Im Zeitalter von digitalen Kopiertechniken und umfassenden Überwachungskonzepten ist Datensicherheit ein sehr hohes Gut geworden, auch wenn viele das noch nicht realisieren. Ich will deshalb hier mal eine (hoffentlich) allgemeinverständliche Anleitung geben, wie man seine Daten im Internet am besten schützen kann. 100% Sicherheit wird es nicht geben und es ist auch nicht möglich, sich einfach ein oder zwei Programme zu installieren und alles ist gut, wie uns das die Hersteller von Personalfirewalls versprechen wollen. Sicherheit entsteht dadurch, dass man Dinge versteht, deshalb will ich hier versuchen, einige Programme zu erklären und nicht einfach nur eine Installationsanleitung, wie man sie ohnehin schon im Internet finden kann, aufzuschreiben.
Wenn man eine Webseite mit dem Browser aufruft, kann ein Fremder dies mitlesen. Auch alle Informationen, die verschickt werden, wie z.B. eine Suchanfrage bei google, können mitgelesen werden. Bei Passwörtern von Mail-Adressen kann dies besonders ärgerlich sein. Deshalb können Daten bei einigen Seiten auch verschlüsselt übertragen werden, so dass zwischen dem eigenen Rechner und der Webseite niemand mitlesen kann. Dazu wird SSL (Secure Sockets Layer) benutzt. Ob Ihr SSL gerade verwendet, seht ihr daran, dass in Eurem Browser Internetadressen mit https anstatt http angezeigt werden. Meist nimmt die Adresszeile Eures Browsers dabei auch eine andere Farbe an und es wird ein kleines Schloss eingeblendet. Einige Webseiten schalten automatisch auf eine SSL-geschützte Verbindung um, sobald man sie aufruft, bei anderen muss man dies explizit einstellen.
Eine solche Verschlüsselung der Verbindung von aufgerufener Seite und aufrufendem Browser kann ein potentieller Schnüffler und Datendieb jedoch einfach umgehen, indem er Euch auf seine eigene Seite umleitet, die der gewünschten Webseite zum Verwechseln ähnlich sieht, und dort dann alle Eure Eingaben protokolliert. Um dies zu verhindern, wird mit sogenannten Zertifikaten sichergestellt, dass man sich auch mit der richtigen Webseite verbindet. Diese Zertifikate werden von Firmen an Banken, Webmail-Dienste etc. vergeben, die im Browser normalerweise als vertrauenswürdig gekennzeichnet sind bzw. werden sollen. Da diese Firmen allerdings viel Geld für die Zertifikate verlangen, signieren einige Webnutzer Seiten Administratoren wie z.B. die der Leipziger Universität ihre Seiten selbst oder nutzen unkommerzielle Zertifikate. Letztlich muss man beim Besuch von Internetseiten immer abwägen, ob man dem angezeigten Zertifikat wirklich vertraut. Bei Seiten einer Bank sollte es aber definitiv keine Probleme mit dem Zertifikat geben, sonst ist Vorsicht angebracht. Einige interessante Seiten wie freifunk.net oder de.indymedia.org benutzen Zertifikate von cacert.org, einer gemeinnützigen Zertifizierungsstelle aus Australien. Diese werden zwar im Normalfall als nicht gültig angezeigt, das kann man jedoch ändern, indem man cacert.org aufruft, dort auf „Root Certificate“ klickt und dann auf die Zertifikate. Diese sollten dann automatisch in Euren Browser importiert werden.
Eine Verbindungs-Verschlüsselung via SSL mit durch Zertifikate authentifizierten Seiten schützt zwar vor dem Mithören von Dritten beim Surfen, viele sensible Daten entstehen aber vor allem Dingen beim Mailverkehr. Und E-Mails können ganz einfach beim Versenden zwischen zwei Anbietern wie gmx.de und web.de mitgelesen werden. Für die Polizei muss bei deutschen Freemailern sogar immer eine Schnittstelle zum Überwachen eingerichtet werden. Um solche und andere Lauschangriffe zu verhindern, sollten E-Mails mit GPG (Gnu Privacy Guard) verschlüsselt werden. GPG ist ein freies Kryptographiesystem, d.h. es dient zum Ver- und Entschlüsseln von Daten sowie zum Erzeugen und Prüfen elektronischer Signaturen. Um GPG benutzen zu können, muss das Programm auf dem eigenen Rechner installiert werden. Es ist kostenlos über gpg4win.de erhältlich. Dort findet man auch eine Anleitung, deswegen werde ich hier nur kurz das Prinzip von GPG erklären. Theoretisch würde ein gutes Passwort, das beide Kommunikationspartner kennen, zur verschlüsselten Kommunikation ausreichen. Da jedoch auch zwei sich vollkommen unbekannten Menschen ein sicherer Datenaustausch ermöglicht werden soll, verwendet GPG ein asymmetrisches Verschlüsselungsverfahren. Das bedeutet, der Anwender erzeugt zwei Schlüssel, einen öffentlichen und einen privaten. Auf den privaten Schlüssel darf nur der Eigentümer Zugriff haben. Daher wird dieser in der Regel auch mit einem Passwort geschützt. Mit diesem können Daten entschlüsselt und signiert werden. Der öffentliche Schlüssel dient dazu, Daten zu verschlüsseln und signierte Daten zu überprüfen. Er muss jedem Kommunikationspartner zur Verfügung stehen, der diese beiden Aktionen durchführen will, deshalb sollte er im Internet auf speziell dafür vorgesehenen Webseiten veröffentlicht
> z.B. keyserver.pgp.com
oder von Euch anderweitig frei verbreitet werden. Die Daten können mit dem öffentlichen Schlüssel weder signiert noch entschlüsselt werden, daher ist seine Verbreitung auch mit keinem Sicherheitsrisiko behaftet. Mit ein paar Mausklicks können dann Menschen, die sich noch nie gesehen haben, abhörsicher kommunizieren. Dazu müssen allerdings Versender und Empfänger ein E-Mail-Programm wie Thunderbird oder Outlook verwenden.
> Hier gibt es eine Liste von E-Mailprogrammen:
de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:E-Mail-Programm
Wer viel unterwegs ist und seine E-Mails oft via Webinterface auf verschiedenen Computern liest, kann sich auch die Portable Edition von Thunderbird und GPG
auf einen USB-Stick spielen und so von jedem Rechner aus verschlüsselt mailen. Auch bei E-Mailprogrammen gilt natürlich: SSL-Verschlüsselung einschalten! GPG eignet sich übrigens auch, um alle möglichen gespeicherten Dateien für Unbefugte unzugänglich zu machen.
Nach den Abschnitten über Verschlüsselung nun zur Anonymisierung. Euer Internetanbieter muss spätestens ab dem 1.1.2009 speichern, welche Seiten Ihr wann und wie lange im Netz besucht (Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung). Damit kann man ziemlich genaue Profile über Euch erstellen. Aber auch beispielsweise Onlineshops wissen aufgrund von Cookies (Eine Profildatei, die der Archivierung von Informationen dient) immer, für welche Dinge Ihr Euch schon alles interessiert habt. Um dies zu vermeiden, solltet ihr regelmäßig die Cookies auf Eurem Rechner löschen und TOR (The Onion Router) verwenden. TOR ist ein weltweites Netzwerk zur Anonymisierung und leitet Eure Internetverbindung durch drei zufällig ausgewählte Computer irgendwo auf der Welt (Proxy-Verbindung). Erst ab dem dritten Computer wird dann eine Verbindung ins Internet erstellt. Einen guten Einstieg zu TOR bietet:
> www.torproject.org/documentation.html.de
Dort findet ihr auch Beschreibungen, wie man TOR installiert und wie Programme dazu gebracht werden TOR zu benutzen. Allerdings sollte erwähnt werden, dass TOR sehr langsam ist und einem dadurch den Spaß am surfen verderben kann. Hier muss man halt immer abwägen, was einem lieber ist: Anonymität oder Geschwindigkeit. Man kann auch Firefox-Plugins installieren, mit denen man TOR recht einfach ein- bzw. ausschalten kann und so TOR nur für bestimmte Webseiten verwenden.
Auch zum Thema Chat will ich noch ein paar Zeilen verlieren. Instant Messenger wie ICQ oder auch Skype sind ja schon einige Jahre recht populär. Allerdings haben diese Dienste einige Nachteile. Der bedeutendste ist wahrscheinlich, dass die Betreiber den Inhalt kontrollieren können und sogar in ihren AGBs festschreiben, dass der Nutzer das Urheberrecht an den Betreiber abgibt. Doch es gibt eine freie und kostenlose Alternative: Jabber! Jabber funktioniert ähnlich wie kommerzielle Konkurrenten. Man muss sich ein Programm herunterladen
> de.wikipedia.org/wiki/Kategorie:Jabber-Client, oder wenn man noch andere Dienste nutzen möchte: de.wikipedia.org/wiki/Multi-Protokoll-Client
und kann sich dann bei einem beliebigen Server registrieren. Dort erhält man eine Jabber Identifier (JID), die einer E-Mail-Adresse ähnelt und sich auch so verhält. Anschließend können beliebig viele Kontakte hinzugefügt werden. Jabber bietet einige Vorteile gegenüber den etablierten Anbietern: Sicherheitstechnisch sind die Möglichkeiten einer Verschlüsselung mit GPG oder OTR (Off-the-Record, eine im Gegensatz zu GPG später nicht mehr rekonstruierbare Verschlüsselung) zu erwähnen. Ebenfalls kann die Verbindung zum Server mit dem oben schon erwähnten SSL verschlüsselt werden. Da die gesamte Netzarchitektur von Jabber dezentral funktioniert, ist auch eine Überwachung durch eine Firma oder den Staat nicht ohne weiteres möglich. Der Programmcode (OpenSource) der meisten Jabber-Programme ist auch offen und für jedermann einlesbar, es ist also davon auszugehen, dass im Gegensatz zu Skype oder ICQ keine Hintertürchen extra einprogrammiert wurden. Probiert es einfach einmal aus und nervt Eure Freunde so lange, bis sie auch auf das wesentlich sichere Jabber umsteigen.
Soweit erst mal mein kleiner Exkurs über das Internet und wie man seine Daten dort am besten schützt. Falls ihr euch etwas intensiver mit dem Thema beschäftigen wollt, findet ihr unter
noch eine sehr gut kommentierte Linksammlung zu dem Thema. Ich hoffe, die Zeit, die ich an dem Artikel gearbeitet habe, war nicht umsonst und der ein oder andere Leser bzw. Leserin befolgt meine Tipps. Tschau …
Das Thema Israel polarisiert die Linke. Wenn es um den Nahostkonflikt geht, sind viele nur zu rasch dabei, den israelischen Staat entweder in Grund und Boden zu verdammen oder sich bedingungslos damit zu solidarisieren. Angesichts dessen ist es durchaus sympathisch, dass sich der Soziologe Peter Ullrich nicht in diese festgefahrenen Frontverläufe einreihen will, sondern am Marxschen kategorischen Imperativ festhält, dass das „Wohlergehen jedes Einzelnen die Voraussetzung für das Wohlergehen aller“ zu sein habe. In seiner kürzlich erschienenen Broschüre „Begrenzter Universalismus“ untersucht Ullrich, wie sich das Verhältnis der sozialistischen oder kommunistischen Arbeiter_innen-Bewegung zum Judentum und zu Israel seit ihren Anfängen gestaltet hat.
Das Bild, das sich dabei ergibt, ist widersprüchlich. Im Frühsozialismus z.B. von Proudhon waren viele antisemitische Elemente enthalten – den üblichen Stereotypen entsprechend wurden Juden mit Reichtum und Wucher in Verbindung gebracht und als „Schmarotzer“ betrachtet. Ähnliche Äußerungen lassen sich auch bei Karl Marx (der selbst aus einer jüdischen Familie stammte) und Michail Bakunin finden. Zwar setzte in der Arbeiter_innen-Bewegung zum Ende des 19. Jahrhunderts hin eine stärkere kritische Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ein, dieser wurde aber nach wie vor nur als untergeordnetes Problem wahrgenommen, das sich im Zuge des unaufhaltsamen Fortschritts der Geschichte schon von selbst erledigen würde.
