Archiv der Kategorie: Feierabend! #01

Zahlen der Schande

In Rom endete der 2. Welternährungsgipfel wieder mit einem Misserfolg. In ihrem Egoismus und ihrer grenzenlosen Habsucht sind die reichen Länder nicht bereit jährlich 24 Milliarden Dollar zu zahlen, um die die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) bat, damit die Zahl der Hungerleidenden bis 2015 um die Hälfte gesenkt werden kann. Die FAO verlangte 13 Milliarden Dollar weniger, als die USA wohl für den Kampf gegen den Terrorismus ausgeben werden. Dieser wird jedoch mit Sicherheit weniger Opfer fordern als der "zivilisierte Terrorismus", durch den jährlich Millionen Menschen verhungern.

Horrorstatistiken: Alle 4 Sekunden stirbt ein Mensch wegen Unterernährung, 800 Millionen haben ständig Hunger, mehr als 70 Millionen Lateinamerikaner legen sich jeden Abend hungrig zu Bett. Jedes Jahr sterben mehr als 7 800 000 Menschen, größtenteils Frauen und Kinder, weil sie nichts zu essen haben. Die Zahlen verkündete der Senegalese Jacques Diouf, Generaldirektor der FAO, während der italienische Präsident Berlusconi ungeduldig auf seine Uhr schaute: der Gipfel wurde 2 Stunden eher geschlossen, damit der Cavalieri, der reichste Mann Italiens, das Spiel seiner Mannschaft gegen Mexiko sehen konnte.

Das letzte Jahrzehnt war besonders dramatisch für die Ärmsten der Armen. Die Armut und der Hunger wurden größer und schlimmer, während sich ein spektakuläres Wirtschaftswachstum vollzog. Die reichen Länder nahmen zu und die Fettleibigkeit ihrer Bewohner wurde zu einem öffentlichen Problem. Mehr als 300 000 US-Bürger jährlich, meint Jeremy Rifkin, sterben vorzeitig wegen Fettleibigkeit, 61 % der erwachsenen US-Bürger haben Übergewicht. Mehr als die Hälfte der erwachsenen europäischen Bevölkerung hat das gleiche Problem. Die Weltgesundheitsorganisation berichtet, dass 18 % der gesamten Weltbevölkerung zu dick seien, genauso viele Menschen sind unterernährt. Das ist die Epidemie des 21. Jahrhunderts: In der reichen Welt fordern Lebensstil und Überernährung schon jetzt genauso viele Tote wie das Rauchen. In der armen Welt hingegen sterben Millionen Menschen vor Hunger.

Und das alles geschieht zu Beginn eines neuen Jahrtausends, das sich mit Pauken und Trompeten als das Zeitalter der Menschenrechte feiert. Die Führer der großen Nationen schämen sich nicht, bei Gipfeltreffen als die Helden der Menschenrechte aufzutreten. Sie vergessen, was man vor nur 54 Jahren in der Erklärung der Menschenrechte verankerte: "Jeder Mensch hat das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, der ihm und seiner Familie Gesundheit, Wohlstand und vor allem Ernährung gewährleistet." Was für Zeiten! Damals empfand man Hunger als Verletzung der Menschenrechte und gleichzeitig als Hindernis für den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Fortschritt. Heute wird Hunger als ein wirtschaftlicher Fakt gesehen, der ein Zeichen dafür ist, das die Armen sich mehr anstrengen müssen, obwohl die neuen Konservativen, die ihr Mitgefühl als Politik verkaufen, immer bereit sein werden ein wenig Almosen zu geben.

Die so hoch gelobte Entwicklungshilfe ist dabei sich in ein Almosen zu verwandeln. In den letzten Jahren nahm die Hilfe für arme Länder drastisch ab. Das in den 70er Jahren in der UNO gesetzte Ziel mindestens 0,7 % des BIP der reichen Länder für die Entwicklung der armen Länder einzusetzen, liegt weit entfernt und wird allmählich zurückgeschraubt. Die USA zahlen beschämende 0,1 % des BIP, die EU-Länder 0,33 %.

Almosen geben mit dem Rohrstock in der Hand! Wie sich heute beim Gipfel in Rom und gestern im mexikanischen Monterrey zeigte, ordnet sich die "Hilfe" immer mehr den Geboten der neoliberalen Globalisierung unter. Bush, Berlusconi und Co. fordern die Liberalisierung der Märkte, die Zahlung der Auslandsschulden, Privatisierungen und das Aufgeben souveräner und sicherer Ernährungspolitik in den armen Länder. Die FAO beklagt, dass in den letzten 10 Jahren die Unterstützung der Landwirtschaft in den Dritte-Welt-Ländern auf 45 % gesenkt wurde, während die OECD- Zuschüsse in die Landwirtschaft der reichen Länder auf mehr als 300 Milliarden Dollar aufgestockt wurden, was im Klartext eine Subvention von jährlich 12000 Dollar pro Landwirt bedeutet. Von daher lässt sich das Verhalten dieser Länder in einem Satz zusammenfassen: "Reicher, aber auch bösartiger".

José Merino del Río*, übersetzt von cz

(aus: „ALAI – América Latina en Movimiento“, 28.6.2002)

*José Merino del Río ist Koordinator des Forums der Aktion " Ein anderes Costa Rica ist möglich, eine andere Welt ist möglich" und ehemaliger Abgeordneter der Asamblea Legislativa von Costa Rica. Der Text ist eine Reaktion auf den Welternährungsgipfel in Rom (Juni 02).

Offener Brief an Jacques Diouf

Herr Jacques Diouf ist Generaldirektor der Organisation für Ernährung und Landwirtschaft (FAO) der UNO und veröffentlichte in der Juni-Ausgabe der LMD, also im Vorfeld des FAO-Gipfels in Rom (10. – 13. Juni 2002), einen Artikel mit dem Titel “Das Menschenrecht, sich satt zu essen” (1). Darin gibt er seiner Hoffnung Ausdruck, dass der Hunger als Problem von 800 Millionen Menschen mit Hilfe fast aller Staaten der Welt bald gelöst sein werde. Diouf präsentiert das Problem vor allem als ein technisches und setzt also in seinem Lösungsansatz vor allem auf den “Transfer von Technologien”. Außer Acht lässt er dabei seinen Einleitungssatz, in dem es heißt, dass “weltweit ein Überfluss an Nahrungsmitteln herrscht”. Auf diesen unausgesprochenen Widerspruch – und auf die Vergeblichkeit, auf die Hilfe von Staaten zu hoffen – geht der folgende offene Brief ein.

