Wie schon 2006 zur Fußball-WM startete auch dieses Jahr pünktlich zum Auftaktspiel der EM 2008 die Aktion DreiFarbenGold. Gegen den Nationalismus und die politische Vereinnahmung des Sportes sollten möglichst viele der geflaggten Deutschlandfahnen ihres goldenen Streifens beraubt werden. Und die Viertel sich derart verwandeln, dass sie anstelle deutschen Schimmerschummelscheins in den schwarzroten Farben des Anarchismus leuchten. Dabei lieferten sich die einzelnen Aktivisten einen heißen Wettkampf um die begehrten Platzierungen. Am Ende setzte sich der amtierende Titelverteidiger erneut gegen alle Verfolger durch und gewann knapp in der Kategorie „Meiste Schnipsel“ mit 137 sachgemäß entfernten Goldstreifen. Alle Rekorde in der Kategorie „Großschnipsel“ wurden dagegen von einem Neuling gebrochen. Der Gewinnerschnipsel maß sage und schreibe 1x5m. Trotz der geringer ausgefallenen Gesamt-Ausbeute, die dem Umstand geschuldet war, dass für die meisten deutschtümelnden BürgerInnen offensichtlich doch ein Unterschied darin bestand, dass das große Fußballturnier diesmal nicht in Deutschland sondern in Österreich/Schweiz stattfand, waren hinterher alle zufrieden: Die Aktion hatte wieder sehr viel Spasz gemacht und dem Frust über die wehenden Fahnenmeere gut entgegengewirkt.
Der Kritik, dass die ganze Aktion keinerlei politische Wirkung entfalte, hielt der Titelverteidiger der „Meisten Schnipsel“ entgegen: „Viel weniger als um politische Auswirkung, geht es bei der Aktion doch um eine selbstbewusste Gegenkultur, die einerseits Spasz machen soll und andererseits provoziert. Wer sich über den ganzen Deutschlandtaumel ärgert und dabei die Hände in den Schoss legt, dem kann ich nur dringend empfehlen, es mit der Aktion mal als Therapie-Ansatz zu versuchen.“ Bleibt schließlich zu hoffen, dass zum einen die Fußball-EM 2012 in Polen/Ukraine stattfinden kann und nicht doch interimsweise in Deutschland veranstaltet werden muss; und zum anderen dass die Aktion DreiFarbenGold auch in Zukunft anlässlich der großen inter/nationalen Fußball-Turniere initiiert wird. Haltet die Augen auf und die Scheren bereit!
Kein Krieg, kein Gott, kein Vaterland! Gegen einen „ganz normalen“ Nationalismus in Deutschland!
Am Samstag, 26. Juli, schallten dumpfe Bässe und gebrochene Beats durch Leipzigs Straßen. Bei schwüler Sonne folgten hunderte tanzende Menschen einigen dröhnenden LKW’s vom Connewitzer Kreuz über die Karl-Liebknecht-Straße zum Augustplatz und weiter zum Völkerschlachtdenkmal.
Nach einem Jahr Pause fand wieder eine Global Space Odyssee (GSO) anlässlich des weltweiten Aktionstages für die Legalisierung von Cannabis statt. Diese Straßenparade oder musikalische Demonstration, hinter der verschiedene subkulturelle und politische Initiativen sowie Einzelne stehen, zog erstmals 2001 durch Leipzig.
Dieses Jahr stand die Kulturpolitik der Stadt Leipzig im Mittelpunkt der Kritik, die 98% der Kulturförderung in so genannte Hochkultur wie Oper und Theater investiert. Außen vor bliebe die freie Kultur, die durch bürokratische Auflagen und eine Vermarktungslogik in ihrer freien Entfaltung behindert wird, so die VeranstalterInnen der GSO. Dass diese Politik dann auch noch vom Establishment als „Leipziger Freiheit“ gefeiert wird und im kulturellen Leitfaden Leipzig als Musikstadt für junge Leute beworben wird, war Anlass genug, auf der Straße für eine selbstbestimmte Welt zu tanzen.
Die diesjährige Route, die erstmals durch Reudnitz führte, ist als antifaschistische Aussage zu verstehen, gegen die vermehrten Naziaktivitäten im Leipziger Osten. Die GSO steht außerdem für die Akzeptanz alternativer Wohnkonzepte, wie etwa Wagenplätze; fordert Drogenaufklärungspolitik, anstatt einer Kriminalisierung von DrogennutzerInnen; stellt sich kritisch zur kapitalistischen Globalisierung und plädiert für freie Meinungsbildung durch freie Medien.
Ein Plädoyer zur Errichtung einer aufgeklärten Gesellschaft für bedrohte Daten
Wer im Internet surft, hinterlässt seine ganz persönliche Datenspur. Selbst Hacktivisten und Nerds können nicht kontrollieren, wann sie während dem Surfen welche persönliche Daten preisgeben. Erst recht nicht kontrollieren kann der oder die Betroffene, was mit diesen von ihm/ihr erhobenen Daten geschieht, und ob diese nicht an Dritte weitergegeben werden. Eine unüberschaubare Zahl an Diensten und Plattformen, die durch die Erfassung von auf den ersten ersten Blick weniger privaten Daten komplette Nutzungsprofile, Klick- und Kaufverhalten und Kommunikationsprofile erstellt, arbeitet unermüdlich an dem Projekt transparenter WeltenbürgerInnen und der Abschaffung einer virtuellen Privatsphäre: Preissuchmaschinen und elektronische Bezahlverfahren erlauben Einblicke in das Finanzverhalten des Users, integrierte E-Maildienste ermöglichen die Erfassung des Kommunikationsverhaltens und des sozialen Netzwerkens, Browsertoolbars verfolgen Surf-Sessions, und Desktop-Suchmaschinen könnten sich eines Tages als dankbares Tool für Strafverfolgungsbehörden und Lobbyverbände der Film- und Musikindustrie erweisen.
Technisch möglich ist viel mehr als sich das die meisten von uns vorstellen können. Eine lückenlose, omnipräsente Überwachung von denkenden und handelnden Menschen ist nicht mehr nur das apokalyptische Horrorszenario aus einschlägigen Sci-Fi-Romanen, sondern rein technisch bereits machbar. Doch was können User tun um sich zu schützen? Welche Maßnahmen können schnell getroffen werden, um potentielle Schnüffler auf Irrwege im Datendschungel zu führen?
Datenprostitution im WorldWideWatching-Betrieb
Zunächst ist es nicht damit getan, die Schuld der momentanen Datenschutz-Situation, die stark an ein Orwell‘sches Bedrohungsszenario erinnert, institutionalisierten Daten-Jägern, schmerzfreien Internet-Betreibern und/oder erfahrungsarmen PolitikerInnen in die Schuhe zu schieben. Denn: selbst ist der/die UserIn. Manche nehmen diesen Grundsatz leider ein wenig zu ernst. Der Trend, seine Lebenshistorie inklusive noch so uninteressanter Details im Netz einer weltweiten Öffentlichkeit preiszugeben, die vermutlich nicht halb so stark an den Offenbarungen interessiert ist wie diverse Unternehmen, die aus ihnen Kapital schlagen wollen, äußert sich derzeit in diversen sozialen Netzwerken und Webblogs von Millionen SchülerInnen und StudentInnen. StudiVZ, das größte Online-Portal in Deutschland machte unlängst mit der Einführung der personalisierten Werbung Furore. Nur informierte StudiVZ-User setzten sich mit dieser Neuerung auseinander. Denn kaum ein Button wird schneller und nachlässiger betätigt als der der lästigen Allgemeinen Geschäfts- und Nutzungsbedingungen. Im Rahmen der neuen AGB wollte sich StudiVZ ursprünglich auch die Erlaubnis einholen, den Mitgliedern Werbung per SMS oder Instant Messenger zu schicken. Das Unternehmen kippte den Passus jedoch wegen zahlreicher Beschwerden. Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar hatte das Vorgehen von StudiVZ scharf kritisiert. Danach verhandelten die Betreiber der Plattform mit dem Berliner Datenschutzbeauftragten Alexander Dix über datenschutzfreundlichere Regelungen. Die neue AGB veranlasste immerhin ein Prozent der User dazu, sich von der Plattform zu verabschieden. Dass selbst diese Entscheidung nicht immer in der Macht des Users steht, zeigt die Beschwerde eines ehemaligen Nutzers des sozialen Netzwerks Facebook, dem anglo-amerikanischen Äquivalent von StudiVZ. Demnach hatte der US-Betreiber persönliche Daten auch nach Deaktivierung seiner Mitgliedschaft gespeichert. Der Fall, mit dem sich mittlerweile der britische Datenschutzbeauftragte beschäftigt, zeigt: Es reicht nicht aus, das eigene Profil zu löschen, um bei der virtuellen Gemeinschaft nicht mehr gelistet zu werden. Zwar sind die eingegebenen Informationen für Dritte nicht mehr zugänglich, Facebook bewahrt sie aber weiterhin für den Fall, dass mensch eines Tages doch wieder einen Account dort eröffnen will. Frei nach dem hart-aber-herzlich-Motto des Eagle‘schen Hotel Silicon Valley, äh, California: You can always enter but you can never leave. Schließlich ist mensch ja ein soziales Wesen und wird ggf. Schwierigkeiten haben ein Leben ohne seine 387 Freunde zu führen, und das beklemmende Gefühl bekommen, ein recht isoliertes Dasein zu fristen. Wer seine Spuren bei Facebook dennoch komplett verwischen will, muss sich laut dem Kundendienst der Plattform erneut einloggen und manuell jeglichen Inhalt seines Profils löschen.
„Sag mir was du suchst und ich sag dir wer du bist“
Die virtuelle Selbstbestimmung, die bei Online-Portalen noch zumindest teilweise möglich ist, gehört bei Suchmaschinen bereits den Betreibern. Die Datenerhebungsmöglichkeiten von Suchmaschinen sind schier unbegrenzt und in der Lage, Nutzerprofile in einer Komplexität zu erstellen, dass die Staatssicherheit der DDR nicht nur vor Neid erblassen würde, sondern auch geradezu lächerlich dagegen erscheint.
In den so genannten Logfiles der Suchmaschinen werden bei jeder Suche und bei jedem Klick Datum, Uhrzeit, besuchte Website, Suchwörter, aber auch spezielle Accountinformationen wie Browsertyp, Version, Betriebssystem, Sprache und IP-Adresse sichergestellt. Vor allem bei längerfristiger Nutzungsdauer kristallisiert sich hier das Abbild eines gläsernen Bürgers heraus. Privatsphäre und Anonymität im Internet sind die Wunschvorstellungen diverser Datenschützer, real aber nicht gegeben. Ein Beispiel: Die New York Times, die diesem Thema schon seit Jahren ganze Themen-Reihen widmet, machte den Nutzer hinter der User-ID 4417749 anhand der gestellten Suchanfragen ausfindig. Es handelte sich dabei um die 62-jährige Thelma Arnold aus Lilburn im Bundesstaat Georgia. Darunter befanden sich Suchanfragen wie „numb fingers“, „dog that urinates on everything“, „60 single men“, „landscapers in Lilburn, Ga“ und Suchen nach Personen mit dem Nachnamen „Arnold“. Als Ms. Arnold von der Veröffentlichung ihrer Suchergebnisse erfuhr, reagierte sie empört, sagte: „We all have a right to privacy“ und verkündete, auf die Dienstleistungen ihres Anbieters AOL künftig zu verzichten. Die NYT wählte bei ihrem Test bewusst eine Person mit harmlosem Suchprofil. Denn die Suchanfragen offenbaren in der Regel intime Details wie persönliche Sorgen, gesundheitliche Probleme, sexuelle Vorlieben und politische Ansichten, und die sind nicht immer so lustig wie die von Ms. Arnold. Manche Netzrecherchen offenbaren nicht nur Lebensgeschichten, sondern auch menschliche Abgründe, wie die Häufung von Suchanfragen wie „child porn“ und „how to kill your wife“ ergab. Ergebnisse wie diese rufen Kriminalfahnder auf den Plan, denn Vorhersagen von Straftaten anhand von Suchmaschinenanalysen lassen eine Diskussion über die gesetzliche Transparenz von Suchmaschinenbetreibern in unmittelbare Nähe rücken. Scotland Yard hat seine Pläne diesbezüglich bereits vorgestellt. Danach sollen britische Polizeipsychologen eine Datenbank mit möglichen Tätern anhand ihrer psychologischen Profile erstellen, und zwar bevor sie die Verbrechern begehen. Um diese Präventionsmaßnahme umsetzen zu können, wird eine Klassifizierung der Bürger nach Bedrohungspotentialen angestrebt. Impliziert wird hier stillschweigend die Profil-Bildung und Bespitzelung von Millionen (noch) unschuldigen BürgerInnen.