Auch das Verhältnis zum Zionismus war ambivalent. Zum einen entstanden am Anfang des 20. Jahrhunderts zionistische Organisationen, die versuchten, das Projekt der nationalen Selbstbestimmung mit sozialistischen Ideen zu verbinden. Auch in sozialdemokratischen Kreisen stand man dem Zionismus meist positiv gegenüber. Dagegen verurteilte u.a. Lenin zionistische Bestrebungen und die Bildung eigener jüdischer Organisationen, da er dies als eine Abkehr vom Klassenkampf sah, die die Einigkeit des Proletariats untergrub. Dieser Antizionismus der Bolschewiki nahm unter Stalin weit bedrohlichere Formen an. So wurden beim so genannten „Ärzte-Komplott“ von 1953 einige Ärzte jüdischer Abstammung beschuldigt, sowjetische Führer ermordet oder deren Ermordung geplant zu haben – sie wurden schließlich hingerichtet. Der Antizionismus wurde hier zum offen antisemitischen Verschwörungsglauben. Ähnlich der Politik der Sowjetunion, die auch nach der Stalin-Ära ihre antizionistische Ausrichtung beibehielt, gestaltete sich die Politik der DDR.
Mit einer Betrachtung der Trotzkisten sowie der 1968 entstehenden „Neuen Linken“ und deren (eher ablehnendem) Verhältnis zu Israel endet die Broschüre. Insgesamt bietet Ullrich einen guten Abriss der geschichtlichen Entwicklung. Dass er sich dabei weitgehend auf die (staats)sozialistische Parteilinke beschränkt, ist sicher auch dem Umstand geschuldet, dass deren Geschichte weit besser erforscht und dokumentiert ist. Dennoch wäre es interessant gewesen, auch die anarchistische Linke einzubeziehen. Obwohl es schön wäre zu glauben, in der anarchistischen Bewegung hätte Antisemitismus keine Rolle gespielt, wäre hier eine nähere Untersuchung sicherlich aufschlussreich.
mit großer Freude schlug ich wieder eure Zeitung (oder besser Magazin?) auf, um mir meine Ladung sympathischen Journalismus abzuholen. Und in der Tat begann ich sehr interessiert zu schmökern. Wie immer sind so einige Artikel zu finden, die sowohl Regionales wie Überregionales zur Sprache bringen, was sonst woanders nicht mal gedacht wird. Selbst den mittlerweile stärkeren Sarkasmus bei bestimmten Themen empfand ich als erfrischend, wenn gleich es z.B. beim Thema Nazis und Antifaschismus mit ein wenig mehr Alternativen gespickt sein könnte. Also alles in allem eigentlich die Daumen hoch.
Umso negativer überrascht war ich, als dann die Seite 24 von mir aufgeschlagen wurde und ich mich ernsthaft fragen musste, wie umnachtet die Leute vom Layout wohl gewesen sein mussten, ein so plattes, klischeebehaftetes Karikaturenensemble auszuwählen. Gerade eine Zeitung mit eurem Weitblick und Tiefgang sollte sich davor hüten, solch stumpfe, mit negativen Assoziationen behaftete Karikaturen zu verwenden. Um es kurz zu sagen, der dicke, fette Kapitalist mit Zylinder und Zigarre mit seinen Geldsäckelchen auf dem Fuhrwagen ist ein weit verbreitetes Abziehbildchen einer verkürzten Kritik des Finanzkapitalismus, das raffende Kapital par excellence! Warum macht ihr euch so leicht angreifbar mit Bildern, die zu einfach bestimmte Assoziationen wecken können? Selbst in Reformgewerkschaftskreisen wie IGM und ver.di wird nach den Heuschrecken-Karikaturen kritischer damit umgegangen! Ich bin mir sicher, dass das nicht im Interesse eurer Zeitung war und hoffe, dass ihr das nächste Mal nicht mehr so unglücklich in Fettnäpfchen treten werdet.
Mit schwarz-roten Grüßen,
euer Dickerchen aus Berlin
Hallo,
und vielen Dank für Deinen Leserbrief. Es stimmt, die Karikaturen sind wirklich platt und klischeehaft. Und sicher ist eine personalisierte Kapitalismuskritik, wie man sie darin sehen könnte, problematisch. Nur lassen Bilder generell viele Lesarten zu – für welche mensch sich entscheidet, hängt vor allem vom Kontext ab. So ist im FA! #28 auch eine der von Dir erwähnten „Heuschrecken-Karikaturen“ zu finden – als Teil eines Artikels, der eben solche „Kapitalismuskritik“ kritisiert. Ebenso wird in dem Artikel, zu dem die von Dir bemängelte Karikatur gehörte, weder den raffgierigen Kapitalisten die Schuld am Elend der „Entwicklungsländer“ gegeben, noch werden antiamerikanische oder sonstige Ressentiments bedient. Das macht das Bild nicht besser, schränkt aber den Interpretations-Spielraum erheblich ein.
Auch der Vergleich mit den „Heuschrecken-Karikaturen“ hinkt: Zwar arbeiten beide Bilder mit Stereotypen, es gibt aber große Unterschiede. Zunächst einmal findet bei den „Heuschrecken-Karikaturen“ eine Entmenschlichung statt. Dort wird der „Kapitalist“ als Insekt dargestellt, bei der anderen Karikatur als Mensch (wenn statt eines hungernden Afrikaners ein Pony den Wagen ziehen würde, würde er sogar sympathisch wirken). Zweitens trägt die „Heuschrecke“ einen Zylinder in den Farben der amerikanischen Fahne, wird also als „fremd“ gekennzeichnet, als von außen kommende Bedrohung. Und drittens gibt es eine klare Trennung von „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital: Der „Blutsauger“ bohrt seinen Saugrüssel in einen Fabrikschornstein – dem „produktiven“ deutschen Kapital wird das ausländische, „parasitäre“ Kapital entgegengestellt. Diese Trennung (deutsch/amerikanisch, produktiv/ausbeutend) lässt sich bei dem anderen Bild nicht finden.
Dennoch bleibt es natürlich einfallslos und klischeehaft. Das Hauptproblem dürfte aber in der unterschiedlichen Perspektive liegen: Wir haben den Text lang und breit besprochen und das Bild von diesem her interpretiert, während für dich als Leser natürlich die Bilder zuerst ins Auge stechen. Es ist eben auch so, dass die Produktion des Feierabend! immer wieder ein langer, anstrengender Prozess ist. Da fehlt oft die Kraft, nach den Texten auch noch die Bilder bis ins Detail zu diskutieren. Umnachtet waren wir also nicht – eher übernächtigt.
Auf jeden Fall freuen wir uns, dass Du Dir die Mühe gemacht hast, Deine Kritik zu formulieren, und hoffen, dass Du auch in Zukunft unser Heft aufmerksam liest und bei Bedarf Kontakt zu uns aufnimmst, um uns Deine Meinung mitzuteilen.
…von der einen Hand zur andern. Warum die Banken überschuldet sind
Wer nicht völlig medienabstinent lebt, hat es längst erkannt: Die Weltwirtschaft befindet sich in einer Krise, welche vom Ausmaß die New-Economy-Blase weit übersteigt und von selbsternannten Experten inzwischen häufiger mit dem „Schwarzen Freitag“ von 1929 verglichen wird. Es ist längst nicht absehbar, wie lange noch Betriebe verramscht, Arbeitskräfte „wegrationalisiert“ und von den Nationalregierungen Konjunkturförderprogramme initiiert werden müssen, ehe ein Ende der Krise absehbar wird. Solche Spekulationsblasen, die im globalisierten Finanzmarktkapitalismus, wo ein Rädchen ins andere greift, von Zeit zu Zeit unvermeidlich sind, offenbaren aber auch Handlungsmöglichkeiten, die zur Überwindung des Systems beitragen können. Aus Platzgründen kann hier leider nicht genauer auf den Wandel der Weltwirtschaft oder den Fetischcharakter des Kapitals eingegangen werden, vielmehr präsentiere ich hier einen Überblick über die Geschehnisse des vergangenen Jahres, für Menschen, aus revolutionärer Weitsicht oder trotziger Existenzeuphorie keine Wirtschaftsnachrichten mehr konsumieren
Der Faktor „Vertrauen“
Das gab es in Europa seit den 30er Jahren nicht mehr: Tausende britische KleinsparerInnen standen im September 2007 tagelang vor Filialen der Bank Northern Rock an, in der Absicht, ihr Geld vor der sich abzeichnenden Pleite des klammen Kreditinstituts zu retten (sogenannter „bank-run“). Dabei waren ihre Spareinlagen angeblich gar nicht gefährdet, denn per Gesetz sind die Banken verpflichtet, Rücklagen (in Form eines Einlagensicherungsfonds) in einer Höhe zu bilden, welche die Sicherheit sämtlicher Sparbuchguthaben auch im schlimmsten Falle gewährleistet. Die vielen kleinen Arbeiter_innen haben Northern Rock den Todesstoß versetzt, weil der Hypothekenfinanzierer nach Medienberichten in Zahlungsschwierigkeiten steckte. Daran waren nicht einmal in erster Linie Managementfehler schuld, sondern vor allem das Misstrauen der anderen Banken, die aus Mangel an eigener Liquidität keine Kredite an Hypothekenbanken mehr vergeben wollten und deshalb den Geldhahn abdrehten. Dieses Beispiel zeigt exemplarisch, wie der Kapitalismus Rendite schafft: Geld, das zu Hause im Sparstrumpf liegt, vermehrt sich nicht, es muss daher ständig von einer Hand zur nächsten gereicht werden. Kreditinstitute leihen sich enorme Summen voneinander, in der Hoffnung, noch einen Dümmeren zu finden, dem sie zu einem noch höheren Zinssatz das Geld weiterborgen können. Weil aus Profitgier diese Summen das Eigenkapital der Banken in der Regel um ein Vielfaches übersteigen, ist so der Kreislauf schnell durchbrochen. An irgendeiner Stelle entsteht plötzlich Zahlungsunfähigkeit und durch das Misstrauen der Anderen hortet jeder im großen Maßstab Geld. Dies ist bei allen ins Trudeln geratenen Kreditinstituten des letzten Jahres der Fall gewesen – einer langen Euphoriephase folgte das böse Erwachen.
Der Auslöser: Vom eigenen Wachstum berauscht
Die Quelle des letzten Erdrutsches ist wie schon so oft in den USA zu verorten und machte sich zuerst darin bemerkbar, dass viele einkommensschwache Hypothekenzahler in den Vereinigten Staaten ihre Schulden nicht mehr begleichen konnten oder wollten, weil die Grundstückspreise (und damit auch die Hypothekenraten) kontinuierlich stiegen sowie die Einkommen (v.a. inflationsbedingt) sanken. Das Wachstum der Profite hatten die Banken und die Zwischenhändler nämlich dadurch noch zu verstärken versucht, indem sie mit durchtriebenem Eifer massenhaft Kreditkarten und Hypothekenkredite an die Bürger_innen brachten, weil diese nur zu gerne an das Versprechen vom ewig anhaltenden Wachstum glauben wollten. Manche Institute hatten sich darauf spezialisiert, Kredite an Kunden mit geringer Zahlungsfähigkeit zu verleihen, zu enormen und zugleich variablen (d.h. risikoabhängigen) Zinsen, häufig ohne jegliche Prüfung wie vertrauenswürdig die Kreditnehmer sind. Oft konnten diese aber nicht einmal die zweite Rate zahlen. Das ging einige Zeit gut, weil die Wirtschaft wuchs, der Leitzins niedrig war und die Immobilienpreise stiegen. Die Hypothek schien auf dem Papier durch den errechneten Wert der Immobilie gedeckt, die Kreditgeber konnten also damit rechnen, dass im Fall einer Insolvenz des Schuldners zumindest kein Verlust entstünde. Zunächst gab es zwar nur wenige Insolvenzen, aber das Risiko für die Banken erhöhte sich dadurch ständig. Also wurden die Zinsen auch für die übrigen Hypothekenzahler erhöht. Darauf jedoch folgte eine Lawine von Zahlungsunfähigkeiten, Zwangsvollstreckungen und Kaufkraftverlusten – die Grenze war überschritten. Als die Klein- und Mittelverdiener dann reihenweise überschuldet waren, ordneten die Gläubiger wegen der sinkenden Grundstückspreise – was Zwangsversteigerungen unrentabel machte – die Schuldbeteiligungen vielfach neu und verteilten sie auf verschiedene Fonds, die von Ratingagenturen je nach Risiko mit bestenfalls imaginären Realwerten geschätzt wurden. Die Fonds, in denen solche höchst riskanten Immobilienspekulationen zusammengefasst sind, wurden munter weiterverschachert und die eigene Stabilität dabei zu hoch bewertet, weil die jeweiligen Beteiligungen in hohem Maße als sicher betrachtet und daher in den Quartalsbilanzen viel zu niedrige Verluste abgeschrieben wurden. Der IWF (Internationaler Währungsfonds) schätzte die weltweiten Abschreibungen der Finanzinstitute allein bis April 2008 auf 603 Milliarden Euro. Eine der Folge davon ist zum Beispiel, dass derzeit häufig unklar ist, wie mit den Grundstücken weiter verfahren wird, weil die Besitzverhältnisse so weit gestreut sind. Es liegt nun in der „Natur der Sache“, dass auch europäische und deutsche Finanzinstitute gierig genug waren, in den verlockenden US-Immobilienmarkt zu investieren. In kurzer Folge gerieten deshalb hierzulande unter anderem die IKB Deutsche Industriebank und die Sachsen LB in Zahlungsschwierigkeiten, die Deutsche Bank, Bayern LB, West LB und unzählige andere wiesen Verluste in Milliardenhöhe aus, zum Teil jetzt schon das vierte Quartal in Folge. In Spanien etwa sind die Auswirkungen noch größer, weil sich der inländische Immobilienmarkt als noch größere Blase erwiesen hat: mit gut 18 Prozent Anteil am BIP war der Bausektor wichtiger für die Konjunktur als die Industrie (13 Prozent). Wegen der günstigen Zinsen wurde hier in den letzten zehn Jahren mehr gebaut als in Doitschland, Frankreich und Italien zusammen. Das Land ist stark verschuldet und weist derzeit ein Handelsbilanzdefizit von rund zehn Prozent aus, Inflation und Arbeitslosigkeit sind auf Rekordhoch.