Herr Diouf,

ich habe Ihren Artikel in Le Monde diplomatique zur Kenntnis genommen. Der Text erscheint mir fast wie eine Selbstvergewisserung des Autors, dass das hehre Projekt, welches die Institution, der Sie vorstehen, seit 20 Jahren erfolglos zu realisieren sucht, nicht verloren, sondern – im Gegenteil – seine Verwirklichung nicht mehr fern sei. Und das trotz der eingangs genannten Faktenlage! Sie vergewissern sich, dass die G8 ihre Unterstützung zugesagt hat, wie beinah 180 andere Staaten im übrigen auch, und dass es einen Überfluss an Nahrungsmitteln auf der Welt gibt. Sie vergewissern sich also dessen, dass es keine vernünftige Erklärung für den Hunger auf der Welt gibt, an dem weltweit 800 Millionen Menschen leiden. Es drängt sich nun jedoch die Frage auf, warum dennoch täglich Tausende Hungers sterben ? Darauf gehen Sie nicht ein, sondern Sie präsentieren enthusiastische Reißbrettskizzen und Kalkulationen und argumentieren, dass es auch im globalen ökonomischen Interesse sei, den Hunger zu beseitigen. Um es klar zu formulieren: Ich sehe in Ihrem Text nichts weiter als einen fruchtlosen moralischen Appell. Oder aber infame Propaganda!

In welcher Welt leben wir denn?! In einer vom kapitalistischen Wirtschaftssystem dominierten, d. h. würde sich ein Vorhaben ökonomisch lohnen, wäre es binnen 20 Jahren längst umgesetzt. Aber Sonntagsreden, als dieses stellen sich die “globalen Initiativen” nämlich immer heraus, sind noch längst keine Taten. Das Verhalten der Realpolitik gestaltet sich ganz anders als der Glanz, Glamour und Good Will der Gipfeltreffen: Sie wissen sicherlich von den (tödlichen) Übergriffen auf gewerkschaftlich organisierte Landarbeiter in Haiti (Mai 2002), in denen Landkonflikte den Anlass gaben. Tagtäglich begegnet auch das Movimento Sem Terra (MST), eine Selbstorganisation landloser Menschen in Brasilien, die die massenhaft brachliegenden Ländereien für Subsistenzwirtschaft nutzen wollen; tagtäglich begegnet das MST härtester staatlicher Repression. Warum? Weil das Land nicht denen gehört, die es bebauen, und weil Ländereien als sichere Kapitalanlage und eben nicht als Acker betrachtet werden. Täglich auch, werden BäuerInnen in Südostasien mittels internationalen Patent- und WTO-Rechts sowie unfruchtbaren, genmanipulierten Reiskulturen in Abhängigkeit und Schuldsklaverei, schlicht um ihre bescheidene Existenz gebracht. Und wenn “die Industrieländer”, die G8 also, ihre “Hilfsleistungen […] reduzieren”, dann haben die Staats- und Regierungschefs ihre Rede am Sonntag wohl längst vergessen und sind zur Tagesordnung übergegangen, wo sich “sämtliche Bemühungen” auf ganz andere Projekte richten.

Unter Staaten gibt es in humanitären Angelegenheiten keine “Solidarität”, zum einen weil die BürgerInnen eines Staates inoffiziell eh als Staatseigentum gehandelt werden, zum anderen weil Staaten nun mal keine Wohlfahrtseinrichtungen, sondern in erster Linie Herrschaftsapparate sind, die v. a. die Eigentumsverhältnisse schützen, nicht aber die Menschen; ein Blick in die Tagespresse bestätigt diese Einschätzung. Warum also, da Sie doch wissen wie der Hase läuft, treten Sie mit einem solchen Appell öffentlich an die “internationale Staatengemeinschaft” heran; wenn nicht, um rührige Bemühungen vorzutäuschen und die herrschenden Eliten und die besitzende Klasse als scheiternden Herakles darzustellen?

A. E.

(1) Der Artikel ist nachzulesen unter monde-diplomatique.de/mtpl/2002/06/14./text?Tname=a0065&idx=22

Hunger

Rot-schwarze Fahne weht über der alten Arbeitsbörse von Bordeaux

Ein Blick zurück … ist manchmal auch ein Blick nach vorn! So etwa im Falle der Bourse du Travail – der Arbeitsbörse – in Bordeaux. Was für zeitgenössische Ohren wie eine Vorform des Arbeitsamtes, dieses sterilen staatlichen Sklavenmarkts, klingen mag, das war etwas ganz anderes – und die Idee davon lebt fort. Die Arbeitsbörsen entstanden im Frankreich der 1870/80er Jahre als in Folge des Aufstandes unter anderem der Pariser Commune die republikanische Repression gegen jedwede Emanzipationsbestrebung im Anstieg, die linke politische Bewegung hingegen im Niedergang begriffen war. Der parteipolitischen Zersplitterung und Zerstrittenheit setzten die radikale Gewerkschaftsbewegung unter anderem eben jene Arbeitsbörsen entgegen. So entstanden in Selbstorganisation Räume des Austausches und der Zusammenkunft … wie wir sie heute in den berühmten Centri sociale in Italien finden. Die Aktivitäten der organisierten ArbeiterInnen beschränkten sich indes keineswegs auf den ökonomischen Bereich – etwa in Form von Arbeitsplatzbörse und Unterstützungskassen –, sondern sie spiegelten eine gesamtgesellschaftliche Perspektive wider: die Arbeitsbörse war vor allem Bildungsstätte und wurde so zu einem wichtigen sozialen Zentrum.

Was wir heute von dieser Bewegung lernen können ist, dasz es sich sehr wohl lohnt (auch finanziell) – und dasz es gar notwendig ist – über politische, nicht über weltanschauliche, Gräben hinweg unseren Alltag selbst zu gestalten. So können wir ein Stück Autonomie – Autonomie ist Leben – zurück erlangen. Im Austausch und in der Diskussion, im gemeinsamen Handeln und Feiern gewinnen wir nicht nur an Stärke, sondern vor allem eine Masse Lebensqualität und nicht zuletzt Klarheit über uns selbst.

Es folgt ein Interview der Zeitschrift Le Combat Syndicaliste (C.S.), Organ der Confédération Nationale du Travail (CNT: anarchistische Basisgewerkschaft in Frankreich mit ungefähr 4.000 Mitgliedern, Schwesterorganisation der Freien ArbeiterInnen Union in der BRD): Am 10. Januar 2002, um sechs Uhr früh, ergreift eine Gruppe von AktivistInnen wieder Besitz von einem verlassenen Gebäude mitten im Stadtzentrum von Bordeaux (Frankreich): der alten Arbeitsbörse in der 42, rue de Lalande.

C.S.: Warum diese Besetzung?