Mit dem exzessiv betriebenen Profiling können aber nicht nur User ausspioniert werden, sondern auch eine nicht unerhebliche Menge Kapital herausgeschlagen werden. Wer wie Google seine Nutzerdaten inklusive Suchanfragen 18 Monate lang speichert und gleichzeitig 99% seines Einkommens mit Werbung erzielt, kann seinen Profit erheblich steigern, wenn er seine Werbung auf bestimmte Zielgruppen abstimmen oder noch besser die User mit personalisierter Werbung bombardieren kann. Ein kommerzieller und politischer Wert detaillierter Profile ist offensichtlich.
Wir stehen nicht nur einem neuen Werbe-Zeitalter bevor, wo Massenwerbung Schnee von gestern sein wird, sondern werden auch immer mehr mit der Tatsache konfrontiert, dass Wissen nicht, wie in der Utopie diverser Netzideologen, ein neutral zugängliches Menschenrecht ist, das von einem kauzigen, nur an Ordnungsverfahren interessierten Bibliothekar gehütet wird. Vielmehr ist der Zugang von Wissen mehr denn je an bestimmte Parameter geknüpft. Soll heißen, wer wissen will muss preisgeben. Wer trotzdem nicht offline gehen möchte, sollte seine Suchmaschinen möglichst oft wechseln, um zu große Datenkonzentrationen in einer Hand zu verhindern. Dazu muss der Browser so eingestellt werden, dass er beispielsweise von Google, die eine besonders lange Cookie-Laufzeit haben keine Cookies annimmt. Eine andere Alternative ist es, diese Datenkrümel regelmäßig manuell zu löschen.
Der Traum der Datenbohrinsel
Bemühungen, den Datenschutz gesetzlich zu verankern, gibt es nicht erst seit der Erfindung des Internets. Heutzutage ist die Vielzahl der existierenden Datenschutzgesetze für Laien unüberschaubar. Grundsätzlich orientieren sich diese Beschlüsse aber an dem Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) von 1977. Der 1983 im Volkszählungsurteil geforderte „Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten“, der festlegt, dass die Sammlung von nicht anonymisierten Daten zu bestimmten und unbestimmten Zwecken nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, scheint für Mediennutzer so utopisch wie für diverse Politiker irrelevant zu sein. Sonst wäre wohl kaum zu erklären, dass Bundesjustizministerin B. Zypries die sechsmonatige Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikations-Verbindungsdaten auf den Weg bringen konnte. In diesem Zusammenhang wundert es auch nicht, wenn die Justizministerin den Vorstoß der Grünen, den Datenschutz im Grundgesetz zu verankern, als Symbolpolitik bezeichnet.
Die Grundrechte, also die hoch gepriesenen Grundfeste unserer Demokratie werden durch eine Politik der Ignoranz von einem solchen Ausmaß obsolet. Statt zu regulieren wird der Datenhunger von Internet-Unternehmen weitgehend ausgeblendet, der aktuelle deutsche Datenschutz kann hier strukturell wenig bewegen. Hier bedarf es einer weitreichenden Reform, bei der die betroffenen Nutzer substantielle Rechte sowie Schadensersatzansprüche erhalten. Der Chaos Computer Club hat dazu eine Liste von Forderungen aufgestellt, die mit in die derzeitige Diskussion um die Modernisierung des Datenschutzes einfließt.
Vorschläge, wie mensch mit der aktuellen Datenschutz-Situation umgehen könnte, purzeln derweil von allen Seiten. Welche bizarren Vorschläge dabei gut gemeinten Absichten entspringen können, zeigt die Diskussion um die Konsequenzen aus der Telekom-Affäre für die Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikations- und Internet-Verbindungsdaten.
Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Klaus Jansen, beispielsweise fordert im Sinne Schäubles, eine zentrale Speicherung der Verbindungsdaten. Sämtliche Verbindungsdaten sollten seiner Meinung nach in einem Sicherheits-Center unter Aufsicht von Datenschützern hinterlegt werden. „Die Telekom-Affäre ist eine Riesenchance für den Datenschutz, die wir nutzen müssen. Es ist doch offensichtlich, dass sensible Kundendaten bei privaten Unternehmen mehr als schlecht aufgehoben sind“, so Jansen. Auf welche eingeschränkte Form von Datenschutz er damit anspielt, wird spätestens deutlich wenn der Kriminalbeamte ausführt, wer in letzter Instanz darauf Zugriff haben soll. Nämlich sowohl Unternehmen, die die Daten zu Abrechnungszwecken abrufen können, als auch der Staat, der unter strenger Kontrolle zur Strafverfolgung eine Zugriffsberechtigung erhalten soll.
Die Pläne von Bundesinnenminister Schäuble zum Aufbau einer Bundesabhörzentrale, die nicht zuletzt auch staatliche Lauschangriffe koordiniert, gehen dabei deutlich weiter und sollen mittelfristig zu einer Art Technikdienstleister nach Vorbild der US-amerikanischen National Security Agency (NSA) oder des britischen Government Communications Headquarters (GCHQ) ausgebaut werden. Bei beiden Einrichtungen handelt es sich um gestandene Geheimdienste, die sich u.a. dem Knacken verschlüsselter Kommunikation widmen. Die NSA steht dabei seit Längerem als Mittelpunkt eines umfangreichen Beschnüffelungsprogramms der US-Regierung im Zentrum der Kritik. Nichtsdestotrotz hat die SPD offenbar keine Bedenken, Schäubles Pläne zum Aufbau einer Bundesabhörzentrale mitzutragen. Dieter Wiefelspütz, innenpolitischer Sprecher der SPD, sagte unlängst, er halte ein gemeinsames Abhör-Kompetenzzentrum für dringend erforderlich, weil Polizei wie Geheimdienste „technisch endlich auf die Höhe der Zeit kommen“ müssten. Das Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten müsse in einem solchen Zentrum „selbstverständlich“ eingehalten werden, obwohl er zugab, die Schäuble`schen Planungsskizzen noch nicht zu kennen. Die sieht eine explizite Trennung zunächst nicht vor. Denn Schäuble will auch die Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes (BND) aus dem deutschen Auslandsgeheimdienst herauslösen und in die neue Abhörbehörde integrieren, die zunächst beim Bundesverwaltungsamt in Köln angesiedelt werden soll. Es gehe ihm darum „inländische Telekommunikationsüberwachung mit der internationalen Telekommunikationsüberwachung“ zu verbinden. Lokal schalten, global walten heißt die Devise und die gilt nicht zuletzt auch für die Onlinedurchsuchung.
Neues von der bayrischen Datenautobahn-Polizei
Ab 1. August diesen Jahres soll die Polizei in Bayern heimliche Online-Durchsuchungen zur Terrorabwehr sowie zur Verhinderung schwerwiegender Straftaten durchführen können und dafür auch heimlich in die Wohnungen Verdächtiger eindringen dürfen. Diese heftig umstrittene Änderung des Polizeiaufgabengesetzes beschloss kürzlich mehrheitlich der Innenausschuss des bayerischen Landtags. Im Rahmen einer Online-Razzia sollen die Sicherheitsbehörden auch Daten etwa auf Festplatten löschen oder verändern dürfen, wenn Gefahr für höchste Rechtsgüter besteht. Als Beispiele werden detaillierte Beschreibungen von Anschlagszielen oder Bombenbau-Anleitungen genannt. Bei Gefahr in Verzug soll generell für verdeckte Online-Durchsuchungen und „notwendige Begleitmaßnahmen“ wie das Eindringen in Wohnungen eine richterliche Anordnung nicht sofort erforderlich sein. Beide Maßnahmen, also Online-Durchsuchung und die Durchsuchung privater Räumlichkeiten, werden von Schäuble und den Vertretern des Bundeskriminalamtes gerne miteinander verglichen. Ignoriert wird hier aber der grundlegende Unterschied, dass Wohnungsdurchsuchungen offene Maßnahmen sind, während Online-Durchsuchungen verdeckte Maßnahmen bleiben. Neben der Online-Durchsuchung erlaubt das neue BKA-Gesetz dem Bundeskriminalamt auch den Zugriff auf die von den Providern laut einem Bundesgesetz verdachtslos sechs Monate auf Vorrat zu speichernden Verbindungs- und Standort-Daten, wenn es z.B. um die Abwehr von Terroranschlägen geht. Dies war bisher Aufgabe der Landespolizeien. Damit werden dem BKA, das bisher nur eine koordinierende Funktion hatte, exekutive Vollmachten übertragen – ein weiterer Schritt fort von einer föderal strukturierten hin zu einer zentral geleiteten Polizei. Auch das Trennungsgebot wird aufgeweicht, denn das BKA ist zwar eine Polizeibehörde, war aber faktisch stets mit geheimdienstlichen Aufgaben betraut.
Tipp: Wer hier die fragwürdigen Aktivitäten des Bundestrojaners auf seinem Computer fürchtet, dem sei empfohlen auf Anonymisierungsdienste (siehe hier) auszuweichen und sich genau zu überlegen, wem mensch seine Daten für welchen Zweck gibt.
Terrorgefahr Versicherungsbetrug
Maßnahmen wie die Online-Durchsuchung, kleiner und großer Lauschangriff, Kamera-Überwachung im öffentlichen Raum, Vorratsdatenspeicherung etc. zielen auf die präventive Abwendung vor Gefahr speziell durch terroristische Einzeltäter und Vereinigungen hin. Doch wer oder was ist ein Terrorist?
Für die USA, postwendend seit 9/11, mit Sicherheit jeder Muslim der einmal Flugunterricht genommen hat. Potentielle Terroristen legitimieren den Staat, sie zu überwachen und zu profilen. Die Anwendung einer technisch gesehen immer lückenloseren Überwachung hängt allein davon ab, wer und was einen potentiellen Feind definiert. Feinde tragen nicht immer Sprengstoffgürtel, wie sich an Versicherungen deutlich machen lässt: Versicherungsbetrüger, Zuviel-Esser, Raucher und Autofahrer werden als potentielles finanzielles Risiko eingestuft. Daten über das Fahr-, Ess- und Freizeitverhalten sind für Versicherungen daher in der Regel von großem Interesse, um Kunden entsprechend ihren Gewohnheiten einstufen und ggf. ablehnen zu können. Das neue Pay-as-you-drive-System der Firma Planung Transport Verkehr AG (PTV) beispielsweise zeichnet automatisch ohne Zeitverzögerung die Fahrroute und das Fahrverhalten des Fahrers auf und vermittelt diese Daten an die Versicherung. Damit sollen, nach offizieller Verlautbarung der Betreiberfirma, umsichtige Fahrer niedrigere Versicherungsprämien zahlen als andere.
Die Mär von der Freiheit schaffenden Sicherheit
Besteht in Anbetracht dieser düsteren Zustände überhaupt noch Hoffnung? Die Antwort muss lauten: Ja, definitiv. Nicht nur weil die Hoffnung zuletzt stirbt und am besten nie, sondern weil wir alle, solange wir uns nicht als isolierte Androide oder einsame Wölfe, sondern als Teil einer lokalen/regionalen/globalen Gesellschaft betrachten, eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung tragen. Das bedeutet, dass es auch beim Thema Datenschutz nicht nur um persönliche Ambitionen gehen kann und darum, seine eigene Privatsphäre vor den Tentakeln eines Kontrollstaates zu schützen.
In einer Gesellschaft, in der die gesellschaftliche Konformität des Handelns überwacht wird, kann die Fähigkeit zum eigenen ethischen Handeln schnell verkümmern. Ein psychologisches Phänomen, das auch oft bei verwöhnten und überbemutterten Kindern auftaucht: Wenn jemand anderes darüber urteilt, welche Werte gut und schlecht sind, ohne dabei die eigenen Entscheidungskapazitäten des Kindes zu fördern, wird dieses später Schwierigkeiten haben, eigenständig zu entscheiden und Werturteile zu fällen. Wenn Handlungen gegenüber Werten in Form von Normen vorgegeben sind und alternative Wertehandlungen als störend, unsicher und allgemein verwerflich gelten, wird diese Form von Denken gesellschaftlich tendenziell weniger bis gar nicht mehr gepflegt werden. Der Zwang zur Konformität kann sich nicht zuletzt auch auf die Identitätsbildung einzelner Menschen auswirken. Auch hier haben wir es mit einer psychologischen Erscheinung zu tun. Bei Dauerüberwachung und sozialer Auslese durch Profiling kann durchaus der Eindruck erweckt werden, dass Konformität, der Gleichklang mit dem Rest der Bevölkerung das A und O einer funktionierenden Gesellschaft ist, und dass im Umkehrschluss Grenzüberschreitungen das Risiko in sich bergen nicht nur die eigene Sicherheit, sondern auch die der Anderen und damit die Freiheit aller aufs Spiel zu setzen. Wenn geistige und faktische Non-Konformität aber zum Risikofaktor wird, besteht die Gefahr, dass soziale Normen zu unumstößlichen gesellschaftlichen Parametern mutieren, die sich nur schwer ändern lassen und keinen Freiraum mehr für alternative Nischen bieten. Eine Überwachungsgesellschaft produziert ein starres Gesellschaftssystem, das Änderungen in jedwede Richtung zu verhindern sucht.
Am Ende des gedachten Kontinuums befindet sich ein totalitärer Überwachungsstaat, der jeden seiner Bürger als potentiell Gefahr bringend einstuft und sich von seiner Bevölkerung isoliert.