Abhilfe?
Sobald eines der Kreditinstitute zu stark ins Trudeln geriet, war für die Regierungen klar, dass hier die Steuerzahler einspringen müssen und mittels Soforthilfe der Europäischen Zentralbank (EZB) die Unternehmen zu retten hätten. In den USA übernahm diese Aufgabe die Federal Reserve Bank (FED), welche so viel neues Geld verteilt hat, dass von einer hausgemachten Inflation gesprochen werden muss. Dieser Umstand entlarvt die unseriöse Konstruktion des „Finanzmarktkapitalismus“, der im Prinzip genauso wie ein Kettenbrief/Pyramidenspiel funktioniert. Irgendwann ist der Zeitpunkt erreicht, wo sich die Summen, die zu steigenden Zinssätzen weiterverliehen werden, eben nicht mehr steigern lassen und das Platzen der Spekulationsblase unvermeidlich wird. Es wird ruckartig weniger investiert, was ein Stagnieren oder gar Schrumpfen der Gesamtwirtschaft zur Folge hat, die Arbeitslosigkeit wächst, die Kaufkraft sinkt und die Wirtschaft schrumpft weiter. Die Herangehensweise in den USA unterscheidet sich jedoch von derjenigen der EZB: Die FED hat das Zinsniveau gesenkt, um den Banken zu helfen, sich aus dem Dilemma rauszukaufen, das Außenhandelsbilanzdefizit niedriger erscheinen zu lassen und die Kaufkraft der Bevölkerung zu stärken, nimmt dabei aber Hyperinflation und Überschuldung in Kauf. Mensch befindet sich also im Ausverkauf, alles wird verramscht, damit wenigstens der Geldfluss nicht zu sehr ins Stottern gerät. Die EZB sah sich seit ihrer Gründung 1998 vor allem der Eindämmung der Inflation verpflichtet und erhöhte daher die Zinsen, was die Konjunktur abwürgt und die Menschen finanziell immer schlechter dastehen lässt. Dafür kann die Liquiditätskrise nicht mehr so leicht auf andere Branchen übergreifen. Dem Aktienmarkt hat das freilich nicht geholfen, so fiel etwa der DAX, der im Juni 2007 noch ein Allzeithoch von 8.100 Punkten erreicht hatte, innerhalb von nur einem Jahr auf knapp über 6.000 Punkte. Anders ausgedrückt, die 30 wichtigsten deutschen Aktienunternehmen haben in einem Jahr ein Viertel ihres Wertes verloren.
Das zeigt überhaupt das Dilemma der angeblichen „Führungsfiguren“ weltweit auf: In einem System der freien Marktwirtschaft ist der politische Einfluss auf die Wirtschaftsentwicklung marginal, eigentlich kaum messbar. Präsident_innen können jedoch mit Hilfe ihrer Verlautbarungen das Konsumverhalten der Bevölkerung beeinflussen, indem sie Vertrauen in die Zukunft des eigenen Standortes erzeugen. Das erscheint ihnen sinnvoller, als den von Arbeitsplatzverlust, Lohnkürzungen oder Zwangsversteigerung betroffenen Menschen finanzielle Linderung zu verschaffen und so die Kaufkraft der breiten Bevölkerung zu stärken. Und wie die aktuelle Krise wieder einmal beweist, erreichen die staatlichen Hilfen nur jene, die zuvor völlig verblendet Unsummen (die ihnen nicht einmal gehörten) in hochspekulativen Investments verzockt haben. Mittlerweile rechnen sogar hochrangige EZB-Vertreter damit, dass das Schrumpfen der Wirtschaft in Europa bis Mitte 2009 anhalten wird. Weil es um die Volkswirtschaften in den USA und Japan noch schlimmer bestellt ist, wird auch der Exportweltmeister Doitschland die Folgen noch viel stärker als bisher zu spüren bekommen.
Ankämpfen!
Wer nun denkt, mit der Einführung einer Kapitalertragssteuer für Risikogeschäfte wie der Tobin-Steuer, wie es vor allem von attac beworben wird, könnte das Problem eliminiert werden, glaubt sicher auch, dass das Verbot von Alcopops für Minderjährige verhindert, dass Jugendliche Alkohol trinken. Zum einen würden von der Tobinsteuer nur Devisenspekulationen begrenzt, die aber ohnehin nur einen sehr geringen Teil der Gesamtmenge umfassen. Damit würde zwar Entwicklungsländern enorm geholfen, für die momentan vorliegende Situation ist sie aber ohne Bedeutung, da sich die Blase innerhalb der jeweiligen Volxwirtschaften entwickelt hat. Der Zeitraum zwischen zwei Spekulationsblasen würde zwar größer, diese aber unvermeidlich immer wieder platzen und weiterhin Steuereinnahmen zur Sanierung der Großverdiener missbraucht. Wie aber die britischen Kleinsparer_innen bewiesen haben, bildet das Sparvermögen der Geringverdiener den Grundstock für die Spekulationsgeschäfte der Finanzinstitute. Weil es im höchsten Maße unwahrscheinlich ist, dass Aktienspekulationen, die ja im Grunde nichts anderes als Wetten auf die Entwicklungschancen eines Unternehmens darstellen, in absehbarer Zukunft abgeschafft werden und so der Huldigung des Mammon ein Riegel vorgeschoben wird, sind die Alternativen für ethisch saubere Geldanlagen äußerst begrenzt. Hier bieten sich folgende Möglichkeiten an: Zuerst einmal der altbackene, heimische Sparstrumpf, mit den bekannten Vor- und Nachteilen. Zweitens eingeschränkte, „moralisch saubere“ Investitionen, wie es inzwischen häufig auch unter dem Stichwort „islamic banking“ angeboten wird. Dabei ist allerdings zu beachten, dass auch die jeweiligen ethischen Standards durch viele juristische Kniffe unterlaufen werden und ebenfalls in Investmentfonds angelegt wird. Daher lautet mein Rat an die Leser: Die finanziellen Mittel, welche nicht zur unmittelbaren Bewältigung des Alltags benötigt werden, in alternative Projekte zu investieren, welche sich der Rettung der Umwelt, einem breit gefächerten Kulturangebot und vor allem der Bildung sozial Benachteiligter verschrieben haben. Auf dass in Zukunft mehr Menschen erkennen, was schief läuft und was getan werden muss!
„Pop“ oder „Popkultur“ sind allgegenwärtig und wie immer, wenn jeder ein Wörtchen mitreden will, weiß am Ende keiner mehr genau, worum es geht. Da wird einmal von „Pop“ als Musikstil geredet, dessen populärer Charakter von einigen wesentlichen Elementen abhängt: eingängige Melodie, saubere Produktion, ein bestimmter Aufbau (Strophe, Refrain, Strophe, Refrain…).
Zum anderen gibt es Pop als „Popkultur“. Die lässt sich zum einen gegen die „Hochkultur“ abgrenzen: Popkultur erhebt nicht den Anspruch, Kunst zu sein, sie beruht auf industrieller Massenproduktion und soll entsprechend massenhaft konsumiert werden können. Popkultur wird auch als „Jugendkultur“ verstanden, als expressive Alltagskultur verschiedener Gruppen, die sich durch bestimmte Codes voneinander abgrenzen. Diese Codes umfassen Musik und Kleidung, Embleme ebenso wie bestimmte Wertvorstellungen. In der Kultursoziologie wird dies auch als Bricolage bezeichnet: Vorgefundene Bruchstücke der Kultur werden angeeignet und neu zusammengefügt – so etwa Irokesenfrisuren und Sicherheitsnadeln im Punk oder die Kleidung der britischen working class durch die Skinheads Ende der 60er. Die so entstehenden Codes markieren auch einen gemeinsamen Lebensstil. Subkulturen sind bei ihrer Entstehung an einen bestimmten sozialen Kontext gebunden. So markiert die Aneignung der Kleidung der britischen Arbeiterklasse durch die Skinheads eine Verbundenheit zu diesem Milieu, ebenso wie z.B. die Entwicklung des Reggae wesentlich von der damit verbundenen Party- und DJ-Kultur der jamaikanischen Soundsystems geprägt war.
Auch gegen diese Subkulturen lässt sich die Popkultur abgrenzen. Die Grenzen sind hier fließend, denn zugleich erhält sie von dort neue Impulse. Zu „Pop“ werden die Subkulturen, indem sie von ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und einem Massenpublikum zugänglich gemacht werden. Die Triebkraft dabei ist der Markt, der die Subkulturen den Bedingungen der Massenproduktion unterwirft (wobei hier nicht der Mythos einer „verlorenen ursprünglichen Unschuld“ bedient werden soll).
Dies setzt einen widersprüchlichen Prozess in Gang: Zwar werden die „Kulturgüter“ der jeweiligen Subkultur zu Massenprodukten, sie bewahren aber einen Teil ihrer Funktion der Abgrenzung nach außen. Dies entspricht einer allgemeinen Tendenz der Marktwirtschaft, zum einen Kaufanreize durch eine behauptete „Exklusivität“ des jeweiligen Produktes zu schaffen, zum andern aber das Produkt möglichst oft verkaufen zu wollen, wodurch eben diese Exklusivität wieder untergraben wird. Dies führt zu einer ständigen Ausdifferenzierung des gesamten kulturellen Feldes.
Rewind
Da die Popkultur so allgegenwärtig ist, kam auch die Linke nicht um die Frage herum, was denn davon zu halten sei. Die Traditionsmarxisten, für die die Ökonomie das A und O war, konnten es sich einfach machen – sie interessierten sich eh nicht für den kulturellen „Überbau“. Falls doch, wurde die Popkultur nur als Ausdruck bürgerlicher Ideologie gesehen, als Mittel, um das Proletariat zu manipulieren und ruhig zu stellen. Dieser Sicht liegt freilich nicht nur ein verkürztes Verständnis von Ideologie zugrunde, wonach alle kulturellen Erscheinungen sich unmittelbar auf ökonomische Interessen zurückführen lassen. Der Begriff der „Manipulation“ unterstellt auch ein weitgehend passives Publikum, das alles, was ihm angeboten wird, widerspruchslos schluckt.
Die Ende der 60er entstehende Neue Linke dagegen erhielt ihre besondere Form gerade durch die Verbindung von Protestbewegung und Popkultur (siehe auch hier). Zwei Strategien der politischen Praxis auf dem Feld der Kultur bildeten sich dabei heraus: Gegenkultur und Subversion. Eigene Parallelstrukturen sollten aufgebaut und dann von diesen aus das „Establishment“ unterwandert werden. Auf breiterer Basis wurden diese Strategien aber erst ab Ende der 70er angewendet. Während vorher nur ein paar Bands wie Ton, Steine, Scherben ihre Platten selbst veröffentlichten, wurde das DIY-(Do-It- Yourself-)Modell mit dem Punk zu einer allgemeinen Praxis (siehe hier).
