Archiv der Kategorie: Feierabend! #40

Libyen: Intervention im Namen des Volkes?

Mit einer ungeheuren Brutalität versuchen gegenwärtig die Truppen des Diktators Muammar al Gaddafi den Aufstand in Libyen niederzuschlagen. Auch wenn es zum gegenwärtigen Zeitpunkt (3.3. 2011) unmöglich ist, verlässliche Prognosen über den weiteren Fortgang der Auseinandersetzungen zu treffen, eines lässt sich jetzt schon mit Sicherheit sagen: Diejenigen, die nun im Namen von „Demokratie“ und „Menschenrechten“ eine Flugverbotszone oder gar eine westliche Militärintervention fordern, machen sich – ob bewusst oder unbewusst – zu Handlangern derjenigen, denen es lediglich darum geht, die Geschicke des Landes in „geordnete“ – sprich: pro-westliche – Bahnen zu lenken.

Für die USA und die Europäische Union ist Gaddafi, mit dem man in jüngsten Jahren zwar recht profitabel kooperiert und dabei mehrere Augen bei dessen Menschen­rechtsverletzungen zugedrückt hat (bzw. im Falle der Misshandlung von Migranten diese regelrecht ermutigte), ein zu unsicherer Kantonist geworden. Die massiven westlichen Interessen im Land erfordern einen zuverlässigeren Sachwalter und der Aufstand im Land eröffnet die Chance, einen solchen zu installieren. Auf der anderen Seite ist aber keineswegs ausgemacht, dass sich am Ende der Auseinandersetzung eine pro-westliche Regierung durchsetzt, weshalb das westliche Hauptinteresse darin besteht, über eine militärische Involvierung einen Fuß in die Tür zu bekommen, um die weiteren Ereignisse maßgeblich mitbestimmen zu können.

Eine westliche Militärintervention ist nicht nur mit massiven Risiken behaftet, sondern sie würde auch jegliche emanzipatorische und progressive Lösung des Konfliktes in Libyen erheblich erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen. Denn der Westen hat ausschließlich seine eigenen Interessen im Blick, nicht die der unterdrückten libyschen Bevölkerung. Hierüber scheinen sich auch große Teile der Aufstandsbewegung im Klaren zu sein, die ganz im Gegensatz zu ihren – vermeintlichen – Unterstützern im Westen eine Intervention von außen strikt ablehnen.

Vom westlichen Saulus zum Paulus?

Muammar Gaddafi hat eine bemerkenswerte Karriere hinter sich, innerhalb seiner mittlerweile 42jährigen Diktatur wandelte er sich von einem westlichen Hassobjekt allerersten Ranges zu einem wichtigen Koope­rationspartner. Einstmals war Gaddafi sogar ein Hoffnungsträger für viele Linke in und außerhalb des Landes, als dieser 1969 gegen den damaligen libyschen König Idris putschte: „Der Umsturz wurde im Land als ein Akt der Entkolonialisierung verstanden. Gaddafi ließ alle ausländischen Militärstützpunkte schließen, darunter die riesige US-Air Base Wheelus, die Ölindustrie wurde verstaatlicht und sämtliche Italiener wurden zur Aus­reise gezwungen. […] Muammar al-Gaddafi wurde in jenen Schichten des Landes, die politische Veränderungen überhaupt wahrnahmen, zunächst als Revolutionär und Befreier akzeptiert.“[1] Soweit ersichtlich, setzte Gaddafi zumindest anfangs sozialpolitisch auf eine progressive Politik: „[So] verdoppelte der Revolutionsrat als eine der ersten Maßnahmen den Mindestlohn, senkte die Mieten um 30-40% und verhängte ein Preiserhöhungsverbot – bereits von Beginn an sollte dem verarmten Land ein künftiges Teilhaben am Wohlstand signalisiert werden.“[2]

Kaum verwunderlich also, dass sich im Laufe der 1970er die Konfrontation mit den USA sukzessive zuspitzte, 1978 erließen die Vereinigten Staaten erstmals ein Embargo auf militärische Güter. Vor allem aufgrund der libyschen Verwicklung in Terroranschläge verschärften sich die Konflikte ab dem Amtsantritt Ronald Reagans nochmals erheblich. Bereits 1981 erließ Washington ein Handelsembargo und es kam zu ersten militärischen Scharmützeln. Den Höhepunkt erreichten die Konflikte mit den Luftangriffen vom 15.04.1986, die offiziell als Vergeltung für den Anschlag auf die Berliner Diskothek „La Belle“ stattfanden, für den die libysche Führung mit verantwortlich gemacht wurde. Ziel der Operation war es, Gaddafi zu liquidieren, was allerdings nicht gelang. Im Jahr 1992 verhängten die Vereinten Nationen darüber hinaus auch multilaterale Sanktionen, sodass es westlichen Firmen nahezu unmöglich war, im Land zu operieren. [3]

So fand sich Gaddafi für viele Jahre weit oben auf der Liste westlicher Staatsfeinde, was sich erst ab 1999 wirklich ändern sollte, als er zwei libysche Staatsangestellte überstellte, die der Verwicklung in das „Locker­bie“-Attentat bezichtigt wurden, wofür die Vereinten Nationen ihre Sanktionen gegen Libyen im Gegenzug suspendierten. Der Wegfall der UN-Sanktionen ermöglichte europäischen Konzernen den Einstieg ins dortige Geschäft, weshalb sich in der Folge zahlreiche EU-Staatschefs regelrecht die Klinke in die Hand drückten. So wurde Gaddafi auch von Präsident Nicolas Sarkozy 2007 mit allen Ehren in Frankreich empfangen und 2009 änderte Silvio Berlusconi beim G8-Gipfel in Italien extra die Sitzordnung, damit der libysche Diktator den Ehrenplatz zu seiner Linken bekommen konnte (rechts saß Barack Obama). Neben der wirtschaftlichen „Öffnung“ erwies sich Gaddafi vor allem auch bei der brutalen Migrationsabwehrpolitik der Europäischen Union als überaus williger und nützlicher Komplize.[4]

Während EU-Konzerne also begannen, in Libyen „gute“ Geschäfte zu machen, wurde dies US-Firmen durch die fortbestehenden US-Sanktionen verboten. Aus diesem Grund formierten sich bereits im Jahr 2000 zahlreiche wichtige US-Konzerne unter dem Dach der „US-Libya Business Association”, um Lobbying für eine Aufhebung der US-Sanktionen zu betreiben. [5] Nachdem Gaddafi 2003 bekanntgab, Libyen hätte zwar an Massenvernichtungsmitteln gearbeitet, sei aber zur Aufgabe der Programme bereit, normalisierten sich auch die Beziehungen zu den USA rasch. Kurz darauf wurde damit begonnen, die US-Sanktionen schrittweise zu lockern und nachdem Libyen 2006 von der Liste der den Terror unterstützenden Staaten gestrichen worden war, wurden sämtliche Sanktionen aufgehoben, was auch US-Firmen endgültig den Einstieg ins Libyen-Geschäft ermöglichte.

Nun konnten also die Geschäfte richtig losgehen, insbesondere auch, weil Gaddafi im Laufe der Jahre auf einen neoliberaleren Kurs umschwenkte und alles tat, um ausländische Investoren anzulocken. Insbesondere wurde der vormals strikt nationalisierte Ener­giesektor für ausländische Firmen geöffnet. Von 2000 bis 2010 wurde zudem ein Drittel der Staatsbetriebe privatisiert und laut Re­gierungsangaben vom April 2010 sollte in den Folgejahren „100 Prozent der Wirtschaft der Kontrolle privater Investoren übergeben werden.“[6] Kein Wunder also, dass der Internationale Währungsfonds Gaddafi noch Ende 2010 hervorragende Noten für seine Wirtschaftspolitik ausstellte. In einem Bericht hieß es: „Der Ölsektor profitiert weiter vom Bekenntnis zu ausländischen Di­rekt­investitionen.“ Weiter lobte der Bericht die „zahlreichen wichtigen Gesetze […] zur Modernisierung der Wirtschaft“ sowie die „Bemühungen, die Rolle des Privatsektors in der Wirtschaft zu ver­größern.“[7]

Ob gewollt oder ungewollt, diese „Wirt­schaftsreformen“ trugen sicherlich nicht zur Verbesserung der sozialen Situation im Land bei. Generell ist von der Sozialpolitik, die zumindest am Anfang der Gaddafi-Ära eine wichtige Rolle spielte, wenig übrig geblieben: „Libyen ist das reichste nordafrikanische Land. […] Aber dies spiegelt sich nicht in der wirtschaftlichen Situation des durchschnittlichen Libyers wider […] Die Arbeitslosenquote beträgt überraschende 30% und die Jugendarbeitslosigkeit 40-50%. Das ist die höchste in Nordafrika. […] Auch andere Ent­wicklungsindikatoren zeigen, dass wenige der Petro­dollars zum Wohlbefinden der 6,5 Millionen Libyer ausgegeben wurden. Das Bildungsniveau ist geringer als im benachbarten Tunesien, das über wenig Öl verfügt, und die Analphabetenrate ist mit 20% überraschend hoch. […] Vernünftige Wohnungen sind nicht zu bekommen und ein generell hohes Preisniveau belastet die Haushalte noch zusätzlich.“[8]

Gleichzeitig ging Gaddafi innenpolitisch brutal gegen Kritiker vor, wie ein Blick in den Jahresbericht von Amnesty International zeigt. [9] Nun sind schwere Menschen­rechtsverletzungen für die USA oder die Europäische Union selten ein Grund, nicht mit einem Regime bestens zu kooperieren, solange die Kasse stimmt. Auch Gaddafi machte hier keine Ausnahme, wie vor allem die schamlose Zusammenarbeit bei der Mi­grationsabwehr zeigt. Angesichts der anderen Bereiche, in denen der libysche Diktator innerhalb der letzten zehn Jahre westlichen Interessen ebenfalls weit entgegengekommen ist, drängt sich die Frage auf, weshalb er gleich zu Beginn des Aufstands – ganz im Gegensatz zu den Diktatoren Ägyptens und Tunesiens – vom Westen fallengelassen wurde wie eine heiße Kartoffel, ja mehr noch, weshalb offensichtlich darüber nachgedacht wird, militärisch beim Sturz des Diktators nachzuhelfen.

Westliche Interessen und Gaddafi als unsicherer Kantonist

Zunächst gilt es festzuhalten, dass sich Gaddafi deutlich von seinen kürzlich abgesetzten Spießgesellen in Ägypten und Tunesien unterscheidet. Während Hosni Mubarak und Zine el-Abidine Ben Ali eindeutig westliche Marionettenfiguren waren, trifft dies für Gaddafi nicht zu. Für ihn stand und steht stets die eigene Agenda im Vordergrund, für die er auch immer wieder bereit war, sich mit dem Westen anzulegen, insbesondere im wichtigsten Bereich, dem Ölsektor. Die Relevanz der libyschen Ölvorkommen steht außer Frage, sie sind mit 44,3 Mrd. Barrel die größten Afrikas. Besonders für die Europäische Union, die 10% ihrer Ölversorgung aus Libyen deckt, ist das Land von enormer Bedeutung. Allein deshalb besteht ein großes Interesse an Stabilität und die ist mittlerweile mit Gaddafi ange­sichts der Breite der Aufstandsbewegung auf absehbare Zeit nicht mehr zu bekommen. Zudem fiel infolge der Konflikte zwi­schen­zeitlich etwa die Hälfte der libyschen Öl­produktion weg, was zu einem sprunghaften Anstieg des Weltölpreises führte, der zwischenzeitlich auf 120 Dollar pro Barrel kletterte. Anhaltende Konflikte würden den Ölpreis weiter unter Druck setzen und damit eine erhebliche Belastung für die Ökonomien der Industrieländer dar­stellen.

