werden, sind das Verfüllen und Rekultivieren ihrer illegalen Gruben.

lydia

Nachbarn

Die GroßstadtIndianer (Folge 11)

Kein Krieg, Kein Gott, Kein Vaterland II

Während das Transparent über unseren Köpfen weht, ist unsere Gruppe merklich angewachsen, Zentrum und Kundge­bungs­ort sind nahgerückt. Ich sehe zu Schlumpf, der in Locke einen neuen willigen Zuhörer gefunden hat, zu Kalle, der langsam wach wird und zu Moni und Finn, die das Spruchband vor uns hertragen. Die schlechte Stimmung von heute morgen klärt sich langsam auf, denke ich und mir fällt dabei ein, daß wir ja einen riesigen Packen Flugblätter mitgenommen hatten. Langwierig ausge­tüfftelte Sätze und Thesen zum Sozialabbau und dessen Ursachen, zum Zusammenhang von Nation und Krieg, von Staat und Gott. Und das möglichst für jeden verständlich, vom Gewerkschafter bis zu nationalen Bür­gerin. Den ersten Stapel, den ich aus dem Rucksack fische, drücke ich Kalle in die Hand. Der hatte schließlich daran mitgeschrieben. Er nickt auch gleich zustimmend, klopft mir verschwörend auf die Schulter und raunt: „Den nationalen Fisch werden wir schon ordentlich pökeln, Boris!“

Jetzt ist er richtig wach, denke ich und geb zurück: „Aye, aye Sir.“ Wir grinsen und nachdem auch der Rest Meute seine Hand voll Zettel hat, verteilen wir uns rund um den Kund­gebungs­platz. Ich laufe an einer langen Reihe Six-Packs vorbei. Noch sitzen viele drinnen. Ohne Helm, am Lunchpaket mümmelnd, die Bildzeitung verschlingend oder müde auf das Lenkrad trommelnd. Fades Warten bis der Einsatzleiter ruft. Das wär mir echt zu doof. Ich laufe etwas versunken, eine mögliche Karriere als Robo-Cop vor Augen, um den letzten Wagen herum und prompt gegen die Plastikbrust eines Grenzschützers. Der wollte echt nicht nach der nächsten Grenze fragen. Der war sauer. Ich denke gerade an die Flugblätter, schiebe sie hinter meinen Rücken und gehe in die rhetorische Defensive, als sein Stöpsel knistert. Mann, was für ein Glück. Der Mann im Ohr. Mein Blick fällt auf seine grimmigen Falten auf der Stirn. Eine Glücks-Schwitz-Perle kriecht die meine entlang. Er dreht sich um. Drei Schritte. Und ich bin in der nächsten Menschentraube verschwunden. Mann, Mann, Mann – denke ich, schöpfe bei dem erfrischenden Gedanken neues Selbstbewußtsein und stehe einige Atemmeter später vor einer Gruppe junger Leute. „Wollt ihr ein Flugblatt?“, ich schaue in die kindlichen Gesichter, „Was die da vorne auf der Bühne reden, ist eh nur Quark. Es gibt weder Vollbeschäftigung noch eine nationale Lösung der Probleme. Lest das mal!“ Zwei greifen zu. „Wir machen auch öfter Veranstaltungen zu solchen Themen oben auf dem Berg … wißt ihr wo?“, es wird genickt. Einer sagt: „Vielleicht kommen wir mal rum.“

Ich wünsche noch viel Spaß und drehe weiter meine Runde. Viele nehmen mir die Zettel aus den Händen, doch nur wenige scheinen wirklich interessiert zu sein. Wie schwer es ist, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, denke ich, als mich plötzlich jemand von hinten antippt. „Hey du!“ Ich drehe mich um und starre verdattert in die tiefen Augenhöhlen eines Mannes Mitte fünfzig. Unser Flugblatt hält er in den Händen. „Ich hab das zwar noch nicht ganz gelesen, aber was hat Eure Parole denn mit Sozialabbau zu tun?“ Die Angriffslust schien ihm ins Gesicht geschrieben. Doch war ich vorbereitet: „Wir wollen damit auf den übergeordneten Zusammenhang hinweisen, der unseres Erachtens die Probleme und ihre politische Lösung bedingt. Sozialabbau ist ein Phänomen, mit dem wir umgehen müssen. Doch dabei können wir uns aber weder auf ein Vaterland als eine Nation, auf einen Gott als einen allmächtigen Staat oder einen Krieg zwischen Individuen, Standorten oder Nationalbünden berufen. Wir müssen solidarisch sein und nach neuen Wegen suchen, deshalb sind wir ja auch hier.“ „Aber wie stellt ihr euch denn das vor? Die Leute sind nunmal egoistisch. Ohne Staat würden sich doch alle bloß die Köppe einschlagen. Mit dem Konkurrenzkampf, da habt ihr ja recht, aber die Leute wollens doch nicht anders.“ Gerade will ich diese erzkonservative liberale Haltung weiter bearbeiten, als Schlumpf aus der Menge, die sich auf dem ganzen Platz gebildet hat, auftaucht und geradewegs in meine Richtung steuert. Ich antworte schnell: „Lesen Sie es mal. Und ein wenig Optimismus in die junge Generation können Sie schon investieren. Schön Tag noch.“

Er lächelt verkrampft, bleibt mit seinem Blick kurz an Schlumpf hängen und ist dann flugs in die Massen abgetaucht. Aus den Lautsprechern krächzt eine überdrehte Funktionärsstimme. Schlumpf imitiert ihn wild gestikulierend. „Daß mensch sich diesen nationalen Schrott anhören muß und das auch noch von Gewerkschaftlern. Auf seiner eigenen Demo. Was früher internationale Solidarität hieß, ist jetzt nationale. Wo soll das bloß hinführen?“ Er schüttelt den Kopf und ich nutze die Pause um vom Thema abzulenken. „Wie soll es eigentlich weitergehen? Ich hab fast alle Flugis verteilt. Es soll doch noch eine Demo geben, bis vors Rathaus, oder?“ „Nachdem dem da, redet noch der Pfarrer und dann wird der Zug organisiert. Wir treffen uns beim Transparent. Mit den Anderen vom Projekt und vom Club.“ „Ok. Ich werd mal Kalle suchen.“ „Ja such ihn mal, er ist hoffentlich nicht schon irgenwo negativ aufgefallen. Der Heißsporn.“, Schlumpf zwinkert, „Ich treff mich noch mit Puschel und Locke. Wir wollen mal sehen, ob Grün-Weiß auch noch was plant.“ Mein ‚sei vorsichtig‘ hört er schon gar nicht mehr. Ich zucke mit den Achseln und suche dann nach Kalle.

(Fortsetzung folgt…)

clov

…eine Geschichte

Making of…

Hier ein gutes Beispiel unkritischer Redakteursarbeit. Der Text besticht sowohl durch seinen naiven Realismus als auch durch das tiefbürgerliche Rotkäppchen-Motiv. Neben der Frage, welche Aussage soll hier überhaupt formuliert sein, drängt sich der Verdacht auf, der Autor wollte einfach nur einem subjektiven Gefühl spontan Ausdruck verleihen. Misslungen und für die politischen Ansprüche der Feierabend!-Redaktion gänzlich unangemessen. Abgelehnt!