Mit dem Anfang der 80er in Großbritannien aufkommenden „New Pop“, dessen Protagonist_innen zu einem guten Teil durch den Punk sozialisiert worden waren, nahm auch die geplante subversive Unterwanderung des Mainstreams konkretere Formen an. Vor allem die hergebrachten Geschlechterrollen wurden in Frage gestellt. Zu keiner Zeit hatten so viele offen homosexuelle Künstler_innen im Popbusiness Erfolge gefeiert – seien es nun die Village People (die sich musikalisch auf die schon in ihren Anfängen stark von Homosexuellen geprägte Discoszene bezogen), Frankie Goes To Hollywood, Bronski Beat oder die Pet Shop Boys. Und auch Heterobands wie Duran Duran sahen mit hochtoupierten Haaren und Make-up reichlich feminin aus. Auf der anderen Seite standen Künstlerinnen wie Grace Jones mit ihrer androgynen Ausstrahlung, und Madonna. Der „neue Pop“ war auch eine Gegenbewegung zum Punk, dem aggressiven, mackerhaften Auftreten der Punks wurde ein sauberes, „weiches“ Image entgegengestellt, der behaupteten Authentizität des Rock ein bewusstes Spiel mit Image und Selbststilisierung.
Vor diesem Hintergrund von Punk und neuem Pop entstand in Deutschland eine Poplinke, die diese Vorgänge journalistisch begleitete. Mit theoretischen Bezügen zu Poststrukturalisten wie Foucault, Baudrillard und Derrida wurde versucht, in den Popdiskurs zu intervenieren. Pop wurde als Mittel begriffen, um in die Gesellschaft hineinzuwirken, Inhalte zu transportieren, wobei gerade der Warencharakter von Pop als Vorteil angesehen wurde, da über diesen ein breites Publikum erreicht werden konnte.
Stop
Heute lässt sich die Linke nicht mehr so gern auf die Popkultur ein. Die Poplinke ist zum Großteil den Bach runter gegangen, das einstige Zentralorgan Spex verliert immer mehr Profil, ehemalige Protagonisten suchen sich andere Betätigungsfelder. Auch hier in Leipzig lässt sich diese Distanzierung beobachten.
„Das Terrain, in dem wir als Conne Island stehen, ist verloren, das wissen wir selber“, lautete es etwa im Jahre 2003 vom CI-Plenum (1). Das Zitat stammt aus der Auseinandersetzung um die Band Mia, die kurz zuvor mit „Was es ist“ eine Loblied auf Deutschland verfasst hatte. Der Auftritt im Conne Island wurde folgerichtig abgesagt. Aber was ist gemeint, wenn es heißt, man hätte „das Terrain verloren?“ Warum wundert man sich darüber, wenn sich falsches Bewusstsein auch im Pop Gehör verschafft? Scheinbar hat mensch tatsächlich mal an die grenzüberschreitende, internationalistische Dimension von Popmusik geglaubt.
Mit der ist es momentan tatsächlich nicht weit her. In Zeiten sinkender Verkäufe bedient die Musikindustrie lieber ein fest umrissenes Marktsegment und liefert den naiven Mittelstandskids etwas, womit sie sich identifizieren können: deutsche Wertarbeit. Dabei ist es durchaus nicht so, dass der internationalistische Charakter des Pop reine Illusion wäre. Gerade ihre Warenförmigkeit verleiht der Popkultur einen universellen Charakter – sie soll sich verkaufen, und zwar an möglichst viele Menschen. Aber auch dies wird dem Pop zum Vorwurf gemacht – meist mit Rückgriff auf Adornos „Kulturindustrie“ – Kapitel in der „Dialektik der Aufklärung“. Popkultur bleibe letztlich in der Warenform gefangen, die alle noch so kritischen Inhalte ihrer Substanz beraube.
Das mag so sein. Nur: Warum sollen, wenn sich Pop wirklich restlos auf die Warenform reduzieren ließe, nicht auch Mia im Conne Island spielen? Warum nicht der Aggro-Berlin-Knallkopf Bushido oder gar die Naziband Landser? Genauer: Wenn die Kulturindustrie kritische, emanzipatorische Inhalte zur beliebig austauschbaren Chiffre macht, warum gilt das nicht auch für andere Inhalte, also etwa den homophoben, sexistischen und sonstigen Quark, den Bushido absondert?
Man kommt also nicht um die Einsicht herum, dass es – bei aller Gleichheit in der Warenform – im Pop dennoch inhaltliche Unterschiede gibt und dass diese eine Rolle spielen. Es mag der Plattenfirma egal sein, ob nun Bushido auf Platz 1 der Hitparade steht oder eine feministische Band wie Le Tigre. Das heißt nicht, dass man das Feld der Popkultur umstandslos dem „Gegner“ überlassen sollte. Natürlich ist „Pop“ genauso Teil des kapitalistischen Systems wie die restliche Gesellschaft auch. Aber gerade das ist ein Argument dafür, das Projekt „Pop“ nicht voreilig über Bord zu werfen: Wenn es ohnehin kein „Außen“ gibt, keinen Bereich der Gesellschaft, der nicht der kapitalistischen Logik unterworfen wäre, dann muss man zur Überwindung der herrschenden Zustände eben auf das zurückgreifen, was diese Gesellschaft anbietet und versuchen, es im eigenen Sinne zu nutzen.
Dabei muss die ökonomische Basis der Popkultur freilich mitberücksichtigt werden. Das Agieren auf der Diskursebene macht nur dann Sinn, wenn es darauf abzielt, von dieser Ebene wieder runterzukommen, materielle Veränderungen zu erreichen. Alles symbolische Dagegensein hat sich letztlich an der Praxis zu beweisen. Hier liegen auch die Gründe für die Krise der „Poplinken“. Man hat sich in einer mentalen und wirtschaftlichen Nische gemütlich eingerichtet – ein Hinterfragen der eigenen Position ist auch ein ökonomisches Risiko. Der Rückgriff auf kritische Theorie zielt dabei nicht mehr auf Veränderung ab, sondern wird zum Abgrenzungsmerkmal: „Wir“ gegen die böse Welt da draußen (als würde die sich so einfach aussperren lassen). Künstler_innen, Journalist_innen und Publikum bestätigen sich dabei wechselseitig in ihrer Position.
Fast Forward
Auch beim Pop gilt, dass Pauschalurteile meist am Kern des Problems vorbeigehen. Dass Popkultur „an sich“ emanzipatorisch sei, kann nur glauben, wer die Augen hartnäckig vor der Realität verschließt – Pop als total von der Kulturindustrie vereinnahmt zu verwerfen, ist das selbe in Grün. Im beiden Fällen erübrigt sich eigenes Handeln, entweder, weil das „Gute“ ohnehin siegen wird oder weil es eh schon verloren hat. Beides ist Blödsinn: Zumindest von den Inhalten her, ist Pop nur das, was mensch draus macht.
Als Mittel zum Beispiel gegen sexistische und rassistische Stereotype hat sich die Popkultur schon als nützlich erwiesen – gerade ihrer „Künstlichkeit“ und mangelnden „Authentizität“ wegen, als ein Feld, wo Menschen sich bis zu einem gewissen Grad selbst aussuchen können, wer oder was sie sein wollen. Die Einsicht, dass Identität nicht „angeboren“, sondern Resultat eigener Entscheidung ist, dass mensch sich sein „Selbst“ durch bewusste Tätigkeit erarbeitet, entzieht starren Rollenzuschreibungen den Boden.
Das Problem dabei ist, dass solche Zuschreibungen nicht nur diskursiv erzeugt werden – sie sind auch von materiellen ökonomischen und politischen Strukturen bedingt. Ohne eine grundlegende Veränderung eben dieser lässt sich z.B. sexistische Diskriminierung zwar in ihren Auswirkungen abmildern, aber nicht aus der Welt schaffen. Wenn Popkultur emanzipatorisch wirksam werden will, muss sie also ihre eigene Bedingtheit durch materielle Zwänge mitbedenken. So ist es zumindest eine zwiespältige Sache, wenn bei Bands wie Chumbawamba oder Rage Against The Machine die Kapitalismuskritik in Warenform daherkommt. Die kapitalistischen Strukturen lassen sich nicht einfach so für die eigenen Zwecke übernehmen – vor allem, wenn es darum gehen soll, den Kapitalismus abzuschaffen.
Eine mögliche Antwort darauf ist der Aufbau von eigenen Strukturen, wie es die DIY-Szene tut – im Punk und Hardcore, aber auch in anderen musikalischen Nischen (freie Improvisation, Industrial usw.). Die Anfang der 90er in den USA entstandene Riot-Grrrl-Bewegung (die in den letzten Jahren durch die Ladyfeste eine Neuauflage erhielt) ist ein Beispiel dafür, wie die DIY-Strategien der Selbstermächtigung und selbstorganisierter Kultur, die Kritik an Sexismus (auch innerhalb der eigenen Szene) mit Kritik an Kapitalismus und Herrschaft allgemein, politisches Engagement und lustvoller künstlerischer Ausdruck verbunden werden können.
Natürlich findet auch dies im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft statt, gewisse Inkonsequenzen lassen sich also nicht vermeiden. Der Wert dieser Praxis muss sich daran messen lassen, wie weit es gelingt, sich den marktwirtschaftlichen Spielregeln zu entziehen. Coole Indie-Kleinkapitalisten, die ihr Minus an ökonomischem Kapital gegenüber den Majorlabels durch ein Plus an symbolischem Kapital (Nähe zur Basis usw.) kompensieren, gibt es schließlich schon genug. Und auch wenn die Indielabels ihre Stellung gegenüber den Majors dadurch zu festigen versuchen, dass sie sich als die „besseren“ Kapitalisten in Szene setzen, ist die einstige Frontstellung zwischen „Indie“ und „Major“ ohnehin längst bis zur Unkenntlichkeit aufgeweicht – nicht umsonst sind die meisten bedeutenderen Indielabels wie SubPop, City Slang oder L´Age d´Or längst nur noch Unterabteilungen der großen Majors. Und selbst wenn das (noch) nicht der Fall ist, sagt es nichts über den emanzipatorischen Gehalt des eigenen Handelns aus, wenn man zufällig etwas weniger verdient als andere.
DIY dürfte auch der technologischen Entwicklung wegen an Bedeutung gewinnen. Dank der Computertechnik ist es heute kein Problem mehr, Musik in guter Qualität und zu niedrigen Kosten aufzunehmen, und das Internet macht es möglich, diese ohne den Umweg über eine Plattenfirma allgemein zugänglich zu machen. Während die Musikindustrie dadurch in eine Krise gerät, deren Ausgang noch unklar ist (siehe Seite 30), öffnet sich hier ein neues Feld für einen lebendigen Untergrund, für experimentelle, innovative Musik ebenso wie für eine Praxis, die politische und künstlerische Belange miteinander zu verbinden versucht.
(k.rotte & nils)
(1) den dazugehörigen Text könnt ihr unter www.conne-island.de/nf/105/17.html nachlesen.
Wie schon 2006 zur Fußball-WM startete auch dieses Jahr pünktlich zum Auftaktspiel der EM 2008 die Aktion DreiFarbenGold. Gegen den Nationalismus und die politische Vereinnahmung des Sportes sollten möglichst viele der geflaggten Deutschlandfahnen ihres goldenen Streifens beraubt werden. Und die Viertel sich derart verwandeln, dass sie anstelle deutschen Schimmerschummelscheins in den schwarzroten Farben des Anarchismus leuchten. Dabei lieferten sich die einzelnen Aktivisten einen heißen Wettkampf um die begehrten Platzierungen. Am Ende setzte sich der amtierende Titelverteidiger erneut gegen alle Verfolger durch und gewann knapp in der Kategorie „Meiste Schnipsel“ mit 137 sachgemäß entfernten Goldstreifen. Alle Rekorde in der Kategorie „Großschnipsel“ wurden dagegen von einem Neuling gebrochen. Der Gewinnerschnipsel maß sage und schreibe 1x5m. Trotz der geringer ausgefallenen Gesamt-Ausbeute, die dem Umstand geschuldet war, dass für die meisten deutschtümelnden BürgerInnen offensichtlich doch ein Unterschied darin bestand, dass das große Fußballturnier diesmal nicht in Deutschland sondern in Österreich/Schweiz stattfand, waren hinterher alle zufrieden: Die Aktion hatte wieder sehr viel Spasz gemacht und dem Frust über die wehenden Fahnenmeere gut entgegengewirkt.