Ein weiterer Aspekt, bei dem sich Gaddafi als zunehmend hinderlich erwiesen hatte, betrifft die Profitinteressen der Ölindustrie. Westliche Firmen haben erhebliche Summen in den libyschen Ölsektor investiert bzw. Verträge mit astronomischen Summen abgeschlossen – insgesamt ist von einer Gesamtvolumen in Höhe von über 50 Mrd. Dollar die Rede. So unterschrieb etwa die italienische ENI 2007 einen Vertrag, der ihr bei einer Investitionssumme von 28 Mrd. Dollar Öl- und Gasversorgungsrechte bis ins Jahr 2047 garantiert; die britische BP bezahlte im selben Jahr allein für das Explo­rationsrecht auf einer Fläche von 55.000 Quadratkilometern über 900 Mio. Dollar und plant in den kommenden Jahren bis zu 20 Mrd. Dollar zu investieren; und die amerikanische Exxon zahlte 2008 für Explorationsrechte 97 Mio. Dollar. Auch die deutsche RWE sicherte sich Öl- und Gaskonzessionen im Sirte-Becken und hat vor, etwa 700 Mio. Dollar zu investieren, während die BASF-Tochter Wintershall mit einem Investitionsvolumen von 2 Mrd. Dollar in Libyen engagiert ist.

Doch der Euphorie folgte schnell eine große Ernüchterung, denn so ganz war auf Gaddafi dann doch kein Verlass. Als er 2009 tatsäch­lich „Eigentum“ der in Libyen operierenden kanadischen Ölfirma Verenex wieder verstaatlichte, war der Unmut groß, wie ein Bran­chenreport aus demselben Jahr zeigt: „Wenn Libyen die Nationalisierung von Privatbesitz androhen kann; wenn es bereits verhandelte Verträge neu aufmacht, um sein Einkommen zu vergrößern oder ‚Tribut‘ von Firmen zu extrahieren, die hier arbeiten und investieren wollen; […] dann wird den Unternehmen die Sicherheit verweigert, die sie für langfristige Investitionen benötigen. […] Libyen hat es versäumt, eine stabile Plattform bereitzustellen.“[10]

Aus Sicht der Ölindustrie bietet sich also mit dem Aufstand die Möglichkeit, sich des Diktators zu entledigen. Dass Gaddafi gehen muss, scheint jedenfalls mittlerweile aus westlicher Sicht unabdingbar geworden zu sein. So äußerte sich der britische Premierminister David Cameron am 1.3.2011: „Für die Zukunft Libyens und seiner Bevölkerung muss das Regime von Colonel Gaddafi enden und er muss das Land verlassen. Hierfür werden wir jede mögliche Maßnahme ergreifen, um Gaddafis Regime zu isolieren, es von Geld abzuschneiden, seine Macht zu verringern und sicherzustellen, dass jeder, der für Misshandlungen in Libyen verantwortlich ist, dafür zur Rechenschaft gezogen werden wird.“[11] Andererseits bestehen in den Reihen der Ölmultis auch große Sorgen, dass aus den Auseinandersetzungen eine Regierung hervorgehen könnte, die sich wo­mög­lich sogar noch unaufgeschlossener gegenüber ihren Profitinteressen erweisen könnte, als es das Gaddafi-Re­gime war, wie etwa das Magazin Fortune befürchtet: „Unglück­licher­weise könnten diese großen Deals mit hoher Wahrscheinlichkeit wertlose Papierfetzen werden, sollte Gaddafi das Land verlassen müssen. Jede Regierung, die an die Macht gelangen wird, wird zweifellos eine Neuverhandlung der Verträge wollen, was zu weniger Profiten aufseiten der Ölfirmen führen könnte. Eine neue Regierung könnte sogar die Industrie vollständig nationalisieren und alle Ausländer aus dem Land werfen.“[12]

Wie man es also dreht und wendet, für die Ölindustrie und die westlichen Regierungen besteht Handlungsbedarf. Ohne den Aufstand hätte man wohl mit Gaddafi leben und sich irgendwie arrangieren können: mit einem Bürgerkrieg und fortgesetzten Unruhen, die nicht nur die Ölversorgung gefährden, sondern auch die „Flüchtlingsgefahr“ erhöht, jedoch nicht. Und schon gar nicht will man zulassen, dass sich in Libyen eine Regierung etabliert, der womöglich das Wohlergehen der Bevölkerung mehr am Herzen liegt, als das ihrer Führungseliten und westlichen Komplizen.

Interventionsgeschrei und militärische Planspiele

In den USA erschienen bereits unmittelbar nach Ausbruch des Aufstandes zahlreiche Artikel, die für ein bewaffnetes Eingreifen in der ein oder anderen Form plädierten. Prominent wahrgenommen wurde vor allem ein gemeinsamer Brief vom 25.2.2011, der von 40 US-Außenpolitikern unterzeichnet wurde, darunter zwölf, die in der Bush-Regierung teils hohe Posten innehatten. Er forderte Präsident Barack Obama auf, „sofort“ militärische Maßnahmen zum Sturz des Gaddafi-Regimes vorzubereiten. [13] Auch in linksliberalen Medien wie der New York Times wurde für einen Krieg getrommelt. Dort erschien am 27.2. ein Artikel, in dem davor gewarnt wurde, dass infolge der Auseinandersetzungen Chaos ausbrechen und sich im Zuge dessen Al-Kaida im Land festsetzen könne. Um dies zu verhindern, sei es erforderlich, „eine fremde Schutztruppe“ für eine Zeit lang im Land zu stationieren – sprich: es zu besetzen. [14] Die US-Regierung selbst schlug bereits am 22.2. harte Töne an, indem Präsident Barack Obama das berühmte „all options are on the table“ betonte, mit dem stets signalisiert wird, dass eine Militärintervention ernsthaft in Betracht gezogen wird.

Auf der anderen Seite des Atlantiks bot u.a. der linksliberale Guardian Ian Birrel, dem ehemaligen Redenschreiber David Camerons, eine Plattform für seine Kriegspropaganda: „Die einzige Lösung ist eine rasche Intervention, angeführt vielleicht von Ägypten oder Tunesien, deren Armeen sich in den letzten Wochen Respekt erworben haben, um Gaddafi aus seiner Basis zu jagen und seinem entsetzlichen Regime ein Ende zu setzen.“ [15] Bereits früh wurde denn auch gemeldet, dass die EU ernsthaft an Angriffsoptionen arbeite: „Die EU-Staaten ziehen Diplomaten zufolge für den Fall einer Katastrophe für die Menschen in Libyen Militäraktionen in Betracht. ‚Wir machen Notfallpläne mit verschiedenen Szenarien, das ist eine Möglichkeit, an der wir arbeiten‘, sagte ein EU-Diplomat am Donnertag [24.02] in Brüssel.“ [16]

Doch es blieb keineswegs allein beim Säbelrasseln. Sowohl die Vereinten Nationen als auch die Europäische Union verhängten Sanktionen. Frankreich und Großbritannien äußerten die Absicht, die Aufständischen unterstützen zu wollen und Italien kündigte einen Nicht-Aggressionspakt mit Libyen auf. Daniel Korski vom einflussreichen European Council on Foreign Relations liefert einen Überblick über die derzeit in Betracht gezogenen Militäroptio­nen. In einem Artikel forderte er die westlichen Staaten dazu auf, den NATO-Militärausschuss anzuweisen, mit der Ausarbeitung militärischer Einsatzpläne für sechs Szenarien zu beginnen: „eine Flugverbotszone; eine Evakuierungstruppe zur Rettung europäischer Staatsangehöriger; eine Truppe, um Öl und Energieeinrich­tungen zu schützen; Luftunterstützung für Regierungsgegner; und, schlussendlich, eine größere Interventionstruppe zum Schutz der Libyer.“ [17] Doch Militärexperten weisen lautstark darauf hin, dass jede dieser Optionen mit erheblichen Risiken verbunden ist und der Erfolg – gerade im Lichte der vergangenen Interventionen – keineswegs garantiert werden könne. In aller Deutlichkeit kritisierte etwa der prominente Militärexperte Andrew Exum das Kriegsgetrommel: „Ich bin entsetzt darüber, dass liberale Inter­ventionisten weiter vorgaukeln, es sei einfach, humanitäre Krisen und regionale Kon­flikte durch die Anwendung militärischer Gewalt zu lösen. So leichtfertig über diese Dinge zu sprechen, spiegelt ein sehr unreifes Verständnis der Grenzen von Gewalt und der Schwierigkeiten und Komp­lexitäten heutiger Militäroperationen wider.“ [18]

Flugverbotszone: Die Machtfrage ins Ausland verlagern

Inzwischen deutet alles darauf hin, dass eine Flugverbotszone in Libyen errichtet werden wird. Wer aber eine Flugverbotszone einrichtet, der muss diese gegebe­nen­falls auch militärisch durchsetzen – und das bedeutet einen Krieg zu führen. Der Chef des amerikanischen Zentralkommandos, James Mattis, betonte, man müsse „die Luftabwehr außer Kraft setzen, um eine Flugverbotszone einzurichten.“ Man dürfe sich keinen Illusionen hingeben: „Dies wäre ein Militäreinsatz und nicht etwa die einfache Ansage, dass niemand mehr Flugzeuge einsetzen dür­fe.“[19] Man sollte außerdem nicht vergessen, dass die Flugverbotszonen, 1991 über dem Nordirak (Operation Provide Comfort) und 1993 über Bosnien und Herzegowina (Operation Deny Flight), beide in eine westliche Militärintervention mitsamt anschließender Besatzung mündeten. Ein hellsichtiger Artikel wies sowohl auf die eigentliche Intention als auch auf die Folgen hin, die mit der Errichtung einer Flugverbotszone einhergehen würden: „Letztlich handelt es sich um eine Entscheidung mit politischen Folgen. Mit einem Mandat für den Lufteinsatz würde die Machtfrage ins Ausland verlagert. Wer aber einmal mitmacht, der gerät auf die schiefe Ebene, der wird sich nicht mehr entziehen können, sollte Gaddafi über Wochen oder gar Monate Widerstand leisten oder ein Guerilla-Krieg ausbrechen. Dann würde der Druck steigen, auch für einen Bodeneinsatz.“[20]