Wir haben uns zu dieser Besetzung entschieden als wir erfuhren, dasz die alte Arbeitsbörse an eine Privatperson verkauft werden sollte. Selbst in einer Zeit wie der unsrigen, da alles als Ware angesehen wird (vom Lebensminimum bis zum Individuum selbst), ist der Verkauf dieses öffentlichen Ortes durch die Stadtverwaltung ein Akt von hoher symbolischen Bedeutung. Das konnte die C.N.T.-A.I.T. nicht zulassen. Das Gebäude der Börse ist ein öffentliches, immerhin seit dem 18. Jahrhundert, vor allem aber ist es zum sozialen Erbe der Stadt zu zählen. Nicht zu vergessen ist auch, dasz die Arbeitsbörsen das Ziel hatten, die ArbeiterInnen aller Berufe zu vereinigen und ihnen ihre Würde wieder bewußt zu machen. Die C.N.T. hat, nach der C.G.T. (1), viel zur Belebung dieses Ortes der ArbeiterInnenkultur beigetragen. 1993 dann, wurde die Arbeitsbörse nach undurchsichtigen Manipulationen der Stadtverwaltung in andere, weniger attraktive Örtlichkeiten verlegt.

C.S.: Stellt ihr euch mit der Besetzung bewußt in eine Kontinuität?

Ja, denn in Bordeaux fehlt ein großflächiges und unkommerzielles Lokal. Die alte Börse kann auf dieses Bedürfnis reagieren. Konkreter: wir wollen diese Örtlichkeiten nutzen, um einen authentischen und offensiven Anarchosyndikalismus zu entwickeln. Wir wollen sie aber auch teilen mit allen Personen und allen gewerkschaftlichen oder anderen Organisationen, die eine Emanzipation des Individuums in Respekt der Prinzipien der direkten Demokratie anstreben. Wir wollen die Börse zu einem Ort der kulturellen Zusammenkunft machen, zu einem Ort des Kampfes gegen die “gesellschaftliche Neugestaltung” à la MEDEF (2), des Kampfes für bessere Lebensbedingungen. Und schließlich wollen wir dem Gebäude seinen Charakter einer offenen Universität wiedergeben. Das ist heute bitter nötig, da das Einheitsdenken nicht nur das Nachdenken zerstört, sondern auch die Hoffnungen all derer, die meinen, eine andere Welt sei möglich.

C.S.: Ihr seid unausweichlich mit Schwierigkeiten konfrontiert …

Selbstverständlich. Der Käufer unternimmt alles, um uns hier wieder rauszukriegen. Einige “UnterstützerInnen”, die uns helfen sollten, haben uns fallen gelassen. Und einige PolitikerInnen versuchten, das Projekt zu vereinnahmen. Wir haben sie freundlichst abgewiesen. Schließlich hat uns die Lokalzeitung ziemlich runtergemacht, zur Zeit fordern wir unser Recht auf eine Gegendarstellung ein.

C.S.: Heute ist der 21. Tag eurer Besetzung. Wie steht’s?

Wir sind entschlossener denn je. Heute morgen war der Käufer da, mit Polizei, und wollte uns den Strom abstellen. Das bewirkt aber nichts weiter, als uns in unserem Vorhaben zu bestärken. Es kommen nämlich mehr und mehr Einzelpersonen der verschiedensten Zusammenhänge hier vorbei und nehmen an den zweiwöchentlichen Vollversammlungen teil. Unser kulturelles, soziales und kämpferisches Projekt findet so langsam Anklang. Wir sind Tag und Nacht im Haus, und es kommen verschiedene Aktivitäten zustande: Musik, Vokü, Debatten, Konferenzen, eine Ausstellung … Unser Projekt, verkörpert in der Besetzung der Arbeitsbörse, fußt auf der Emanzipation des Individuums, auf einer wirklich solidarischen Konzeption von Orten, die jene vereinigen, die nichts zu verkaufen haben außer ihrer Arbeitskraft. Wir legen Wert darauf, dasz viele Leute dieses Projekt mit uns teilen können, dasz alle, die sich in diesen Ideen wiederfinden, nicht zögern, in der alten Arbeitsbörse vorbei und miteinander ins Gespräch zu kommen – sie werden willkommen sein. Je zahlreicher und entschlossener wir sind, desto größer sind unsere Aussichten auf Erfolg.

aus: Le Combat Syndicaliste, Nr. 72, Februar/März 2002;

Einleitung und Übersetzung von A.E.

(1) eine weitere französische Gewerkschaft, der KP nahe stehend
(2) französischer Unternehmerverband

Soziale Bewegung

Was fehlt:

Ein Kommentar zu den jüngsten Tariferhöhungen der LVB/MDV

Weitaus häufiger als eine Bundestagswahl erleben wir Preiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr, so geschehen denn auch am 1. August dieses Jahres in Leipzig.

Kaum verwunderlich, daß es darauf keine über die faktische Feststellung hinausgehende Meinungsäußerung gegeben hat … weder in den Seiten der LVZ noch im Netz der LVB. Letztere bekannten sich in den ausgehängten Informationsblättern nicht einmal zur Höhe der Preissteigerung, dort ging es schlicht um logistische Fragen wie die Fahrgäste in der Übergangszeit ihr Geld loswerden. Außerdem gaben die LVB dazu gar keine Presseerklärung heraus, sondern beschränkten sich auf die Losung „Einfacher und bequemer“!

Gewöhnlich werden solche Maßnahmen mit gesteigerten Kosten, vor allem für Personal, gerechtfertigt. Abgesehen von der ökologischen Komponente – das wird das Problem unserer und anderer Kinder werden – muß mensch sich hier vor allem das antigewerkschaftliche Element vor Augen führen: ”zusätzlichen“ Forderungen der ArbeiterInnen wird jegliche Legitimität entzogen. Das Prinzip ‚divide et impera‘ (teile und herrsche) ganz unverblümt angewandt.

Dennoch ist es erstaunlich, daß sich dagegen keinerlei Widerstand zu regen scheint … erst recht in den Reihen derer, die auf dieses Verkehrsmittel angewiesen sind. Als Exempel könnte eine Kampagne von Anfang der 80er Jahre in einer westdeutschen Großstadt dienen: AutofahrerInnen, die ebenfalls mit der Preiserhöhung nicht einverstanden waren und zum Widerstand ihren Beitrag leisten wollten, klebten sich einen blauen Punkt an die Frontscheibe. Dieses Zeichen signalisierte: „Zum Boykott der Verkehrsbetriebe bis zur Rücknahme der Teurung, nehme ich Dich ein Stück weit mit.“ So kam eine breite Boykottbewegung zustande, die schließlich die Rücknahme der Preissteigerung erwirkte.

Was uns heute fehlt ist eine gesellschaftliche Bewegung, die sich der fortwährenden Angriffe auf soziale und ökologische wie arbeitsrechtliche Errungenschaften der vergangenen Jahrhunderte erwehren kann … von offensiven Initiativen ganz zu schweigen. Zeit zum Handeln!