Der Kritik, dass die ganze Aktion keinerlei politische Wirkung entfalte, hielt der Titelverteidiger der „Meisten Schnipsel“ entgegen: „Viel weniger als um politische Auswirkung, geht es bei der Aktion doch um eine selbstbewusste Gegenkultur, die einerseits Spasz machen soll und andererseits provoziert. Wer sich über den ganzen Deutschlandtaumel ärgert und dabei die Hände in den Schoss legt, dem kann ich nur dringend empfehlen, es mit der Aktion mal als Therapie-Ansatz zu versuchen.“ Bleibt schließlich zu hoffen, dass zum einen die Fußball-EM 2012 in Polen/Ukraine stattfinden kann und nicht doch interimsweise in Deutschland veranstaltet werden muss; und zum anderen dass die Aktion DreiFarbenGold auch in Zukunft anlässlich der großen inter/nationalen Fußball-Turniere initiiert wird. Haltet die Augen auf und die Scheren bereit!
Kein Krieg, kein Gott, kein Vaterland! Gegen einen „ganz normalen“ Nationalismus in Deutschland!
Am Samstag, 26. Juli, schallten dumpfe Bässe und gebrochene Beats durch Leipzigs Straßen. Bei schwüler Sonne folgten hunderte tanzende Menschen einigen dröhnenden LKW’s vom Connewitzer Kreuz über die Karl-Liebknecht-Straße zum Augustplatz und weiter zum Völkerschlachtdenkmal.
Nach einem Jahr Pause fand wieder eine Global Space Odyssee (GSO) anlässlich des weltweiten Aktionstages für die Legalisierung von Cannabis statt. Diese Straßenparade oder musikalische Demonstration, hinter der verschiedene subkulturelle und politische Initiativen sowie Einzelne stehen, zog erstmals 2001 durch Leipzig.
Dieses Jahr stand die Kulturpolitik der Stadt Leipzig im Mittelpunkt der Kritik, die 98% der Kulturförderung in so genannte Hochkultur wie Oper und Theater investiert. Außen vor bliebe die freie Kultur, die durch bürokratische Auflagen und eine Vermarktungslogik in ihrer freien Entfaltung behindert wird, so die VeranstalterInnen der GSO. Dass diese Politik dann auch noch vom Establishment als „Leipziger Freiheit“ gefeiert wird und im kulturellen Leitfaden Leipzig als Musikstadt für junge Leute beworben wird, war Anlass genug, auf der Straße für eine selbstbestimmte Welt zu tanzen.
Die diesjährige Route, die erstmals durch Reudnitz führte, ist als antifaschistische Aussage zu verstehen, gegen die vermehrten Naziaktivitäten im Leipziger Osten. Die GSO steht außerdem für die Akzeptanz alternativer Wohnkonzepte, wie etwa Wagenplätze; fordert Drogenaufklärungspolitik, anstatt einer Kriminalisierung von DrogennutzerInnen; stellt sich kritisch zur kapitalistischen Globalisierung und plädiert für freie Meinungsbildung durch freie Medien.
Ein Plädoyer zur Errichtung einer aufgeklärten Gesellschaft für bedrohte Daten
Wer im Internet surft, hinterlässt seine ganz persönliche Datenspur. Selbst Hacktivisten und Nerds können nicht kontrollieren, wann sie während dem Surfen welche persönliche Daten preisgeben. Erst recht nicht kontrollieren kann der oder die Betroffene, was mit diesen von ihm/ihr erhobenen Daten geschieht, und ob diese nicht an Dritte weitergegeben werden. Eine unüberschaubare Zahl an Diensten und Plattformen, die durch die Erfassung von auf den ersten ersten Blick weniger privaten Daten komplette Nutzungsprofile, Klick- und Kaufverhalten und Kommunikationsprofile erstellt, arbeitet unermüdlich an dem Projekt transparenter WeltenbürgerInnen und der Abschaffung einer virtuellen Privatsphäre: Preissuchmaschinen und elektronische Bezahlverfahren erlauben Einblicke in das Finanzverhalten des Users, integrierte E-Maildienste ermöglichen die Erfassung des Kommunikationsverhaltens und des sozialen Netzwerkens, Browsertoolbars verfolgen Surf-Sessions, und Desktop-Suchmaschinen könnten sich eines Tages als dankbares Tool für Strafverfolgungsbehörden und Lobbyverbände der Film- und Musikindustrie erweisen.
Technisch möglich ist viel mehr als sich das die meisten von uns vorstellen können. Eine lückenlose, omnipräsente Überwachung von denkenden und handelnden Menschen ist nicht mehr nur das apokalyptische Horrorszenario aus einschlägigen Sci-Fi-Romanen, sondern rein technisch bereits machbar. Doch was können User tun um sich zu schützen? Welche Maßnahmen können schnell getroffen werden, um potentielle Schnüffler auf Irrwege im Datendschungel zu führen?
Datenprostitution im WorldWideWatching-Betrieb
Zunächst ist es nicht damit getan, die Schuld der momentanen Datenschutz-Situation, die stark an ein Orwell‘sches Bedrohungsszenario erinnert, institutionalisierten Daten-Jägern, schmerzfreien Internet-Betreibern und/oder erfahrungsarmen PolitikerInnen in die Schuhe zu schieben. Denn: selbst ist der/die UserIn. Manche nehmen diesen Grundsatz leider ein wenig zu ernst. Der Trend, seine Lebenshistorie inklusive noch so uninteressanter Details im Netz einer weltweiten Öffentlichkeit preiszugeben, die vermutlich nicht halb so stark an den Offenbarungen interessiert ist wie diverse Unternehmen, die aus ihnen Kapital schlagen wollen, äußert sich derzeit in diversen sozialen Netzwerken und Webblogs von Millionen SchülerInnen und StudentInnen. StudiVZ, das größte Online-Portal in Deutschland machte unlängst mit der Einführung der personalisierten Werbung Furore. Nur informierte StudiVZ-User setzten sich mit dieser Neuerung auseinander. Denn kaum ein Button wird schneller und nachlässiger betätigt als der der lästigen Allgemeinen Geschäfts- und Nutzungsbedingungen. Im Rahmen der neuen AGB wollte sich StudiVZ ursprünglich auch die Erlaubnis einholen, den Mitgliedern Werbung per SMS oder Instant Messenger zu schicken. Das Unternehmen kippte den Passus jedoch wegen zahlreicher Beschwerden. Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar hatte das Vorgehen von StudiVZ scharf kritisiert. Danach verhandelten die Betreiber der Plattform mit dem Berliner Datenschutzbeauftragten Alexander Dix über datenschutzfreundlichere Regelungen. Die neue AGB veranlasste immerhin ein Prozent der User dazu, sich von der Plattform zu verabschieden. Dass selbst diese Entscheidung nicht immer in der Macht des Users steht, zeigt die Beschwerde eines ehemaligen Nutzers des sozialen Netzwerks Facebook, dem anglo-amerikanischen Äquivalent von StudiVZ. Demnach hatte der US-Betreiber persönliche Daten auch nach Deaktivierung seiner Mitgliedschaft gespeichert. Der Fall, mit dem sich mittlerweile der britische Datenschutzbeauftragte beschäftigt, zeigt: Es reicht nicht aus, das eigene Profil zu löschen, um bei der virtuellen Gemeinschaft nicht mehr gelistet zu werden. Zwar sind die eingegebenen Informationen für Dritte nicht mehr zugänglich, Facebook bewahrt sie aber weiterhin für den Fall, dass mensch eines Tages doch wieder einen Account dort eröffnen will. Frei nach dem hart-aber-herzlich-Motto des Eagle‘schen Hotel Silicon Valley, äh, California: You can always enter but you can never leave. Schließlich ist mensch ja ein soziales Wesen und wird ggf. Schwierigkeiten haben ein Leben ohne seine 387 Freunde zu führen, und das beklemmende Gefühl bekommen, ein recht isoliertes Dasein zu fristen. Wer seine Spuren bei Facebook dennoch komplett verwischen will, muss sich laut dem Kundendienst der Plattform erneut einloggen und manuell jeglichen Inhalt seines Profils löschen.
„Sag mir was du suchst und ich sag dir wer du bist“
Die virtuelle Selbstbestimmung, die bei Online-Portalen noch zumindest teilweise möglich ist, gehört bei Suchmaschinen bereits den Betreibern. Die Datenerhebungsmöglichkeiten von Suchmaschinen sind schier unbegrenzt und in der Lage, Nutzerprofile in einer Komplexität zu erstellen, dass die Staatssicherheit der DDR nicht nur vor Neid erblassen würde, sondern auch geradezu lächerlich dagegen erscheint.
In den so genannten Logfiles der Suchmaschinen werden bei jeder Suche und bei jedem Klick Datum, Uhrzeit, besuchte Website, Suchwörter, aber auch spezielle Accountinformationen wie Browsertyp, Version, Betriebssystem, Sprache und IP-Adresse sichergestellt. Vor allem bei längerfristiger Nutzungsdauer kristallisiert sich hier das Abbild eines gläsernen Bürgers heraus. Privatsphäre und Anonymität im Internet sind die Wunschvorstellungen diverser Datenschützer, real aber nicht gegeben. Ein Beispiel: Die New York Times, die diesem Thema schon seit Jahren ganze Themen-Reihen widmet, machte den Nutzer hinter der User-ID 4417749 anhand der gestellten Suchanfragen ausfindig. Es handelte sich dabei um die 62-jährige Thelma Arnold aus Lilburn im Bundesstaat Georgia. Darunter befanden sich Suchanfragen wie „numb fingers“, „dog that urinates on everything“, „60 single men“, „landscapers in Lilburn, Ga“ und Suchen nach Personen mit dem Nachnamen „Arnold“. Als Ms. Arnold von der Veröffentlichung ihrer Suchergebnisse erfuhr, reagierte sie empört, sagte: „We all have a right to privacy“ und verkündete, auf die Dienstleistungen ihres Anbieters AOL künftig zu verzichten. Die NYT wählte bei ihrem Test bewusst eine Person mit harmlosem Suchprofil. Denn die Suchanfragen offenbaren in der Regel intime Details wie persönliche Sorgen, gesundheitliche Probleme, sexuelle Vorlieben und politische Ansichten, und die sind nicht immer so lustig wie die von Ms. Arnold. Manche Netzrecherchen offenbaren nicht nur Lebensgeschichten, sondern auch menschliche Abgründe, wie die Häufung von Suchanfragen wie „child porn“ und „how to kill your wife“ ergab. Ergebnisse wie diese rufen Kriminalfahnder auf den Plan, denn Vorhersagen von Straftaten anhand von Suchmaschinenanalysen lassen eine Diskussion über die gesetzliche Transparenz von Suchmaschinenbetreibern in unmittelbare Nähe rücken. Scotland Yard hat seine Pläne diesbezüglich bereits vorgestellt. Danach sollen britische Polizeipsychologen eine Datenbank mit möglichen Tätern anhand ihrer psychologischen Profile erstellen, und zwar bevor sie die Verbrechern begehen. Um diese Präventionsmaßnahme umsetzen zu können, wird eine Klassifizierung der Bürger nach Bedrohungspotentialen angestrebt. Impliziert wird hier stillschweigend die Profil-Bildung und Bespitzelung von Millionen (noch) unschuldigen BürgerInnen.
Mit dem exzessiv betriebenen Profiling können aber nicht nur User ausspioniert werden, sondern auch eine nicht unerhebliche Menge Kapital herausgeschlagen werden. Wer wie Google seine Nutzerdaten inklusive Suchanfragen 18 Monate lang speichert und gleichzeitig 99% seines Einkommens mit Werbung erzielt, kann seinen Profit erheblich steigern, wenn er seine Werbung auf bestimmte Zielgruppen abstimmen oder noch besser die User mit personalisierter Werbung bombardieren kann. Ein kommerzieller und politischer Wert detaillierter Profile ist offensichtlich.
Wir stehen nicht nur einem neuen Werbe-Zeitalter bevor, wo Massenwerbung Schnee von gestern sein wird, sondern werden auch immer mehr mit der Tatsache konfrontiert, dass Wissen nicht, wie in der Utopie diverser Netzideologen, ein neutral zugängliches Menschenrecht ist, das von einem kauzigen, nur an Ordnungsverfahren interessierten Bibliothekar gehütet wird. Vielmehr ist der Zugang von Wissen mehr denn je an bestimmte Parameter geknüpft. Soll heißen, wer wissen will muss preisgeben. Wer trotzdem nicht offline gehen möchte, sollte seine Suchmaschinen möglichst oft wechseln, um zu große Datenkonzentrationen in einer Hand zu verhindern. Dazu muss der Browser so eingestellt werden, dass er beispielsweise von Google, die eine besonders lange Cookie-Laufzeit haben keine Cookies annimmt. Eine andere Alternative ist es, diese Datenkrümel regelmäßig manuell zu löschen.