GroßstadtIndianer Extra „Frühlingsgefühle“

Die warmen Strahlen der Sonne warfen helle Flecken. Überall in meiner Bude. Einer traf mich genau zwischen meine Augen. Ich rekelte die Glieder und schwang mich aus der Hängematte. Es war Zeit. Das wöchentliche Ferierabend!-Plenum stand auf dem Plan und ich war schon spät dran, wiedermal. Ein Blick dutchs Fenster Richtung Sonne reichte und ich entschied kurzerhand, zu Fuß auf die andere Seite unseres Städt’les zu gelangen. Die Anderen würden das verstehen. Ich schnappte mir also einen Korb und war flugs unterwegs. Im Hosenthal musste ich nicht lange nach einem festen Stock suchen. Der gab dann den Takt zwischen meinen Schritten und für das Konzert der befreit stöhnenden Natur um mich herum. Ein Teppich Märzenbecher überzog den aufblühenden Park und es duftete nach frühem Beerlauch. Tiefe Atemzüge weiteten mir die Brust. Ich schritt schnell voran. Vorbei an lachenden Hunden und bellenden Menschen, vorbei an frohlockenden Kindern und freudig-kreischenden Müttern. An der Olympia-Säule vor der AA-rena spuckte ich kurz aus und schlug mich dann zwischen den Kleingärten hinüber zu den Ausläufern des Sara-Parks. Klebte ein paar Aufkleber und dachte über Sinn und Unsinn moderner Großprojekte nach. Auf Höhe der Pferde-Quäler-Bahn machte ich eine kurze Pause, beobachtete eine Weile die fröhlichen Gesichter der Passanten und stieß dann seitlich in die Nordvorstadt vor, folgte der Ockestraße Richtung Wagenplatz. Nach einer kurzen Begegnung mit einem seiner Bewohner, den ich bis zum Tor begleitete, wollte ich gerade hoch Richtung Kreuz biegen, als mich drei Leute vom Platz mit ihren Fahrrädern überholten. Nette Gesellen, wenn sie nicht gerade Rotkäppchen-Witze über einen machen. Sie waren mit Körben unterwegs zu einigen Ruinen der Stadt. Auch keine schlechte Frühlingsbeschäftigung, dachte ich, wünschte viel Erfolg und bog wenig später in die Fiedermannstraße. Auf Höhe der Böckartstraße bot sich mir ein groteskes Bild. Neben der ehemals besetzten Häuserzeile hatte die Stadt ein Randgrundstück „kultiviert“. Sprich ein Stück Kulturlandschaft fett eingezäunt, Bänke hingesetzt und hintendran so einen Ghettokäfig für total sicheres Ballspielen gebaut. Und tatsächlich. Die autonomen subkulturellen Punkerpolitniks und Ex-BesetzerInnen hatten sich einfangen lassen. Ganz unbewusst. Saßen nicht auf der Straße, sondern auf den Bänken im städtischen Käfig und genossen die Sonne. Ich schüttelte kurz den Kopf über dieses verrückte Bild und erreichte wenig später den Hinterhof vom Zuru. Die Bewohner und Bewohnerinnen hatten Stühle nach draußen getragen, überall stand die Türen und Schuppen offen und es war ein emsiges Treiben zwischen entspanntem Kaffeeplausch und konsequentem Frühjahrsputz zu beobachten. Und da stand auch schon die ganze Redaktionsmeute. Kaffeetrinkend in der Sonne wiegend. Von wegen zu spät! Auch hier waren die Frühlingsgefühle stärker als jeder Aktionismus. Während der Abend dann langsam aus dem Himmel kroch,planten wir das nächste Hefte. Beim Tischtennis mit einer Meute Sterni-hungriger SportlerInnen. Das Leben is soscheen!

nagg

Ein Lichtblick im Dunkel des Kriegs

Das Frauenzentrum in Grosny

Der Krieg in Tschetschenien dauert an und das seit nunmehr zehn Jahren. Nachdem im Feierabend! N° 11 die Hintergründe dieses Konfliktes nachgezeichnet wurden, soll es hier um die Frauen gehen, die inmitten des Krieges leben.

Die wohl markanteste Auswirkung, die die Besetzung durch die russische Armee und die ständigen Kampfhandlungen haben, ist eine völlige Umstellung des gesellschaftlichen Lebens. Die Bürde des Alltags lastet allein auf den Frauen, die nicht flüchten konnten oder wollten. Die meisten von ihnen sind Witwen und müssen trotz des totalen Ausnahmezustandes, der im Verlauf der Jahre zum Normalzustand geworden ist, irgendwie für die Kinder und ältere Verwandte sorgen.

Männer sind aus dem Alltag so gut wie verschwunden. Entweder sind sie Kämpfer, verschollen oder tot, oder sie verstecken sich in den Häusern vor den Soldaten. Für die russische Armee gilt jeder Mann zwischen 15 und 65 Jahren als Terrorist. So befinden sich alle wehrfähigen Männer in der ständigen Gefahr, z.B. beim Wasserholen, unterwegs an einem der zahlreichen Kontrollposten aufgehalten zu werden und damit für immer zu verschwinden. Die Männer kommen, wenn sie der russischen Armee in die Hände fallen in sogenannte Filtrationslager, wo sie gefoltert und/oder in Erdlöchern gefangen gehalten werden. So mancher zieht es da vor, sich gleich den Kämpfern anzuschließen und so wenigstens nicht in Feindeshand zu sterben…

Es bleibt den Frauen überlassen, das Überleben zu organisieren und ständig zu improvisieren. Hinzu kommt, dass die Frauen, die noch in Tschetschenien leben, dadurch, dass die Männer weit weg sind, für die plündernden Soldaten leichte Ziele sind. Sogenannte „Säuberungen“ sind in Tschetschenien an der Tagesordnung. Dabei dringen bewaffnete Soldaten in die Häuser der Zivilbevölkerung ein, rauben alles, was sie mitnehmen können (vor allem Geld und Waffen), zerstören den Rest. Dabei werden tagtäglich Menschen geschlagen, vergewaltigt, entführt, gefoltert und getötet. Je weniger Wertgegenstände die Überfallkommandos finden, umso schlechter ergeht es den Heimgesuchten. Die Familie des Opfers kann, wenn sie großes Glück hat, herausfinden, wohin die Verschwundenen gebracht wurden und denjenigen eventuell tot oder lebendig freikaufen.

Für die Ängste und Traumata der Frauen und Mädchen gibt es in der traditionellen tschetschenischen Gesellschaft kein Ventil. Ihnen wird beigebracht für die Familie zu sorgen, duldsam zu sein und sich nicht zu beklagen. Über Gefühle wird so gut wie nicht gesprochen, sondern Stolz und Widerständigkeit nach außen gezeigt.

Doch diese Rollenverteilung gerät ins Wanken, da die Frauen nun die Hauptverantwortung für das Leben tragen, hat sich auch ihr Selbstbild geändert. Sie wissen, das auf ihnen die ganze Last liegt, wenigstens das Überleben im Land irgendwie zu organisieren.