A.E.

Lokales

In Wahlkampfzeiten

Ja, welche Wahl denn? Aus den Winkeln der verschieden kolorierten Parteibüros kommt “dem Volk” das gleiche zu Ohren: “Arbeit soll das Land regieren”, “Wohlstand und Arbeit für alle”, “… Dass alle Arbeit haben”,“Brüder, durch Sonne zur Arbeit” … die Entscheidung fällt da nicht schwer, genauer: sie fällt nicht, sie ist schon gefallen. Dies treibt kuriose Blüten: ursprünglich waren für den Hartz’schen “Job-Floater” 150 Milliarden Euro vorgesehen (um 2 Millionen “Jobs” zu schaffen), was einer Investition von 75 Tausend Euro in einen Arbeitsplatz entsprochen hätte. Ist das nicht verrückt ?! Es geht der/m „abhängig Beschäftigten“ doch bei der (wohlgemerkt: Lohn-) Arbeit vornehmlich nicht um das Tun, sondern um’s Geld.

Mit den Bundestagswahlen steht also zweierlei fest: die Richtung (s. o.) und die Art und Weise, in gesetzlich sanktioniertem Monopolanspruch (1) nämlich. Begründung ? Gesprochen haben “wir” am Wahltag, vier Jahre lang haben jetzt einige wenige das Sagen.

Kanzler Schröder hat recht, wenn er auf dem DGB-Kongress im März sagt: „Es geht [am 22. September] nicht um Lager.“ Das heißt aber nicht, dass diese Wahl nicht bestände. Vielmehr ist diese angesichts der oben geschilderten Zustände die einzige. Es ist an jeder/m einzelnen, gründlich und konsequent über einen Wechsel des Lagers nachzudenken: vom neo-liberalen, kapitalistischen Staat zur antistaatlichen, auf Befreiung zielenden Selbstorganisation. Diese Option ist uns tagtäglich gegeben, und niemand kann sie uns nehmen. Die Wahlen rechts liegen zu lassen oder bei der Gelegenheit mit ungültigem Stimmzettel ein Strohfeuer zu entfachen, das ist ganz egal! Notwendig, entscheidend ist und Aussicht auf Veränderung der Verhältnisse hat einzig eine breite egalitäre, selbstbestimmte, föderale (von unten nach oben!) Organisierung.

A. E.

(1) auf Gewalt, Rechtsprechung, Steuern

Wahl

Campen gegen das Grenzregime

Wir hoffen, es liegt nicht in allzu ferner Zukunft, dass wir auf die Welt der Nationalstaaten und ihrer Grenzen zurückblicken werden, wie heute auf das finstere Mittelalter. Dass Freizügigkeit und die Möglichkeit zu leben, wo man leben will, ein selbstverständliches Recht eines jeden Menschen ist. Keine Menschen mehr, die beim Versuch eines Grenzübertritts in der Neisse oder im Mittelmeer ertrinken oder Angst haben müssen, an Grenzen festgenommen und abgeschoben zu werden. Keine Gefesselten, Geknebelten und Erstickten mehr, weil Menschen mit aller Gewalt außer Landes geschafft werden sollen. Keine Diskriminierungen und Schikanen mehr, weil an Bahnhöfen nach Hautfarbe kontrolliert wird und Flüchtlinge „ihren Landkreis“ nicht verlassen dürfen. Und nicht zuletzt: Keine Vorurteile und Abgrenzungen mehr, gerade in unseren Köpfen!“

JENAER (GRENZ-)CAMPZEITUNG 12.7.02

Grenzen töten!

Grenzen töten und zerstören Menschen. Nicht nur, dass Tausende an den Grenzen der Festung Europa ums Leben kommen oder bei Abschiebungen ermordet werden, auch die die es schaffen, müssen in ständiger Angst und unter menschenunwürdigen Bedingungen dahinvegetieren. Sie bleiben oft über Jahre quasi eingesperrt in Heimen, bekommen mieses Essen und leben unter der Knute der Heimleitung. Menschen, die sich nicht für ihr Leben hier registrieren lassen (können), weil ihnen dann die Abschiebung droht, müssen sich unsichtbar und ohne Stimme durchs Leben schlagen, immer auf der Hut vor Polizeiwillkür und als billige Arbeitskraft ausgebeutet. In diesen Fällen zeigt sich die ganze Unmenschlichkeit unserer Gesellschaft.

Dies ist natürlich kaum präsent in der Öffentlichkeit, in den Medien, an der „zivilgesellschaftlichen“ Fassade, die ein verzerrtes Abbild der Realität schafft. Umso wichtiger ist es, sich nicht blenden zu lassen, die bürgerliche Realität zu hinterfragen und andere Blickwinkel zu gewinnen. Erst dann kann mensch das wahre Ausmaß von Migration und die Unmenschlichkeit der Behandlung von MigrantInnen erkennen. So wie dieses Thema in dem Diskurs in Medien und Politik behandelt wird, verkommen menschliche Schicksale zu abstrakten Problemfällen. Flüchtlinge sind eigentlich keine Menschen mehr, sie sind Probleme für „uns“. Sie nehmen „uns“ die Arbeit weg, sind für Kriminalität verantwortlich, Parasiten, Schmarotzer, zerstören „unsere Leitkultur“ usw. usf.. Sie werden nicht als nützlich angesehen, zerstören die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland und „unsere“ Chancen im PISA-Bildungs-Ranking-Wahn. Dieser Diskurs muss aufgebrochen werden!

Grenzen zercampen!

Und dafür gibt es jedes Jahr verschiedene Grenzcamps in ganz Europa, organisiert vom NoBorder-Netzwerk. Dieses Jahr fanden Grenzcamps in Woomera (Australien), Straßburg (Frankreich), Imatra (Finnland), Nordostpolen und in Jena statt. In Straßburg trafen sich zwischen 1000 und 2000 Menschen von Flüchtlingsgruppen, den Sans Papiers (Ohne Pass), antirassistischen Gruppen und viele andere AktivistInnen aus Frankreich, Deutschland, Italien, Spanien, Finnland und Großbritannien, um sich über das Grenzregime, Überwachung, Rassismus, das Schengen Information System (SIS), die Situation von MigrantInnen etc. auszutauschen und dagegen aktiv zu werden.