Der Traum der Datenbohrinsel
Bemühungen, den Datenschutz gesetzlich zu verankern, gibt es nicht erst seit der Erfindung des Internets. Heutzutage ist die Vielzahl der existierenden Datenschutzgesetze für Laien unüberschaubar. Grundsätzlich orientieren sich diese Beschlüsse aber an dem Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) von 1977. Der 1983 im Volkszählungsurteil geforderte „Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten“, der festlegt, dass die Sammlung von nicht anonymisierten Daten zu bestimmten und unbestimmten Zwecken nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, scheint für Mediennutzer so utopisch wie für diverse Politiker irrelevant zu sein. Sonst wäre wohl kaum zu erklären, dass Bundesjustizministerin B. Zypries die sechsmonatige Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikations-Verbindungsdaten auf den Weg bringen konnte. In diesem Zusammenhang wundert es auch nicht, wenn die Justizministerin den Vorstoß der Grünen, den Datenschutz im Grundgesetz zu verankern, als Symbolpolitik bezeichnet.
Die Grundrechte, also die hoch gepriesenen Grundfeste unserer Demokratie werden durch eine Politik der Ignoranz von einem solchen Ausmaß obsolet. Statt zu regulieren wird der Datenhunger von Internet-Unternehmen weitgehend ausgeblendet, der aktuelle deutsche Datenschutz kann hier strukturell wenig bewegen. Hier bedarf es einer weitreichenden Reform, bei der die betroffenen Nutzer substantielle Rechte sowie Schadensersatzansprüche erhalten. Der Chaos Computer Club hat dazu eine Liste von Forderungen aufgestellt, die mit in die derzeitige Diskussion um die Modernisierung des Datenschutzes einfließt.
Vorschläge, wie mensch mit der aktuellen Datenschutz-Situation umgehen könnte, purzeln derweil von allen Seiten. Welche bizarren Vorschläge dabei gut gemeinten Absichten entspringen können, zeigt die Diskussion um die Konsequenzen aus der Telekom-Affäre für die Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikations- und Internet-Verbindungsdaten.
Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, Klaus Jansen, beispielsweise fordert im Sinne Schäubles, eine zentrale Speicherung der Verbindungsdaten. Sämtliche Verbindungsdaten sollten seiner Meinung nach in einem Sicherheits-Center unter Aufsicht von Datenschützern hinterlegt werden. „Die Telekom-Affäre ist eine Riesenchance für den Datenschutz, die wir nutzen müssen. Es ist doch offensichtlich, dass sensible Kundendaten bei privaten Unternehmen mehr als schlecht aufgehoben sind“, so Jansen. Auf welche eingeschränkte Form von Datenschutz er damit anspielt, wird spätestens deutlich wenn der Kriminalbeamte ausführt, wer in letzter Instanz darauf Zugriff haben soll. Nämlich sowohl Unternehmen, die die Daten zu Abrechnungszwecken abrufen können, als auch der Staat, der unter strenger Kontrolle zur Strafverfolgung eine Zugriffsberechtigung erhalten soll.
Die Pläne von Bundesinnenminister Schäuble zum Aufbau einer Bundesabhörzentrale, die nicht zuletzt auch staatliche Lauschangriffe koordiniert, gehen dabei deutlich weiter und sollen mittelfristig zu einer Art Technikdienstleister nach Vorbild der US-amerikanischen National Security Agency (NSA) oder des britischen Government Communications Headquarters (GCHQ) ausgebaut werden. Bei beiden Einrichtungen handelt es sich um gestandene Geheimdienste, die sich u.a. dem Knacken verschlüsselter Kommunikation widmen. Die NSA steht dabei seit Längerem als Mittelpunkt eines umfangreichen Beschnüffelungsprogramms der US-Regierung im Zentrum der Kritik. Nichtsdestotrotz hat die SPD offenbar keine Bedenken, Schäubles Pläne zum Aufbau einer Bundesabhörzentrale mitzutragen. Dieter Wiefelspütz, innenpolitischer Sprecher der SPD, sagte unlängst, er halte ein gemeinsames Abhör-Kompetenzzentrum für dringend erforderlich, weil Polizei wie Geheimdienste „technisch endlich auf die Höhe der Zeit kommen“ müssten. Das Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten müsse in einem solchen Zentrum „selbstverständlich“ eingehalten werden, obwohl er zugab, die Schäuble`schen Planungsskizzen noch nicht zu kennen. Die sieht eine explizite Trennung zunächst nicht vor. Denn Schäuble will auch die Fernmeldeaufklärung des Bundesnachrichtendienstes (BND) aus dem deutschen Auslandsgeheimdienst herauslösen und in die neue Abhörbehörde integrieren, die zunächst beim Bundesverwaltungsamt in Köln angesiedelt werden soll. Es gehe ihm darum „inländische Telekommunikationsüberwachung mit der internationalen Telekommunikationsüberwachung“ zu verbinden. Lokal schalten, global walten heißt die Devise und die gilt nicht zuletzt auch für die Onlinedurchsuchung.
Neues von der bayrischen Datenautobahn-Polizei
Ab 1. August diesen Jahres soll die Polizei in Bayern heimliche Online-Durchsuchungen zur Terrorabwehr sowie zur Verhinderung schwerwiegender Straftaten durchführen können und dafür auch heimlich in die Wohnungen Verdächtiger eindringen dürfen. Diese heftig umstrittene Änderung des Polizeiaufgabengesetzes beschloss kürzlich mehrheitlich der Innenausschuss des bayerischen Landtags. Im Rahmen einer Online-Razzia sollen die Sicherheitsbehörden auch Daten etwa auf Festplatten löschen oder verändern dürfen, wenn Gefahr für höchste Rechtsgüter besteht. Als Beispiele werden detaillierte Beschreibungen von Anschlagszielen oder Bombenbau-Anleitungen genannt. Bei Gefahr in Verzug soll generell für verdeckte Online-Durchsuchungen und „notwendige Begleitmaßnahmen“ wie das Eindringen in Wohnungen eine richterliche Anordnung nicht sofort erforderlich sein. Beide Maßnahmen, also Online-Durchsuchung und die Durchsuchung privater Räumlichkeiten, werden von Schäuble und den Vertretern des Bundeskriminalamtes gerne miteinander verglichen. Ignoriert wird hier aber der grundlegende Unterschied, dass Wohnungsdurchsuchungen offene Maßnahmen sind, während Online-Durchsuchungen verdeckte Maßnahmen bleiben. Neben der Online-Durchsuchung erlaubt das neue BKA-Gesetz dem Bundeskriminalamt auch den Zugriff auf die von den Providern laut einem Bundesgesetz verdachtslos sechs Monate auf Vorrat zu speichernden Verbindungs- und Standort-Daten, wenn es z.B. um die Abwehr von Terroranschlägen geht. Dies war bisher Aufgabe der Landespolizeien. Damit werden dem BKA, das bisher nur eine koordinierende Funktion hatte, exekutive Vollmachten übertragen – ein weiterer Schritt fort von einer föderal strukturierten hin zu einer zentral geleiteten Polizei. Auch das Trennungsgebot wird aufgeweicht, denn das BKA ist zwar eine Polizeibehörde, war aber faktisch stets mit geheimdienstlichen Aufgaben betraut.
Tipp: Wer hier die fragwürdigen Aktivitäten des Bundestrojaners auf seinem Computer fürchtet, dem sei empfohlen auf Anonymisierungsdienste (siehe hier) auszuweichen und sich genau zu überlegen, wem mensch seine Daten für welchen Zweck gibt.
Terrorgefahr Versicherungsbetrug
Maßnahmen wie die Online-Durchsuchung, kleiner und großer Lauschangriff, Kamera-Überwachung im öffentlichen Raum, Vorratsdatenspeicherung etc. zielen auf die präventive Abwendung vor Gefahr speziell durch terroristische Einzeltäter und Vereinigungen hin. Doch wer oder was ist ein Terrorist?
Für die USA, postwendend seit 9/11, mit Sicherheit jeder Muslim der einmal Flugunterricht genommen hat. Potentielle Terroristen legitimieren den Staat, sie zu überwachen und zu profilen. Die Anwendung einer technisch gesehen immer lückenloseren Überwachung hängt allein davon ab, wer und was einen potentiellen Feind definiert. Feinde tragen nicht immer Sprengstoffgürtel, wie sich an Versicherungen deutlich machen lässt: Versicherungsbetrüger, Zuviel-Esser, Raucher und Autofahrer werden als potentielles finanzielles Risiko eingestuft. Daten über das Fahr-, Ess- und Freizeitverhalten sind für Versicherungen daher in der Regel von großem Interesse, um Kunden entsprechend ihren Gewohnheiten einstufen und ggf. ablehnen zu können. Das neue Pay-as-you-drive-System der Firma Planung Transport Verkehr AG (PTV) beispielsweise zeichnet automatisch ohne Zeitverzögerung die Fahrroute und das Fahrverhalten des Fahrers auf und vermittelt diese Daten an die Versicherung. Damit sollen, nach offizieller Verlautbarung der Betreiberfirma, umsichtige Fahrer niedrigere Versicherungsprämien zahlen als andere.
Die Mär von der Freiheit schaffenden Sicherheit
Besteht in Anbetracht dieser düsteren Zustände überhaupt noch Hoffnung? Die Antwort muss lauten: Ja, definitiv. Nicht nur weil die Hoffnung zuletzt stirbt und am besten nie, sondern weil wir alle, solange wir uns nicht als isolierte Androide oder einsame Wölfe, sondern als Teil einer lokalen/regionalen/globalen Gesellschaft betrachten, eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung tragen. Das bedeutet, dass es auch beim Thema Datenschutz nicht nur um persönliche Ambitionen gehen kann und darum, seine eigene Privatsphäre vor den Tentakeln eines Kontrollstaates zu schützen.
In einer Gesellschaft, in der die gesellschaftliche Konformität des Handelns überwacht wird, kann die Fähigkeit zum eigenen ethischen Handeln schnell verkümmern. Ein psychologisches Phänomen, das auch oft bei verwöhnten und überbemutterten Kindern auftaucht: Wenn jemand anderes darüber urteilt, welche Werte gut und schlecht sind, ohne dabei die eigenen Entscheidungskapazitäten des Kindes zu fördern, wird dieses später Schwierigkeiten haben, eigenständig zu entscheiden und Werturteile zu fällen. Wenn Handlungen gegenüber Werten in Form von Normen vorgegeben sind und alternative Wertehandlungen als störend, unsicher und allgemein verwerflich gelten, wird diese Form von Denken gesellschaftlich tendenziell weniger bis gar nicht mehr gepflegt werden. Der Zwang zur Konformität kann sich nicht zuletzt auch auf die Identitätsbildung einzelner Menschen auswirken. Auch hier haben wir es mit einer psychologischen Erscheinung zu tun. Bei Dauerüberwachung und sozialer Auslese durch Profiling kann durchaus der Eindruck erweckt werden, dass Konformität, der Gleichklang mit dem Rest der Bevölkerung das A und O einer funktionierenden Gesellschaft ist, und dass im Umkehrschluss Grenzüberschreitungen das Risiko in sich bergen nicht nur die eigene Sicherheit, sondern auch die der Anderen und damit die Freiheit aller aufs Spiel zu setzen. Wenn geistige und faktische Non-Konformität aber zum Risikofaktor wird, besteht die Gefahr, dass soziale Normen zu unumstößlichen gesellschaftlichen Parametern mutieren, die sich nur schwer ändern lassen und keinen Freiraum mehr für alternative Nischen bieten. Eine Überwachungsgesellschaft produziert ein starres Gesellschaftssystem, das Änderungen in jedwede Richtung zu verhindern sucht.
Am Ende des gedachten Kontinuums befindet sich ein totalitärer Überwachungsstaat, der jeden seiner Bürger als potentiell Gefahr bringend einstuft und sich von seiner Bevölkerung isoliert.