Allerdings ist diese Last, ohne auch einmal selbst Hilfe und ein offenes Ohr für die eigenen Ängste und Nöte zu haben, nicht zu tragen. Um hier wenigstens etwas Abhilfe zu schaffen, gibt es seit 2002 in Grosny ein Frauenzentrum, eingerichtet von der Gesellschaft für bedrohte Völker und der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial. Es trägt den pro-grammatischen Namen „Frauenwürde“ (Zenskoje Dostoinstvo) und liegt zentral in der Innenstadt. Aufgebaut wurde es innerhalb von drei Monaten von ca. 35 Leuten. Allein der Fakt, dass mitten im Krieg etwas entsteht, ein Haus mit Leben gefüllt wird, ist für die Menschen von größter psychologischer Bedeutung.

Das Haus ist eine Begegnungsstätte. Frauen können dort gratis ärztliche und psychologische Hilfe erhalten und sich ein Stück weit vom Krieg erholen.

Die Stammbelegschaft besteht aus der Psychologin Zulai, der Frauenärztin Medina, der Leiterin Laila und der Juristin Malika. Allerdings ist davon auszugehen, dass sie sich in den meisten Fällen wohl darauf beschränken müssen, Ratschläge zu geben, denn Medikamente sind, wie viele andere Hilfsmittel eine Seltenheit.

In der bisherigen Zeit seines Bestehens hat sich „Frauenwürde“ zum Ausgangspunkt zahlreicher Aktivitäten entwickelt. Es gibt eine kleine Bibliothek, Näh- und Handarbeitskurse und Computer- und Sprachkurse sind geplant. Außerdem gibt es fünf Kühe, deren Milch für die Kinder, die im Untergeschoß untergebracht sind eine wichtige Calciumspritze ist. Inzwischen haben über tausend Frauen das Zentrum besucht und es ist in ganz Tschetschenien bekannt.

Auch wenn durch dieses Haus noch nicht den Krieg, der die Ursache für soviel Leid ist, beendet ist, ermöglicht das Projekt einigen Frauen wieder Hoffnung und Zuversicht zu gewinnen.

Das Frauenzentrum finanziert sich nur über Spenden und ist auf jede kleine Hilfe angewiesen, da es ansonsten keine Unterstützung von außen gibt. Tschetschenien ist ein blinder Fleck auf der Landkarte der humanitären Organisationen. Diese haben sich aus Sicherheitsgründen zurückziehen müssen, da Ausländer oft als Geiseln genommen werden, um Lösegeld zu erpressen.

Spenden an das Frauenzentrum in Grosny bitte an das Interkulturelle Forum e.V., Kontonummer 88 57 700 bei der Bank für Sozialwirtschaft, BLZ 700 20 500.

volja

Nachbarn

HipHop Partisan

ein interview mit chaoze one über hiphop und partisanen

HipHop ist ein Lebensgefühl. Sprache der Wut. Ausdruck einer Identität. Eine Kultur, die Rap, DJ-ing, Breakdance und Graffiti mit ein­schließt. Mit Bildern an den Wänden der Städte erobern die einen den visuellen Raum, mit Worten und Tönen die anderen die Ohren der Menschen. Entstanden ist HipHop auf den Block Parties der Jugendlichen aus den Armenvierteln New Yorks Mitte der 70er Jahre und wurde in Erster Generation in Europa vor allem von Jugendlichen immigrierter Eltern weiter getragen. Die globale Community mit HipHoppern verschiedenster kultureller Hinter­gründe verband oftmals das Gefühl der Diskriminierung. Häufige Themen sind daher Rassismus, Rechts­extremismus, Arbeits­losigkeit, Chancenlosigkeit, Ungerechtigkeit, die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, sowie die Rolle der Medien und ihre Manipulationstechniken. Da sich heute immer mehr „sexistische, homophobe, faschistoide und nationalistische Tendenzen im kommer­ziel­l­en HipHop verbreiten, versuchen Netzwerke, wie HipHop-Partisan“ eine kritische Kraft aufzubauen, um eine neue, subversive Bewegung zu schaffen, die dem entgegenwirkt. (1) „Sobald du ein Mikro in der Hand hast und jemand dir zuhört, ist es ein politischer Akt“ meint Sat aus Marseille.

Das folgende Interview wurde von Turn It Down per e-mail mit Chaoze One, einem Aktivisten von HipHop-Partisan, Anfang diesen Jahres geführt. Es erschien bereits im Polit/Musik Magazin „Massenmörder Züchten Blumen“ #2, aus McPom (Mecklenburg Vorpommern) und auf www.turnitdown.de.

wanst

TID: Stell dich bitte kurz vor!

chaoze: Das ist immer so eine wunderbar offene Frage. Also gut – ich bin Chaoze One und mache seit ca. 2000 rapähnliche Music – meist mit per­sön­lichen oder politischen Tex­ten. Ich hab die klassische Laufbahn durchlaufen. Ver­suchte erst Punk zu sein, hörte „Deutsch­­punk“ und Hard­core, dann kam meine Zeit als (Möchtegern-) Sharp-Skin mit viel Ska und Reg­gae (den ich heute noch mag) und dann irgendwann wechselte der Musikge­schmack durch einen Antifa Soli-Sampler ziemlich abrupt rüber zu HipHop. ‚Schuld‘ daran waren Anarchist Academy, Kinderzimmer Pro­duc­tions und KRS-One die waren mit jeweils einem Track auf dem Tape vertreten. Ich hab dann viel Rap gehört und irgendwann ange­fangen zu schreiben – so entstand 2001 dann die Demo-CD ‚Neue Kreise‘ (u.a. mit ‚der Panther‘), die relativ viel Anklang fand und inzwischen mehrere hundertmal selbst­gebrannt verkauft wurde. Dann hab ich angefangen live zu spielen und die Sachen live auszuprobieren und mit der Erfahrung ist dann jetzt die zweite CD kurz vor der Veröffentlichung. ‚Rapression‘ ist mehr politisch als persönlich geworden und wird auf Twisted Chords – einem Indie Hard­core Punk Label aus Karlsruhe er­scheinen. Mit dabei sind Leute, die mich und meine Musik nachhaltig beeinflusst haben, sei es textlich oder musikalisch, z.B. Anarchist Academy, Microphone Mafia oder Irie Revoltes.

TID: Deine Texte sind politisch, warum?

chaoze: Schwer zu sagen. Ich hab nicht angefangen zu schreiben und mir dabei gesagt, „Ey Alter du schreibst aber nur politisch“. Ich habe über Themen ge­schrieben, die mich be­schäftigt haben – und da ich als Person linksradikal-politisch interessiert bin, haben mich eben Themen beschäftigt, die in diese Richtung gingen. Ich hab tat­säch­lich auch ver­sucht an­spruchs­volle Songs zu schreiben, die nicht so ernst sind. Aber das ist einfach nicht mein Ding. Hannes von Anarchist Academy hat mal kritisiert dass die „Neue Kreise“ mehr oder wenig­er zwanghaft versucht, alle Themen abzudecken (Sex­ismus, Rassismus, Gesell­schaftskritik, etc) – auf Konzerten höre ich manchmal aus dem Publikum „Der zieht ja alle Register“. Aber ich hab damals einfach geschrieben und danach geschaut was auf dem Blatt stand. Der Anti-Vergewaltigungstrack (‚Wir kriegen euch‘) resultiert aus drei Ge­schichten, die mir damals Freundinnen erzählt haben. Mir fällt es schwer so was un­kommentiert mit mir herum­zutragen. Ich hab dann den Text geschrieben und ihn von den Frauen lesen lassen – sie fanden ihn gut, fühlten sich repräsentiert bzw. fanden den Zustand gut verbalisiert, also hab ich den Track ge­macht. So wurde die Demo-CD ein ziemliches Aus­­kotz­album, struktur­los aber für mich wichtig. Noch was zu diesem „deine Texte sind politisch“ ding: unpolitisch gibt es nicht – auch ein Kool Savas ist politisch und viele seiner Texte traurige Realität. Sie sind Spiegel des sexistischen, homo­phoben Gesellschaftszustandes, auch wenn ich zugeben muss, dass gerade die HipHop Szene in weiten Teilen diese Formen von Diskriminierung verstärkt propagiert.