Ein praktisches Anschauungsbeispiel, auf welche Weise die „Machtfrage ins Ausland verlagert“ werden kann, liefert Jürgen Chrobog, ehemals Staatssekretär im Auswärtigen Amt, gibt an: „Es muss eingegriffen werden. […] Ich halte eine Flugverbotszone für unausweichlich.“ Hierfür und auch für weitergehende Militärmaßnahmen sei „eigentlich“ eine Mandatierung des Sicherheitsrates erforderlich, wogegen sich vor allem Russland und China sträuben: „Doch wenn wir sie nicht kriegen, muss man überlegen, wie weit man sonst vorgehen kann und wo eine Rechtsgrundlage ist, und ich sagte ja, ein Hilfsersuch auch der Menschen vor Ort, der Menschen in Bengasi […] könnte letzten Endes aus humanitären Gründen vielleicht auch als ausreichend angesehen werden.“[21]

So einfach ist es also: Im Namen der Humanität folgt man dem Ruf der Opposition in Bengasi und aufgrund der hehren Absichten können dabei auch die Vereinten Nationen übergangen und damit das Völkerrecht gebrochen werden. Ganz so simpel ist die Sache jedoch nicht, denn innerhalb der libyschen Aufstandsbewegung reicht das Spektrum der Meinungen von der strikten Ablehnung jeglicher westlichen Einmischung über die ausschließliche Befürwortung einer Flugverbotszone bis hin zu vereinzelten Forderungen nach einer westlichen Militärintervention, wogegen sich aber die große Mehrheit kategorisch ausspricht. Indem selektiv auf die Kräfte gesetzt wird, die ohnehin aufgeschlossen gegenüber einer westlichen Involvierung sind, werden so auch pro-westliche Elemente innerhalb der Aufstandsbewegung systematisch gestärkt und für die Zukunft aufgebaut.

Intervention: Not in our name!

Auf westlicher Seite hat bereits fieberhaft die Suche nach geeigneten „Kooperationspartnern“ innerhalb der Aufstandsbewegung begonnen. Man wolle der Opposition jegliche „Hilfe“ zur Verfügung stellen, heißt es in den westlichen Hauptstädten, wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil man anders als etwa in Ägypten oder Tunesien über wenig Kontakte durch politische Stiftungen oder militärische Kooperationsprogramme verfügt. Eine Militärintervention soll demzufolge wahrscheinlich vor allem die Möglichkeit eröffnen, einen Fuß in die Tür zu bekommen, um den Fortgang der Dinge maßgeblich mitbestimmen zu können.

Wohl nicht zuletzt deshalb wird eine westliche Militärintervention innerhalb der Aufstandsbewegung mehrheitlich abgelehnt. Hafiz Ghoga, Sprecher des neuen National Libyan Council, bestätigt den Eindruck: „Wir lehnen eine ausländische Intervention vollständig ab. Der Rest von Libyen wird vom Volk befreit werden.“ [22] Auch der Vorsitzende des National Libyan Council, Mustafa Abdul Dschalil, machte deutlich: „Wir wollen keine ausländischen Soldaten hier.“[23] Ein Blick auf andere vom Westen „befreiten“ Länder – Kosovo, Afghanistan, Irak – genügt, um sich die „Nebenwirkungen“ eines Mili­tär­einsatzes bewusst zu machen: „Das Beispiel des [instabilen] Irak beängstigt jeden in der arabischen Welt“, so Abeir Imneina, Politikprofessorin an der Universität in Bengasi. [24]

Muammar Gaddafi ist ein Verbrecher und er gehört vor Gericht – besser früher als später. Eine westliche Militärintervention zu fordern, heißt jedoch den Bock zum Gärtner machen, sie könnte auf absehbare Zeit jeglicher Perspektive auf eine progressive Regierung in Libyen den Dolchstoß versetzen: „Untrennbar mit den Forderungen nach demokratischen Freiheiten verbunden ist ein tiefgehendes Verlangen nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. […] Eine Militärintervention würde nicht nur eine Gefahr für Libyen und seine Bevölkerung bedeuten, sondern auch für die Kontrolle [ownership] dessen, was bislang eine vollständig organische, hausgemachte Demo­kratiebewegung in der gesamten Region war.“[25] Leider scheint es genau das Ziel zu sein, diese demokratische Bewegung in den Griff zu bekommen, denn wenn die Europäische Union wirklich ein Interesse hätte, der Bevölkerung in Libyen und der Region zu helfen, so hätte sie schon längst die Grenzen geöffnet, anstatt ihre Grenz­schutzagentur FRONTEX zur Abwehr verzweifelter Menschen in Stellung zu bringen. Wie schamlos sich in dieser Frage verhalten wird, sollte all denen zu denken geben, die nun im Namen der Menschenrechte buchstäblich zu den Waffen rufen.

(Richard Hingsen)

[1] Kister, Kurt: Muammar al-Gaddafi. Letztes Gefecht eines alten Revolutionärs, Süddeutsche Zeitung, 23.02.2011.
[2] Vrabl: Andreas: Libyen: Eine Dritte Welt – Revolution in der Transition, Diplomarbeit, Universität Wien, Juli 2008, S. 7: othes.univie.ac.at/846/1/2008-07-30_9951900.pdf
[3] „Auslöser für weitergehende Sanktionen gegen Libyen war die Bekanntmachung der USA und Großbritanniens am 14. November 1991, dass zwei Libysche Geheimdienstoffiziere mit direktem Auftrag von Gaddafi für den Lockerbie-Anschlag verantwortlich seien und man dafür stichhaltige Beweise hätte. Über dem schottischen Ort Lockerbie explodierte am 21. Dezember 1988 eine Boeing 747 durch eine Bombe, 270 Menschen starben, davon elf am Boden.“ (Vrabl 2008, S. 78).
[4] „Menschenrechtsor­gani­sationen und Journalisten berichten seit Jahren regelmäßig von den brutalen Praktiken, denen Migran­ten in Libyen ausgesetzt sind. Dass die Flüchtlinge festgehalten, zu Hunderten in Container gepfercht und in Lager in der Wüste transportiert werden, wo man sie ohne genügend Nahrung in völlig überfüllte Zellen sperrt – Fläche pro Flüchtling: oft ein halber Quadratmeter –, gehört zum Alltag. Glaubwürdige Berichte belegen darüber hinaus, dass es in den Flüchtlingslagern immer wieder zu körperlicher Folter und zur Ermordung der Internierten kommt. Dass unerwünschte Migranten zuweilen in menschenleeren Wüstengebieten an der Grenze des Landes ausgesetzt werden – ohne überlebensnotwendige Ausrüstung und Nahrung –, kommt Mord ebenso gleich wie der gelegentliche Beschuss von Flüchtlingsbooten durch die libysche Küstenwache.“ (Der Zerfall eines Partnerregimes, German-Foreign-Policy.com, 23.02.2011).
[5] Zu den Firmen gehören ExxonMobil, BP, ConocoPhillips, Chevron, Marathon Oil, Occidental Petroleum, Shell und die Hess Corporation. Hinzu kommen Boeing, Caterpillar, Dow Chemical, Fluor Corporation, Halliburton, Motorola und Raytheon.
[6] Libya to privatise half of economy in a decade, Reuters, 02.04.2010.
[7] Zaptia, Sami: Another Positive IMF Report on Libya’s Economic Progress, Tripoli Post, 18.11.2010: www. tripolipost.com/articledetail.asp?c=2&i=5121
[8] Africa Online News zitiert bei How Gaddafi beca­me a Western-backed dictator, Peters Notepad, 24.02.2011: peterb1953. wordpress.com/2011/02/24/how-gaddafi-became-a-western-backed-dictator/
[9] Amnesty Report 2010: Libyen: www. amnesty.de/jahresbericht/2010/libyen?destination= node%2F2971
[10] Zweig, Stefan: Profile of an Oil Producer: Libya, Heatingoil.com, 29.09.2009: www.heatingoil.com/wp-content/uploads/2009/09/profile-of-an-oil-producer-libya.pdf
[11] Mulholland, Hélène: Libya crisis: Britain mulling no-fly zone and arms for rebels, says Cameron, The Guardian, 28.02.2011.
[12] Sanati, Cyrus: Big Oil’s $50 billion bet on Libya at stake, Fortune, 23.02.2011.
[13] Lobe, Jim: Neo-Con Hawks Take Flight over Libya, Inter Press Service 25.02.2011.
[14] MacFarquhar, Neil: The Vacuum After Qaddafi, New York Times, 27.02.2011.
[15] Birrel, Ian: On Libya we can’t let ourselves be scarred by Iraq, The Guardian, 23.02.2011.
[16] Welt Online: Live-Ticker Libyen: www.welt.de/politik/ausland/article12631912/Deutsche-Marine-schickt-Kriegsschiffe-nach-Libyen.html
[17] Korski, Daniel: What Europe needs to do on Libya, European Council on Foreign Relations, 25.02.2011.
[18] Lobe 2011. Vgl. für eine Einzelkritik jeder derzeit überlegten Einsatzoption Gupta, Susil: Libya: Dreams of Western Intervention, Antiwar.com, 26.02.2011.
[19] „Ohne Militäreinsatz keine Flugverbotszone“, tagesschau.de, 02.03.2011.
[20] Süddeutsche Zeitung – Deutschland: Flugverbot birgt Gefahren, 01.03.2011.
[21] Flugverbotszone in Libyen ist „unausweichlich“, Jürgen Chrobog, Ex-Diplomat, zu Handlungsmöglichkeiten, Deutschlandfunk, 03.03.2011: www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/1402117/
[22] Libya rebels form council, oppose foreign intervention, Reuters, 28.02.2011.
[23] EU treibt Gaddafi in die Enge, Stern.de, 28.02.2011.
[24] World powers edge closer to Kadhafi solution, AFP, 01.03.2011.
[25] Milne, Seumas: Intervention in Libya would poison the Arab revolution, The Guardian, 02.03.2011.
Die ungekürzte Fassung des Textes unter:
www.imi-online.de/2011.php?id=2258
Zum Thema auch interessant:
Marischka, Christoph: Per Flugverbotszone in den Krieg in Nordafrika? www.imi-online.de/2011.php?id=2253

SUDAN: Ein neuer Staat für Afrika

Am 09. Januar 2011 stimmte die südsudanesische Bevölkerung darüber ab, ob aus dieser etwa zweimal die Fläche der BRD umfassenden Region ein unabhängiger Staat wird. Wie erwartet, fiel das Votum für die Unabhängigkeit fast einstimmig aus. Die offizielle Proklamierung eines neuen Staates ist nur noch eine Frage der Zeit. Die zukünftigen Bürger dieses Staates eint keine gemeinsame Sprache, auch keine gemeinsame Religion und zuvor wurden sie nicht als „südsudanesisches Volk“ bezeichnet (durch sich selbst oder von anderen), sondern als Dinka, Nuer, Schilluk, Azande, Acholi usw. Es fehlen also die wichtigen Merkmale, die Nationalisten weltweit für entscheidende Faktoren der Staatsgründung halten.