Natürlich lässt sich hier einwenden, dass zwischen totalitären Dystopien und dem gegenwärtigen demokratischen Rechtsstaat unterschieden werden muss. Nur gibt es eben auf technisch-infrastruktureller Ebene keinen Unterschied mehr. Was heute auf der Basis unserer demokratischen Grundrechte gebaut und entworfen wird, lässt sich morgen bereits totalitär nutzen. Was würde beispielsweise passieren, wenn Machthaber potentielle Feinde innerhalb von Sekunden anhand von Profildaten verdächtigen können, die vermutlichen BedroherInnen durch ihren Handy-Peilsender lokalisiert werden können und einer blitzschnellen Verhaftung nicht mehr viel im Wege steht? Sich auszumalen wie ein diktatorischer Machthaber wie Hitler damit umgegangen wäre, wenn er Informationen über das Internetverhalten einzelner Personen gehabt hätte, darüber welche Produkte einzelne Bürger kaufen und was sie in ihrer Freizeit unternehmen, erscheint eine für die Vergegenwärtigung der derzeitigen Lage durchaus legitime Überlegung. Der Chaos Computer Club kommt aufgrund dieser Überlegung zu dem folgerichtigen Schluss: Jeder demokratische Rechtsstaat, der die Gefahr von totalitären Strukturen als historisches Faktum anerkennt, muss einer Überwachungsstruktur entgegen treten. Das müsste zumindest theoretisch common sense sein. Doch die klassische Kosten-Nutzung-Erwägung der breiten Masse und ihr aktueller Status Quo lautet: Ein bisschen weniger Privatheit für mehr Sicherheit. Doch ein bisschen weniger Privatheit ist aus technischer Warte identisch mit keiner Privatheit. Freiheit und Überwachung sind daher keine, wie von sicherheitsverliebten PolitikerInnen gerne postuliert, sich bedingenden Zustände, sondern diametrale Gegensätze. Denn Überwachung gewährleistet nicht Sicherheit, sondern schürt Angst vor Freiheit.
30 Jahre alt ist der deutsche Datenschutz dieses Jahr geworden – in Schleswig-Holstein und auf Bundesebene. Der Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz (ULD) Schleswig-Holstein und Landesbeauftragte für den Datenschutz Thilo Weichert nutzte das Jubiläum für ein vorläufiges Fazit. Dieses fiel so aus, wie man es hätte erwarten können: In Schleswig-Holstein läuft es super, auf Bundesebene nicht.
So hielte, „obwohl das Bundesverfassungsgericht (…) festgestellt hat, dass das heimliche Ausspionieren von privaten PCs nur unter engen Voraussetzungen zulässig ist“, die Bundesregierung an ihren Plänen fest. Ebenso habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum KFZ-Kennzeichen-Scanning „unmissverständlich seine langjährige Rechtsprechung bestätigt“ – die anlasslose automatische Erfassung von Autokennzeichen sei verfassungswidrig. Auch die Vorratsdatenspeicherung sei vom Verfassungsgericht teilweise gestoppt worden. Dennoch hielte „die Bundesregierung trotzig und ohne Einsicht zu zeigen“ an der Umsetzung des Gesetzes fest. Und: „Sie setzt noch eins drauf, indem sie die Umsetzung eines EU-Rahmenbeschlusses weitertreibt, wonach die Passagierdaten von sämtlichen Flügen in die und aus der EU 13 Jahre lang für polizeiliche Zwecke gespeichert werden sollen.“ Dadurch würde das Vertrauen der Bevölkerung in die Sicherheitsbehörden gefährdet.
Nun ist ein gewisses Misstrauen den Behörden gegenüber wohl ohnehin nicht verkehrt. Es sei denn, man lebt in Schleswig-Holstein. Dort steht nämlich (fast) alles zum Besten, wenn man Weichert glauben will. Die Landesregierung habe zum Beispiel „signalisiert, dass sie die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zum KFZ-Kennzeichen-Scanning respektiert.“ Auch trage sie „die Regelungen des modernen Landesdatenschutzgesetzes Schleswig-Holstein (…) und deren Umsetzung voll und ganz mit“ und unterstütze das ULD „bei seinen Bestrebungen zur Weiterentwicklung des präventiven Datenschutzes“.
Dass es sich Herr Weichert mit seinen Arbeitgebern nicht verderben will, ist verständlich, ebenso wie sein Bedürfnis, die Erfolge der eigenen Arbeit herauszustellen. Dennoch zeigt seine Rede exemplarisch die Klemme, in der der Datenschutz steckt.
Legal, illegal… egal
Denn der Maßstab, an der sich die Arbeit der Datenschützer ausrichtet, ist nun mal das Gesetz. Kritik an neuen Überwachungsmaßnahmen ist so nur möglich, wenn diese gegen bestehendes Recht verstoßen. Das kommt oft genug vor: Neue Überwachungsmaßnahmen einzuführen, für die erst noch die rechtlichen Grundlagen geschaffen werden müssen, ist eine gängige Praxis der Behörden. So lief es etwa bei den Online-Durchsuchungen: Die wurden schon seit Ende 2005, also noch in der Amtszeit des früheren Innenministers Otto Schily praktiziert (und durch eine Dienstvorschrift des Bundesinnenministeriums ausdrücklich empfohlen). In einem Urteil vom April 2007 stellte der Bundesgerichtshof schließlich fest, dass diese Praxis rechtswidrig sei. Die Folgen sind bekannt: Derzeit bemüht sich Schilys Amtsnachfolger Schäuble eifrig (und mit Erfolg) um die Schaffung rechtlicher Grundlagen für die Online-Durchsuchungen.
In so einem Fall – wenn nicht etwa die Überwachungsmaßnahmen dem geltenden Recht angepasst werden, sondern das Recht den Überwachungsmaßnahmen – läuft der datenschützerische Protest ins Leere. Mehr noch: Die Datenschützer selbst tragen gezwungenermaßen zur Legalisierung neuer Überwachungsmaßnahmen bei, wenn sie illegale Praktiken der Behörden kritisieren.
Die ständige Berufung auf das Bundesverfassungsgericht als letzte Bastion der Rechtsstaatlichkeit ist ein Symptom für diese Hilflosigkeit. Auch wenn Datenschützer und Bürgerrechtler dessen Urteile zur automatischen Erfassung von KFZ-Kennzeichen und zur Vorratsdatenspeicherung als grundlegende Erfolge feiern, zeigt ein nüchterner Blick, dass dem nicht so ist. Das Gericht ist weit entfernt davon, diese Überwachungsmaßnahmen zu stoppen – es fordert nur klare Richtlinien für deren Anwendung. Eine generelle, verdachtsunabhängige Bespitzelung unschuldiger Bürger soll ausgeschlossen werden. Dass diese Urteile größere Konsequenzen für die Arbeit der Behörden haben werden, kann man bezweifeln. Denn ob mit klaren Vorgaben oder ohne werden sich die Beamten nur in Ausnahmefällen dafür interessieren, was der „unbescholtene Bürger“ so treibt – die Frage ist nur, wo die Grenze zwischen „unbescholten“ und „schuldig“ verläuft und wer diese festlegt.
Die üblichen Verdächtigen
Auch das ist ein Problem des institutionellen Datenschutzes: Zur Debatte stehen für diesen nur die Mittel, nicht die Zwecke staatlichen Handelns. Dass Kriminalität bekämpft werden muss, gilt als unhinterfragbare Tatsache – lediglich über die Zweck- und Verhältnismäßigkeit der dafür zum Einsatz kommenden Mittel kann diskutiert werden. Nur ist „Kriminalität“ keine feststehende Größe, sondern Ergebnis einer von vielfältigen Interessen motivierten Einteilung menschlichen Handelns in unerwünschte und erwünschte, „illegale“ und „legale“ Handlungen. Wenn mensch nicht nur in nostalgischer Manier den Gesetzen von heute die Gesetze von gestern entgegenstellen will, kommt man nicht um die Frage herum, welche Ziele hinter dieser vom Staat vorgenommenen Einteilung stehen.
Dies können die Datenschützer nicht leisten, sie sind durch ihr Amt an den Rechtsstaat gebunden und können diesen Rahmen nicht überschreiten. Problematischer ist noch, dass sie diesen Rahmen auch nicht überschreiten wollen. So ist es zumindest zu interpretieren, wenn Weichert beklagt, dass das „Vertrauen der Bevölkerung in die Sicherheitsbehörden“ durch immer mehr Überwachung gefährdet würde. Hier müsste eine außerparlamentarische Bewegung in die Bresche springen – einen „Beauftragten für Gesellschaftskritik“ wird es in absehbarer Zeit aus offensichtlichen Gründen nicht geben.
Trotz dieser Beschränktheit des institutionellen Datenschutzes sollen aber auch die positiven Aspekte nicht verschwiegen werden. Immerhin kann der Datenschutz dazu beitragen, den Forderungen nach immer neuen Überwachungsmaßnahmen die diskursive Oberherrschaft streitig zu machen. Zudem sind zwar Polizei und Geheimdienste formal dem Recht unterworfen, Gesetzesverstöße sind dabei aber schon einkalkuliert. Seien es nicht genehmigte Abhörmaßnahmen oder unbegründete Polizeiübergriffe bei Demonstrationen – der Rechtsbruch, das willkürliche Außerkraftsetzen der Regelungen, an die die ausführenden Organe des Rechtsstaates angeblich gebunden sind, ist die Voraussetzung dafür, dass diese ihre Funktion wirklich ausüben können. Eine Kontrollinstanz, die vehement auf die Einhaltung der Gesetze pocht, kann solche „Auswüchse“ vielleicht nicht verhindern. Aber sie kann den Verantwortlichen immerhin gelegentlich auf die Nerven gehen. In Anbetracht der derzeitigen Kräfteverhältnisse kann man dafür schon dankbar sein.
Popmusik wird seit jeher mit dem Aufbegehren in Verbindung gebracht, wenn schon nicht gegen die Gesellschaft als solche, dann immerhin gegen die Elterngeneration und ihre Regeln. Das fing schon bei Elvis an, der für manche konservative Zeitgenossen seine Hüften doch etwas zu aufreizend kreisen ließ. Diese hatten in den 60er Jahren noch weit mehr Grund zum Kopfschütteln, denn gemessen an dem, was dieses Jahrzehnt an gewagten Frisuren, Experimenten mit freier Liebe und exzessivem Drogenkonsum mit sich brachte, erschien Elvis als reinster Musterknabe.
Man mag von dieser Verbindung von Pop und Rebellion halten, was man will – Fakt ist, dass eben sie einen wesentlichen Teil des Reizes von Popmusik ausmacht. Heute scheint diese Beziehung von Rebellion und Pop fraglich geworden zu sein – Pop scheint sich ins System integriert zu haben. In den späten sechziger Jahren sah das noch anders aus. Da schien die Verbindung von Rock´n´Roll und Revolution so naheliegend, dass etwa Jerry Rubin, ein Sprecher der US-amerikanischen Polit-Hippies (der sogenannten Yippies) sagen konnte: „Die Neue Linke, ein auserwähltes, angekotztes Kind, entsprang dem kreisenden Becken von Elvis“ (1). 1968 schienen symbolisches und ganz reales Aufbegehren, Rock´n´Roll und politischer Protest untrennbar verbunden.
Der Mythos 1968
1968 gilt als gesellschaftliche Aufbruchszeit, als „Kulturrevolution“ oder „nachträgliche Entnazifizierung“ der deutschen Gesellschaft – als Modernisierungsschub also, der den Weg frei machte für unsere heutige „rundum demokratische“ Gesellschaft. Dieses Bild wird – gerade heute zum 40. Jubiläum – von Fernsehen und Presse immer wieder gern bedient. Dabei wird freilich säuberlich getrennt zwischen dem „guten“ und dem „bösen“ ´68: Neue Lebensformen und Frisuren, das Aufbegehren gegen starre Strukturen und den Krieg in Vietnam werden bejubelt, revolutionäre Bestrebungen, Kommunismus und RAF verteufelt.
Nicht, dass es an der RAF viel zu glorifizieren gäbe. Aber dabei wird auch alles andere entsorgt, was über den Status quo hinausweisen könnte. Ehemalige Akteure wie Rainer Langhans, der sich vom Aushängeschild der Kommune 1 zum hirnweichen Esoteriker zurückentwickelt hat, kommen da zu neuen Ehren. Die dahinter stehenden Bedürfnisse sind offensichtlich, schließlich entstammen auch viele Journalisten dieser Generation. So kann man sich wechselseitig auf die Schultern klopfen und sich versichern, dass in der von einem selbst so erfolgreich modernisierten Gesellschaft jede weitere grundsätzliche Opposition überflüssig sei. Indem man „68“ auf flower power, ein bisschen Sex (Uschi Obermaier!), Drugs und Rock´n´Roll reduziert (plus ein paar unverbesserliche Fanatiker, die sich vortrefflich in der Rolle der „bad guys“ machen), verwandelt man es in ein leicht verdauliches Produkt, das nirgendwo für Magengrimmen sorgt.