Natürlich lässt sich hier einwenden, dass zwischen totalitären Dystopien und dem gegenwärtigen demokratischen Rechtsstaat unterschieden werden muss. Nur gibt es eben auf technisch-infrastruktureller Ebene keinen Unterschied mehr. Was heute auf der Basis unserer demokratischen Grundrechte gebaut und entworfen wird, lässt sich morgen bereits totalitär nutzen. Was würde beispielsweise passieren, wenn Machthaber potentielle Feinde innerhalb von Sekunden anhand von Profildaten verdächtigen können, die vermutlichen BedroherInnen durch ihren Handy-Peilsender lokalisiert werden können und einer blitzschnellen Verhaftung nicht mehr viel im Wege steht? Sich auszumalen wie ein diktatorischer Machthaber wie Hitler damit umgegangen wäre, wenn er Informationen über das Internetverhalten einzelner Personen gehabt hätte, darüber welche Produkte einzelne Bürger kaufen und was sie in ihrer Freizeit unternehmen, erscheint eine für die Vergegenwärtigung der derzeitigen Lage durchaus legitime Überlegung. Der Chaos Computer Club kommt aufgrund dieser Überlegung zu dem folgerichtigen Schluss: Jeder demokratische Rechtsstaat, der die Gefahr von totalitären Strukturen als historisches Faktum anerkennt, muss einer Überwachungsstruktur entgegen treten. Das müsste zumindest theoretisch common sense sein. Doch die klassische Kosten-Nutzung-Erwägung der breiten Masse und ihr aktueller Status Quo lautet: Ein bisschen weniger Privatheit für mehr Sicherheit. Doch ein bisschen weniger Privatheit ist aus technischer Warte identisch mit keiner Privatheit. Freiheit und Überwachung sind daher keine, wie von sicherheitsverliebten PolitikerInnen gerne postuliert, sich bedingenden Zustände, sondern diametrale Gegensätze. Denn Überwachung gewährleistet nicht Sicherheit, sondern schürt Angst vor Freiheit.
30 Jahre alt ist der deutsche Datenschutz dieses Jahr geworden – in Schleswig-Holstein und auf Bundesebene. Der Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz (ULD) Schleswig-Holstein und Landesbeauftragte für den Datenschutz Thilo Weichert nutzte das Jubiläum für ein vorläufiges Fazit. Dieses fiel so aus, wie man es hätte erwarten können: In Schleswig-Holstein läuft es super, auf Bundesebene nicht.
So hielte, „obwohl das Bundesverfassungsgericht (…) festgestellt hat, dass das heimliche Ausspionieren von privaten PCs nur unter engen Voraussetzungen zulässig ist“, die Bundesregierung an ihren Plänen fest. Ebenso habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum KFZ-Kennzeichen-Scanning „unmissverständlich seine langjährige Rechtsprechung bestätigt“ – die anlasslose automatische Erfassung von Autokennzeichen sei verfassungswidrig. Auch die Vorratsdatenspeicherung sei vom Verfassungsgericht teilweise gestoppt worden. Dennoch hielte „die Bundesregierung trotzig und ohne Einsicht zu zeigen“ an der Umsetzung des Gesetzes fest. Und: „Sie setzt noch eins drauf, indem sie die Umsetzung eines EU-Rahmenbeschlusses weitertreibt, wonach die Passagierdaten von sämtlichen Flügen in die und aus der EU 13 Jahre lang für polizeiliche Zwecke gespeichert werden sollen.“ Dadurch würde das Vertrauen der Bevölkerung in die Sicherheitsbehörden gefährdet.
Nun ist ein gewisses Misstrauen den Behörden gegenüber wohl ohnehin nicht verkehrt. Es sei denn, man lebt in Schleswig-Holstein. Dort steht nämlich (fast) alles zum Besten, wenn man Weichert glauben will. Die Landesregierung habe zum Beispiel „signalisiert, dass sie die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zum KFZ-Kennzeichen-Scanning respektiert.“ Auch trage sie „die Regelungen des modernen Landesdatenschutzgesetzes Schleswig-Holstein (…) und deren Umsetzung voll und ganz mit“ und unterstütze das ULD „bei seinen Bestrebungen zur Weiterentwicklung des präventiven Datenschutzes“.
Dass es sich Herr Weichert mit seinen Arbeitgebern nicht verderben will, ist verständlich, ebenso wie sein Bedürfnis, die Erfolge der eigenen Arbeit herauszustellen. Dennoch zeigt seine Rede exemplarisch die Klemme, in der der Datenschutz steckt.
Legal, illegal… egal
Denn der Maßstab, an der sich die Arbeit der Datenschützer ausrichtet, ist nun mal das Gesetz. Kritik an neuen Überwachungsmaßnahmen ist so nur möglich, wenn diese gegen bestehendes Recht verstoßen. Das kommt oft genug vor: Neue Überwachungsmaßnahmen einzuführen, für die erst noch die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden müssen, ist eine gängige Praxis der Behörden. So lief es etwa bei den Online-Durchsuchungen: Die wurden schon seit Ende 2005, also noch in der Amtszeit des früheren Innenministers Otto Schily praktiziert (und durch eine Dienstvorschrift des Bundesinnenministeriums ausdrücklich empfohlen). In einem Urteil vom April 2007 stellte der Bundesgerichtshof schließlich fest, dass diese Praxis rechtswidrig sei. Die Folgen sind bekannt: Derzeit bemüht sich Schilys Amtsnachfolger Schäuble eifrig (und mit Erfolg) um die Schaffung rechtlicher Grundlagen für die Online-Durchsuchungen.
In so einem Fall – wenn nicht etwa die Überwachungsmaßnahmen dem geltenden Recht angepasst werden, sondern das Recht den Überwachungsmaßnahmen – läuft der datenschützerische Protest ins Leere. Mehr noch: Die Datenschützer selbst tragen gezwungenermaßen zur Legalisierung neuer Überwachungsmaßnahmen bei, wenn sie illegale Praktiken der Behörden kritisieren.
Die ständige Berufung auf das Bundesverfassungsgericht als letzte Bastion der Rechtsstaatlichkeit ist ein Symptom für diese Hilflosigkeit. Auch wenn Datenschützer und Bürgerrechtler dessen Urteile zur automatischen Erfassung von KFZ-Kennzeichen und zur Vorratsdatenspeicherung als grundlegende Erfolge feiern, zeigt ein nüchterner Blick, dass dem nicht so ist. Das Gericht ist weit entfernt davon, diese Überwachungsmaßnahmen zu stoppen – es fordert nur klare Richtlinien für deren Anwendung. Eine generelle, verdachtsunabhängige Bespitzelung unschuldiger Bürger soll ausgeschlossen werden. Dass diese Urteile größere Konsequenzen für die Arbeit der Behörden haben werden, kann man bezweifeln. Denn ob mit klaren Vorgaben oder ohne werden sich die Beamten nur in Ausnahmefällen dafür interessieren, was der „unbescholtene Bürger“ so treibt – die Frage ist nur, wo die Grenze zwischen „unbescholten“ und „schuldig“ verläuft und wer diese festlegt.
Die üblichen Verdächtigen
Auch das ist ein Problem des institutionellen Datenschutzes: Zur Debatte stehen für diesen nur die Mittel, nicht die Zwecke staatlichen Handelns. Dass Kriminalität bekämpft werden muss, gilt als unhinterfragbare Tatsache – lediglich über die Zweck- und Verhältnismäßigkeit der dafür zum Einsatz kommenden Mittel kann diskutiert werden. Nur ist „Kriminalität“ keine feststehende Größe, sondern Ergebnis einer von vielfältigen Interessen motivierten Einteilung menschlichen Handelns in unerwünschte und erwünschte, „illegale“ und „legale“ Handlungen. Wenn mensch nicht nur in nostalgischer Manier den Gesetzen von heute die Gesetze von gestern entgegenstellen will, kommt man nicht um die Frage herum, welche Ziele hinter dieser vom Staat vorgenommenen Einteilung stehen.
Dies können die Datenschützer nicht leisten, sie sind durch ihr Amt an den Rechtsstaat gebunden und können diesen Rahmen nicht überschreiten. Problematischer ist noch, dass sie diesen Rahmen auch nicht überschreiten wollen. So ist es zumindest zu interpretieren, wenn Weichert beklagt, dass das „Vertrauen der Bevölkerung in die Sicherheitsbehörden“ durch immer mehr Überwachung gefährdet würde. Hier müsste eine außerparlamentarische Bewegung in die Bresche springen – einen „Beauftragten für Gesellschaftskritik“ wird es in absehbarer Zeit aus offensichtlichen Gründen nicht geben.
Trotz dieser Beschränktheit des institutionellen Datenschutzes sollen aber auch die positiven Aspekte nicht verschwiegen werden. Immerhin kann der Datenschutz dazu beitragen, den Forderungen nach immer neuen Überwachungsmaßnahmen die diskursive Oberherrschaft streitig zu machen. Zudem sind zwar Polizei und Geheimdienste formal dem Recht unterworfen, Gesetzesverstöße sind dabei aber schon einkalkuliert. Seien es nicht genehmigte Abhörmaßnahmen oder unbegründete Polizeiübergriffe bei Demonstrationen – der Rechtsbruch, das willkürliche Außerkraftsetzen der Regelungen, an die die ausführenden Organe des Rechtsstaates angeblich gebunden sind, ist die Voraussetzung dafür, dass diese ihre Funktion wirklich ausüben können. Eine Kontrollinstanz, die vehement auf die Einhaltung der Gesetze pocht, kann solche „Auswüchse“ vielleicht nicht verhindern. Aber sie kann den Verantwortlichen immerhin gelegentlich auf die Nerven gehen. In Anbetracht der derzeitigen Kräfteverhältnisse kann man dafür schon dankbar sein.
Popmusik wird seit jeher mit dem Aufbegehren in Verbindung gebracht, wenn schon nicht gegen die Gesellschaft als solche, dann immerhin gegen die Elterngeneration und ihre Regeln. Das fing schon bei Elvis an, der für manche konservative Zeitgenossen seine Hüften doch etwas zu aufreizend kreisen ließ. Diese hatten in den 60er Jahren noch weit mehr Grund zum Kopfschütteln, denn gemessen an dem, was dieses Jahrzehnt an gewagten Frisuren, Experimenten mit freier Liebe und exzessivem Drogenkonsum mit sich brachte, erschien Elvis als reinster Musterknabe.
Man mag von dieser Verbindung von Pop und Rebellion halten, was man will – Fakt ist, dass eben sie einen wesentlichen Teil des Reizes von Popmusik ausmacht. Heute scheint diese Beziehung von Rebellion und Pop fraglich geworden zu sein – Pop scheint sich ins System integriert zu haben. In den späten sechziger Jahren sah das noch anders aus. Da schien die Verbindung von Rock´n´Roll und Revolution so naheliegend, dass etwa Jerry Rubin, ein Sprecher der US-amerikanischen Polit-Hippies (der sogenannten Yippies) sagen konnte: „Die Neue Linke, ein auserwähltes, angekotztes Kind, entsprang dem kreisenden Becken von Elvis“ (1). 1968 schienen symbolisches und ganz reales Aufbegehren, Rock´n´Roll und politischer Protest untrennbar verbunden.
Der Mythos 1968
1968 gilt als gesellschaftliche Aufbruchszeit, als „Kulturrevolution“ oder „nachträgliche Entnazifizierung“ der deutschen Gesellschaft – als Modernisierungsschub also, der den Weg frei machte für unsere heutige „rundum demokratische“ Gesellschaft. Dieses Bild wird – gerade heute zum 40. Jubiläum – von Fernsehen und Presse immer wieder gern bedient. Dabei wird freilich säuberlich getrennt zwischen dem „guten“ und dem „bösen“ ´68: Neue Lebensformen und Frisuren, das Aufbegehren gegen starre Strukturen und den Krieg in Vietnam werden bejubelt, revolutionäre Bestrebungen, Kommunismus und RAF verteufelt.
Nicht, dass es an der RAF viel zu glorifizieren gäbe. Aber dabei wird auch alles andere entsorgt, was über den Status quo hinausweisen könnte. Ehemalige Akteure wie Rainer Langhans, der sich vom Aushängeschild der Kommune 1 zum hirnweichen Esoteriker zurückentwickelt hat, kommen da zu neuen Ehren. Die dahinter stehenden Bedürfnisse sind offensichtlich, schließlich entstammen auch viele Journalisten dieser Generation. So kann man sich wechselseitig auf die Schultern klopfen und sich versichern, dass in der von einem selbst so erfolgreich modernisierten Gesellschaft jede weitere grundsätzliche Opposition überflüssig sei. Indem man „68“ auf flower power, ein bisschen Sex (Uschi Obermaier!), Drugs und Rock´n´Roll reduziert (plus ein paar unverbesserliche Fanatiker, die sich vortrefflich in der Rolle der „bad guys“ machen), verwandelt man es in ein leicht verdauliches Produkt, das nirgendwo für Magengrimmen sorgt.