Die Gemeinsamkeit, die die neuen Staatsbürger eint, ist eine rein negative: Sie alle entsprachen nicht dem Ideal vom Staatsvolk, das der sudanesische Staat unter verschiedenen Regimen seit seiner Gründung propagierte – sie waren weder arabisch­sprachig noch islamgläubig. Die britische Kolonialmacht hatte den Süden vom arabischen Norden weitgehend isoliert und bei der Entlassung in die Unabhängigkeit 1956 darauf bestanden, dass der islamisch-arabische Norden und der „schwarzafrikanische“ Süden einen Staat bilden. Der Grund dafür war die Befürchtung, dass der unabhängige Nordsudan zum Satellitenstaat des panarabischen und damals sowjetfreundlichen Ägyptens würde.

Die meiste Zeit (1955-1972 und 1983-2005) herrschte in der Region Krieg, wobei die Rebellen mal Autonomie innerhalb des Sudan, mal Unabhängigkeit vom Norden forderten, während die Regierung aus dem Norden immer wieder versuchte, die islamischen Gesetze auch auf die Bevölkerung in und aus dem Süden auszuweiten. 2005 kam unter der Vermittlung respektive dem Druck der westlichen Staaten ein Friedensabkommen zwischen der Regierung und der größten Rebellengruppe Sudanese People´s Liberation Army/Movement (SPLA/M) zustande. In diesem wurde ein Autonomiestatus für den Süden inklusive der paritätischen Teilung der Rohstoffeinnahmen vereinbart (1). Das Referendum sollte quasi die Bilanz ziehen – zuerst ließen die Süd-Rebellen durchscheinen, dass sie nur für die Unabhängigkeit plädieren würden, wenn die Regierung sich nicht an das Autonomieabkommen hält. Doch nach dem Unfalltod ihres Anführers John Garang 2005 arbeitete die SPLA kontinuierlich auf die Unabhängigkeit hin.

Wenn die Abspaltung des Südens vollzogen wird, wäre dadurch erstmalig ein politisches Tabu im postkolonialen Afrika gebrochen: die Unrevidierbarkeit der von Kolonialmächten gezogenen Grenzen (2). Der sudanesische Staat hat außerdem durch die Begünstigung von arabischsprachigen Moslems – die 42 % der Bevölkerung bilden – für neue Autonomiebewegungen in Darfur und an der Rotmeerküste gesorgt. Inzwischen laufen im Land mehrere Missionen von bewaffneten Truppen der UNO und der Afrikanischen Union, die den Frieden in Darfur und im Süden überwachen sollen. Die schwerwiegendste Konsequenz des Referendums für den Norden ist aber der Entzug von beachtlichen Teilen seiner ökonomischen Grundlagen – der Rohstoffe.

Seine Wirtschaft

Wovon der neue südsudanesische Staat ökonomisch gespeist werden würde, steht bereits fest. Nämlich davon, wovon bisher der vom arabisch-islamischen Norden dominierte Sudan lebte: vom Export des im Süden zahlreich vorhandenen Erdöls. Einer der Gründe für die Rebellion im Süden war die Tatsache, dass die Ölförderung die Subsistenzwirtschaft der Bevölkerung zerstörte, während die Gewinne aus dem Export nie der Region zu Gute kamen. Mehr noch: Die Regierung plante, das Wasser aus den Quellen im Süden für die Landwirtschaft in den trockenen Norden umzuleiten. Die Rebellen revanchierten sich mit Versuchen, die Ölförderung zu sabotieren – Pipelines und Eisenbahn waren immer wieder Ziel der SPLA-Angriffe. Nachdem der Sudan nach 1989 beim Westen in Ungnade gefallen war, sicherte sich China die privilegierte Stellung bei der Ölförderung. Von den Gewinnen aus dem Export kaufte der Sudan wiederum chinesische Waffen (die westlichen Länder belegten den Sudan mit einem Embargo), um die Rebellen von den Ölfeldern fernzuhalten.

Der Sudan ist ein Staat, in dem die kapitalistische Wirtschaftsweise per Gesetz verordnet ist, aber kapitalistische Produktion kaum stattfindet. Die chinesischen Ölfirmen bringen ihre eigenen Mitarbeiter mit, das Bürgertum handelt mit importierten Waren oder vergibt „islamische (also offiziell zinsfreie) Geldkredite“. Ansonsten gibt es noch die Option, im staatlichen Apparat (dank zahlreicher Regionalkonflikte ist seine bewaffnete Abteilung nicht gerade klein) zu arbeiten, um bei der Selbsterhaltung durch Subsistenzwirtschaft nicht Natur, Klimawandel, Staat sowie feindlichen Nachbar-„Stämmen“ trotzen zu müssen. Darum sind Plätze im Staatsapparat begehrt und meist für loyale arabischsprachige Moslems vorgesehen; die anderen Gruppen sind am Staatserfolg oft weniger interessiert. Das haben die sudanesischen Bürger mit den Bevölkerungen der meisten anderen afrikanischen Staaten gemein – ein wichtiger Unterschied zu den Bürgern der sog. funktionierenden kapitalistischen Staaten im Westen, wo es wesentlich naheliegender ist, den eigenen Erfolg in der Konkurrenz an den Erfolg des Staates zu knüpfen. Denn die Bürger westlicher Staaten sind tatsächlich auch vom ökonomischen Erfolg „ihres“ Staates abhängig. Die Subsistenzbauern hingegen können sich dazu erstmal gleichgültig stellen, weil sie – im Gegensatz zu Lohnarbeitern – ohnehin nicht von einem Kapital benutzt werden, das einen Staat als Ge­schäfts­garanten voraussetzt. Die Entdeckung von neuen Rohstoffreserven bedeutet oft eine Katastrophe für Subsistenzbauern, die versuchen sich vom Boden zu ernähren, unter dem die begehrten Bodenschätze liegen. Die vertriebenen Bauern füllen allerdings nicht – wie im 19. Jahrhundert in Europa – die Fabrikhallen und Arbeitshäuser, sondern Flüchtlingscamps und die Reihen der Gruppierungen, die mit Waffen in der Hand um die Partizipation am Staat und damit am Gewinn vom Export kämpfen.

All diese Probleme nimmt der Südsudan in die Unabhängigkeit mit. Ändern werden sich die privilegierte Gruppe im Staatsapparat (Dinka statt Araber) und die profitierenden Großmächte (EU statt China). Die Ölge­winne muss der Süden mit dem Restsudan teilen, zumal sich die ganze Infrastruktur für den Export im Norden befindet. Die Mächte, die dem Süden seine Unabhängigkeit vermittelten, arbeiten schon an der Behebung dieses Mankos. Deutsche Firmen bauen eine Eisenbahnstrecke, mit der das Öl aus dem Süden über politisch zuverlässigere Länder in die Häfen Ostafrikas gebracht werden soll. Damit wäre der neue Staat in der Lage, dem restlichen Sudan den Zugriff zum Öl zu verweigern, womit wiederum dem Westen sowohl der Druck auf die Regierung im nordsudanesischen Khartum, als auch der (wohl viel wichtigere) Schlag gegen die aufstrebende chinesische Macht möglich wäre. Die Entdeckung von neuen Ölreserven im Süden machten den Südsudan doppelt interessant für die USA und die EU: Neben dem wirtschaftlichen Nutzen des Öls selbst bedeutet die Kontrolle über die Öl­quellen die politische Schwächung der Staaten, die versuchen, aus ihrer Stellung als Öl­lieferanten weltpolitisches Kapital zu schlagen. Damit steht Khartum wiederum zunehmend vor der Alternative: Kurs- und even­tuell Regimewechsel – oder aber Staatszerfall.

Seine Gründungspartei

Wie so manche „Befreiungsbewegung“ der so genannten Dritten Welt hatte sich die SPLA bei ihrer Gründung 1983 auch als irgendwie links und sozialistisch präsentiert. Seit­dem ließ die SPLA sich u. a. von so unterschiedlichen Mächten wie Libyen, dem real­sozialistischen Äthiopien, Israel, Kenia, Ugan­da und Ägypten unterstützen. Als der Su­dan in den neunziger Jahren auf der Liste der Terror-Unterstützer der USA landete, be­kam die SPLA immer mehr Hilfe von der Welt­macht Nr. 1 – was auch deren Sympathien für den Sozialismus schnell schwinden ließ.

Der politische und militärische Druck der Rebellen sollte das Regime in Khartum erschüttern. Die SPLA war sich lange Zeit nicht sicher, ob sie lieber die Unabhängigkeit für den Süden oder den Sturz des Militärregimes im Khartum erkämpfen wollte. Die Bewohner des Südens wurden von der Regierung während des Bürgerkrieges immer wieder von der Versorgung abgeschnitten und erlebten den sudanesischen Staat seit Jahrzehnten als eine feindliche Macht. Die SPLA konnte sich in den ländlichen Regionen als De-facto-Souverän etablieren und sah den kommenden Staat als ihr eigenes Projekt.

Noch während der Verhandlungen 2005 begann die SPLA damit, um die Ausweitung des Begriffes „Südsudan“ zu streiten. Während die Regierung den „Süden“ im Rahmen der britischen Verwaltungseinheiten definierte, sah die SPLA auch die benachbarten rohstoffreichen Provinzen, wo es viele „schwarzafrikanische“ Bewohner gibt, als einen Teil des Südens. Auch die Gebiete, in denen die Rindernomaden der „schwarzen“ Gruppe Dinka ihre Herden weiden lassen, sollten nach der SPLA-Definition beim Referendum über die Unabhängigkeit abstimmen dürfen. Die arabischsprachigen und regierungsloyalen Misseriya-Nomaden, die im selben Gebiet leben, werden von den Staatsgründern der SPLA dagegen als fremde Besatzer betrachtet. Den Kampf um die äußerst ölreiche Region Abyei (3) scheint die SPLA endgültig verloren zu haben – der Ständige Schiedshof in Den Haag hat den Großteil des Gebiets samt Ölfeld der Khartumer Regierung zugeschlagen, das Referendum fand dort nicht statt. Die SPLA akzeptierte den Schiedsspruch offiziell, schleust aber weiter ihre Truppen in die Region ein. Auch die Zugehörigkeit der Provinzen Südkordofan und Blauer Nil hat die SPLA zur Disposition gestellt – dort sollte ebenfalls über die Unabhängigkeit abgestimmt werden. Allerdings wurde am Ende auch dort das Referendum ausgesetzt. Für Südkordofan allerdings steht der Nachholtermin fest: der 9. Juli 2011 – der Tag, an dem der südsudanesische Staat offiziell proklamiert werden soll. Eine Gebietserweiterung des neuen Staates ist also nicht ausgeschlossen. Auch wenn die SPLA in Abyei, Südkordofan und Blauem Nil ihre Präsenz ausbaut, dürfte und darf sie sich dort bis zur Klärung des Status nicht als Quasi-Staatsmacht aufspielen.

Im restlichen Süden allerdings schon. Dort zeigt sich der Prozess von Staats- und Nationengründung in seiner ganzen Pracht. Als erstes wird mit internationaler Hilfe der Staatsapparat geschaffen, in dem die ganzen „Helden“ des Unabhängigkeitskrieges untergebracht werden. Hatte sich die SPLA zuvor über die Überrepräsentation der Araber im Khartumer Staatsapparat empört, wird nun der südsudanesische vor allem mit Dinka besetzt – der Gruppe, die auch die gesamte Führung der SPLA bildet.