Jeder Text ist subjektiv geschrieben und zeigt ein Bild der Sozialisation des Verfassers oder der Verfasserin – somit ist es politisch.

TID: Wie kommt Politik in der Hip-Hop-Szene an? Bist du für die Leute der PC-Heini, oder werden dadurch Dis­kussions- und Denkprozesse angestoßen, wie z.B. HipHop-Partisan.net?

chaoze: Du sprichst da zwei Dinge an, einmal mein persönliches Projekt Chaoze One und dann den Zusammenschluss HipHop-Partisan. Es kommt auf den Blickwinkel an. Die Hip­Hop Heads sind schock­iert, wenn jemand solch radikale Texte kickt und dabei auf die üblichen Normen wie „Skills“ und „Flow“ scheißt – manchmal minutenlang nur die Musik laufen lässt ohne zu rappen und dabei die Gesichter im Publikum beobachtet. Mit Sicherheit krieg ich oft schiefe Blicke ab; der frisst kein Fleisch, trinkt keinen oder kaum Alk, und kifft nicht mit uns. Für die Hiphops bin ich schätzungsweise der Punk mit Baggys für die „linksradikalen“ bin ich erstmal der „Hiphopper“ und dadurch schon mal obligatorisch mit Kritik behaftet. Letzten Endes habe ich von beiden Seiten Kritik und Respekt einge­steckt. HipHop-Partisan ist ent­standen aus einer Diskussion im ‚Fear of a Kanak Planet‘ Forum (kanakplanet.de), der Homepage zum Buch von Hannes Loh und Murat Gün­­gör. Viele Leute, die auf den Vor­lesungen von den Zweien waren, trafen sich nachher dort und ir­gen­d­wann stellte sich die Frage „Was machen wir mit den neuen Eindrücken und der Notwen­dig­keit an nachhaltiger Kritik“. Dann entstand die Idee eines Netzwerks – um subversive Kräfte zu bündeln und eine Gegenseite zu den faschistoiden oder homphoben Tendenzen in der Szene aber auch in der Gesellschaft zu bilden. Die Aktiven aus diesem Netzwerk – inzwischen annähernd 200 Leute, beschränken sich weder im Background, noch im Wir­kungs­feld auf die Hiphopszene. Das Kind ist noch sehr jung und brab­belt grade mal die ersten Einwortsätze – bin gespannt was daraus wird, wenn es seinen ersten Text schreibt.

TID: Gibt es so etwas wie patriotische Tendenzen in der HipHop-Szene? Ich bin mir ziemlich sicher, das es keine Stiefelnazis gibt, aber wie sieht es mit rechten Ten­denzen aus?

chaoze: Bekannt sind mir die Tendenzen insofern als dass es in der rechts­radi­kalen Szene Dis­kussionen über die Über­nahme des Musik und Kleid­ungs­stils von Hip­Hop statt­finden – ins Rollen ge­bracht haben das Rap Crews, die faschistoide Rap-Me­taphern be­nutzten: „Affen wie Afrob in den Zoo“ oder „Skills en Masse ins Gas“ o. Ä.. Ich hab ein Snippet zugesendet be­kommen von einer extrem schlechten ‚Rap‘ Crew, die Freestyles kickt, die so tönen: „Ich hätt so gerne wieder 36 / mit nem eigenen KZ ich wär so fleißig“. Patriotische Tendenzen gab’s ja aber im Grunde genommen seid der Erfindung der Fanta 4, als die Boulevard Blätter die neue deutsche Reimkultur feierten, während Migranten-Rap-Crews, die seit Jahren Blut und Schweiß in ihre Vision steckten, eben nicht ins „deutsche Format passten“ – wie es die MC’s der Microphone Mafia ausdrücken. Mehr zu dem Thema Nazirap etc. findet ihr in ‚Fear of a Kanak Planet‘, einem Buch von Hannes Loh und Murat Güngör.

TID: Ist dieser gern gepflegte Lokal­patriotismus nicht auch eine Art von Patriotismus?

chaoze: Das ist schwierig zu beantworten, weil ich denke, dass Mensch hier die Posi­tion ­der Gruppe be­achten müsste. Rap als Möglichkeit der Über­­mittlung von Infor­­ma­tionen muss klar ma­chen aus wel­chem Um­feld diese Infor­ma­tio­nen stam­men. Denn das ist eine wichtige Infor­mation zum Ver­ständ­­nis eines Textes. Ob Mensch seine Reg­ion als die Beste propa­gieren soll­te, weiß ich nicht. Aller­­dings stößt sich auch nie­mand an dem neuen Be­ginner Track in dem sie – zu recht – Hamburg huldigen. Ich denke es ist wichtig, differenziert zu bleiben. Ich bin in einem kleinen Vorderpfälzer Provinz­städtchen aufgewachsen und natürlich liegt mir dieses am Herzen. Ich habe an jedem Eck, an dem mal ein Hund sein Revier markiert hat, irgendetwas erlebt. Trotzdem bleibt die Politik und eine Mehrheit der Bevölkerung in diesem Städtchen für mich kritikwürdig. Und zwar radikal.

(1) aus dem Manifest der HipHop-Partisanen
Versuch einer Legende:
Hannes Loh…Rapper und Texter von Anarchist
Academy
Murat Güngör…ehemaliger Rapper und Mitglied von Kanak Attak
Track…Lied
Tape…Kassette
Rap…reimender Sprech­gesang durch den MC (Master of Ceremony) vermittelt, von amerik. Slangausdruck to rap=quasseln
Homophobie…krankhafte Angst vor und Ab­neigung gegen Homosexualität
PC-Heini…politisch korrekter Heini
Baggys…weite Hosen
Rap Crews…Bands
Freestyles…improvisierte Einlagen
weitere Infos unter:
www.hiphop-partisan.net, www.kanakplanet.de