Dabei ist nicht alles falsch, was da geschrieben wird. Die „Modernisierungsthese“ hat es längst zu akademischen Ehren gebracht. „68“ ist demnach im Zusammenhang mit der sozioökonomischen Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft zu sehen, als eine Bewegung, die nur unter den Bedingungen einer voll entwickelten fordistischen Produktionsweise entstehen konnte. Jedenfalls gewann der Konsumsektor in den westlichen Industriestaaten nach 1945 rapide an Bedeutung. Die zunehmende Rationalisierung und Automatisierung der Arbeit führte zu enormen Produktionszuwächsen. Auf der anderen Seite hatte der Krieg mit seinen Millionen Toten und dem anschließenden Wiederaufbau für weite Teile der Bevölkerung einbeziehendes Wirtschaftswachstum mit geringer Arbeitslosenzahl gesorgt. Hinzu kam der „Kalte Krieg“, der es notwendig machte, die „Arbeiterklasse“ mit „sozialpartnerschaftlichen“ Mitteln ruhig zu stellen. Ein starker Mittelstand bildete sich heraus, traditionelle Klassenverhältnisse wurden aufgeweicht.
Dies äußerte sich in einer enormen Steigerung des Einkommens. Der Freizeit- und Konsumsektor gewann gegenüber der Produktion an Bedeutung. Dies führte zu Konflikten zwischen der jüngeren Generation und den in ihren Werten noch stark der Sphäre der Produktion verhafteten Eltern. Dazu trug auch die rasch wachsende Massenkultur und die aufkommenden Massenmedien bei.
Macht kaputt, was euch kaputt macht
Die wachsende Bedeutung der Massenmedien hatte Adorno schon in den 40er Jahren erkannt. Die positive Sicht der Konsumsphäre als „Reich der Freiheit“ teilte er jedoch keineswegs. Für ihn war die von der „Kulturindustrie“ verwaltete Freizeit nur der Bereich der Reproduktion als notwendiges Gegenstück der Produktion: „Mit der Flucht aus dem Alltag, welche die gesamte Kulturindustrie (…) verspricht, ist es bestellt wie mit der Entführung der Tochter im amerikanischen Witzblatt: der Vater selbst hält im Dunkeln die Leiter. Kulturindustrie bietet als Paradies denselben Alltag wieder an“ (2).
Die französischen Situationisten sahen das ähnlich, widersprachen aber Adornos pessimistischer Einschätzung der Perspektiven. So sahen sie schon 1957 einen „Kampf um die Freizeit“ sich vollziehen, „dessen Bedeutung für den Klassenkampf nicht genügend analysiert wurde. Heute gelingt es der herrschenden Klasse, die Freizeit zu nutzen, die das revolutionäre Proletariat ihr abgerungen hat, indem sie einen breiten industriellen Freizeitsektor entwickelt, der ein unübertreffliches Werkzeug zur Verdummung des Proletariats durch Subprodukte der mystifizierenden Ideologie und des bürgerlichen Geschmacks darstellt“ (3).
Diesen lückenlosen Zusammenhang des „Spektakels“ galt es zu durchbrechen, passive Konsumenten in aktive Gestalter ihres eigenen Lebens umzuwandeln. Im Gegensatz zur vulgärmarxistischen „Verelendungstheorie“ (die Leute machen Revolution, wenn es ihnen schlecht genug geht), sahen die Situationisten gerade im Anwachsen von Konsum und Freizeit die Möglichkeit zur Entstehung potentiell systemsprengender Bedürfnisse. Diese galt es bewusst zu machen und zu stärken.
Die amerikanischen Yippies hauten zehn Jahre später in die gleiche Kerbe: „Sie [die intellektuellen Radikalen] erklären uns, dass nach den Gesetzen des Marxismus Revolution nur aus der wirtschaftlichen Ausbeutung erwächst. Eine Revolution wird es nur dann geben, wenn es zu einer neuen wirtschaftlichen Depression kommt. Für uns – eine revolutionäre Bewegung, die nicht aus der Armut, sondern aus dem Überfluß entstand – bieten ihre Theorien keine Erklärung. (…) Die Yippies betrachten die weiße Mittelstandsjugend als eine revolutionäre Klasse. (…) Der Kapitalismus wird untergehen, weil er seine eigenen Kinder nicht zufrieden stellen kann“ (4). In der situationistischen Theorie einer „Ökonomie der Bedürfnisse“ könnte der Schlüssel zum Verständnis der Ereignisse liegen.
Gegenkultur
Fakt ist, dass ab Mitte der 60er ein deutliches Anwachsen dissidenter Verhaltensweisen in der Jugend der westlichen Staaten zu verzeichnen war. Popkultur war dabei das Mittel der Wahl, um die Frontstellung zur Elterngeneration deutlich zu machen. Eine „Gegenkultur“ entstand, zunächst in den USA, bald auch in Europa, die sich u.a. mit Undergroundzeitschriften, Comics, Land- und Stadtkommunen usw. eigene Infrastrukturen und Ausdrucksformen schuf. Der Rock´n´Roll spielte dabei eine wichtige Rolle. Diese „Gegenkultur“ verstand sich nicht unbedingt politisch. Es ist auch relativ gleichgültig, ob Musiker wie die Rolling Stones selbst irgendwelche kulturrevolutionären Absichten hegten oder deren jugendliche Hörer z.B. mit dem Tragen langer Haare ein politisches Statement machen wollten – die „Gegenkultur“ definierte sich eher durch einen bestimmten Lebensstil als durch eine Ideologie.
Von der Elterngeneration wurde sie gerade deshalb als Angriff auf ihre hergebrachten Werte verstanden, z.B. auf die gängige Geschlechterordnung. Die Frisur wurde zum Kampfplatz, als hätte man damit den archimedischen Punkt der Gesellschaft getroffen. Die Palette der Reaktionen reichte von Beschimpfungen über Entlassungen am Arbeitsplatz bis zur „pädagogischen“ Körperverletzung vom familiären Patriarchen – und mitunter noch ein Stück weiter. Symptomatisch ist dafür ein Interview, welches geführt wurde, nachdem im Mai 1971 auf dem Campus der Kent State University (Ohio) vier DemonstrantInnen von der Nationalgarde getötet worden waren:
„Mutter: Jeder, der sich in den Straßen einer Stadt wie Kent mit langen Haaren, dreckigen Klamotten oder barfuß blicken lässt, verdient es, erschossen zu werden.
Frage: Ist langes Haar ein Grund, erschossen zu werden?
Mutter: Ja. Wir müssen diese Nation reinigen, und wir werden mit den Langhaarigen anfangen.
Frage: Würden Sie es gutheißen, dass einer Ihrer Söhne erschossen wird, nur weil er barfuß herumläuft?
Mutter: Ja“ (5).
Die Weigerung, sich den gängigen Verhaltensmustern anzupassen, die Haare zu schneiden, einer geregelten Arbeit nachzugehen, usw. wurde als Angriff auf die Grundfesten der Gesellschaft angesehen, eine Bedrohung, der es mit allen Mitteln zu begegnen galt. Da das „Establishment“ selbst harmloseste Regelverstöße mit Repression beantwortete, war es nicht verwunderlich, dass die „Gegenkultur“ sich zunehmend politisierte. Wenn simpler Hedonismus diese Gesellschaft zu solchen Reaktionen veranlasste, musste diese grundlegend verändert werden. Das Glücksversprechen der Konsumgesellschaft sollte real eingelöst werden.
Auch Drogen wie LSD spielten dabei eine wichtige Rolle, eine Entwicklung, zu der der ehemalige Harvard-Professor Timothy Leary einen entscheidenden Beitrag leistete. Das „psychedelische Programm“ könnte man als „Rousseau´sche Revolte“ bezeichnen: Gesellschaft und Erziehung entfremden demnach den Menschen von seinem wahren Selbst, was wiederum zu destruktiven Verhaltensweisen führt. Drogen wie LSD können dazu dienen, diese Konditionierungen rückgängig zu machen und so einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel hervorrufen. Auf lange Sicht führte dieser Ansatz zu einer unpolitischen Neo-Mystik, die das individuelle Bewusstsein als Dreh- und Angelpunkt ausmachte und folglich glaubte, sich mit der Veränderung materieller Strukturen gar nicht erst aufhalten zu müssen.
Eine gewisse Zeit gingen der Konsum psychedelischer Drogen und politische Radikalität aber gut zusammen. Auch in der Musik schlug sich dies nieder, Bands wie Pink Floyd wurden mit ekstatischen Endlos-Soli und neuartigen Soundeffekten zu Aushängeschildern des Psychedelic Rock.
Gegen die Arbeit
Drogenkonsum bedeutete auch eine Verweigerung gegenüber den Leistungsforderungen der Gesellschaft. Dies verband sich gut mit einem Programm der allgemeinen Arbeitsverweigerung, wie es die Antiautoritären praktizierten. Eben dies wurde ihnen von sozialdemokratischen und marxistisch-leninistischen Traditionslinken immer wieder vorgeworfen. Die amerikanischen Yippies hatten für diese Angriffe nur Spott übrig: „Die Yippies werden die Linke erst dann ernstnehmen, wenn sie anfängt, Comic-Hefte zu drucken. Wir müssen Politik so einfach machen wie Rock´n´Roll-Texte. (…) Die Linke macht den Kommunismus zu einer Religion (…) Ein christlicher Trip von vorn bis hinten. Lernen und Opfer bringen für die Revolution. Das Leiden wird dich und die Arbeiterklasse befreien“ (6).
Wahrscheinlich lag das Scheitern der Revolte auch darin begründet, dass die Arbeiterklasse gar nicht befreit werden wollte. Außer in Frankreich, wo sich die Arbeiter_innen mit wilden Streiks und Fabrikbesetzungen dem Protest der Student_innen anschlossen, wurde die Bewegung vorrangig von subproletarischen und (klein)bürgerlichen Gruppen getragen. Ein ernsthafter Angriff auf die Grundlagen der kapitalistischen Ökonomie war so nicht möglich. Auch dies hat der Bewegung von 1968 den Charakter einer „Kulturrevolution“ gegeben – der Revolte blieb als Betätigungsfeld nur die Kultur übrig. Die weitgehende Wiedereingliederung der gegenkulturellen Bestrebungen ins „System“ war somit unvermeidlich.
Allein durch Hedonismus und Verweigerung ließ sich die kapitalistische Gesellschaft nicht überwinden. Diese erwies sich als anpassungsfähiger als erwartet – die Verweigerung wurde ignoriert, vom Hedonismus das übernommen, was für die eigenen marktwirtschaftlichen Zwecke brauchbar war. Dennoch verdient es gerade dieses hedonistische Element der 68er-Revolte, bewahrt und gegen den Irrglauben verteidigt zu werden, die Ernsthaftigkeit einer Haltung beweise sich durch den Grad an Leiden, der damit einhergeht. `68 war auch eine Revolte gegen die Arbeit, für ein lustvolles, selbstbestimmtes Leben – darin liegt ihr emanzipatorischer Gehalt, den es gegen alle Befürworter_innen von „revolutionärer“ Askese und Märtyrertum stark zu machen gilt. Denn (um hier einen situationistischen Slogan zu zitieren, der im Mai 1968 an vielen Pariser Häuserwänden zu finden war) „wir machen die Revolution schließlich nicht, um arm zu bleiben“.
(k.rotte & nils)
(1)zitiert nach Helmut Salzinger, „Rock Power – wie musikalisch ist die Revolution?“, Seite 8, Fischer Taschenbuch Verlag, 1972.
(2)zitiert nach Horkheimer/Adorno „Dialektik der Aufklärung“, S.162, Reclam 1989.
(3)„Rapport über die Konstruktion von Situationen“, zitiert nach „Beginn einer Epoche“, S. 40-41, Edition Nautilus 1995.
(4)Salzinger 1972, S. 127.
(5)zitiert nach Penny Rimbaud, „The last of the hippies“, zuerst erschienen im Booklet der „Christ – The Album“-LP von Crass.
(6)Jerry Rubin, zitiert nach Salzinger 1972, S. 126.
1977 war ein Jahr, das auf politischem und kulturellem Gebiet fast ebenso weitreichende Folgen hatte wie 1968. In der BRD eröffnete der „Deutsche Herbst“, die Entführung Hans-Martin Schleyers und kurz darauf einer Lufthansamaschine eine neue Stufe in der Konfrontation von linken Terroristen und staatlicher Repression, die mit der Ermordung Schleyers und dem Tod der ersten RAF-Generation in Stammheim endete.
1977 erreichten aber auch die Aktivitäten der italienischen „Autonomia“ ihren Höhepunkt. In vielen Städten besetzten Student_innen die Universitäten und lieferten sich – Seite an Seite mit Hausbesetzern, Arbeitern und Feministinnen – Straßenschlachten mit der Polizei. In Bologna gelang es ihnen, für Tage die Kontrolle über die Stadt zu gewinnen. Der kommunistische Bürgermeister rief schließlich das Militär zu Hilfe.