Der Prozess der Staatsbildung schließt die Sortierung in zuverlässige und weniger zuverlässige Staatsbürger selbstverständlich mit ein: Die Parteigründungen durch Minderheiten, die sich gegen die Dominanz der Dinka auflehnen, werden von der SPLA als Agenten des Nordens denunziert, die Nomaden mit „falscher“ Sprache oder Religion am Zugang zu Wasser und Weiden gehindert. Die Araber im Süden, deren Familien nach der Unabhängigkeit des Sudans 1956 in die Region kamen, durften beim Referendum nicht abstimmen. Auf dem Weg zur Unabhängigkeit kommt es auch vor, dass ein Aktivist der Kommunistischen Partei Sudans – die ehemaligen Verbündeten der SPLA im Rahmen der National Democratic Alliance (4) – für das Aufhängen von Plakaten ins Gefängnis kommt. Dabei hat die KP nicht einmal für den Kommunismus agitiert, sondern für einen gemeinsamen Kampf gegen das Regime des Khartumer Diktators Umar al-Baschirs im Namen der säkularen Demokratie. Die Idee der sudanesischen Kommunisten, die Scharia-Gesetze sollten von allen Bewohnern Sudans, unabhängig von ihrer religiösen oder ethnischen Identität, bekämpft werden, passt eben schlecht zur SPLA, die ihr Unabhängigkeits-Projekt gerade mit den Unterschieden der Identitä­ten begründet. Beim Nationbuilding wird die Unterdrückungserfahrung im Sudan zum Grund für das Zusammenleben im neuen SPLA-Staat erklärt. Dass aus subsistenzwirtschaftenden Analphabeten demnächst nützliche Lohnarbeiter und Unternehmer werden, glaubt zwar niemand ernsthaft. Aber sowohl die SPLA als auch die westlichen Schutzmächte reden von angeblichen Chancen und einer Zukunft, die der Südsudan habe, wenn er endlich als souveräner Staat sein Erdöl von westlichen Konzernen abpumpen lässt.

Ansonsten ist die SPLA damit beschäftigt, unter internationaler Kontrolle ihre Truppen zu „demobilisieren“ – nach einigen Angaben sind diese inzwischen doppelt so stark wie beim Friedensabkommen 2005, also zu Beginn der Demobilisierung. Ab und zu hört man, dass somalische Piraten ein Schiff mit Panzern gekapert haben, die für den mit einem UNO-Waffeneinfuhrverbot belegten Südsudan bestimmt waren. 40 % des De-facto-Staatsbudgets gibt die Autonomieregierung für ihre Streit- und Sicherheitskräfte aus.

Damit hat die SPLA alles, was man in der so genannten Dritten Welt für eine Staatsgründung braucht: militärische Macht, für die Erste Welt interessante Exportprodukte, Kader für den Staatsapparat und den Segen einiger Weltmächte.

Und sein Feind

Die sudanesische Regierung, 1989 nach einem Putsch von Militärs und Islamisten an die Macht gekommen, hat im Kampf gegen ihre widerspenstigen Bürger kaum ein Mittel ausgelassen. Die Islamisie­rungs­kampag­nen und Militärangriffe waren verbunden mit der Dezimierung der illoyalen Bevölke­rungs­gruppen durch die Verweigerung der humanitären Hilfe mitten in der Hungersnot. Auch die Marktreformen im Sinne des Internationalen Währungsfonds (mit dem sich die Islamisten blendend verstanden) leisteten ihren Beitrag zur ökonomischen Notlage. Parallel schaffte es Khartum immer wieder, die Rebellen zu spalten, die Splittergruppen in die Regierung zu integrieren und deren Anhänger in den Kampf gegen die SPLA zu schicken. Den Angehörigen loyaler Gruppen gestattete man nicht nur, auf eigene Faust ihre rebellischen Nachbarn zu bekämpfen, sondern auch sich an deren Eigentum zu bereichern und sie in die Sklaverei zu verschleppen. Wenn die Nomaden durch die Dürren ihr Vieh verloren, wurde das Plündern bei den anderen „Stämmen“ und das Bewachen von Ölfeldern gegen die Rebellen ihre neue Lebensgrundlage.

Nun aber hat sich die Regierung mit der Abspaltung des Südens scheinbar abgefunden. Die Weltöffentlichkeit rätselt: Ist das der Anfang vom Ende, weil die SPLA das Fanal zur Staatsauflösung durch diverse Separatisten gegeben hat oder wird das Regime jetzt stabilisiert, weil die SPLA die schlagkräftigste Gruppe der gesamtsudanesi­schen Opposition war? Der Präsident al-Baschir, gegen den inzwischen ein internationaler Haftbefehl wegen Völkermordes (die Bilanz seiner bisherigen Staatserhaltungsbemühungen) läuft, will lieber keinen direkten Konflikt mit dem Westen. Manche Islamisten wenden sich enttäuscht vom Versuch ab, den Süden zum wahren Glauben zu bekehren, und wollen lieber einen Rumpf-Sudan mit weniger Rohstoffen und am besten ohne Minderheiten. Dort erhoffen sie sich, endlich ihre Scharia-Utopie zu verwirklichen. Die weiteren Teile der Opposition fühlen sich dagegen von der SPLA im Stich gelassen. Während man im Westen spekuliert, ob die Proteste aus den benachbarten arabischen Ländern auf den Sudan überschwappen, greift die Khartumer Regierung schon einmal präventiv gegen die Opposition durch. Sie sperrt sowohl Islamisten als auch Kommunisten ein, unterstützt die SPLA-Abspaltungen im Süden und versucht in gewohnter Manier, durch die Integration einzelner Gruppen und Politiker die Opposition zu spalten. Da nach dem Votum für die Teilung die Preise für Lebensmittel und Benzin im Norden wie im Süden rasant anstiegen, ist die Gefahr von Massenunruhen für die Regierung nicht gebannt. Islamistenführer Hassan al-Turabi, in der Vergangenheit der Hauptideologe der Muslimbrüder und eine Schlüsselfigur des Staatsstreichs von 1989, hat sich vor langer Zeit mit den Militärs und al-Baschir überworfen und tritt nun als ein Verfechter der Demokratisierung auf. Um die Regierung zu stürzen, ist er auch bereit, mit Darfur-Rebellen, Kommunisten und sogar mit der SPLA zu kooperieren. Dabei hat die von ihm inspirierte Islamisierungskampagne seinerzeit für einen erneuten Ausbruch des Bürgerkrieges gesorgt. Die Regierung wiederum reklamiert für sich, den „Kampf gegen den Terror“ zu führen, wenn sie gegen die Opposition durchgreift. Die Einwilligung in die Abspaltung des Südens soll politische Ruhe bringen und die Wahrscheinlichkeit von Umsturzversuchen verringern.

Gleichzeitig bahnt sich ein Streit der Regierung mit dem Süden an: Es geht um die Flüchtlinge aus dem Süden, die in den Großstädten des Nordens wohnen, die beim Referendum abstimmen sollten. Dabei geht es nicht nur um Armutsflüchtlinge, sondern vor allem um deren politische Position: Die SPLA wollte gewährleisten, dass auf den Wahllisten für das Referendum nur jene landen, auf deren Willen zur Unabhängigkeit man sich verlassen kann. Dafür wurde im Norden umso mehr Hass auf die Binnen­migranten geschürt. Ähnlich verlief der Nord-Süd-Kampf um das Stimmrecht der im Süden lebenden Araber. Nach der Abstimmung zieht eine Menge Rückkehrer bzw. Flüchtlinge aus dem Norden in den Süden, wo es für sie keine Aufnahme-Infrastruktur gibt. Je nach Interesse lassen die Regierung und die SPLA entweder den geographischen oder den ethnischen Faktor gelten. Man darf gespannt sein, welcher Staat demnächst wen zu seinen Untertanen zählen darf und wird.

(Kritik im Handgemenge / Bremen)

 

(1) Zur Vorgeschichte: www.junge-linke.org/de/die_intervention_in_den_sudan_noch_ein_ beweis_dafur_dass_es_ohne_weltpolizei_nicht_geht

(2) Einzige Ausnahme war bisher die Trennung Eritreas von Äthiopien 1993.

(3) Wo seit dem 07.1.2011 wieder gekämpft wird.

(4) Die National Democratic Alliance (NDA) ist eine Dachorganisation der Opposition, die sich nach dem Putsch von Militärs und Moslembruderschaft 1989 gegründet hat. Sie umfasst ehemalige Regierungsparteien (Umma, Democratic Unionist Party), regionale Autonomiebewegungen (SPLA, Beja Congress, Rashida Free Lions) und Linksnationalisten (Baath-Partei). Zum Thema Abspaltung des Südens konnte die NDA sich nie einigen.

Editorial FA! #40

Hier ist er, der erste Feierabend! des Jahres 2011. Und schon gibt es was zu feiern. Halleluja … die 40. Ausgabe. Heißt das jetzt, die Midlife-Crisis steht bevor? Nein, natürlich nicht. Wir werden höchstens reifer und die Texte immer länger.

Und es gibt noch mehr Gründe zum Anstoßen. Manche werden es für eine Ente halten, aber uns gibt’s jetzt ENDLICH wieder online unter www.feierabendle.net. Hier erfahrt ihr künftig mehr vom aktuellen Stand und könnt euch alle alten Hefte und Artikel runterladen. Was lange währt wird endlich gut 🙂

Und weil aller guten Dinge drei sind, klirren die Gläser auch noch für einen neuen Dreikäsehoch. Bei so viel notwendiger Sauferei müssen wir glatt auf unsere Gehirnzellen aufpassen, die ja weiterhin gute Artikel produzieren sollen. Naja, we­nigstens das aktuelle Heft ist dahingehend gesichert. Und unsere Verkaufstelle des Monats – die Vleischerei – hilft auch beim Katerabbau. Bis zum nächsten feierwürdigen Jubiläum ist nun aber erstmal bis September 2012 Zeit. Dann kann die Feierabend!-Redax nämlich ihr 10jähriges Bestehen feiern.

Euer Feierabend!

Ein teuflischer Pakt

Rücknahmeabkommen, Grenzkontrolloperationen, Kriminalisierung von Lebensrettern auf See, Misshandlung von Millionen illegalisierter Flüchtlinge aus Afrika in abgeschotteten Internierungslagern – all das gesponsert von der EU!

Dem Ideen- und Erfindungsreichtum von Kollaborationen und Mechanismen europäischer Migrationskontrolle sind keine Grenzen gesetzt. Vor tausendfachem Tod und beispielloser Grausamkeit verschließen westliche Mächte die Augen, denn mit den Despoten der nordafrikanischen Staaten ging man eine schamlose Komplizenschaft ein: Der amerikanische Gefährte liefert Waffen, der europäische Kamerad zerstört die nahöstlichen Volkswirtschaften durch seine Billigwaren. Dafür aber erhalten Schreckensherrscher Bares für ihr Rohöl sowie für die Garantie, eben jene „Ware“ Mensch nicht auszuliefern.