Das SIS ist eine europaweite Datenbank um die EU vor MigrantInnen abzuschotten und Menschen, die gegen die kapitalistischen und staatlichen Zumutungen agieren, Menschen, die anders leben wollen, zu registrieren und Repression gegen Oppositionelle zu effektivieren. Die Ausreiseverbote zum EU-Gipfel in Göteborg und dem G8-Gipfel in Genua auf Basis des „Hooligan“-Gesetzes sind da nur ein Vorgeschmack. (mehr zum SIS auf S.20)

Keine Grenzen selbst organisieren

Ein wichtiger Aspekt dieser Camps, bzw. spreche ich jetzt nur für das Camp in Straßburg, ist es Selbstorganisation zu leben, auch jetzt schon, und dabei verschiedene Prinzipien und Wege auszuprobieren.. Dies beinhaltet natürlich auch die Möglichkeit des Scheiterns, vor allem dann, wenn man vergisst, daß man in einer Woche keine befreite Gesellschaft aufbauen kann, solch eine Struktur nie Selbstzweck sein darf und auch nicht künstlich aufgesetzt werden kann.

In Straßburg wurde das so gehandhabt, daß das Camp in verschieden „Barrios“ (Viertel) aufgeteilt war, die sich jeden Tag trafen. Anschließend wurden die Entscheidungen und Diskussionen per Delegierte zum „Interbarrial“ getragen um sich dort mit den anderen Barrios auszutauschen und die Entscheidungen und Positionen der anderen Barrios am nächsten Tag wieder zurück in die eigene Barrio-Versammlung zu bringen.

Der Sinn eines Grenzcamps ist in erster Linie der Austausch von MigrantInnen, Papierlosen, AktivistInnen von antirassistischen und anderen gesellschaftskritischen Zusammenhängen über Situationen, Strategien, Konzepte, Analysen, die Vermittlung von Inhalten an die Bevölkerung, die Motivierung der Menschen mitzukämpfen, sie für das Thema zu sensibilisieren. Natürlich gehört zum Campen auch Entspannung und Relaxen, auch den Streß der eigenen Zwänge (Arbeit, Schule, Studium,…) hinter sich zu lassen und über den Tellerrand der eigenen Szene zu schauen. Dies lässt sich allerdings besser erreichen, wenn die Toiletten und die Basisinfrastruktur schon stehen, wenn das Camp beginnt, wenn man nicht stundenlang Themen diskutieren muß, die sowieso nicht für alle bzw. abgekoppelt von den allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnissen entscheidbar sind. (Hunde, Alkohol,…) Dadurch kamen inhaltliche Diskussionen zu kurz!

Künstlich war die Entscheidungsstruktur dadurch, daß einfach die Selbstorganisierung in Argentinien in Nachbarschaftsversammlungen (zur Regelung allgemeiner Belange, aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Krise; und weil PolitikerInnen und den Institutionen nicht mehr vertraut wird) übernommen wurde, ohne darauf zu achten, daß ein einwöchiges Camp einer ganz anderer selbstorganisierten Struktur bedarf als eine längerfristige und größere und auch AfterWork Struktur wie in Argentinien. Es ist schon ein Unterschied, ob einmal die Woche drei Stunden „Plenum“ stattfindet oder jeden Tag von 9 bis 12. In Straßburg erschien mir die Organisierung teilweise als Selbstzweck…

Alles toll – alles scheiße – oder was?

Es gab auch gravierendere Schattenseiten auf dem Camp: das versuchte Besprayen einer Synagoge während der Demonstration am Mittwoch, das von anderen DemonstrantInnen glücklicherweise verhindert werden konnte. (Ich war selbst nicht zugegen, kann also nur auf Basis von mündlichen und Indymedia-Berichten erzählen. Aber es lässt sich durchaus festhalten, daß auch die Linke vor Antisemitismus nicht gefeit ist, … und Straßburger Juden in Verbindung mit israelischer Politik zu bringen und diese dann als Nazis zu bezeichnen, ist bzw. wäre antisemitisch).

Dabei sollte man aber doch vermeiden, das ganze Camp inklusive der unterschiedlichsten Menschen und Zusammenhänge in einen Topf zu werfen und abzuqualifizieren (wie z.B. in manchen Indymedia oder Jungle-World-Artikeln)! Ein solches Verhalten ist unerträglich, unterschlägt einfach den Prozesscharakter und ergötzt sich am scheinbaren Scheitern der Anderen, ohne Differenzierungen und Chancen denken zu können. Aber das trifft auch auf die andere Variante zu, wenn die Schattenseiten ignoriert werden. Natürlich ist es (in beiden Fällen) einfacher, ein weiteres Brett vor dem Kopf zu installieren.

Wer eine Veränderung der Verhältnisse in einem selbstbestimmten, emanzipatorischen Sinn bewirken will, Texte schreibt, Demos, Camps oder Veranstaltungen organisiert, kulturell aktiv ist, versucht hierarchiefreier zu leben, etc., sollte sich in einer beständigen Weiterentwicklung befinden. Das bedeutet auch positive und negative Seiten dieses Camps nicht gegeneinander auszupielen, sondern einen Lerneffekt hervorzubringen, damit nicht immer die gleichen Fehler wiederholt werden.

Für mich hat sich die Anwesenheit auf dem Camp durchaus gelohnt, für interessante Diskussionen und Informationen zu Migration und Staat, Arbeit und Migration, People’s Global Action, die Europäische Consulta. Auch Pink & Silver, die Sambagruppe, und die Radical Cheerleaders, die es am Samstag schafften die Bevölkerung der Straßburger Innenstadt für sich zu gewinnen, haben einen positiven Eindruck hinterlassen. Die Flyer wurden von der Bevölkerung im Übrigen überraschend positiv aufgenommen.

kater murr

Infos:
NoBorder-Netzwerk: www.noborder.or
Erklärung der No-Border-Gruppe Freiburg zu den Vorfällen auf dem Camp: www.de.indymedia.org/2002/08/27717.shtml
People’s Global Action: www.agp.org
Europäische Consulta: www.europäische-consulta.de
Argentinien: u.a. www.wildcat-www.de

Grenzenlos

Wahlen oder Leben!

Nun sind wir also wieder aufgerufen, an die Wahlurnen zu eilen. Und es stellt sich wieder einmal, die Frage nach dem Sinn! Nicht der Sinn des Lebens, sondern der Sinn des Wählens! Oder doch des Lebens?

Was hat Leben mit Wählen zu tun? Jeden Tag stehen wir vor Entscheidungen, wir wählen jeden Tag – an den Bundestag denken dabei nur die wenigsten. Aber was dürfen wir entscheiden? Welchen Job wir annehmen, in welche Uni wir gehen, welche Waren wir kaufen … ein “ob” steht nicht zur Debatte. So richten wir unsere Zukunft aus. Mit jeder Entscheidung, die wir fällen, legen wir uns weiter fest: Bäcker, Verkäuferin oder Professor? Welche Funktion hätten’s denn gern?