Soziale Bewegung

Demokratie im deutschen Wahljahr 2004

Hurra, hurra, das Superwahljahr ist da – ein Fest der Politik, welcher Bürger möchte nicht in solch antiken Träumen schwelgen. Aber denkste. Pessimismus aller Orten. Keine Programm-Marathons in Partei­geschichte. Nicht einmal ein ordentliches Lämmerschlachten. Keine Tragik, keine Euphorie. Die Medien halten sich zurück. Die parla­mentarische Debatte wiegt in Lethargie. Da hilft auch kein außen­/euro-politischer Abführtee. Kaum Grüne auf den Friedensmärschen. Kaum Rote am 03.04. (1) in Berlin. Die Schwarzen in die eignen Hierarchien verstrickt, die Gelben kopflos, die Brau­nen dumm wie immer, die Röterroten immer nur dabei statt mittendrin. Selbst dem EU-Parlament fehlen noch Helfer für die eignen Wahlen. Ehrenamtlich versteht sich. Die Reste von politischer Kultur, die die Parteien versam­meln, reichen kaum noch aus, die Lücken zuzuschließen. Hamburg war ein erster Gradmesser. Die Wahlbeteiligung ging um 2,3% auf 68,7% zurück. 10528 Stimmen wurden ungültig abgegeben. Das sind immerhin schon 1,3% von allen (s. Tabelle 2). Die ungültige Stimmabgabe ist eine Option geworden, weil sie ein aktives Moment enthält: Klar seine Stimme zu verweigern, nicht zu delegieren, sondern sie auch selber einzusetzen. (2) Auch wenn kein Erdrutsch zu erwarten steht: 2004 – das Super­wahljahr Deutschlands – könnte zu einem Fiasko der Legitimation parlamen­tarischer Initiative werden. Die Bereitschaft des Bürgers, seine Stimme abzugeben, sinkt ständig. Manch einer sieht es als Strafe für die schlechten Inszenierungen der Par­teien­­politik, manche zieht die Konsequenz aus jahre­langem Hin und Her. Fest steht, die meisten haben begriffen, daß jenseits der dunklen Regierungspolitik, nur düstere Aussichten zu finden sind. Die allgemeine Hilflosigkeit der Parlamente ist auf Landes- und auch Bundesebene erwiesen. Doch was bleibt noch, wenn der Bürger nichts mehr von der Wahl erwartet, politisches Engagement sich weder an der Basis der Parteien noch in Parteien-Neugründungen generiert? Ist das liberale Staatsprojekt an seinem Ende? Und damit auch die demo­kratische Idee? Wo läßt sich Optimis­mus aus politischen Aktionen überhaupt noch schöpfen? Ein Vorschlag sei gegeben.

Die Demokratie in ihrer Gegenwart ist die parlamentarische Lösung im nationalen Mehrparteienstaat. In ihrer Idee ist sie die Teilhabe aller, mithin von jedem und jeder Einzelnen, an der Macht – freiheitlich, brüderlich, gleich. Die Macht und ihre Territorien jedoch, die die Parlamente der nachfeudalen Aristo­kratie im 19. Jahr­hundert listenreich und unter vielen Op­fern abgerungen haben – wie wichtig dabei die Ideen des Sozialismus waren, wie wichtig der gewerkschaftliche Druck der organisierten Arbeiterschaft, wird oft ver­gessen – ging über an die skrupellosen Führer der nationalen Bewegungen, die nicht nur in Europa aufmarschierten. Wie­viel Leid mußte ertragen werden bis mit der „Wende“ und dem Ende des Kalten Krieges endlich die Hoffnung wieder aufkeimte, nun mit dieser alten Macht zum ewigen Frieden fortzu­schrei­ten. Heute fällt es schwer, noch jene Euphorie zu teilen, die damals beide Erdenteile erfaßte, als der staatliche Kriegs­ter­rorismus sich vielerorts zu befrieden begann. Es war ein großer Sieg der parlamentarischen Debatte. So wurde es zumindest hingestellt. Ein Beweis für die politische Wirksamkeit des Parlamen­tarismus. Großen Worten folgten große Pläne und allzu große Erwartungen. Gerade in den Ländereien deutscher Nation. Riesige Verteilungspro­gram­me gebaren gigantische Subventions­kataloge mit sichtbaren Effekten: Wirt­schaftsboom dort, Warenvielfalt hier. Das Rheinische Modell der sozialen Marktwirtschaft stand scheinbar in Blüte. Der Aufstieg der Grünen Partei und das Überleben der links­sozialistischen Kräfte in der PDS jedoch – beide ideologischen Strömungen stießen als Parteien schnell an ihre real­politischen Grenzen – gaukelten eine Ver­änderung des politischen Alltags­geschäfts im deutschen Mehrparteien­staat nur vor, ebenso wie die Staatssubvention auf Pump. Heute, ein neues Jahrtausend hat kaum begonnen, halten Resignation und Trauer wieder Einzug in die Häuser­meere der Städte und Hofzeilen der Dörfer, kehrt an die Herde der Familien, Kollektive und Individuen wie ein Déjà-vu zurück, was man in den Neunzigern noch zu bannen glaubte: die Angst vor dem Morgen. Und wie zum Hohne ist die Überbringerin der Schrecken hierzulande die Rot-Grüne-Re­gierungs­koalition. Der Pessimis­mus wächst. Das zeigen die steigenden Zahlen der Nichtwählenden und Ver­wei­gerungen jeder Art.

Ist der Staat, was seine liberale Idee ver­heißt, der Garant des Friedens durch Zentra­lisierung der Gewalten und damit Wächter jeden Eigentums, kann er bei seinem Bürger und seiner Bürgerin auch Vertrauen erwecken, ihn und sie zur Ab­kehr von der individuell-willkürlichen Gewalt bewegen, gar zur Abgabe seiner Freiheitsrechte. Doch muß der Staat auch andersherum seinem Bürger Vertrauen schenken, will er nicht die durch ihn im Vertrauen zugesicherte Freiheit des Indivi­duums restlos durch staatlichen Zugriff untergraben. Die gegenseitige Vertrauens­basis von Staat und Bürger ist das Herz­stück jedes liberalen Ideals. Aber schon der Blick in die Geschichte zeigt, der Parla­men­tarismus konnte von Anbe­ginn keines seiner noch so liberalen Versprechen ein­lösen. Die Balancen des sozialen Friedens im Innern der national verfaßten Terri­torien, zwischen Arbeits­kampf und Kapitalinteresse, zwischen den Jungen und den Alten, zwischen Mann und Frau, Schwarz und Weiß, Nationalis­ten und den Kommunisten, sie alle blieben von der parlamentarischen Initiative beinahe un­berührt. Den Ausbruch von Krieg und Revolte konnte sie weder verhindern noch ernsthaft begrenzen, im Gegenteil oftmals reichte die Rhetorik der nationalen In­teressen aus den Parlamenten der kriegs­fördernden Maßnahme die Hand. Erinnert sei nur an den Kriegs­zuspruch der deut­schen SPD 1914. Unfriede, Widerstand und Krieg unter­minierten unent­wegt das bürgerliche Vertrauen und zwangen zur bürokratischen Spezialisierung der Parla­mente. Die Parteien mußten sich ständig profilieren, um verlorenes Vertrauen zu aktualisieren. Gewählte Volksvertreter und -vertre­terinnen ja, aber von den Parteien aus der eigenen Elite rekrutiert und auf die Liste gesetzt. Strategisch geplant und aus­ge­­klüngelt, um dem politischen Gegner kein Stück weit Luft zu lassen. Schon hier wird fraglich, inwieweit die oder der Delegierte jenes Vertrauen in die Wähler­schaft unterminiert. Und von da an geht der Riß über eine lange Kette von Amts­miß­bräuchen, nicht gehaltenen Ver­sprechen bis hin zur Korruption. Spä­tes­­tens jedoch seit der Terrorismus im parla­men­tarischen Staate zum Unwesen geriet, bedroht die Eskalation der Inneren Sicher­heit als gesteigertes Miß­trauen der Parla­men­tarier und Parlamen­tarie­rinnen in die Freiheit jedes und jeder Einzelnen den Frieden mit und damit auch das Vertrauen in den Staat. Eine Geschichte der an diesem Punkt ansetzenden staat­lichen, sprich par­la­­men­­­tarisch geführten, Re­pres­­sion im um­fas­sen­den Sinne steht noch aus. Die Offen­legung zumin­dest einiger Stasi-Akten ist nicht mehr als ein Indiz für ein dunkles Staats­kapitel in Ost wie West. Die Aus­maße von Datenerfassung und Ter­roris­mus an der Schwelle dieses Jahr­tausends machen sie zur lächerlichen Zettelkastelei.