Meisterhaft hervor im Bruch aller Flüchtl­ingskonventionen tut sich dabei Italien. Nach dem Pakt mit dem Gaddafi schließt man ruhigen Gewissens das Auffanglager Lampedusa – und das Inselvolk widmet sich endlich wieder der Regeneration des Tourismus.

Die neuen, unvorhersehbaren Umbrüche im arabischen Raum zwingen nun aber zur Wiedereröffnung des Lagers, denn vor der „Tür Europas“ treffen stetig Tausende ein. In der Festung jedoch – wie sollte es anders sein – weiß man keine humane Antwort, sondern debattiert, beschließt und legitimiert lieber die Militarisierung und den Ausbau der Kompetenzen der Grenzschutzagentur FRONTEX an der nordafrikanischen Grenze.

Frei, sozial, ethisch, moralisch und men­schen­rechtlich – Worte die europäischen Strippenziehern im Halse stecken bleiben sollten!

(monadela)

Freiheitliche Denkanstöße

Einheitsdenkmal wird weiter geplant

Die Planungen für das künftige Leipziger „Freiheits- und Einheitsdenkmal“ (siehe FA! 32) nehmen langsam Gestalt an. So fand am 17. und 18. Februar 2011 eine „Expertenwerkstatt“ im Neuen Rathaus statt. Zu deren Beginn wurden die Ergebnisse und Vorschläge einer direkt vorangegangenen „Jugendwerkstatt zu den Botschaften des geplanten Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmals“ vorgestellt. Die anwesenden Experten empfanden diesen Beitrag nach eigenem Bekunden als „starken Denkanstoß“. Sie machten sich im Folgenden also diverse Gedanken, die wir euch hier nicht vorenthalten wollen (bei den kursiven Textstellen handelt es sich um Zitate*):

Gut zwanzig Jahre ist sie jetzt her, die Friedliche Revolution in der DDR. Immer wieder hatte sich der Wille zur Freiheit schon vorher artikuliert, aber 1989 brach er sich in einer Länder und Völker verbindenden Freiheitsbewegung endgültig Bahn. Und gerade die Leipzigerinnen und Leipziger waren ganz vorne mit dabei bei der Selbstbefreiung Ostmitteleuropas, der Wiedergewinnung der Freiheit nach innen und nach außen.

Dieser welthistorische Vorgang kann gar nicht oft genug gewürdigt werden – manch eine_r würde sonst vielleicht gar nicht merken, dass wir mittlerweile glücklich in der Freiheit, also der besten aller möglichen Welten angekommen sind. Und wer es gemerkt hat, könnte es eventuell wieder vergessen. Leipzig braucht also ein Denkmal. Nicht nur, um die Friedliche Revolution als Kernstück des zustimmungsfähigen Stranges deutscher Geschichte in Erinnerung zu halten. Sondern mehr noch, damit die Deutschen nicht aus lauter Vergesslichkeit wieder in alte Fehler verfallen und irgendwelchen nicht zustimmungsfähigen Herrschaftssystemen ihre Zustimmung geben.

Nun gut, Leipzig hat zwar schon zwei Einheitsdenkmäler – einmal die Palmensäule an der Nikolai­kirche, und dann noch dieses komische Ei auf dem Augustusplatz, bei dem keine_r so genau weiß, was es eigentlich symbolisieren soll. Aber auf Dauer ist solcher Kleinscheiß der Größe des Ereignisses nicht angemessen. Schließlich schuf die Friedliche Revolution nicht nur die Voraussetzungen für die Wiedergewinnung der Einheit Deutschlands und Europas. Nein, sie führte auch zur Beendigung des Weltkonfliktes, der das 20. Jahrhundert seit 1917 bestimmt hatte, also des von den Bolschewiken angezettelten „Welt­bürgerkriegs“, den z.B. der „Historiker“ Ernst Nolte so trefflich beschrieben hat. Dieser gut 70 Jahre andauernde Kampf zwischen dem Kommunismus und der freien Welt endete 1989. Die endgültige Niederschlagung der roten Pest war eine Sternstunde in der an Glücksfällen nicht eben reichen deutschen Geschichte.

So ein Augenblick des Glücks muss natürlich ausgekostet werden. Leipzig braucht jetzt also endlich ein richtiges, ein großes, ein standesgemäßes nationales Denkmal, das durch Standort, Gestalt und Aussagekraft über Leipzig hinausweisen und eine eigene Authentizität und Aura entwickeln wird. Diese Aura kommt nicht nur der örtlichen Baubranche zugute, sondern lockt auch Touristen an. Das Unterfangen dient also auch dem Erfolg des Standorts Leipzig auf dem freien Markt, für dessen Freiheit die Leipziger Bürgerinnen und Bürger sich 1989 aus ihrem Alltag heraus auf den Demonstrationen mutig in die Sichtbarkeit stellten.

Für die künstlerische Umsetzung dieses hehren Zweckes sind alle zeitgenössischen formalen und ästhetischen Mittel recht. Alle Richtungen der Bildenden Kunst sollen mit dieser Aufgabe angesprochen werden. Wenn sie sich angesprochen fühlen, dürfen sogar konzeptu­elle Kunst und partizipatorische Ansätze mithelfen, damit die nötige Einheit von Inhalt und Form im Spannungsverhältnis zwischen politisch-programmatischer Aufgabenstellung und kritischer künstlerischer Reflexion nicht verloren geht.

Das Span­nungsverhältnis spannt sich aber nicht nur zwischen Aufgabenstellung und Reflexion, sondern auch noch zwischen allerlei Sonstigem. So soll das Denkmal nicht nur einen von der Gegenwart aus gestalteten Erinnerungsprozess anstoßen, sondern auch die Erfahrungen aus der Friedlichen Revolution von der Vergangenheit über das Heute in die Zukunft transferieren, um so deren Lebendigkeit im „kommunikativen Gedächtnis“ in eine Nachhaltigkeit im „kulturellen Gedächtnis“ zu überführen. Lebendigkeit in Nachhaltigkeit umzuwandeln, das klingt nach einer heiklen Aufgabe. Hoffen wir mal, dass dabei niemand verletzt wird…

Die restlichen Forderungen, das Denkmal solle individuell erfahrbar sein und sich im Leipziger Stadtraum dauerhaft und präsent verorten, sind zum Glück leichter zu erfüllen. Für die dauerhafte Verortung dürfte es zum Beispiel schon ausreichen, wenn das Denkmal einfach dort bleibt, wo man es hingebaut hat.

Am Wilhelm-Leuschner-Platz also. Denn wenigstens die Frage nach dem Standort scheint mittlerweile geklärt zu sein. Der Platz ist derzeit zwar noch eine ungestalte, unwirtliche Freifläche, aber gerade deswegen ideal geeignet für die Erweiterung des öffentlichen Raumes mit dem über Leipzig hinausweisenden Stadtzeichen eines Freiheits- und Einheitsdenkmals. Jetzt muss nur noch geklärt werden, mit welchen künstlerischen Mitteln sich Authentizität und Aura der Friedlichen Revolution am besten sinnlich erfahrbar machen und nachhaltig im „kulturellen Gedächtnis“ verankern lassen. Es bleibt also spannend im Spannungsverhältnis von Aufgabenstellung und Reflexion…

(justus)

* Nachzulesen unter www.leipzig.de/de/buerger/newsarchiv/2011/Leipziger-Freiheits-und-Einheitsdenkmal-Ergebnisse-der-Expertenwerkstatt-vom-17-18-Februar-2011-19618.shtml

Fence Off

Kampagne gegen Nazizentrum

Es bewegt sich was in Lindenau: Leipziger Antifaschist_innen haben sich zusammengetan, um den im November 2008 eröffneten Nazistütz- und Treffpunkt in der Odermannstraße 8 zu beseitigen. Mit vereinten Kräften und der neu ins Leben gerufenen Kampagne Fence Off – Weg mit dem Nazizentrum in Leipzig, soll dies nun endlich gelingen. Den Kampagnenauftakt bildete am 24. Februar eine Demo mit ca. 180 Ak­ti­vist_in­nen durch die Leipziger Innenstadt, die jedoch – aufgrund der Nicht-Anmeldung – recht schnell und unter Schlagstockeinsatz wieder aufgelöst wurde. Weitere Aktivitäten sollen folgen, um das sog. „Bürgerbüro“ des NDP-Landtagsabge­ordneten Winfried Petzold, oder besser: den regional äußerst bedeutsamen Ver­an­staltungsort für Vernetzung, Schulungen und Konzerte der Freien Kräfte, NPD und JN, abzuwickeln. Ein regelmäßiger Update Ticker auf der Seite www.fenceoff.org informiert derweil über den Stand der Kampagnenaktivitäten und lädt zur Beteiligung ein.

Unerwartete Unterstützung zur Zielerreichung kommt derzeit aber aus einer ganz anderen Ecke: die Stadt selbst beantragte jüngst ein baupolizeiliches Verfahren gegen den Eigentümer der Odermannstraße (Steven Hahn), da die Recherchen der Leipziger Internet­zeitung (L-IZ) aufdeckten, dass an den regelmäßigen Veranstaltungen im „Bürgerbüro“ eine weitaus größere Zahl an Besucher_innen teilnahm, als die baurechtlich genehmigten 100 Hanseln. Eventuell droht der Odermannstraße nun ein Erlass zur Nutzungsunterlassung, der aber bestimmt mit einer Gegenklage beantwortet wird.

Die Fence Off-Initiative kann und wird sich deshalb nicht zurücklehnen, sondern vielmehr auf Aktivitäten auf der Straße und eine breite Beteiligung von Antifaschist_innen setzen, um ihr auf dem Infoblatt versprochenes Ziel zu erreichen „den Nazis kein Haus, keine Straße, keinen KIEZ [zu überlassen]. Ihre politischen Strukturen gehören zerschlagen, das Nazizentrum in der Odermannstraße abgerissen.“ Na hoffentlich gelingts!