Und überall Gegner … Gegner? Die Nachbarn, die zu laut sind; die Arbeitslosen, die das hart erarbeitete (Steuer-)Geld verprassen; die Ausländer, die uns die „Arbeit wegnehmen“; und dann noch die anderen “Kollegen”, “Kommilitonen”, selbständigen “Ich-AG’s”. Gefahr für … Angst um … Konkurrenz für … die eigene Zukunft! Gegner überall! JedeR gegen JedeN! Die Angst steigt mit dem Druck. Mehr Leistung … “Du mußt mehr Leistung bringen!” Nicht nur für Dich – um in dieser Gesellschaft überleben zu können –, sondern auch für den Standort, sei dies Leipzig oder Deutschland. Eine Botschaft an alle! So prasseln die Forderungen aus Politik und Medien, im öffentlichen Diskurs, auf uns nieder. Und alle rufen mit, und fordern: Leistung für das Kollektiv – der Isolierten! Ein gutes Leben? Kein gutes Leben?

Wir alle, jedeR einzelne, so heißt es zumindest, sind “frei”: frei sich zu verkaufen, sich verwerten zu lassen, die eigene Persönlichkeit, das eigene Wollen, die eigenen Träume zu unterdrücken! Frei erzogen zu werden, frei 30 Wochenstunden die Schule zu “besuchen”, frei 40 Wochenstunden zu arbeiten oder nach Arbeit zu suchen, frei im Altersheim zu vergammeln, … Das kann doch nicht alles gewesen sein, das ist nicht unsere Freiheit! Nein, dieses Leben wollen wir nicht wählen, an keinem Tag, und erst recht nicht an der Wahlurne.

murr

(1) Die Hartz-Kommission hat ja einige Repressalien in petto um „das Problem zu lösen“
(2) Wobei die allermeisten hier lebenden „Ausländer“ keine Arbeitserlaubnis haben und zum Warten auf was auch immer verdammt sind.

Wahl

The European Nightmare

Schengen Information System, repressive Asylpolitik und Kontrollstaat

Mit dem Abbau von Grenzkontrollen und freiem Reiseverkehr innerhalb der EU ist keineswegs ein neues liberales Zeitalter angebrochen. Im Gegenteil! Der Nationalstaat musste den Souveränitatsverlust über sein Territorium wieder ausgleichen. Er brauchte einen Ersatz für die stationären Grenzkontrollen. So wurden auf einem 30km-Grenzstreifen „Schleierfahndung“ und damit verdachtsunabhängige Kontrollen möglich. Des weiteren wurde engere polizeiliche und geheimdienstliche Zusammenarbeit beschlossen und mit der Zunahme der technischen Möglichkeiten des Staates nahm und nimmt auch die Überwachung und Erfassung von Personendaten zu.

Dabei kommt dem Schengen Information System eine besondere Rolle zu. Bestehend aus der zentralen Komponente in Straßburg, von dem aus die Daten mit den nationalen Komponenten abgeglichen werden, ging das SIS am 1995 mit den Benelux, Frankreich, BRD, Spanien und Portugal ans Netz. 1997 kamen dann Österreich, Italien und Griechenland hinzu, 2001 Dänemark, Schweden, Finnland, Norwegen und Island. Großbritannien und Irland wollen sich partiell beteiligen.

1998/89 erreichte das SIS ein Volumen von 8,6 Millionen Datensätzen, davon die meisten zu Eigentum (Autos, Banknoten, Waffen etc.) und 795.000 personenspezifische Daten übrig. Und hier zeigt sich das SIS als Instrument einer repressiven Migrations- und Asylpolitik: 88 % aller ausgeschriebenen Personen waren „DrittausländerInnen“, die abgeschoben oder an der Grenze zurückgewiesen werden sollen (Art.96 SDÜ). Dabei tut sich vor allem Deutschland hervor, das mit 350.000 nicht nur die größte Anzahl von Personendatensätzen, sondern auch mit 98% auch den höchsten Anzahl „Drittausländer“ speichern ließ. Daneben sind im SIS 8.600 Daten zur „Festnahme mit dem Ziel der Auslieferung“ (Art.95 SDÜ), 37.000 zur Aufenthaltsermittlung von (nicht beschuldigten) Zeugen und Personen, die wegen geringerer Straftaten gesucht werden (Art.98 SDÜ), und 12.000 Personen, die polizeilich beobachtet werden sollen (Art.99 SDÜ). Die oben erwähnte Grenzpraxis wurde damit auf das ganze Inland ausgeweitet, denn es reicht nun das Vorhandensein eines Abfrageterminals und entsprechendes äußeres Aussehen (der rassistische Charakter fällt im Falle von MigrantInnen sofort ins Auge) um kontrolliert zu werden. Ein konkreter Verdacht ist nicht nötig.

Da das SIS ursprünglich nur für acht Länder ausgelegt war, wurde eine zweite Generation beschlossen. Und die soll nicht nur quantitativ, sondern auch inhaltlich anders werden. Die Speicherdauer von Daten nach Art. 96 (Zurückweisung/Abschiebung von Nicht-EU-Staatsangehörigen) und Art.99 SDÜ (polizeiliche Beobachtung) soll verlängert werden. Bisher waren das drei bzw. ein Jahr. Bei letzterem muss im übrigen kein Beweis für kriminelle Tätigkeiten vorliegen, es reicht der Verdacht auf zukünftiges Verhalten.

Des weiteren sollen Datensätze verknüpft werden z.B Personen mit Autos, oder ganze Personengruppen, so daß der Computer gleich eine ganze Fülle von Daten ausspuckt und Beziehungen zwischen Personen nachvollzogen werden können – eine Rasterfahndung auf europäischer Ebene. Bisher waren die Datensätze auf Fahndungszweck, ausschreibende Stelle und allenfalls Merkmale wie „bewaffnet“ beschränkt. Auch das soll anders werden. „Identifikationsmaterial“ über die betreffende Person kommen hinzu: Fotos, Fingerabdrücke, DNA-Profile, biometrischeDaten. (Da passt es doch daß die Mitgliedstaaten 1997 aufgefordert wurden kompatible DNA-Datenbanken aufzubauen und ein EU-weites Fingerabdrucksystem im Aufbau ist.)