Ist also der moderne Mehrparteienstaat, dessen Sonderfall die Europäische Union nur ist, heute weit von der Erfüllung jenes liberalen Ideals entfernt? Ich meine ja. Die Kultur der Individualisierung und die pluralistische Erziehung (3) haben das Miß­trauen reifen lassen, trotz und gerade we­gen der medialen Öffentlichkeit. Par­teien und Gewerkschaften gelten als über­holt, wegen ihren bürokratischen Aus­differen­zierungen und institutionellen Ver­engungen, wegen ihren internen dogma­tischen Ansprüchen und Auslesen, wegen der parlamentarischen (tarif­ründlichen) Praxis und deren Folgen. Das Vertrauen in die Solidarität der „großen Sozialkas­sen“ schwindet. Und wer hat schon Aus­sicht auf politische Mitbe­stimmung, wer fühlt sich dazu in der Lage? Aus Ohnmacht kann kein Vertrauen entstehen.

Ist also mit dem gescheiterten Vertrauens­verhältnis, mit dem Scheitern der liberalen Idee vom Bürger und dem Staate auch die Idee der Demokratie an ihrem Ende – nachdem die Geschichte ihrer Entwick­lung unzweifelhaft mit dem Mehrpar­teien­­staat und seinem Parla­men­tarismus verbunden ist? Scheint Demokratie ange­sichts dessen heute als politische Praxis, die den aufklärerischen Idea­len folgt, nicht mehr möglich? Ich meine nein. Um Egoismus und pes­simis­tischer Stim­mung die Stirn zu bieten, gilt es die demokratische Idee in optimistischer Absicht neu zu beleben. Ihre Ideale von der Frei­heit, Brüderlich­keit (Solidarität), und Gleich­heit des Menschen aufzugeben, hieße ja die Träume und Hoffnungen so vieler mit Füßen treten, hieße schließ­lich die moderne Bewegung des Denkens in ihrem politischen Kern in Frage stellen. Der Rückzug ins Private, sofern er von der Not erlaubt, wäre der Auszug aus der Gesellig­keit, das Aufkündigen jeder ver­trau­lichen Basis, das Ende jeder Politik. So scheint am Ende der liberalen Staatsidee das zu stehen, was sie schon am Anfang im eigenen Menschen­bilde unterstellte. Der Mensch sei eigent­lich nur durch Ge­walt zur Abkehr von dem Egoismus und damit zu Gesellschaft fähig.

Wenn es also so schlecht um die liberale Staatsidee bestellt ist. Wenn ihre politische Praxis des Parlamentarismus heute keines ihrer Versprechen einlösen kann, gar das politische Grundverständnis der gesell­schaft­lichen Verhältnisse bedroht. Wenn das grassierende Mißtrauen die Indivi­duali­sierung befördert und die Zersetzung der Solidarität innerhalb der gesellschaft­lichen Gefüge. Wo kann jener Optimis­mus in die Demokratie überhaupt noch Wurzeln schlagen? Wo herrschen denn noch demokratische Verhältnisse? Wo, wenn nicht direkt zwischen den Menschen? Denn wenn Demokratie die Idee der Teilhabe jedes und jeder einzelnen Betrof­fenen an der Macht über die Verhältnisse bedeutet, so ist gar nicht einzusehen, warum sie sich nur auf Staatsform und -geschichte beziehen soll.

Demokratische Verhältnisse sind, wie sie ab jetzt verstanden werden sollen, das Er­geb­nis von politischen Haltungen, die In­di­­viduen zueinander einnehmen. Sie sind di­rekt und gegenseitig. Deshalb keines­wegs abstrakt. Demokratie herrscht dort, wo sich Menschen in einem aus­balan­cier­ten Machtverhältnis vertrauen. Wer kurz überlegt … wird feststellen, es gibt schon Anlaß zu ein wenig mehr Op­ti­mismus. Denn wenn auch nicht in der Re­gel, der Alltag des Menschen ist von demokratischen Verhältnissen durchsetzt. Trotz aller Unkenrufe, die Leute seien apolitisch und zu einem anständigen Wahlkreuz nicht mehr fähig. In der „klei­nen“ Politik des Alltages sind demo­kra­tische Verhältnisse oft häufiger anzu­fin­den, als in der „großen“ der Parlamente. Demo­kratie ist eine Wirklichkeit, die es aus­zuleben gilt! Der parlamentarische Spiel­raum reicht da lange nicht aus. Und wer kann jemandem ernsthaft das Desin­ter­esse am alltäglichen Parteigeschäft verweh­ren? Modernes Leben sieht sich vielen Ansprüchen ausgesetzt. Der Parla­men­tarismus stellt da lange nicht die höchsten.

Man wäre schnell versucht vom Standbild aus zu schließen, die Verhältnisse im liberalen Mehrparteienstaat lägen doch nicht so schlecht, wie eingangs noch behauptet. Doch nicht aufs Potential sondern die Ent­wicklung kommt es schließlich an. Und hier sind die Tendenzen trübe, die Aus­sicht nochmal düsterer. Idee, Form, Ein­richtung und Geschichte des liberalen Staats­modells sind sehr eng geworden, be­häbig, wenig in der Lage jene demokratischen Verhältnisse, wie oben verstanden, in sich abzubilden, sie zu fördern und direkt auch zu bewirken. Um aber das Ideal der Teilhabe jedes Einzelnen in die Tat zu set­zen und sich den neuen Herausfor­derun­­gen zu stellen, bedarf es viel vielmehr Demokratie. Das ist eine Frage der politischen Kultur. Und die muß in ihrem Herzen utopisch sein, will sie Menschen an sich binden.

Demokratie, optimistisch betrachtet, findet also weder neben noch über Menschen statt, sondern zwischen ihnen. Politisch ist nicht ein Verhältnis zwischen Bürger, Recht und Staat, aus historischer Entfernung kühl betrachtet, politisch ist der Mensch, wenn er sich auf andere bezieht, mit Wünschen, Bedürfnissen und auch Ansprüchen. Politisch ist er, insoweit ihn die Probleme seiner Umwelt, seiner Mitmenschen direkt betreffen. Ist man gewillt zu glauben, das Individuum ist nur mit sich selbst beschäf­tigt und nur an seinem Eigentum interes­siert, wäre jede Aussicht auf das Erleben und Bewirken gemeinsamer Geschichte an ihrem Ende.

Daß zwischen Staat und Bürger die Ver­trauens­basis bricht, ist hinreichend beschrieben worden. Daß politische Kultur im Mehrparteienstaat allzuoft zur Partei­kultur degeneriert, ist einsichtig, sonst wären wir ja längst darüber hinaus. Daß kein Fünkchen Utopie beim Glauben an die Steuerung des positiven Wachstums bleibt, sondern nur hastiges Gefummel, daß kein utopischer Gedanke mehr vom herrschenden Politiker zur beherrschten Bürgerin dringt, liegt auch an der Aus­sichtslosigkeit der parlamentarischen De­batte. Es fehlen die Visionen. Und mit einem Seitenblick auf die Geschichte, ist mensch auch heilfroh darüber.