(momo)

Ausbeutung als Alltag (Teil 2)

NS-Zwangsarbeit in Leipzig

Kriegswirtschaft und „Ausländereinsatz“

In der vorletzten Ausgabe des Feierabend! ( FA!#38) wurden in einem ersten Teil des Artikels verschiedene Aspekte der Geschichte der Zwangsarbeit im nationalsozialistischen Leipzig zwischen 1939 und 1945 dargestellt. Es ging dabei darum, vor den Hintergünden des Systems der Zwangsarbeit in Deutschland und unter Berücksichtigung der herrschenden rassistischen und ideologischen Muster, die konkrete Leipziger Situation zu beleuchten. Hier waren während des Zweiten Weltkrieges ca. 100.000 ausländische Arbeitskräfte beschäftigt. Dies waren vor allem sogenannte „Zivilarbeiter“ – Frauen und Männer, die zum Teil in Folge von Anwerbungen aber in großem Umfang unter Zwang aus allen Teilen Europas zum Arbeitseinsatz nach Deutschland gebracht worden waren. Die größte Gruppe bildeten hierbei die „Ostarbeiter“ aus der ehemaligen Sowjetunion. Hinzu kamen Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge sowie die bereits vor Kriegsbeginn zum Arbeitseinsatz herangezogenen deutschen „Ar­beits­­juden“. Zwangsarbeit fand in allen Bereichen der kommunalen Wirtschaft und Verwaltung, nicht nur, wie oft angenommen, in der Rüstungsindustrie statt. So waren bspw. viele „Ostarbei­terinnen“ in der privaten Hauswirtschaft beschäftigt, Verkehrsbetriebe griffen ebenso auf ZwangsarbeiterInnen zurück wie die Stadtverwaltung; ausländische Arbeitskräfte und Kriegsgefangene wurden für Bom­ben­räum­kom­mandos, die Müllabfuhr, den Bau von Luftschutzbunkern, Arbeiten auf dem Friedhof und den Schlachthöfen herangezogen. Kurzum lässt sich sagen, dass die Aufrechterhaltung des kommunalen Lebens nicht nur vom System der Zwangsarbeit, im Nationalsozialismus im allgemeinen als „Ausländereinsatz“ bezeichnet, profitierte, sondern von diesem abhing.

Dass Zwangsarbeit kein Phänomen war, das am Rande der Gesellschaft stattfand, sondern ein zentraler Bestandteil der nationalsozialistischen Lebens- und Arbeitswelt, zeigt sich an verschiedenen Punkten. Im ersten Teil sind beispielhaft hierfür die Formen der Unterbringung von Zwangs­arbei­terInnen beschrieben worden. Neu errichtete Barackenlager, umfunktionierte Kultureinrichtungen, Schulen oder Gast­höfe, Kleingartenanlagen oder Sportplätze waren über das gesamte Stadtgebiet verteilt.

KZ-Außenlager

Einen besonderen Aspekt in der Geschichte der Zwangsarbeit bildet die Errichtung von KZ-Außenlagern im kompletten Reichsgebiet. Ab 1943 wurde so in großem Umfang der Einsatz von Häftlingen auch in Betrieben ermöglicht, die sich nicht in unmittelbarer Nähe zu einem Konzentrationslager befanden.

In Leipzig wurden 1943 und 1944 insgesamt acht Außenlager eingerichtet. Diese gehörten dem Stammlager Buchenwald an, wobei die Häftlinge selbst aus verschiedenen Konzentrationslagern, wie aus Ravensbrück und Stutthoff herangezogen wurden. Die Betriebe, die als Nutznießer dieser Arbeitskraftbeschaffung hervortraten, waren in Leipzig und Markkleeberg mit den Erla-Werken, Junkers und ATG (Allgemeine Transportanlagen) vor allem in der Flugzeugproduktion tätig. Größ­te Arbeitgeberin war allerdings die HASAG (Hugo Schneider Aktiengesellschaft) in Leipzig-Schönefeld auf dem Areal des heutigen Wissen­schaftsparks zwischen Per­moser­straße und Torgauer Straße. Sie war einzige Herstellerin der Panzerfaust und eine der größten deutschen Muni­tions­fabrikantinnen überhaupt. Am Leip­ziger Stammbetrieb wurden ein Männer- und ein Frauenlager eingerichtet, wovon das Frauenlager mit über 5.000 Häftlingen das mit Abstand größte Leipziger KZ-Außenlager war.

Die Ausbeutung der Arbeitskraft von Häftlingen war nicht nur für Betriebe von Vorteil, sondern auch für die Konzentrationslager lukrativ. Vertragspartner für die Unternehmen, die sich um die Beschäftigung von Häftlingen bewarben, war die SS, an die auch der Lohn, eine Art Kopfgeld, für die ArbeiterInnen floss. Entsprachen die Häftlinge nicht den gewünschten Anforderungen der Betriebe, wurden diese relativ problemlos ersetzt. Bei der Ankunft der ersten Häftlinge im KZ-Außenlager in Leipzig-Grünau etwa wurden von Seiten der Firmenleitung der ATG die Ankömmlinge überprüft und fünf Frauen als „unbrauchbar“ ausgemustert. Diese wurden in den sicheren Tod zurückgeschickt und binnen weniger Tage durch „vollwertige“ Arbeiterinnen gemäß Vereinbarung ersetzt. [1] Das Schicksal, das ihnen bei mangelnder Leistung drohte, war den KZ-Häftlingen offenbar bekannt. Felicja Karay, eine überlebende Zwangsarbeiterin bei der HASAG, hat in verschiedenen Veröffentlichungen den Lebensalltag der KZ-Häftlinge dokumentiert. „Wir gingen zur Arbeit, kehrten ins Lager zurück, bekamen Suppe. Nur durchhalten! Nur nicht umfallen! Nur nicht auf Transport gehen!“ [2]

Für Felicia Karay war, wie für viele andere Häftlinge, der Arbeitseinsatz in den letzten beiden Kriegsjahren in Deutsch­land, nur eine letzte Station der Ausbeutung. Eine Vielzahl der HASAG-Zwangsarbeite­rIn­nen in Leipzig aber auch in anderen großen Außenlagern, wie in Meuselwitz oder Schlieben, kamen aus den HASAG-Außenstellen im Generalgouvernement. In Skarzysko-Kamienna, Tschen­stochau und Kielce hatte die HASAG bereits kurz nach Kriegsbeginn die Rüstungsbetriebe übernommen. Die dort ansässigen ArbeiterIn­nen, insbeson­dere das Fachpersonal, wurden unter Dienstverpflichtung in die deutschen Arbeitstätten geholt und durch polnische JüdInnen ersetzt. Wieviele Menschen in diesen Arbeitslagern starben, ist weiterhin unerforscht. Überlieferungen, wie denen von Felicia Karay, zufolge, wurden über dreißig Prozent durch die Arbeit, Krankheiten, aber auch willkürliche Hinrichtungen durch den Werkschutz getötet. Sie galten als entbehrlich, ihre Arbeitskraft war ersetzbar.

Lebens- und Arbeitsbedingungen

Die ZwangsarbeiterInnen im Reichsgebiet, KZ-Häftlinge wie auch Kriegsgefangene und „zivile“ ArbeiterInnen, waren anderen Lebens- und Arbeitsbedingungen als im Generalgouvernement ausgesetzt. Ab­hän­gig von Status, Art der Arbeit und Un­ter­bringung aber auch von Herkunft und entsprechender „rassischer“ Einordnung waren die Bedingungen, unter denen die Zwangs­arbeiterInnen leben und arbeiten mussten, unterschiedlich. Dennoch waren selbst die besser gestellten ausländischen Arbei­terInnen, wie z.B. Freiwillige aus verbündeten Staaten, dem Primat des „Ausländereinsatzes“ unterworfen. Oberstes Ziel war die günstige Gewinnung von Arbeitskraft für die deutsche Kriegswirt­schaft. Für das Gros der ZwangsarbeiterIn­nen bedeutete dies Ausbeutung, Terror und Verelendung. Tägliche Arbeitsdauer von 12 Stunden und mehr bei minimaler Verpflegung, ungenügender bis gar keiner Ausstattung mit Arbeitskleidung sowie kostensparender Unterbringung waren alltäglich. Viele ZwangsarbeiterInnen litten in der Folge der Lebens- und Arbeits­be­dingungen an Begleiterscheinungen von Mangel- und Unterernährung. Die unzureichende hygienische Ausstattung der mei­sten Lager führte zu vielen Krankheiten und ständiger Seuchengefahr.

Die Formen der Ausbeutung mochten variieren, grundsätzlich galt aber, dass der ein­zige Wert und Nutzen der nach Deutsch­land geholten Menschen in ihrer Arbeitsfähigkeit bestand und mit dieser endete. Kranke oder verletzte ArbeiterIn­nen oder auch schwangere Frauen, Kleinkinder und Neugeborene waren Belastung für Betriebe und Staat. Wenn keine Aussicht auf rasche Wiederherstellung der Arbeitskraft bestand, wurden diese in gesonderten Einrichtungen und Lagern dem Sterben überlassen oder auch auf Sondertransporten „zurückgeschickt“. Die Überlebenschance auf diesen Transporten kam der Deportation in Vernichtungslager gleich. Die meisten dieser Personen verschwanden einfach. Ihr Schicksal ist bis heute größtenteils ungeklärt.

Dem Primärziel des Systems des „Auslän­dereinsatzes“ folgend, war es jedoch nicht nur im Interesse der Betriebe sondern auch der beteiligten Institutionen, wie den Arbeitsämtern, den Aufwand einer „Entsorgung“ von Arbeitsunfähigen zu vermeiden und grundsätzlich die Arbeitskraft der ein­mal hierhergeholten Menschen zu erhalten. So lag es nicht an einer veränderten Fürsorgehaltung, dass sich im Verlauf des Krieges, insbesondere ab 1944, die Bedingungen für ZwangsarbeiterInnen zum Teil verbesserten. In dem Moment, als sich abzeichnete, dass der Nachschub an neuen ausländischen Arbeitskräften ausbleiben würde, wurden zunehmend Versuche unternommen, die Arbeits- und Lebensbedingungen für die ZwangsarbeiterInnen vor Ort zu verbessern. In Leipzig wurden bspw. Umzäunungen von „Ostarbeiterlagern“ entfernt und Essensrationen erhöht. Viele Betriebe versuchten mit Zugeständnissen oder Anreizen in Form von Lohnerhöhungen oder ähnlichem auf die Arbeitsmoral einzuwirken und forderten gleichzeitig von städtischen Einrichtungen eine Verbesserung der Lebensqualität jenseits des Arbeitsplatzes. Dies betraf vor allem die hygienischen Zustände, die Eindämmung von Seuchengefahren und die allgemeine medizinische Versorgung.

Kriegsende und Erinnerung

Kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner wurden die Konzentrationslager aufgegeben und die Häftlinge auf sogenannte Eva­kuierungsmärsche geschickt. Dies galt auch für die Leipziger Außenlager, von wo die Märsche unter anderem in Richtung Oschatz, Riesa und Wurzen führten. Aufgrund der hohen Sterbeziffer durch Krankheit, Erschöpfung, Erschießungen und Tötungen bei Fluchtversuchen spricht man seit der Nachkriegszeit von diesen Märschen als „Todesmärschen“.

Einige Leipziger Häftlinge, die als zu krank oder gehunfähig für die Märsche befunden wurden, sollten auf den Befehl der Leitstelle der Gestapo in Leipzig „beseitigt“ werden. Sie wurden am 18. April 1945 während des Mittagessens in Baracken im KZ-Außenlager in Abtnaundorf eingeschlossen, diese wurden zugenagelt und angezündet. Von den 307 betroffenen Menschen verbrannten 84 bei lebendigem Leib, andere wurden bei Fluchtversuchen erschossen.

An die KZ-Außenlager von Junkers in Markkleeberg und der HASAG in der Permo­serstraße erinnern heute Gedenksteine, in der Theklaer Straße erinnert ein Obelisk an das „Massaker von Abtnaun­dorf“. Hier findet jährlich am 27. Januar im Rahmen der Feierlichkeiten zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz eine eher spärlich besuchte Kranzniederlegung statt. An die tausen­den anderen Opfer des Systems der Zwangs­arbeit in Leipzig wird allerdings nirgendwo erinnert.