Dabei ist nicht alles falsch, was da geschrieben wird. Die „Modernisierungsthese“ hat es längst zu akademischen Ehren gebracht. „68“ ist demnach im Zusammenhang mit der sozioökonomischen Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft zu sehen, als eine Bewegung, die nur unter den Bedingungen einer voll entwickelten fordistischen Produktionsweise entstehen konnte. Jedenfalls gewann der Konsumsektor in den westlichen Industriestaaten nach 1945 rapide an Bedeutung. Die zunehmende Rationalisierung und Automatisierung der Arbeit führte zu enormen Produktionszuwächsen. Auf der anderen Seite hatte der Krieg mit seinen Millionen Toten und dem anschließenden Wiederaufbau für weite Teile der Bevölkerung einbeziehendes Wirtschaftswachstum mit geringer Arbeitslosenzahl gesorgt. Hinzu kam der „Kalte Krieg“, der es notwendig machte, die „Arbeiterklasse“ mit „sozialpartnerschaftlichen“ Mitteln ruhig zu stellen. Ein starker Mittelstand bildete sich heraus, traditionelle Klassenverhältnisse wurden aufgeweicht.
Dies äußerte sich in einer enormen Steigerung des Einkommens. Der Freizeit- und Konsumsektor gewann gegenüber der Produktion an Bedeutung. Dies führte zu Konflikten zwischen der jüngeren Generation und den in ihren Werten noch stark der Sphäre der Produktion verhafteten Eltern. Dazu trug auch die rasch wachsende Massenkultur und die aufkommenden Massenmedien bei.
Macht kaputt, was euch kaputt macht
Die wachsende Bedeutung der Massenmedien hatte Adorno schon in den 40er Jahren erkannt. Die positive Sicht der Konsumsphäre als „Reich der Freiheit“ teilte er jedoch keineswegs. Für ihn war die von der „Kulturindustrie“ verwaltete Freizeit nur der Bereich der Reproduktion als notwendiges Gegenstück der Produktion: „Mit der Flucht aus dem Alltag, welche die gesamte Kulturindustrie (…) verspricht, ist es bestellt wie mit der Entführung der Tochter im amerikanischen Witzblatt: der Vater selbst hält im Dunkeln die Leiter. Kulturindustrie bietet als Paradies denselben Alltag wieder an“ (2).
Die französischen Situationisten sahen das ähnlich, widersprachen aber Adornos pessimistischer Einschätzung der Perspektiven. So sahen sie schon 1957 einen „Kampf um die Freizeit“ sich vollziehen, „dessen Bedeutung für den Klassenkampf nicht genügend analysiert wurde. Heute gelingt es der herrschenden Klasse, die Freizeit zu nutzen, die das revolutionäre Proletariat ihr abgerungen hat, indem sie einen breiten industriellen Freizeitsektor entwickelt, der ein unübertreffliches Werkzeug zur Verdummung des Proletariats durch Subprodukte der mystifizierenden Ideologie und des bürgerlichen Geschmacks darstellt“ (3).
Diesen lückenlosen Zusammenhang des „Spektakels“ galt es zu durchbrechen, passive Konsumenten in aktive Gestalter ihres eigenen Lebens umzuwandeln. Im Gegensatz zur vulgärmarxistischen „Verelendungstheorie“ (die Leute machen Revolution, wenn es ihnen schlecht genug geht), sahen die Situationisten gerade im Anwachsen von Konsum und Freizeit die Möglichkeit zur Entstehung potentiell systemsprengender Bedürfnisse. Diese galt es bewusst zu machen und zu stärken.
Die amerikanischen Yippies hauten zehn Jahre später in die gleiche Kerbe: „Sie [die intellektuellen Radikalen] erklären uns, dass nach den Gesetzen des Marxismus Revolution nur aus der wirtschaftlichen Ausbeutung erwächst. Eine Revolution wird es nur dann geben, wenn es zu einer neuen wirtschaftlichen Depression kommt. Für uns – eine revolutionäre Bewegung, die nicht aus der Armut, sondern aus dem Überfluß entstand – bieten ihre Theorien keine Erklärung. (…) Die Yippies betrachten die weiße Mittelstandsjugend als eine revolutionäre Klasse. (…) Der Kapitalismus wird untergehen, weil er seine eigenen Kinder nicht zufrieden stellen kann“ (4). In der situationistischen Theorie einer „Ökonomie der Bedürfnisse“ könnte der Schlüssel zum Verständnis der Ereignisse liegen.
Gegenkultur
Fakt ist, dass ab Mitte der 60er ein deutliches Anwachsen dissidenter Verhaltensweisen in der Jugend der westlichen Staaten zu verzeichnen war. Popkultur war dabei das Mittel der Wahl, um die Frontstellung zur Elterngeneration deutlich zu machen. Eine „Gegenkultur“ entstand, zunächst in den USA, bald auch in Europa, die sich u.a. mit Undergroundzeitschriften, Comics, Land- und Stadtkommunen usw. eigene Infrastrukturen und Ausdrucksformen schuf. Der Rock´n´Roll spielte dabei eine wichtige Rolle. Diese „Gegenkultur“ verstand sich nicht unbedingt politisch. Es ist auch relativ gleichgültig, ob Musiker wie die Rolling Stones selbst irgendwelche kulturrevolutionären Absichten hegten oder deren jugendliche Hörer z.B. mit dem Tragen langer Haare ein politisches Statement machen wollten – die „Gegenkultur“ definierte sich eher durch einen bestimmten Lebensstil als durch eine Ideologie.
Von der Elterngeneration wurde sie gerade deshalb als Angriff auf ihre hergebrachten Werte verstanden, z.B. auf die gängige Geschlechterordnung. Die Frisur wurde zum Kampfplatz, als hätte man damit den archimedischen Punkt der Gesellschaft getroffen. Die Palette der Reaktionen reichte von Beschimpfungen über Entlassungen am Arbeitsplatz bis zur „pädagogischen“ Körperverletzung vom familiären Patriarchen – und mitunter noch ein Stück weiter. Symptomatisch ist dafür ein Interview, welches geführt wurde, nachdem im Mai 1971 auf dem Campus der Kent State University (Ohio) vier DemonstrantInnen von der Nationalgarde getötet worden waren:
„Mutter: Jeder, der sich in den Straßen einer Stadt wie Kent mit langen Haaren, dreckigen Klamotten oder barfuß blicken lässt, verdient es, erschossen zu werden.
Frage: Ist langes Haar ein Grund, erschossen zu werden?
Mutter: Ja. Wir müssen diese Nation reinigen, und wir werden mit den Langhaarigen anfangen.
Frage: Würden Sie es gutheißen, dass einer Ihrer Söhne erschossen wird, nur weil er barfuß herumläuft?
Mutter: Ja“ (5).
Die Weigerung, sich den gängigen Verhaltensmustern anzupassen, die Haare zu schneiden, einer geregelten Arbeit nachzugehen, usw. wurde als Angriff auf die Grundfesten der Gesellschaft angesehen, eine Bedrohung, der es mit allen Mitteln zu begegnen galt. Da das „Establishment“ selbst harmloseste Regelverstöße mit Repression beantwortete, war es nicht verwunderlich, dass die „Gegenkultur“ sich zunehmend politisierte. Wenn simpler Hedonismus diese Gesellschaft zu solchen Reaktionen veranlasste, musste diese grundlegend verändert werden. Das Glücksversprechen der Konsumgesellschaft sollte real eingelöst werden.
Auch Drogen wie LSD spielten dabei eine wichtige Rolle, eine Entwicklung, zu der der ehemalige Harvard-Professor Timothy Leary einen entscheidenden Beitrag leistete. Das „psychedelische Programm“ könnte man als „Rousseau´sche Revolte“ bezeichnen: Gesellschaft und Erziehung entfremden demnach den Menschen von seinem wahren Selbst, was wiederum zu destruktiven Verhaltensweisen führt. Drogen wie LSD können dazu dienen, diese Konditionierungen rückgängig zu machen und so einen grundlegenden gesellschaftlichen Wandel hervorrufen. Auf lange Sicht führte dieser Ansatz zu einer unpolitischen Neo-Mystik, die das individuelle Bewusstsein als Dreh- und Angelpunkt ausmachte und folglich glaubte, sich mit der Veränderung materieller Strukturen gar nicht erst aufhalten zu müssen.
Eine gewisse Zeit gingen der Konsum psychedelischer Drogen und politische Radikalität aber gut zusammen. Auch in der Musik schlug sich dies nieder, Bands wie Pink Floyd wurden mit ekstatischen Endlos-Soli und neuartigen Soundeffekten zu Aushängeschildern des Psychedelic Rock.
Gegen die Arbeit
Drogenkonsum bedeutete auch eine Verweigerung gegenüber den Leistungsforderungen der Gesellschaft. Dies verband sich gut mit einem Programm der allgemeinen Arbeitsverweigerung, wie es die Antiautoritären praktizierten. Eben dies wurde ihnen von sozialdemokratischen und marxistisch-leninistischen Traditionslinken immer wieder vorgeworfen. Die amerikanischen Yippies hatten für diese Angriffe nur Spott übrig: „Die Yippies werden die Linke erst dann ernstnehmen, wenn sie anfängt, Comic-Hefte zu drucken. Wir müssen Politik so einfach machen wie Rock´n´Roll-Texte. (…) Die Linke macht den Kommunismus zu einer Religion (…) Ein christlicher Trip von vorn bis hinten. Lernen und Opfer bringen für die Revolution. Das Leiden wird dich und die Arbeiterklasse befreien“ (6).
Wahrscheinlich lag das Scheitern der Revolte auch darin begründet, dass die Arbeiterklasse gar nicht befreit werden wollte. Außer in Frankreich, wo sich die Arbeiter_innen mit wilden Streiks und Fabrikbesetzungen dem Protest der Student_innen anschlossen, wurde die Bewegung vorrangig von subproletarischen und (klein)bürgerlichen Gruppen getragen. Ein ernsthafter Angriff auf die Grundlagen der kapitalistischen Ökonomie war so nicht möglich. Auch dies hat der Bewegung von 1968 den Charakter einer „Kulturrevolution“ gegeben – der Revolte blieb als Betätigungsfeld nur die Kultur übrig. Die weitgehende Wiedereingliederung der gegenkulturellen Bestrebungen ins „System“ war somit unvermeidlich.
Allein durch Hedonismus und Verweigerung ließ sich die kapitalistische Gesellschaft nicht überwinden. Diese erwies sich als anpassungsfähiger als erwartet – die Verweigerung wurde ignoriert, vom Hedonismus das übernommen, was für die eigenen marktwirtschaftlichen Zwecke brauchbar war. Dennoch verdient es gerade dieses hedonistische Element der 68er-Revolte, bewahrt und gegen den Irrglauben verteidigt zu werden, die Ernsthaftigkeit einer Haltung beweise sich durch den Grad an Leiden, der damit einhergeht. `68 war auch eine Revolte gegen die Arbeit, für ein lustvolles, selbstbestimmtes Leben – darin liegt ihr emanzipatorischer Gehalt, den es gegen alle Befürworter_innen von „revolutionärer“ Askese und Märtyrertum stark zu machen gilt. Denn (um hier einen situationistischen Slogan zu zitieren, der im Mai 1968 an vielen Pariser Häuserwänden zu finden war) „wir machen die Revolution schließlich nicht, um arm zu bleiben“.
(k.rotte & nils)
(1)zitiert nach Helmut Salzinger, „Rock Power – wie musikalisch ist die Revolution?“, Seite 8, Fischer Taschenbuch Verlag, 1972.
(2)zitiert nach Horkheimer/Adorno „Dialektik der Aufklärung“, S.162, Reclam 1989.
(3)„Rapport über die Konstruktion von Situationen“, zitiert nach „Beginn einer Epoche“, S. 40-41, Edition Nautilus 1995.
(4)Salzinger 1972, S. 127.
(5)zitiert nach Penny Rimbaud, „The last of the hippies“, zuerst erschienen im Booklet der „Christ – The Album“-LP von Crass.
(6)Jerry Rubin, zitiert nach Salzinger 1972, S. 126.