Doch auch der 11.September ist nicht spurlos am SIS vorbeigegangen: Die EU plant den Ausbau des Informationssystems um neue Funktionen. Es soll eine Art europaweiter „Hooligan“-Datenbank angelegt werden. „Gewalttätige Unruhestifter“ sollen gegebenenfalls von Reisen in bestimmte Gegenden abgehalten werden. Eine „Demonstranten-Datenbank“ soll ausgegebene und verweigerte Visa führen. Des weiteren soll das SIS eine Terroristen-Datenbank (auf die auch der Inlandsgeheimdienst zugreifen können soll) führen und eine neue Kategorie für „Leute, die daran gehindert werden, den Schengen-Raum zu verlassen“

Neben Europol (EU-Polizei) und Eurojust (EU-Justiz) sollen „auch Behörden, die für Asylbewerber […], sowie Einwohnermeldeämter, die für die Ausgabe von Identitätsausweisen zuständig sind, […] auf SIS II zugreifen können, genauso wie auch Kraftfahrzeugämter und Kreditanstalten im Zuge der grenzüberschreitenden Betrugsbekämpfung.“ (www.heise.de)

kater murr

SDÜ = Schengener Durchführungsübereinkommen
Quellen: www.cilip.de, www.heise.de, www.noborder.org

Grenzenlos

Arbeit macht Spass!

… doch wer kann schon immer Spass vertragen?

Wahlzeit ist Propagandazeit. Und ein Thema steht immer im Vordergrund. Die Arbeitslosigkeit. Doch wenn man sich die Debatten so anschaut, stellt sich die Frage, wo liegt das Problem? Gibt es zu wenig Arbeit oder sind die Arbeitslosen zu faul? Der Herr Schröder sagt, es gibt kein Recht auf Faulheit. Warum eigentlich nicht? Arbeiten wir deshalb, weil wir befürchten, dass es sonst morgen nichts zu kaufen gäbe? Natürlich nicht. Es wird ja allerorten gejammert, das die Leute zu wenig konsumieren, das die Auftragsbücher leer sind und die Umsätze der Konzerne zurückgehen. Es ist eher umgekehrt: wir konsumieren, damit wir arbeiten können! Wo anderenorts die Menschen verrecken weil sie zu wenig zu essen haben, sterben sie in unseren Breiten weil sie sich überfressen. Wozu also arbeiten? Die Sache ist einfach: damit die Miete bezahlt werden kann, damit einem zu Hause die Decke nicht auf den Kopf fällt, damit man nicht als faul und Schmarotzer verachtet wird.

Und irgendwie will man schon einen Teil von der schönen bunten Welt. Es ist doch klar: die Unternehmen wollen, ja sie müssen Profit machen. Es werden nur Leute eingestellt, wenn sie profitabel sind. Und am besten zum Nulltarif! Es ist nie die richtige Zeit für eine Lohnforderung. In der Konjunktur, so wird gejammert, droht sie die Konjunktur abzuwürgen. Und in einer Krise sind Lohnforderungen gleich gar nicht angebracht. Schaut man auf die Börse, so bewirkt eine Lohnerhöhung den Fall einer Aktie. Werden Leute rausgeschmissen so steigt die Aktie. Wohlstand für alle ist ein Witz. Wenn es den Konzernen gut geht, geht es der Mehrheit, die arbeitet keinesfalls gut. Doch woher kommt der Reichtum der Unternehmen? Woher ihre Macht? Aus der Verwertung unserer Arbeit. Je besser und effektiver die Fähigkeit zu arbeiten ausgenutzt wird um so profitabler ist es für das Unternehmen. Die Arbeitspropaganda läuft genau darauf hinaus: länger arbeiten, mehr arbeiten, flexibler arbeiten, für weniger Lohn arbeiten. Möglichst jedes Quentchen Arbeit soll genutzt werden. Denn anscheinend geht es ja um eine gemeinsame Sache: die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Das Renteneintrittsalter soll erhöht werden und die Arbeitszeit soll verlängert werden.

Irgendetwas haut da nicht hin. Es geht darum, unter den Menschen die Bereitschaft zu erzeugen, selbst noch den beschissensten Job für ‘nen Appel und ‘n Ei zu machen. Es geht darum, die Wirtschaft anzukurbeln. Und wer nicht will wird bestraft. Das verlangt die Hartz-Kommision. Und wie der nächste Kanzler auch heißen mag, diesen Vorschlag wird er gern aufnehmen. Es gibt kein Recht auf Faulheit! Und wer hofft schon durch Arbeit je aus dieser Mühle herauszukommen? Wer kann den Montag leiden, wer freut sich nicht auf den Freitag? Nein, Arbeit macht keinen Spaß. Spaß macht es mit Freunden am Strand zu liegen. Doch der Weg zur Arbeit führt nicht zum Strand.

Wie funktioniert der ganze Laden eigentlich? Als Kapital. Das heißt, es wird Geld eingesetzt, um Produktionsmittel und Arbeitskräfte zu kaufen. Die Arbeitskräfte wendet man auf die Produktionsmittel an, läßt sie also arbeiten. Dabei werden sowohl Produktionsmittel als auch Arbeitskräfte verbraucht. Im Ergebnis entstehen neue Produktionsmittel oder Konsumtionsmittel. Diese werden wieder in Geld verflüssigt, also verkauft. Dann kann der Prozess von neuem beginnen. Nun entsteht beim Arbeiten mehr, als für die Wiederherstellung der Produktionsvoraussetzungen vonnöten ist. Also wird die Produktion mit diesem Mehr ausgedehnt. Das heißt es werden mehr Produktionsmittel gekauft und mehr Arbeitskräfte eingestellt und so weiter. So entsteht eine immer größere Warenmasse. Das geht so lange gut, solange jeder der drei Teilprozesse, also Ankauf, Produktion und Verkauf funktioniert. Wenn die lokalen Märkte gesättigt sind, drängt das Kapital über die Grenzen hinaus. Das Kapital breitet sich über die ganze Welt aus. Der Verkauf ist innerhalb des Kapitalprozesses der kritischste Punkt. Wenn die Märkte gesättigt sind kann nichts mehr verkauft werden und der ganze Prozess gerät ins stocken. Produktionsmittel liegen brach, Arbeitskräfte werden rausgeschmissen etc. pp. Das kennen wir ja. Die Arbeiter/innen selbst haben keine Möglichkeit sich ihre Grundlagen fürs Leben selbst zu produzieren, da sie keinen freien Zugang zu den Produktionsmitteln und Ressourcen haben. Sie sind als Produzent/innen von den Produktionsmitteln getrennt. Deshalb sind sie gezwungen, die einzige Ressource zu verkaufen, die sie besitzen und reproduzieren können: ihre Fähigkeit zu arbeiten. Also verkaufen sie diese Fähigkeit und arbeiten. Sie kaufen sich mit dem Geld Konsumtionsmittel und reproduzieren ihre Arbeitskraft um sie wieder verkaufen zu können, etc pp. Das kennen wir ja auch. Was bei der Arbeit tätsächlich konkret gemacht wird ist im Grunde gleichgültig. Wer in einer Panzerfabrik arbeitet, will ebenso wenig auf der Straße landen, wie jemand der/die in einer Schokoladenfabrik oder irgendwo anders arbeitet. Im Kapitalismus haben die Arbeiter/innen ihren Bezug zu ihrem Produkt verloren, ihre Arbeitskraft ist für sie in erster Linie nur insofern von Interesse, als sie verkaufbar – Tauschwert – ist. Möglichst viel Kohle für möglichst wenig Arbeit.