Und in Großbritannien veröffentlichten im Mai 1977 – pünktlich zum 25. Thronjubiläum der Königin – die Sex Pistols ihre zweite Single „God save the queen“. Mit derlei Provokationen schaffte es die Band nicht nur auf die Titelseiten der Boulevardblätter, sie begründete auch die Popularität einer neuen Jugendbewegung: Punk.
Kaufen vs. Selber machen
Auch wenn die Sex Pistols nicht nur willenlose Komparsen waren, wie es ihr Manager Malcolm McLaren später darstellte, waren sie doch ein durchkalkuliertes Kunstprodukt – ein Produkt, mit dem viel Geld verdient werden sollte. Die Industrie spielte mit, Punkrock war für ca. ein Jahr das große neue Ding. Der alte Rock´n´Roll-Mythos vom rebellischen jungen Musiker, dem von fiesen Managertypen die Seele geraubt wird, trifft hier also nicht so recht zu. Die Sex Pistols waren vielleicht rebellisch – authentisch waren sie sicher nicht. Sie wurden auch nicht durch das Kapital korrumpiert, sie wollten von Anfang an daran teilhaben.
Dennoch lösten sie etwas aus, was so nicht abzusehen war. Um es mal überspitzt zu sagen: Beim Punk fand nicht die kommerzielle Ausbeutung einer rebellischen Subkultur statt, sondern vielmehr wurde ein kommerzielles Kunstprodukt von einer rebellischen Subkultur angeeignet, umgewertet und für eigene Zwecke nutzbar gemacht.
Das wirklich Neue am Punk war nicht die Radikalisierung altbekannter Rock´n´Roll-Provokationen, sondern vielmehr die Aufhebung der Grenze zwischen „Star“ und Publikum. Punk lieferte den Impuls für eine weitgehende Demokratisierung der Popkultur. Musik zu machen, erschien nicht mehr als ein nur wenigen vorbehaltenes Privileg. Eine Gitarre halten und darauf Geräusche erzeugen konnte schließlich jede/r, und so gab es auch keinen Grund, Musiker dafür zu Halbgöttern zu erheben. Im Zentrum stand nicht mehr der „wilde“ Rockstar, der auf der Bühne stellvertretend für das Publikum dessen Bedürfnis nach Rebellion und Grenzüberschreitung ausagierte, sondern das Publikum selbst, das sich nicht mehr auf die passive Konsumentenrolle beschränken ließ. Das Negativurteil „Das kann ja jeder!“ wurde ins Positive gewendet – Punk bewies, dass wirklich jede/r Musik machen konnte.
Das „Jeder kann es machen“ wurde aber nicht nur auf das Musikmachen bezogen. Ebenso eignete mensch sich die Mittel an, um selbst Platten herauszubringen, unzählige (oft sehr kurzlebige) Labels wurden gegründet und fotokopierte Fanzines herausgebracht. Derselbe Do-it-yourself-Ethos zeigt sich darin, dass z.B. die aus der Hausbesetzerszene stammende Band Scritti Politti auf der Rückseite ihrer ersten Single die genauen Preise für Aufnahme, Mastering, Pressung und Druck und entsprechende Adressen abdruckte. Punk hatte also auch ein starkes egalitäres, anti-hierarchisches Element – die Verbindung mit anarchistischen Inhalten und einer entsprechenden Praxis war nur folgerichtig. Den größten Einfluss auf diese Entwicklung hatte sicher die Band Crass.
Hippies oder Punks?
Eine Weile gehörte es für Punks zum guten Ton, „Hippies“ zu hassen. Liebe und Frieden waren ja schöne Ideale – aber den Punks fiel es schwer, noch an moralisch einwandfreie Lösungen zu glauben. Eben daraus bezog Punk seine provokative Kraft. Die gesellschaftlichen Zumutungen wurden nicht mehr im Stile der klassischen Protestsongs angeprangert, vielmehr schlug sich das Gefühl, bis zum Hals in der Scheiße zu stecken, in dadaistischer Kommunikations- und Sinnverweigerung und sarkastischer Überaffirmation nieder: „Zurück zum Beton“ statt „Give peace a chance“. Die Betonung des Bruchs zwischen den Generationen verdeckt aber die Kontinuitäten. In gewisser Weise waren Crass die vollkommenste Verkörperung der Idee des Punk – mit ihrem simplen, energetischen Sound, den Künstlernamen der Musiker_innen (Steve Ignorant, Joy de Vivre, Penny Rimbaud), den radikalen Anarchoparolen, ihrer Absage an die Musikindustrie. Andererseits waren sie aber auch ehemalige Hippies, und ihr Leben in einer Landkommune bei London (1) war definitiv so hippiehaft wie nur möglich. Auch ihr Anarcho-Pazifismus war ein Rückgriff auf die radikale Friedensbewegung der 60er.
Crass waren von der Energie des Punk und dessen rebellischer Attitüde begeistert, aber enttäuscht davon, dass die meisten Bands keine anderen Ziele hatten, als einmal bei Top of the Pops aufzutreten. Also versuchten sie, es besser zu machen. Der rohe Punk-Sound diente als Transportmittel für ihre politischen Ideen, um Informationen zu verbreiten und so das Bewusstsein der Menschen zu ändern. Entsprechend rudimentär klang auch die Musik auf ihrem 1979 veröffentlichten Debütalbum „The Feeding Of The 5000“, die Texte standen klar im Vordergrund. Die politischen Statements der Band führten aber auch zu Problemen: So verweigerte das mit der Herstellung der Platte beauftragte Presswerk wegen des Textes zum Eröffnungsstück „Asylum“ (einer harschen Anklage des unterdrückerischen, frauenfeindlichen Charakter des Christentums) die Zusammenarbeit.
Crass verfolgten eine Politik strikter Unabhängigkeit, schufen eigene Netzwerke, brachten Platten auf ihrem eigenen Label heraus. Um zu verhindern, dass die Platten übermäßig teuer verkauft wurden, druckten sie die Preise (die knapp über dem Selbstkostenpreis lagen) direkt auf die Cover – eine Praxis, die viele andere Bands übernahmen. In den Beiheften zu den LPs wurden die Texte durch ausführliche Erläuterungen und Collagen ergänzt. Um den kollektiven Charakter des Projekts deutlich zu machen, traten Crass in einheitlichem Bühnenoutfit in schwarzen Armeehosen und T-Shirts auf. Damit wurden sie nicht nur ideologisch, sondern auch ästhetisch prägend für die entstehende Anarchopunk-Szene.
Um falscher Heldenverehrung vorzubeugen: Der große Einfluss von Crass wäre ohne diesen Resonanzboden, eine Szene, die libertären Ideen aufgeschlossen gegenüberstand, nicht denkbar gewesen. Dabei war die Bewegung weniger homogen, als es im Rückblick oft scheint. So kritisierte z.B. die Anarcho-Band Apostles den dogmatischen Pazifismus von Crass und bezichtigten diese der Heuchelei (die Apostles hatten ihrerseits Probleme mit manchen Punks und „Traditionsanarchisten“, da die Mitglieder der Band sich offen zu ihrer Homosexualität bekannten). Auch musikalisch gab es unterschiedliche Ansätze. Prägend waren z.B. Amebix und Discharge, die den Punk in Sachen Energie und Härte weiter radikalisierten und mit Metal-Elementen verbanden. Sie legten damit den Grundstein für den Crust- und späteren Grindcore – vor allem der Discharge-Stil wurde tausendfach von anderen Bands kopiert. Rubella Ballet dagegen ersetzten das triste Schwarz von Crass durch selbstgefertigte Bühnenoutfits in Neonfarben und tendierten musikalisch zu einem poppigen New-Wave-Sound.
Die Anarchos kommen
Bis Mitte der 80er war die Anarchopunk-Szene sehr aktiv und lieferte der britischen Linken neue Impulse, indem sie die herkömmlichen Mittel des politischen Kampfes durch neue Formen der direkten Aktion ergänzte und neue Themen in den politischen Diskurs einbrachte.
Vor allem die radikale Tierbefreiungsbewegung profitierte von den Anarchopunks. So ziemlich jede Anarcho-Band hatte wenigstens ein Lied im Programm, das sich mit Tierversuchen oder Vegetarismus befasste, viele Punks übernahmen eine vegane oder vegetarische Lebensweise. Sie trugen auch entscheidend dazu bei, dass die 1976 gegründete Animal Liberation Front (ALF) Anfang der 80er Jahre einen enormen Zulauf hatte. Die ALF war ein dezentrales Netzwerk lose miteinander verbundener Kleinstgruppen, die direkte Aktionen gegen Pelzfarmen, Versuchslabore usw. durchführten, um dort gefangene Tiere zu befreien. Parallel dazu gab es ein Netzwerk von Unterstützergruppen, die Kontakte herstellten, Gefangene unterstützten und Pressearbeit machten. Als zur ALF gehörig galten alle Gruppen, die deren Statuten anerkannten. Dazu zählte auch ein ausdrücklicher Verzicht auf Gewalt gegen Menschen. Die ALF hatte eine klare anarchistische Grundhaltung, wie sich aus ihrem Logo (ein großes Anarcho-A, in das kleiner das L und das F eingefügt waren) ablesen lässt. Die breite Unterstützung, die die Organisation zu dieser Zeit genoss, lässt sich daran erkennen, dass 1982 das Militärlabor in Porton Down, in dem Tierversuche durchgeführt wurden, von rund 2000 Aktivist_innen gestürmt wurde. Solche Aktionen führten aber auch zu verstärkter staatlicher Repression.
Auch Pazifismus war ein wichtiges Thema – die Gefahr eines Atomkrieges war einfach nicht zu ignorieren. Mit der Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa (die von der Sowjetunion in ähnlicher Weise beantwortet wurde) erreichten die Spannungen zwischen den Supermächten einen neuen Höhepunkt. Dies führte auch zu einem erneuten Anwachsen der britischen Friedensbewegung. Ein Meilenstein war das 1981 begonnene Women´s Peace Camp – eine Gruppe von Frauen campierte vor den Zäunen des Luftwaffenstützpunkts in Greenham, der als Abschussbasis für Nuklearraketen vorgesehen war (2).
Auch der Falkland-Krieg von 1982 trug zur Brisanz des Themas bei. Mit den so genannten „Thatchergate-Tapes“ schafften Crass es damals sogar, Thema hitziger Debatten im britischen Parlament zu werden. Hintergrund dafür war das Gerücht, die britische Armee hätte während des Falkland-Krieges absichtlich das Kriegsschiff HMS Sheffield geopfert, um so die HMS Invincible (auf der zu der Zeit der Sohn der Queen, Prinz Andrew als Soldat diente) zu schützen. Crass fabrizierten eine Kassette, die als zufällig mitgeschnittenes Telefongespräch erscheinen sollte – tatsächlich benutzten sie dabei Aufnahmen der Stimmen von Margaret Thatcher und Ronald Reagan, die sie so montierten, dass diese nun den Untergang der HMS Sheffield und die Auswirkungen eines möglichen Atomkrieges für Europa diskutierten. Kopien des Tapes wurden der Presse zugespielt und erregten bald großes Aufsehen – das US-Verteidigungsministerium hielt die Aufnahmen gar für eine geschickte Fälschung des KGB. Der Legende nach versuchte der KGB tatsächlich, die Band zu rekrutieren, nachdem sie als wirkliche Urheber bekannt geworden waren.
Ihren Höhepunkt erreichte die Anarchopunk-Bewegung 1983/84 u.a. mit der „Stop-the-city“-Kampagne, einer Reihe von Aktionen im Londoner Stadtzentrum, bei denen bis zu 3000 Menschen Blockaden gegen Firmen durchführten, die in Waffenhandel, Umweltzerstörung und Tierversuche verstrickt waren. Die Aktion war von der Londoner Zweigstelle von Greenpeace initiiert worden, die Anarchopunks trugen jedoch viel zum Erfolg bei.
Niedergang und Zersplitterung
Zur größten Herausforderung für die Anarchopunks und die britische Linke insgesamt wurde aber der im März 1984 beginnende Bergarbeiterstreik. Ausgelöst wurde dieser durch die angekündigte Schließung einer Reihe von unwirtschaftlich arbeitenden Zechen. Unmittelbare Folge wäre der Verlust von 20.000 Arbeitsplätzen gewesen.
Schon in den ersten Tagen des Streiks kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die bald zu bürgerkriegsähnlichen Szenen auswuchsen: So gerieten in Orgreave bei Sheffield 10.000 Bergarbeiter und 3000 Polizisten aneinander. Bis zum Ende des Streiks waren zehn Menschen ums Leben gekommen, tausende Bergleute verletzt oder verhaftet worden. Im November 1984 waren zwei Drittel der Bergwerke stillgelegt.