Es zeigte sich also die Notwendigkeit, den Begriff der Demokratie von seinem her­kömm­lichen Gebrauch, von seiner natio­nalen Sittenhaft zu trennen, das Politische von reiner Staatsverwaltung abzuheben, um Utopie und Optimismus für die demokratische Entwicklung des Menschen zu­rückzugewinnen. Beharrte man auf der An­erkennung der politischen Einrich­tungen, wie sie sind, so wären Pessimismus und auch Egoismus Haus und Tor geöff­net, die Ideale der Aufklärung wären schließ­­lich preisgegeben. So sei das „große“ Politikgeschäft von nun allein ge­las­sen, in der frohen Hoffnung auf Zerset­zung. Der Auszug aus den Parla­men­ten wird Demo­kratie und Selbst­be­stimmung weiter vor­wärts bringen. Geh zu den Ur­nen, laß Dich zählen, aber behalt die Stim­me zumindest dieses Mal bei Dir. Zeig Dich solidarisch mit den Anderen, setz ein Zeichen, nutze Deine Stimme (und auch Deine Arme), eine neue poli­tische Kultur demokratisch zu begrün­den. Der Auf­gaben sind genug gewachsen. Der Op­timismus liegt allein daran zu glau­ben, wir Menschen seien auch dazu befähigt, sie gemeinschaftlich zu über­win­den.

clov

(1) DGB-Großdemonstration
(2) Tipp für anspruchsvolle NichtSwähler: Die Briefwahl. Mensch hat den ganzen Kram zwei Wochen vor der Wahl und kann den Stimmzettel in Ruhe analysieren, disku­tieren, verzieren, beschmieren, file­tieren oder toasten, Hauptsache er geht wieder rechtzeitig zurück.
(3) die etwas geraffte Formulierung verweist einmal auf soziologische Arbeiten zu Indivi­dualisierungsprozessen u. a. von Ulrich Beck, vgl. bspw. „Jenseits von Stand und Klasse?“, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.), „Soziale Welt, Sonderband 2. Soziale Ungleichheiten“, Göttingen: Schwartz, 1983; und zum anderen auf den Fakt, das unsere Kinder heute keinen mo­no­­li­thischen Bildungsangeboten mehr gegen­­überstehen.

Theorie & Praxis

Eine Milchmädchenrechnung

Die „Ich-AG“ und ihre Spätfolgen

Als Instrument zum Abbau der Arbeits­losig­keit von der Bundesregierung geprie­sen und von der Bundesagentur für Arbeit an den Mann gebracht, soll die „Ich-AG“ offenbar Wunderwaffenwirkung haben. Wir sind sicher, dass sie in Bezug auf die Arbeitslosenstatistik abbauend wirkt. Wichtig ist nur das Wie.

„Lohnnebenkosten“ sind der allgemeinen Meinung nach die Ursache für die schlechten Arbeitsmarktdaten und die schlechte Konjunktur. Die Grundidee der Förderung der „Ich-AG“ ist, diese Lohnnebenkosten für solche Arbeitslosen zu senken, die ihre wirtschaftliche Selbst­ständigkeit als Minifirma begründen. Diese Entlastung wirkt bis zu zwei Jahre und soll für den nötigen Anschub der Firma sorgen. Bis hierhin ist nur der Name AG des Projektes unklar. Denn was diese Förderregelung mit einer Aktienge­sellschaft, also der Herausgabe von Aktien zum Zwecke der Kapitalbeschaffung, dem damit verbundenen Börsengang und dem Handel mit den Anteilsscheinen zu tun hat, mag nur einem Politiker einleuchten.

Die Anschubfinanzierung einer Selbst­ständigkeit ist eine gute Sache, auch wenn der Name vielleicht aus „Marketing­gründen“ etwas verunglückt sein mag. Aber es gibt einen Haken, das dicke Ende sozusagen. Der AG-Gründer bekommt nämlich kein Startkapital, es wird ihm nur weniger abgenommen, als dem normalen Selbstständigen. Das passiert in den ersten zwei Jahren, nennen wir sie mal der Einfachheit halber Schonfrist. Um abzu­schätzen, ob der Erfolg von Dauer sein kann, ist es unbedingt nötig, sich mit dem Leben danach zu beschäftigen. Und hier greifen alle die Gesetze, Verordnungen und Regelungen, die den Arbeitsmarkt zu dem gemacht haben, was er heute ist.

Zunächst ist da die Krankenversicherung.

Anders als bei abhängig Beschäftigten gilt für Selbstständige eine Bemessungs­grundlage. Dieser nette Begriff drückt aus, dass die Krankenversicherung berechtigt ist, die Beiträge nicht vom tatsächlich erzielten Einkommen, sondern von der genannten Bemessungsgrundlage zu berechnen. Noch mal: Der Staat als Gesetzgeber unterstellt dem Selbst­ständigen ein Mindesteinkommen und erlaubt den Krankenkassen, auf dieses fiktive Einkommen Beiträge zu erheben. Gegen diese Praxis wurde von den Gewerkschaften geklagt, doch von der Vorsitzenden des Bundesverfassungs­gerichtes, Jutta Limbach, als letzter Amtsakt bestätigt.

Für das Jahr 2004 beträgt diese Beitrags­bemessungsgrenze 1811,25 EUR und die damit monatlich fälligen Krankenkassen­beiträge je nach Krankenkassenbeitrags­satz ca. 250,00 EUR. Das ist genau der Betrag, den der ehemalige Bundes­präsident Roman Herzog (ja, der mit dem Ruck!) als Pauschale für alle Krankenver­sicherten vorschlug. Das wäre der ulti­mative Ruck für alle Minijobbesitzer.

Damit ist natürlich nur das Minimum an gesundheitlicher Versorgung gesichert. Krankengeld ist da nicht drin, denn Firmengründer wollen ja nicht krank werden.

Bemerkenswert ist, dass die Bemessungs­grenze der neuen Bundesländer in den letzten Jahren auf das Niveau der Alt­deut­schen Länder angepasst wurde, bei der Vergütung der Ärzte aber ein niedrigeres Ostniveau verrechnet wird. Die daraus resultierenden Praxisschließungen im Osten sind offenbar ein willkommener Kostendämpfungsfaktor für die Kassen. Kostendämpfung ist die Losung dieser Tage. Leistungen werden eingespart, und der eintretende Versorgungsmangel kann durch Zusatzversicherungen abgedeckt werden. Nein, wir schweifen nicht ab, wir sind immer noch bei der „Ich-AG“, denn eine Zusatzversicherung schlägt monatlich mit ca. 70,00 EUR bis 100,00 EUR zu Buche, je nach dem, wie deutlich der Versicherte seine finanzielle Lage zeigen will. Unterprivilegierte werden wir in Zukunft an unsanierten Zähnen erkennen können. Rechnen wir also im Schnitt mit 80,00 EUR Zusatzversicherungskosten, wenn alle eingesparten Leistungen zusatz­versichert werden sollen. Genaueres wird momentan von den Versicherungen erarbeitet.