Welchen Sinn hat nun das Ganze? Gar keinen! Es ist ein sich selbst vorwärtstreibender Prozess, der dadurch funktioniert, dass die einzelnen Menschen den Möglichkeiten und Zwängen nachgehen, die sie unmittelbar für sich selbst erkennen. Der Kapitalprozess in seiner Gesamtheit hat nicht mehr Sinn, als das Heranwachsen eines Baumes. Die Folgen sind bekannt: massenhaft sinnlose Schufterei, die krank macht. Eine Schufterei die die Sinne abstumpft und die Muse tötet, die Menschen in gehetzte Tiere verwandelt. Die Zerstörung der Umwelt, Hunger und Kriege erscheinen dagegen als relativ harmlose Nebenwirkung.

Die hier gegebene Darstellung ist natürlich nur eine sehr grobe Skizze. Feierabend! will sich mit dem Thema Arbeit auf eine andere Weise beschäftigen, als es die Politiker aller Parteien tun. Es wird uns darum gehen Zusammenhänge aufzuzeigen; zu schauen, was Leute gegen den Arbeitsirrsinn tun; wo und wie sich Leute wehren. Macht Feierabend!

v.sc.d

Arbeit

Die Großstadtindianer (Folge 0)

Ich erinnere mich noch als wäre es heute. Kalle und ich, wir waren wieder einmal unterwegs auf einem unserer Streifzüge durch die Städtische Bibliothek. Mit einiger Not hatten wir uns an den gestrengen Blicken der bebrillten Damen am Empfang vorbeigedrückt. Kalle war es zuvor gelungen, den Wachmann gleich neben der Eingangstür mit seinem altbewährten Trick abzulenken. Und da standen wir nun, inmitten der unzähligen Regale, die im schmalen Licht der Fenster unter der Last der Bücher gedankenschwer ächzten. Während ich unschlüssig meinen Zeigefinger über die Bücherrücken gleiten ließ, hatte sich Kalle sofort auf das Regal mit den Piratengeschichten gestürzt. Er liebte diese Erzählungen über raubeinige Seeleute. Das Meer als letztes Reservat von Freiheit und Müßiggang, das war Kalles Lieblingsgedanke. Ich blätterte etwas lustlos in Godwins Roman über den Bauernsohn Caleb Williams. Doch konnte ich mich nicht so recht entschließen, es einzustecken, und schob das Buch deshalb zurück ins Regal. Als plötzlich Kalles Warnruf neben meinem Ohr raunte: „Achtung, Aufsicht!“ Blitzschnell verschwanden wir über die nächste Treppe Richtung Keller. Ich spürte Kalles gefaßten Atem hinter mir, stieß die hindernde Tür vor uns mit dem Fuß auf und wir drückten uns hindurch.

„Materiallager“ hatte in fetten Lettern auf der Tür gestanden. Das matt zuckende Licht mehrerer defekter Neonlampen ließ die Ausmaße des Raumes nur schwer erkennen. Über die Regale zogen endlose Schlangen eingestaubter Bücher, auf dem Boden türmten sich Berge von Zeitungen und Papier. „Mann, das ist ja ein richtiger Freibeuterschatz!“, entfuhr es dem staunenden Kalle. Er rammte mir seinen Ellenbogen in die Seite und ging zu einem der Regale, „Sieh dir das an, Finn! Marx, Engels, Lenin, ganze Regale, und ein Haufen Literatur dazu.“ Er drehte sich zu mir: „Warum die das wohl hier horten?“ Ich zuckte etwas ratlos mit den Schultern: „Vielleicht hoffen sie auf bessere Zeiten.“ Kalle schmunzelte: „Mit Marx und Engels? Und Lenin??“ Im Vorbeigehen strich er über die Bücher. Ich folgte ihm und brummte: „Immerhin ein Anfang.“ Dabei blieb mein Fuß an einem der Papierberge hängen, die sich auf dem Boden stapelten, und riß ihn zur Hälfte um. „Paß doch auf!“, zischte Kalle, „Muß ja keiner merken, daß wir hier rumgeschnüffelt haben.“ Ich beugte mich über das lose Papier. Es waren Manuskripte, manche handschriftliche Kopien alter Zeitungen. Einige auch geheftet und gebunden. Beim Überfliegen las ich Titel wie: „Sozialist“, „Der arme Konrad“, oder „Die Revolution“. Als ich tiefer kramte, entdeckte ich zwischen den Seiten einer Ausgabe von 1895 ein kleines, schwarzes Büchlein mit rotgefärbten Seiten. Ich schlug es auf, doch die meisten Seiten waren leer, nur am Anfang waren einige Sätze in feiner Handschrift eingetragen. Ich begann zu lesen: „Für den Finder. Dieses Buch ist kein gewöhnliches. In seiner Entstehungszeit wurden nur wenige Dutzend von ihm angefertigt. Damals, es waren unruhige Zeiten, ging die Sage von einer neuen Zeit, die anbrechen sollte. Die Diener der dunklen Macht sollten endlich geschlagen und vom Erdenball verdrängt werden. Ein jeder mit reinem Herzen wartete auf jene Helden der neuen Zeit, doch sie kamen nicht. Von Jahr zu Jahr geriet jene alte Sage mehr in Vergessenheit, bis nur noch wenige Gelehrte sich an sie erinnerten. Aus jener Zeit stammt dieses kleine Büchlein …“, ein Geräusch ließ mich hochschrecken. Kalle stürzte um die Ecke und fiel beinahe über mich. Er presste hektisch zwischen seinen Zähnen hervor: „Sie haben uns entdeckt! Da hinten! Eins, zwei drei Leute, der Wachmann ist auch dabei. Los schnell! Wir hauen ab!!!“ Schon stob er in wilder Panik Richtung Tür. Schnell stopfte ich das Büchlein zwischen Gürtel und Hüfte und stürmte Kalle hinterher, der zielstrebig, zwei Stufen in einem nehmend, Richtung Hauptausgang flüchtete. Hinter uns hörte ich noch den Wachmann fluchen: „Verdammtes Pack!“ Dann waren wir durch die aufheulenden Kontrollsperren ins Freie gelangt. Die Sonne empfing uns herzlich warm. Es war ein später Frühlingstag im Jahre 1999. Ich lege den Stift beiseite und schlage das kleine, schwarze Buch mit den roten Seiten zu.

(Fortsetzung folgt)

clov

…eine Geschichte