Obwohl die Anarchopunks den Streik nach anfänglichem Zögern unterstützten (etwa durch Benefizkonzerte), blieb die Kluft zwischen ihnen und den Arbeitern unüberbrückbar. Die Anarchopunks tendierten dazu, die Welt in zwei Lager aufzuteilen: die „Guten“ (die wie sie in besetzten Häusern lebten, nicht arbeiteten, kein Fleisch aßen usw.) und die „Bösen“ (die das „System“ unterstützten). Die Bergarbeiter fielen für sie eher in die zweite Kategorie – schließlich aßen die meisten von ihnen Fleisch und kämpften vor allem darum, ihre Jobs zu behalten. Und die Arbeiter waren zwar dankbar für die Hilfe der merkwürdig gekleideten Figuren, die sie bei Blockaden und Kämpfen gegen die Polizei unterstützten, letztlich blieben ihnen die Punks aber fremd (einige Zeit zuvor hatten manche von ihnen noch selbst die Punks verprügelt).
Im März 1985 endete der Streik, die finanziellen Belastungen für die Arbeiter und ihre Familien waren zu groß geworden. Dies war nicht nur die entscheidende Niederlage der britischen Gewerkschaften, es führte auch zum Niedergang und zur immer stärkeren Zersplitterung der Anarchopunk-Bewegung. Viele Aktivist_innen verabschiedeten sich in der Folge von ihren alten pazifistischen Idealen. Ein Beispiel dafür war das 1983 gegründete Heft Class War. Dieses verband Anarchopunk mit Tierbefreiung und Klassenkampf und übte sich dabei in einer zunehmend militanten Rhetorik.
Auch bei Crass machten sich Selbstzweifel breit: „Wie sollte es weitergehen? Fangen wir jetzt an, Sachen in die Luft zu sprengen? (…) Wir zogen alle Möglichkeiten in Betracht, aber letztlich – und das Scheitern des Bergarbeiterstreiks half uns, das zu erkennen – kannst du einen Haufen direkter Aktionen machen, aber was bringt das? Du endest damit, Leute zu verletzen“ (3). 1984 löste sich die Band auf.
Die Verbitterung in weiten Teilen der radikalen Linken kam nicht von ungefähr. Unter der Regierung Margaret Thatchers nahm die Repression ungekannte Ausmaße an. Sie traf alle, die nicht in das Bild des guten Bürgers passten. Im Februar 1985 wurde das Peace Camp beim Luftwaffenstützpunkt in Molesworth (neben Greenham die zweite geplante Raketenabschussbasis in Großbritannien) geräumt – durch den größten Militäreinsatz in Friedenszeiten, den das Land je gesehen hatte. Einige Monate später wurde ein jährlich zur Sommersonnenwende am Stonehenge-Monument stattfindendes Festival, bei dem sich Hippies und „Travellers“ trafen, von der Polizei mit brutaler Gewalt zerschlagen.
Hier kehrt die Linie, die von der Hippiebewegung über Crass zu den Anarchopunks geführt hatte, zum Ausgangspunkt zurück. Das erste Stonehenge-Festival war 1974 von Wally Hope (bürgerlich: Phil Russel) organisiert worden, einem guten Freund der späteren Musiker_innen von Crass, und diese waren selbst direkt in die Vorbereitungen involviert. Mehrere hundert Hippies kamen, und hielten das Gelände um das Monument neun Wochen lang besetzt, bis sie von der Polizei vertrieben wurden. Wally Hope starb ein Jahr später in einer psychiatrischen Klinik, in die er eingewiesen worden war (4).
Aber auch wenn die britische Anarchopunk-Szene nach 1985 immer mehr zerfiel, hat sie doch die politische und kulturelle Landschaft nachhaltig geprägt und weltweit ihre Spuren hinterlassen. Trotz der Fehler, die sie sicherlich hatte, hat sie viel dazu beigetragen, anarchistische Ideen zu modernisieren und zu verbreiten. In den USA setzte die Politisierung der dortigen Hardcore-Szene erst Mitte der 80er ein, Bands wie MDC spielten dabei eine wichtige Rolle, ebenso soziokulturelle, selbstverwaltete Zentren wie das ABC No Rio in New York oder die Gilman Street in San Francisco. Heutzutage sind die Anarchopunks ein wichtiger Bestandteil der linksradikalen Szene in den USA, wobei sie dort eine ähnliche Funktion haben wie hier in Deuschland die Autonomen. Aber auch auf dem europäischen Kontinent und in Süd- und Mittelamerika hat sich die Anarchopunk-Bewegung ausgebreitet, die Verbindung von Hausbesetzerszene, Hardcore/Punk, veganem oder vergetarischem Lebensstil, anarchistischen Ideen und DIY-Ethik ist auch hier seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil der Punk-Subkultur (und sicher nicht der schlechteste). Die Anarchopunk/DIY-Szene ist also eine Größe, mit der noch zu rechnen ist. Das Spiel geht weiter.
(justus)
(1)Das so genannte Dial House, ein offenes Kommuneprojekt, wurde 1967 gegründet. Einige der früheren Mitglieder von Crass wohnen noch immer dort.
(2)Das Camp endete im Jahr 2000, danach wurde auf dem Gelände eine Gedenkstätte eingerichtet.
(3)www.uncarved.org/music/apunk/offbeat.html
(4)die Geschichte von Wally Hope taucht u.a. im Booklet von Crass´ „Christ – The Album“-LP auf, ebenso in Penny Rimbauds Buch „Shibboleth – my revolting live“, erschienen 2004 im Ventil-Verlag
Vielleicht bist du ja auch ein Raubkopierer. Hast du ein paar selbst gebrannte CDs im Schrank, mit Musik, für die du nicht bezahlt hast? Oder MP3-Dateien auf deinem Rechner, die du dir unerlaubt aus dem Netz gezogen hast? Na also! Du bist ein gemeiner Verbrecher – jedenfalls, wenn man der Rhetorik der Musikindustrie glaubt.
„Ein Verbrecher? Wieso denn das?“, könntest du fragen. „Tut doch keinem weh.“ Aber darum geht es nicht. Denn wir leben nun mal in einer warenproduzierenden Gesellschaft. Und um einen nützlichen Gegenstand in eine Ware zu verwandeln, muss man erstmal Leute daran hindern, ihn zu benutzen. Wer eine Ware nutzen will, ohne dafür zu bezahlen, gilt juristisch als Dieb. Und zwar unabhängig davon, ob die Eigentümer ansonsten einen Nutzen von ihrem Eigentum gehabt hätten oder ihnen ein Schaden daraus entsteht, wenn Leute etwas umsonst nutzen, wofür sie sonst ohnehin nicht hätten bezahlen können.
Das „digitale Zeitalter“ hat die Musikkonzerne in eine Krise gestürzt: Die materielle und juristische Barriere zwischen Ware und Kunde bröckelt – die Ware, die die Konzerne verkaufen wollen, rinnt ihnen durch die Finger. Das ruft verständlicherweise Panik hervor. Denn wenn sich die Leute die zum Verkauf angebotene Ware anderswo einfach aus dem Netz ziehen, ist das Geschäft an seiner Basis gefährdet. Nach Angaben des Bundesverbands der deutschen Musikindustrie wurden im Jahr 2007 allein in Deutschland 312 Millionen Songs illegal aus dem Internet heruntergeladen und damit „Schäden in Milliardenhöhe“ verursacht. Freilich sind diese Zahlen wohl ebenso frei erfunden wie die Behauptung, allein in Deutschland entfielen rund 70% des Internetverkehrs auf die Nutzung (meist illegaler) Tauschbörsen (1). Zudem unterstellt die Musikindustrie, dass die Zahl der Musikdownloads tatsächlich den realen Verlusten entspricht, dass die Leute sich die Alben also andernfalls gekauft hätten.
An der Art, wie die Konzerne der Krise begegnen, hat sich seit den Prozessen gegen die Internet-Musiktauschbörse Napster vor knapp zehn Jahren wenig geändert: Man versucht, die Entwicklung aufzuhalten. Millionenschwere Kampagnen werden gestartet. Wo früher „Hometaping is killing music“ der Slogan war, heißt es heute „Raubkopierer sind Verbrecher“ und man versucht, den Leuten weiszumachen, dass sie mit ihrem verderblichen Tun früher oder später im Gefängnis landen. Gleichzeitig experimentiert man (wenig erfolgreich) mit kopiergeschützten CDs und versucht, Musik-Downloads via Internet kommerziell nutzbar zu machen. Und man übt sich in handfester Repression.
Das Imperium schlägt zurück
Der Staat greift den Unternehmen dabei freundlich unter die Arme. Zur Abschreckung werden Razzien durchgeführt, Computer beschlagnahmt und Nutzer von Filesharing-Systemen (2) mit Gerichtsverfahren bedroht. Allerdings sind die Behörden damit hoffnungslos überfordert – schließlich ist illegales Filesharing ein massenhaft begangenes Bagatelldelikt. Also werden den Musikunternehmen zunehmend mehr Kompetenzen übertragen, um in eigener Sache zu ermitteln (siehe Kasten unten).
Aber den aufmerksamen Betrachter beschleicht dabei nur zu oft das Gefühl, dass es sich hier um ein Kampf gegen Windmühlen handelt – es ist nicht nur fraglich, ob die Musikkonzerne diesen Kampf gewinnen können, sondern auch, ob sie sich überhaupt den richtigen Gegner ausgesucht haben. So wurde zwar nach Angaben der Musikindustrie in den letzten Jahren die Zahl der illegalen Musikdownloads von ca. 600 auf ca. 300 Millionen im Jahr reduziert, spürbare Auswirkungen auf die Verkaufszahlen hat das aber bisher nicht gehabt. Zwar konnte für das Jahr 2007 erstmals wieder eine kleine Steigerung bei den CD-Verkäufen gemeldet werden, aber dies könnte ebenso der allgemein verbesserten Wirtschaftslage zuzuschreiben sein. Gut möglich also, dass nicht die illegalen Internet-Tauschbörsen die sinkenden Verkaufszahlen zu verantworten haben, sondern dass beides nur Ausdruck eines viel grundsätzlicheren Vorgangs ist – der sich wandelnden Konsumgewohnheiten im digitalen Zeitalter.
Zunächst einmal führt dieser Prozess dazu, dass sich der Markt ausdifferenziert. So ist es dank der Computertechnik heute wesentlich einfacher, Musik in annehmbarer Qualität aufzunehmen. Durch das Internet beschleunigt sich zudem der Austausch von Informationen enorm, ebenso eröffnet es neue Möglichkeiten der Distribution. Die Menge an Musik, die den Konsumenten potentiell zugänglich ist, wird so enorm gesteigert. Das führt zum einen dazu, dass sich der Geschmack des Publikums verändert – jeder sucht sich eben die Nische, die ihm am besten gefällt. Ebenso wächst auf der Seite der Anbieter die Konkurrenz – wenn mehr Leute ein Stück vom Kuchen abhaben wollen (und es auch bekommen), bleibt für alle weniger übrig. Dies trifft vor allem die großen Majorlabels, die darauf spekulieren (und darauf angewiesen sind), mit ihren Produkten ein Massenpublikum zu erreichen. Diese könnten sich langfristig als Auslaufmodell entpuppen – die Zukunft dürfte dann den kleinen spezialisierten Nischenlabels gehören, die Platten in Auflagen im vierstelligen Bereich herausbringen und damit ein zwar kleines, aber relativ stabiles Publikum bedienen.
Und wie geht’s weiter?
Hinzu kommt, dass Tonträger als Sammlerobjekte zunehmend an Bedeutung verlieren. Die Folgen der Digitalisierung machen sich dabei nicht nur bei illegalen Downloads bemerkbar: Man kann sich Musik auch im Freundeskreis auf CD brennen oder MP3-Dateien tauschen. Dagegen lässt sich kaum vorgehen – wollte man das tun, könnte man in jedem bundesdeutschen Haushalt Razzien durchführen. Bis diese Erkenntnis aber bei den Plattenfirmen angekommen ist, dürfte es noch eine Weile dauern. Bis dahin verfährt man weiter nach der Devise: „Wenn das, was wir tun, keine Wirkung zeigt, haben wir noch nicht genug davon getan.“
Mit verfehlten Konzepten tragen die Konzerne dabei selbst einen guten Teil zu ihrem Dilemma bei. So vermindert etwa der Kopierschutz den Gebrauchswert der Tonträger erheblich – z.B. wenn eine zum vollen Preis gekaufte CD sich nicht auf dem heimischen PC oder dem CD-Gerät im Auto abspielen lässt – ohne wirklich viel zu schützen. Dass das deutsche Urheberrecht es seit 2003 verbietet, den Kopierschutz zu umgehen, spricht Bände: Der angebliche Schutzmechanismus ist offensichtlich selbst hochgradig schutzbedürftig. Zudem ist es zwar verboten, einen Kopierschutz zu knacken, dies wird aber nicht bestraft, weil Privatkopien völlig legal sind.