Der Wechsel zu einer Privaten Kranken­ver­sicherung mit günstigeren Beiträgen hilft auch nur vorübergehend. Generell passen die Privaten die Beiträge dem Lebensalter an. Gute Berater empfehlen daher, die gesparten Beiträge für die Zeiten mit hohen Beiträgen zu sparen. Das Problem wird also nur auf später verschoben. Das ist auch nur logisch, denn eine Private Krankenversicherung ist ein Unternehmen mit dem Ziel, Gewinne zu erwirtschaften. Die Phantasiepreise der Pharmaindustrie für Medikamente gehen letztlich immer zu Lasten der Versicherten. Und noch etwas: Aus der Privaten gibt es keinen Weg zurück in die gesetzliche Krankenversicherung, es sei denn mit der Aufnahme einer Arbeit als normaler Arbeitnehmer oder der Arbeitslosigkeit. Nun, dieses Problem hatten wir ja gerade beseitigen wollen.

Und dann gibt es noch den Rentenbeitrag. Aus dem Merkblatt zur Versicherungs­pflicht der Handwerker, V016 entnehmen wir unter dem Punkt Regelbeitrag:

Nach Ablauf der ersten drei Kalenderjahre … zahlen pflichtversicherte Handwerker grundsätzlich ohne Rücksicht auf die Höhe ihres Einkommens einen Regel­beitrag. Für das Jahr 2004 beträgt der Regelbeitrag monatlich 395,85 EUR. Dieser Beitrag bezieht sich auf eine Bezugsgrösse von 2030.00 EUR, das Durchschnittsentgelt der gesetzlichen Rentenversicherung.

Hier besteht allerdings die Möglichkeit, einen einkommensgerechten Beitrag nach dem Arbeitseinkommen entsprechend des Einkommenssteuerbescheides zu zahlen.

Aber bleiben wir beim Durchschnitt, beim Regelfall. Bei der Addition der Sozial­abgaben nach der Schonzeit ergeben sich:

250,00 EUR Krankenkassenbeitrag

80,00 EUR Zusatzversicherungen

395,85 EUR Rentenversicherung

725,85 EUR Gesamt

Diese Beiträge beziehen sich auf einen Gewinn von ca. 2000 EUR.

Hier ist der „Ich-AGler“durch die Förderung zunächst im Vorteil, aber um einen solchen Gewinn zu erreichen, muss einer schon eine unge­wöhnlich gute Ausnahmeidee haben. So viele Ideen, um damit den Arbeitsmarkt spürbar zu entlasten, gibt es gar nicht. Der Gewinn von 2000,00 EUR ist das, was übrigbleibt, wenn alle Betriebs­aus­gaben gezahlt sind. Und die Ein­kommens­steuer gibt es auch noch.

Die Sozialabgaben im Regelfall be­tragen also ca. 36%. Damit könnte man leben, vorausgesetzt, dieser Gewinn wird erreicht. Wir schätzen den nötigen Umsatz auf mindestens 4000,00 EURO, um nach der Ab­rechnung aller Auf­wendungen wie der even­­tuel­len Ein­kaufspreise der Ma­terialien, dem Abzug der Ge­schäfts­­mieten und der Fahrzeug­kosten den beschriebenen Gewinn zu er­reichen.

Läuft es aber nicht so gut, ändert sich das Verhältnis dramatisch. Die Renten­versicherungsbeiträge sinken zwar in gewissem Maß proportional, die Krankenversicherungsbeiträge bleiben aber konstant! Bei 1000,00 EUR Gewinn ergibt sich folgende Rechnung:

250,00 EUR Krankenkassenbeitrag

80,00 EUR Zusatzversicherung

197,93 EUR Rentenversicherung

527,93 EUR Gesamt

Das sind 52%! übrig bleiben ca. 470,00 EUR. Der Sozialhilfesatz liegt bei knapp 400,00 EUR.

Die genauen Zahlen ergeben sich erst im Einzelfall und auf den Cent genau können wir das nicht ermitteln, dazu gibt es zu viele verschiedene Einfluss­faktoren. Aber der Trend bleibt: Unter 2000,00 EUR Gewinn ist auf Dauer kein Überleben möglich. Das belegen die vielen leeren kleinen Läden in unseren Straßen. Der Traum von der eigenen kleinen bescheidenen Existenz endet zu oft im Alptraum mit Schulden aus laufenden, vertraglich lang­fristig gebundenen Ausgaben, wie hohen Mieten und fehlenden Ein­nahmen. Ursache ist u.a. die hohe Abgaben­last der Sozial­abgaben, deren Gegenwert in Form von Sozial­leistungen in der Kranken­versorgung und der Rente immer fraglicher wird. Was bedeuten aber 2000.00 EUR Gewinn? Zur Veran­schau­lichung: Im Monat lassen sich ca. 20 Arbeitstage nutzen, denn 4 Wochen mit 5 Arbeitstagen ergeben ungefähr die gesetz­liche Arbeitszeit. Den Rest des Monats kann man im Durchschnitt des Jahres als Urlaub, Krankheit, Feiertage oder andere Ausfälle rechnen. Daraus errechnet sich ein not­wendiger minimaler Tagesgewinn von 100,00 EUR. Darunter wird es echt eng! Gelegenheitstapezieren oder Schnür­senkel­verkaufen bringen es nicht wirklich. Dialer und 0190-er Nummern sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Wie wär’s mit einem Fernsehsender und kosten­pflich­tigem Telefonquiz? – oder gleich Ber­lusconi. Alle haben mal klein angefangen.

In den Anfängen der Langstreckenflüge wur­de ein wichtiger Streckenpunkt errechnet: der Point of no Return. Ab hier ist keine Umkehr mehr möglich, weil die Treibstoffreserve nicht mehr bis zum Ausgangspunkt reicht. Diesen Punkt gibt es auch beim Aufbau der eigenen Selbst­ständigkeit. Es ist wesentlich, ihn recht­zeitig zu erkennen, er kann schon mit einem Bankkredit mit dem eigenen Haus als Sicherheit erreicht sein. Spätestens nach dem Ablauf der Schonfrist, wenn alle Abgaben anfallen, gibt es kein Zurück mehr. Ob mit oder ohne Ich- AG, diesen Punkt richtig zu erkennen ist existenz­entscheidend. Wenn hier die Mindest­einnahmen noch nicht erreicht sind, sollte man die ganze Aktion ernsthaft über­denken. Wozu dann aber überhaupt das Ganze? Die „Ich-AG“-ler sind nicht mehr arbeitslos und das nachhaltig. Bei den oben angeführten Kosten fehlt die Arbeitslosen­ver­sicher­ung. Nach der Schonfrist der „Ich-AG“, in der ganz normalen Selbstständigkeit gibt es keine Arbeitslosenversicherung – nicht einmal freiwillig. Eine gescheiterte Selbst­­ständig­keit endet somit immer beim So­­zial­­amt. Wer im entscheidenden Mo­ment die Gewinn­erwartungen falsch und zu opti­mis­tisch einschätzt, spielt mit seiner wirtschaftlichen Existenz. Aber wenigstens sieht die Arbeits­losenstatistik besser aus.

Fakt ist: Der Teufelskreis aus Arbeits­losigkeit, staatlicher Intervention und freier Marktwirtschaft, wird mit dem Instrument „Ich-AG „ jedenfalls nicht durchbrochen.

ies.

Sozialreformen