Ein Punkt verdient es noch, erwähnt zu werden: Wenn die Musikindustrie über „Raubkopierer“ und „Musikpiraterie“ klagt, dann tut sie das gerne im Namen der Musiker. Durch Urheberrechtsverletzungen würde diesen der gerechte Lohn ihrer Arbeit vorenthalten. Klar, das kommt besser und selbstloser rüber, als die eigenen Profitinteressen als Begründung anzuführen (zumal Popmusiker_innen auch mehr Sexappeal haben als irgendwelche Managerfiguren). Aber natürlich sind die Plattenkonzerne kein Wohlfahrtsverein, und die Künstler_innen, für deren Rechte sie sich angeblich stark machen, haben diese mit der Vertragsunterzeichnung schon zum größten Teil an die Unternehmen abgegeben. Selbst bei erfolgreichen Bands (wie z.B. den Backstreet Boys) ist es nicht selten, dass sie am Ende ihrer Karriere noch immer Schulden bei ihrer Plattenfirma haben, während diese mit ihrer Musik Millionengewinne erzielt hat (3). Kurz gesagt: Wenn die Musikindustrie sich für die Rechte der Urheber_innen stark macht, dann deshalb, weil diese kaum was davon haben.
Es gibt also auch hier keinen Grund, in das Lamento der Plattenfirmen einzustimmen. Dennoch bleibt die Frage, wie eine halbwegs gerechte Entlohnung von Musiker_innen und Komponist_innen künftig aussehen könnte – zumindest, solange wir in einer Gesellschaft leben, in der jede(r) zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft gezwungen ist. Der Verkauf von Tonträgern wird jedenfalls weiter an Bedeutung verlieren – sehr wahrscheinlich werden in Zukunft Konzerte die Haupteinnahmequelle sein. Ob Musiker_innen unter diesen Umständen noch auf die Unterstützung einer Plattenfirma (oder der GEMA) angewiesen sind, oder ob es nicht (auch unter finanziellen Gesichtspunkten) klüger ist, sich seine Unabhängigkeit zu bewahren, ist die spannende Frage.
(justus)
(1) Diese Zahl stammt aus einem offenen Brief der deutschen Musikindustrie, eine PDF-Datei davon gibt´s unter www.musikindustrie.de/fileadmin/news/politik/downloads/080425_offener_brief_deutsch.pdf. Einen Zähler, der (angeblich) die genaue Anzahl der illegalen Downloads in diesem Jahr anzeigt, kann man unter www.musikindustrie.de/raubkopien.html bewundern.
(2)Filesharing ist der Austausch von Dateien im Internet über so genannte Peer-to-Peer-Netzwerke („Peer-to-Peer“ heißt so viel wie eine Verbindung von Rechner zu Rechner). Dabei können Nutzer_innen Dateien von den Computern anderer NutzerInnen kopieren (downloaden) und stellen diesen gleichzeitig auf dem eigenen Rechner befindliche Dateien zur Verfügung.
(3)Einen Text des Musikers und Produzenten Steve Albini, der sich kritisch mit diesen Praktiken der Musikindustrie auseinandersetzt, kann man unter www.negativland.com/albini.html nachlesen.
Neues Gesetz gegen Datenpiraten
Eine ganze Reihe von Anwaltskanzleien befasst sich mit Urheberrechtsverstößen im Internet. Für das deutsche Musikbusiness übernimmt diese Aufgabe die ProMedia Gesellschaft zum Schutz geistigen Eigentums mbH. Deren Geschäftsführer Clemens Rasch hat sich mit der von ihm geleiteten Rechtsanwaltskanzlei Rasch darauf spezialisiert, Nutzer_innen von Filesharing-Börsen mit Massenabmahnungen zu bestücken (mehr dazu unter www.rasch-vs-djs.de).
Viele Betroffene kommen aus Unkenntnis der rechtlichen Lage und Angst vor einem Gerichtsverfahren den Forderungen nach. Mitunter muss jedoch auch Rasch eine Niederlage einstecken. In einem Urteil vom 20. Juli 2007 wies das Amtsgericht Offenburg die Forderungen des Anwalts zurück, der von einem Internet-Provider die Herausgabe von Kundendaten verlangte. Der Anlass war nichtig: Der Kunde wurde beschuldigt, zwei Musikdateien als Download angeboten zu haben. Das Gericht hielt dies nicht für ausreichend, um eine Herausgabe der Daten zu rechtfertigen, es verwies auf den Preis für legale Downloads, der bei ca. 10 Cent läge.
Die wichtigste rechtliche Grundlage für den Zugriff auf die Kundendaten war bisher das im Januar 2007 in Kraft getretene „Telemediengesetz“. Das Verfahren war dabei bisher relativ umständlich: Hatten die Rechteinhaber bzw. deren Vertreter einen vermeintlichen „Musikpiraten“ ausfindig gemacht, erstatteten sie Anzeige bei der Staatsanwaltschaft. Diese leitete daraufhin ein Strafverfahren ein und verlangte vom Provider die Herausgabe der Kundendaten. Die Verfahren wurden zwar meist wegen Geringfügigkeit eingestellt, im Nachhinein konnten die Rechteinhaber jedoch Akteneinsicht verlangen, so an die Daten der Beschuldigten gelangen und ein Zivilverfahren gegen diese in Gang bringen.
Ein neues Gesetz zu „Verbesserung der Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums“ soll die Prozedur nun vereinfachen. Dieses wurde im April 2008 vom Bundestag abgesegnet und Ende Mai ohne weitere Diskussionen vom Bundesrat „durchgewunken“ – jetzt fehl nur noch die Unterschrift des Bundespräsidenten.
Das Gesetz schreibt fest, dass Internet-Provider die Daten ihrer Kunden herausgeben sollen, wenn diese Urheberrechte „in gewerblichem Ausmaß“ verletzen bzw. ein entsprechender Verdacht besteht. Eine genaue Definition von „Urheberrechtsverletzungen in gewerblichem Ausmaß“ lässt noch auf sich warten. Neu ist vor allem, dass die Rechteinhaber ihre Ansprüche den Providern gegenüber direkt geltend machen können. Dies soll die Behörden entlasten, die seit 2004 von Massenanzeigen überschwemmt worden waren.
Zum Schutz der Rechte der Betroffenen soll die Höhe der Abmahnungen „für erste Urheberrechtsverletzungen“ (also solche in „nicht-gewerblichem Ausmaß“) auf 100 Euro beschränkt werden. Zudem sieht das Gesetz einen so genannten „Richtervorbehalt“ vor. Für den Fall, dass „die Auskunft nur unter Verwendung von Verkehrsdaten“ erteilt werden kann, ist dafür eine richterliche Anordnung nötig – bei Bestandsdaten hingegen nicht. Diese Regelung dient vor allem dem Datenschutz. Bestandsdaten sind die „festen“ Daten des Kunden, also Name, Anschrift, Geburtsdatum usw. Verkehrsdaten sind hingegen die „beweglichen“ Daten, die der Kunde bei der Nutzung des Internets hinterlässt – also z.B. welche Seiten er aufgerufen oder (besonders wichtig) welche IP-Adresse er für die jeweilige Sitzung vom Zugangsanbieter zugeteilt bekommen hat. Die dynamische IP-Adresse gehört also zwar zu den Verkehrsdaten, sie muss der Staatsanwaltschaft oder den Rechteinhabern aber ohnehin schon bekannt sein – erst dann können sie vom Provider erfragen, welchem/r Nutzer_in er diese Adresse zum gegebenen Zeitpunkt zugeteilt hat.
Im Zeitalter von digitalen Kopiertechniken und umfassenden Überwachungskonzepten ist Datensicherheit ein sehr hohes Gut geworden, auch wenn viele das noch nicht realisieren. Ich will deshalb hier mal eine (hoffentlich) allgemeinverständliche Anleitung geben, wie man seine Daten im Internet am besten schützen kann. 100% Sicherheit wird es nicht geben und es ist auch nicht möglich, sich einfach ein oder zwei Programme zu installieren und alles ist gut, wie uns das die Hersteller von Personalfirewalls versprechen wollen. Sicherheit entsteht dadurch, dass man Dinge versteht, deshalb will ich hier versuchen, einige Programme zu erklären und nicht einfach nur eine Installationsanleitung, wie man sie ohnehin schon im Internet finden kann, aufzuschreiben.
Wenn man eine Webseite mit dem Browser aufruft, kann ein Fremder dies mitlesen. Auch alle Informationen, die verschickt werden, wie z.B. eine Suchanfrage bei google, können mitgelesen werden. Bei Passwörtern von Mail-Adressen kann dies besonders ärgerlich sein. Deshalb können Daten bei einigen Seiten auch verschlüsselt übertragen werden, so dass zwischen dem eigenen Rechner und der Webseite niemand mitlesen kann. Dazu wird SSL (Secure Sockets Layer) benutzt. Ob Ihr SSL gerade verwendet, seht ihr daran, dass in Eurem Browser Internetadressen mit https anstatt http angezeigt werden. Meist nimmt die Adresszeile Eures Browsers dabei auch eine andere Farbe an und es wird ein kleines Schloss eingeblendet. Einige Webseiten schalten automatisch auf eine SSL-geschützte Verbindung um, sobald man sie aufruft, bei anderen muss man dies explizit einstellen.
Eine solche Verschlüsselung der Verbindung von aufgerufener Seite und aufrufendem Browser kann ein potentieller Schnüffler und Datendieb jedoch einfach umgehen, indem er Euch auf seine eigene Seite umleitet, die der gewünschten Webseite zum Verwechseln ähnlich sieht, und dort dann alle Eure Eingaben protokolliert. Um dies zu verhindern, wird mit sogenannten Zertifikaten sichergestellt, dass man sich auch mit der richtigen Webseite verbindet. Diese Zertifikate werden von Firmen an Banken, Webmail-Dienste etc. vergeben, die im Browser normalerweise als vertrauenswürdig gekennzeichnet sind bzw. werden sollen. Da diese Firmen allerdings viel Geld für die Zertifikate verlangen, signieren einige Webnutzer Seiten Administratoren wie z.B. die der Leipziger Universität ihre Seiten selbst oder nutzen unkommerzielle Zertifikate. Letztlich muss man beim Besuch von Internetseiten immer abwägen, ob man dem angezeigten Zertifikat wirklich vertraut. Bei Seiten einer Bank sollte es aber definitiv keine Probleme mit dem Zertifikat geben, sonst ist Vorsicht angebracht. Einige interessante Seiten wie freifunk.net oder de.indymedia.org benutzen Zertifikate von cacert.org, einer gemeinnützigen Zertifizierungsstelle aus Australien. Diese werden zwar im Normalfall als nicht gültig angezeigt, das kann man jedoch ändern, indem man cacert.org aufruft, dort auf „Root Certificate“ klickt und dann auf die Zertifikate. Diese sollten dann automatisch in Euren Browser importiert werden.
Eine Verbindungs-Verschlüsselung via SSL mit durch Zertifikate authentifizierten Seiten schützt zwar vor dem Mithören von Dritten beim Surfen, viele sensible Daten entstehen aber vor allem Dingen beim Mailverkehr. Und E-Mails können ganz einfach beim Versenden zwischen zwei Anbietern wie gmx.de und web.de mitgelesen werden. Für die Polizei muss bei deutschen Freemailern sogar immer eine Schnittstelle zum Überwachen eingerichtet werden. Um solche und andere Lauschangriffe zu verhindern, sollten E-Mails mit GPG (Gnu Privacy Guard) verschlüsselt werden. GPG ist ein freies Kryptographiesystem, d.h. es dient zum Ver- und Entschlüsseln von Daten sowie zum Erzeugen und Prüfen elektronischer Signaturen. Um GPG benutzen zu können, muss das Programm auf dem eigenen Rechner installiert werden. Es ist kostenlos über gpg4win.de erhältlich. Dort findet man auch eine Anleitung, deswegen werde ich hier nur kurz das Prinzip von GPG erklären. Theoretisch würde ein gutes Passwort, das beide Kommunikationspartner kennen, zur verschlüsselten Kommunikation ausreichen. Da jedoch auch zwei sich vollkommen unbekannten Menschen ein sicherer Datenaustausch ermöglicht werden soll, verwendet GPG ein asymmetrisches Verschlüsselungsverfahren. Das bedeutet, der Anwender erzeugt zwei Schlüssel, einen öffentlichen und einen privaten. Auf den privaten Schlüssel darf nur der Eigentümer Zugriff haben. Daher wird dieser in der Regel auch mit einem Passwort geschützt. Mit diesem können Daten entschlüsselt und signiert werden. Der öffentliche Schlüssel dient dazu, Daten zu verschlüsseln und signierte Daten zu überprüfen. Er muss jedem Kommunikationspartner zur Verfügung stehen, der diese beiden Aktionen durchführen will, deshalb sollte er im Internet auf speziell dafür vorgesehenen Webseiten veröffentlicht
> z.B. keyserver.pgp.com
oder von Euch anderweitig frei verbreitet werden. Die Daten können mit dem öffentlichen Schlüssel weder signiert noch entschlüsselt werden, daher ist seine Verbreitung auch mit keinem Sicherheitsrisiko behaftet. Mit ein paar Mausklicks können dann Menschen, die sich noch nie gesehen haben, abhörsicher kommunizieren. Dazu müssen allerdings Versender und Empfänger ein E-Mail-Programm wie Thunderbird oder Outlook verwenden.
> Hier gibt es eine Liste von E-Mailprogrammen:
de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:E-Mail-Programm
Wer viel unterwegs ist und seine E-Mails oft via Webinterface auf verschiedenen Computern liest, kann sich auch die Portable Edition von Thunderbird und GPG
auf einen USB-Stick spielen und so von jedem Rechner aus verschlüsselt mailen. Auch bei E-Mailprogrammen gilt natürlich: SSL-Verschlüsselung einschalten! GPG eignet sich übrigens auch, um alle möglichen gespeicherten Dateien für Unbefugte unzugänglich zu machen.
Nach den Abschnitten über Verschlüsselung nun zur Anonymisierung. Euer Internetanbieter muss spätestens ab dem 1.1.2009 speichern, welche Seiten Ihr wann und wie lange im Netz besucht (Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung). Damit kann man ziemlich genaue Profile über Euch erstellen. Aber auch beispielsweise Onlineshops wissen aufgrund von Cookies (Eine Profildatei, die der Archivierung von Informationen dient) immer, für welche Dinge Ihr Euch schon alles interessiert habt. Um dies zu vermeiden, solltet ihr regelmäßig die Cookies auf Eurem Rechner löschen und TOR (The Onion Router) verwenden. TOR ist ein weltweites Netzwerk zur Anonymisierung und leitet Eure Internetverbindung durch drei zufällig ausgewählte Computer irgendwo auf der Welt (Proxy-Verbindung). Erst ab dem dritten Computer wird dann eine Verbindung ins Internet erstellt. Einen guten Einstieg zu TOR bietet:
> www.torproject.org/documentation.html.de
Dort findet ihr auch Beschreibungen, wie man TOR installiert und wie Programme dazu gebracht werden TOR zu benutzen. Allerdings sollte erwähnt werden, dass TOR sehr langsam ist und einem dadurch den Spaß am surfen verderben kann. Hier muss man halt immer abwägen, was einem lieber ist: Anonymität oder Geschwindigkeit. Man kann auch Firefox-Plugins installieren, mit denen man TOR recht einfach ein- bzw. ausschalten kann und so TOR nur für bestimmte Webseiten verwenden.
Auch zum Thema Chat will ich noch ein paar Zeilen verlieren. Instant Messenger wie ICQ oder auch Skype sind ja schon einige Jahre recht populär. Allerdings haben diese Dienste einige Nachteile. Der bedeutendste ist wahrscheinlich, dass die Betreiber den Inhalt kontrollieren können und sogar in ihren AGBs festschreiben, dass der Nutzer das Urheberrecht an den Betreiber abgibt. Doch es gibt eine freie und kostenlose Alternative: Jabber! Jabber funktioniert ähnlich wie kommerzielle Konkurrenten. Man muss sich ein Programm herunterladen
> de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Jabber-Client, oder wenn man noch andere Dienste nutzen möchte: de.wikipedia.org/wiki/Multi-Protokoll-Client
und kann sich dann bei einem beliebigen Server registrieren. Dort erhält man eine Jabber Identifier (JID), die einer E-Mail-Adresse ähnelt und sich auch so verhält. Anschließend können beliebig viele Kontakte hinzugefügt werden. Jabber bietet einige Vorteile gegenüber den etablierten Anbietern: Sicherheitstechnisch sind die Möglichkeiten einer Verschlüsselung mit GPG oder OTR (Off-the-Record, eine im Gegensatz zu GPG später nicht mehr rekonstruierbare Verschlüsselung) zu erwähnen. Ebenfalls kann die Verbindung zum Server mit dem oben schon erwähnten SSL verschlüsselt werden. Da die gesamte Netzarchitektur von Jabber dezentral funktioniert, ist auch eine Überwachung durch eine Firma oder den Staat nicht ohne weiteres möglich. Der Programmcode (OpenSource) der meisten Jabber-Programme ist auch offen und für jedermann einlesbar, es ist also davon auszugehen, dass im Gegensatz zu Skype oder ICQ keine Hintertürchen extra einprogrammiert wurden. Probiert es einfach einmal aus und nervt Eure Freunde so lange, bis sie auch auf das wesentlich sichere Jabber umsteigen.
Soweit erst mal mein kleiner Exkurs über das Internet und wie man seine Daten dort am besten schützt. Falls ihr euch etwas intensiver mit dem Thema beschäftigen wollt, findet ihr unter
noch eine sehr gut kommentierte Linksammlung zu dem Thema. Ich hoffe, die Zeit, die ich an dem Artikel gearbeitet habe, war nicht umsonst und der ein oder andere Leser bzw. Leserin befolgt meine Tipps. Tschau …
Das Thema Israel polarisiert die Linke. Wenn es um den Nahostkonflikt geht, sind viele nur zu rasch dabei, den israelischen Staat entweder in Grund und Boden zu verdammen oder sich bedingungslos damit zu solidarisieren. Angesichts dessen ist es durchaus sympathisch, dass sich der Soziologe Peter Ullrich nicht in diese festgefahrenen Frontverläufe einreihen will, sondern am Marxschen kategorischen Imperativ festhält, dass das „Wohlergehen jedes Einzelnen die Voraussetzung für das Wohlergehen aller“ zu sein habe. In seiner kürzlich erschienenen Broschüre „Begrenzter Universalismus“ untersucht Ullrich, wie sich das Verhältnis der sozialistischen oder kommunistischen Arbeiter_innen-Bewegung zum Judentum und zu Israel seit ihren Anfängen gestaltet hat.
Das Bild, das sich dabei ergibt, ist widersprüchlich. Im Frühsozialismus z.B. von Proudhon waren viele antisemitische Elemente enthalten – den üblichen Stereotypen entsprechend wurden Juden mit Reichtum und Wucher in Verbindung gebracht und als „Schmarotzer“ betrachtet. Ähnliche Äußerungen lassen sich auch bei Karl Marx (der selbst aus einer jüdischen Familie stammte) und Michail Bakunin finden. Zwar setzte in der Arbeiter_innen-Bewegung zum Ende des 19. Jahrhunderts hin eine stärkere kritische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ein, dieser wurde aber nach wie vor nur als untergeordnetes Problem wahrgenommen, das sich im Zuge des unaufhaltsamen Fortschritts der Geschichte schon von selbst erledigen würde.
Auch das Verhältnis zum Zionismus war ambivalent. Zum einen entstanden am Anfang des 20. Jahrhunderts zionistische Organisationen, die versuchten, das Projekt der nationalen Selbstbestimmung mit sozialistischen Ideen zu verbinden. Auch in sozialdemokratischen Kreisen stand man dem Zionismus meist positiv gegenüber. Dagegen verurteilte u.a. Lenin zionistische Bestrebungen und die Bildung eigener jüdischer Organisationen, da er dies als eine Abkehr vom Klassenkampf sah, die die Einigkeit des Proletariats untergrub. Dieser Antizionismus der Bolschewiki nahm unter Stalin weit bedrohlichere Formen an. So wurden beim so genannten „Ärzte-Komplott“ von 1953 einige Ärzte jüdischer Abstammung beschuldigt, sowjetische Führer ermordet oder deren Ermordung geplant zu haben – sie wurden schließlich hingerichtet. Der Antizionismus wurde hier zum offen antisemitischen Verschwörungsglauben. Ähnlich der Politik der Sowjetunion, die auch nach der Stalin-Ära ihre antizionistische Ausrichtung beibehielt, gestaltete sich die Politik der DDR.
Mit einer Betrachtung der Trotzkisten sowie der 1968 entstehenden „Neuen Linken“ und deren (eher ablehnendem) Verhältnis zu Israel endet die Broschüre. Insgesamt bietet Ullrich einen guten Abriss der geschichtlichen Entwicklung. Dass er sich dabei weitgehend auf die (staats)sozialistische Parteilinke beschränkt, ist sicher auch dem Umstand geschuldet, dass deren Geschichte weit besser erforscht und dokumentiert ist. Dennoch wäre es interessant gewesen, auch die anarchistische Linke einzubeziehen. Obwohl es schön wäre zu glauben, in der anarchistischen Bewegung hätte Antisemitismus keine Rolle gespielt, wäre hier eine nähere Untersuchung sicherlich aufschlussreich.
mit großer Freude schlug ich wieder eure Zeitung (oder besser Magazin?) auf, um mir meine Ladung sympathischen Journalismus abzuholen. Und in der Tat begann ich sehr interessiert zu schmökern. Wie immer sind so einige Artikel zu finden, die sowohl Regionales wie Überregionales zur Sprache bringen, was sonst woanders nicht mal gedacht wird. Selbst den mittlerweile stärkeren Sarkasmus bei bestimmten Themen empfand ich als erfrischend, wenn gleich es z.B. beim Thema Nazis und Antifaschismus mit ein wenig mehr Alternativen gespickt sein könnte. Also alles in allem eigentlich die Daumen hoch.
Umso negativer überrascht war ich, als dann die Seite 24 von mir aufgeschlagen wurde und ich mich ernsthaft fragen musste, wie umnachtet die Leute vom Layout wohl gewesen sein mussten, ein so plattes, klischeebehaftetes Karikaturenensemble auszuwählen. Gerade eine Zeitung mit eurem Weitblick und Tiefgang sollte sich davor hüten, solch stumpfe, mit negativen Assoziationen behaftete Karikaturen zu verwenden. Um es kurz zu sagen, der dicke, fette Kapitalist mit Zylinder und Zigarre mit seinen Geldsäckelchen auf dem Fuhrwagen ist ein weit verbreitetes Abziehbildchen einer verkürzten Kritik des Finanzkapitalismus, das raffende Kapital par excellence! Warum macht ihr euch so leicht angreifbar mit Bildern, die zu einfach bestimmte Assoziationen wecken können? Selbst in Reformgewerkschaftskreisen wie IGM und ver.di wird nach den Heuschrecken-Karikaturen kritischer damit umgegangen! Ich bin mir sicher, dass das nicht im Interesse eurer Zeitung war und hoffe, dass ihr das nächste Mal nicht mehr so unglücklich in Fettnäpfchen treten werdet.
Mit schwarz-roten Grüßen,
euer Dickerchen aus Berlin
Hallo,
und vielen Dank für Deinen Leserbrief. Es stimmt, die Karikaturen sind wirklich platt und klischeehaft. Und sicher ist eine personalisierte Kapitalismuskritik, wie man sie darin sehen könnte, problematisch. Nur lassen Bilder generell viele Lesarten zu – für welche mensch sich entscheidet, hängt vor allem vom Kontext ab. So ist im FA! #28 auch eine der von Dir erwähnten „Heuschrecken-Karikaturen“ zu finden – als Teil eines Artikels, der eben solche „Kapitalismuskritik“ kritisiert. Ebenso wird in dem Artikel, zu dem die von Dir bemängelte Karikatur gehörte, weder den raffgierigen Kapitalisten die Schuld am Elend der „Entwicklungsländer“ gegeben, noch werden antiamerikanische oder sonstige Ressentiments bedient. Das macht das Bild nicht besser, schränkt aber den Interpretations-Spielraum erheblich ein.
Auch der Vergleich mit den „Heuschrecken-Karikaturen“ hinkt: Zwar arbeiten beide Bilder mit Stereotypen, es gibt aber große Unterschiede. Zunächst einmal findet bei den „Heuschrecken-Karikaturen“ eine Entmenschlichung statt. Dort wird der „Kapitalist“ als Insekt dargestellt, bei der anderen Karikatur als Mensch (wenn statt eines hungernden Afrikaners ein Pony den Wagen ziehen würde, würde er sogar sympathisch wirken). Zweitens trägt die „Heuschrecke“ einen Zylinder in den Farben der amerikanischen Fahne, wird also als „fremd“ gekennzeichnet, als von außen kommende Bedrohung. Und drittens gibt es eine klare Trennung von „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital: Der „Blutsauger“ bohrt seinen Saugrüssel in einen Fabrikschornstein – dem „produktiven“ deutschen Kapital wird das ausländische, „parasitäre“ Kapital entgegengestellt. Diese Trennung (deutsch/amerikanisch, produktiv/ausbeutend) lässt sich bei dem anderen Bild nicht finden.
Dennoch bleibt es natürlich einfallslos und klischeehaft. Das Hauptproblem dürfte aber in der unterschiedlichen Perspektive liegen: Wir haben den Text lang und breit besprochen und das Bild von diesem her interpretiert, während für dich als Leser natürlich die Bilder zuerst ins Auge stechen. Es ist eben auch so, dass die Produktion des Feierabend! immer wieder ein langer, anstrengender Prozess ist. Da fehlt oft die Kraft, nach den Texten auch noch die Bilder bis ins Detail zu diskutieren. Umnachtet waren wir also nicht – eher übernächtigt.
Auf jeden Fall freuen wir uns, dass Du Dir die Mühe gemacht hast, Deine Kritik zu formulieren, und hoffen, dass Du auch in Zukunft unser Heft aufmerksam liest und bei Bedarf Kontakt zu uns aufnimmst, um uns Deine Meinung mitzuteilen.