(teckla)

[1] Irmgard Seidel, Leipzig-Schönau, in Wolfgang Benz, Barbara Distel, Der Ort des Terrors, Bd. 3, München 2006, S. 494.

[2] Felicja Karay, Wir lebten zwischen Granaten und Gedichten, Köln 2001, S.142.

Die üblichen Verdächtigen

Der Fall Kamal K.

Die Ermittlungen zum Tod des 19-Jährigen Irakers Kamal K. kommen nur schleppend voran. Dabei sind die Vorgänge in groben Zügen bekannt: In der Nacht zum 24. Oktober 2010 traf Kamal, der von seiner Freundin und einem Bekannten begleitet wurde, in einem Park beim Hauptbahnhof mit den beiden mutmaßlichen Tätern Marcus E. und Daniel K. zusammen. Diese suchten Streit, es kam zu einer Auseinandersetzung, bei der sie Kamal K. zunächst schlugen und mit Reizgas besprühten. Schon am Boden liegend, wurde Kamal dann mit einem Messerstich so schwer verletzt, dass er wenig später starb.

Die beiden Tatverdächtigen wurden unmittelbar nach dem Vorfall vorläufig festgenommen. Während Marcus E. immer noch in Untersuchungshaft sitzt, ist Daniel K. seit dem 16. Dezember vorerst wieder auf freiem Fuß, offenbar weil er im Gegensatz zu E. zu einer Aussage bereit war. Laut Staatsanwaltschaft gab K. dabei zu, sich mit dem Opfer geschlagen zu haben, bestritt aber jede Verantwortung für den tödlichen Messerstich. Im Übrigen sei er zu betrunken gewesen, um sich an den konkreten Ablauf zu erinnern.

Anfang Februar 2011 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage beim Landgericht Leipzig, gegen Daniel K. nur wegen gefährlicher Körperverletzung, gegen Marcus E. zusätzlich wegen des Verdachts auf Totschlag. Mit einem Gutachten soll nun die strafrechtliche Verantwortlichkeit der beiden „zum Tatzeitpunkt nicht unerheblich alkoholisierten“ Angeklagten geklärt werden. In ihrer Pressemitteilung erklärte die Staatsanwaltschaft außerdem, die Ermittlungen hätten keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine „ausländerfeindliche“ Motivation der Tat ergeben.

Da fragt sich freilich, was denn die Staatsanwälte überhaupt als „hinreichende Anhaltspunkte“ gelten lassen würden. Immerhin ist bekannt, dass Daniel K. seit 2002 in die Neonazi-Szene involviert war, u.a. als Mitglied der Kameradschaft Aachener Land. Sein Verteidiger erklärte zwar, K. habe sich, nachdem er 2008 eine Haftstrafe antrat, von der Szene distanziert. Sympathien in diese Richtung hegt K. aber offenbar immer noch: So trug er bei seiner Festnahme einen Kapuzenpullover mit der Aufschrift „Kick off Antifascism“. Zudem wurde K. während seines Haftaufenthalts von der rechten Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene unterstützt. Nach Aussage des Aachener Journalisten Michael Klarmann ist K. „ein hartgesottener Neonazi“, „kein Mitläufer, sondern ideologisch außerordentlich gefestigt“.

Die Fakten sprechen also für ein rassistisches Tatmotiv. Um dies zu thematisieren, gründete sich kurz nach dem Tod von Kamal der Initiativkreis Antirassismus, der seitdem u.a. mit mehreren Demonstrationen an die Öffentlichkeit trat. Bleibt nur zu hoffen, dass die Wahrheit sich am Ende durchsetzt.

(justus)

Dresden Nazifrei

19. Februar 2011

Schon seit 1999 wird Dresden alljährlich um den 13. Februar herum zum Schauplatz einer der größten öffentlichen Neonazi-Veranstaltungen Europas. Und auch dieses Jahr rief die Junge Landsmannschaft Ostdeutschland zu einem „Trauermarsch“ auf, um der Opfer des alliierten Großangriffs auf Dresden im Februar 1945 zu gedenken. Die Neonazis versuchen damit die Geschichte für sich umzudeuten und das Dresden der Nazizeit (damals ein wichtiger Rüstungsstandort) als unschuldiges Opfer darzustellen. So blenden sie die Gründe für den Angriff aus und verdrängen, dass der „Bomben-Terror“ eine Reaktion auf den Expansionskrieg des nationalsozialistischen Deutschland war.

Auch die Stadt Dresden gedenkt offiziell der Opfer des Angriffs. Das mag verständlich sein, der unreflektierte Umgang mit der Gedenkkultur jedoch bietet dem „Opfermythos“ der Rechten einen Nährboden. So wird geduldet, dass sich auch Neonazis seit Jahren an diesen Veranstaltungen beteiligen oder NPD-Landtagsabgeordnete Seite an Seite mit Vertretern der „Freien Kräfte“ Kränze niederlegen. Die Vertreter der „weltoffenen“ Stadt Dresden schauen zu – und schauen weg.

Der Widerstand gegen die wachsende Übernahme des Gedenkens und die Aufmärsche tausender Neonazis war jedoch lange Zeit zu schwach. Erst 2010 schaffte es das spektrenübergreifende Bündnis Dresden Nazifrei (siehe unten) erstmals, um die 10.000 Menschen nach Dresden zu mobilisieren, die den Aufmarsch aktiv verhinderten. Trotz dieser Niederlage kamen die Neo­nazis in diesem Jahr mit gleich zwei Aufmärschen wieder – am 13. und am 19. Februar unter dem Motto „Recht auf Gedenken – der Wahrheit eine Gasse“. Der erste hatte mit gerade mal 1200 Angereisten weit weniger Teilnehmer_innen als angekündigt und wurde von Blockaden und anderen Aktionen so gestört, dass nur eine stark verkürzte Route abgelaufen werden konnte. Eine Schlappe für die Neonazis, ein gelungener Auftakt für die Gegenaktionen.

In den nächsten Tagen folgte ein gerichtliches Tauziehen: Die Stadt Dresden verbot zunächst den zweiten Aufmarsch mit dem Argument des „polizeilichen Notstands“, da am Wochenende des 19. Februar nicht genügend Einheiten für die Absicherung der Anmeldungen zur Verfügung stünden. Schließ­lich mussten Polizeikräfte bereits die Woche zuvor in Dresden und beim Castortransport von Karlsruhe nach Lubmin Dienst schieben sowie ein Fußballderby in Hamburg absichern. Das Verwaltungsgericht hielt den bevorstehenden Notstand allerdings für konstruiert. Die Anmelder bekamen Recht.

Hauptschauplatz

Die Polizei kündigte daraufhin eine strikte räumliche Trennung der beiden „Lager“ an: Die Gegendemonstrant_innen sollten in der Neustadt bleiben, die Altstadt und Südvorstadt sollte den etwa 3.000 Neonazis gehören. In der Innenstadt angemeldete Kundgebungen von Gewerkschaften und Parteien wurden verboten und in die Neustadt verlegt. Dem Rektor der Technischen Universität wurde nahegelegt, eine Veranstaltung auf dem Uni-Campus abzusagen – was er auch prompt tat. Es sah so aus, als hätten die Neonazis in diesem Jahr durch die Unterstützung von Stadt­ver­wal­tung und Ver­wal­tungsgericht freie Bahn.

Es dürfte aber nicht überraschen, dass sich das Bündnis Dresden Nazifrei und rund 20.000 Menschen da­von nicht beeindrucken ließen. Schon früh am Morgen des 19. Februar brach das von der Polizei angekündigte Konzept der strikten räumlichen Trennung in sich zusammen. Die ersten Buskonvois erreichten die Stadt. Straßen und Kreuzungen der Südvorstadt wurden besetzt. Die Polizei versuchte Busse mit Gegendemonstrant_innen an der Einfahrt nach Dresden zu hindern. Das Ergebnis waren Demonstrationszüge auf den Autobahnzubringern. So war schon früh klar, dass die Neonazis auch an diesem Tag nicht ohne einen gewaltsamen Einsatz der Polizei laufen konnten.

Bald bestimmten besetzte Straßen und Kreuzungen das Bild. Tausende Menschen, ausgestattet mit Tee, Decken und Musikinstrumenten waren bereit, den ganzen Tag auf der Straße auszuharren, begleitet und bewacht von Einheiten der Be­reit­schafts­polizeien aus dem gesamten Bundesgebiet. Rings um den Hauptbahnhof, im Stadtteil Löbtau ebenso wie in der Südvorstadt wurden Blockaden etabliert. An vielen Stellen versorgten Volxküchen die Blockierer_in­nen mit heißen Getränken und Essen, Musik erklang von Bands und Sambagruppen, auch prominente Künstler wie Konstantin Wecker und viele Politiker_innen beteiligten sich.

Doch die Anspannung war auf allen Seiten spürbar. Vielerorts wurde die Überforderung der Polizei deutlich, die sich immer wieder entlud: Es kam zum Einsatz von Pfefferspray, Pepperballs, Tränengasgranaten, Wasserwerfern, Knüppeln und schwerem Räumgerät gegen die Bloc­kierer_in­nen. Gewalt ging dabei jedoch von beiden Seiten aus. Es kam zu Sachbeschädigungen, Polizeiketten und Absperrungen wurden mit Körpereinsatz durchbrochen, Bauzäune und Mülltonnen als Hindernisse auf die Straße geräumt und teilweise angezündet, Steine flogen auf die Polizei. Das erschwerte die Arbeit der sowieso schwach aufgestellten Polizei und trug sicher auch dazu bei, dass diese im Gegenzug mit unverhältnismäßiger Härte gegen die Demons­trant_innen vorging. Es verhinderte aber auch, dass der Naziaufmarsch sich in Bewegung setzen konnte.

Nebenschauplätze

Abseits der Massen fand am frühen Nachmittag ein Angriff von ca. 200 Neonazis auf das Wohnprojekt Praxis statt. Die Fenster wurden mit Steinen und Schaufeln eingeschlagen. Die Polizei war vor Ort, sah sich aber nicht in der Lage einzugreifen bzw. schaffte es nicht entsprechend Verstärkung zu holen. Inzwischen widmet sich die Sonderkommission Rechtsextremismus (Soko Rex) des LKA Sachsen den Ermittlungen wegen Verdachts des Landfriedensbruchs im besonders schweren Fall gem. § 125a StGB.

Die bezahlten Kräfte des Tages, das SEK Sachsen, waren da bei einer Razzia erfolgreicher. Mit Kettensägeneinsatz und übers Dach gelangten sie in das Pressebüro des Bündnisses Dresden Nazifrei. Die anwesenden Mitarbeiter_innen wurden gefesselt, zum Teil in Gewahrsam genommen und alle Speichermedien beschlagnahmt.

Nach dem misslungenen Aufmarschversuch in Dresden fuhren etwa 500 Neonazis mit dem Zug nach Leipzig. Den Bahnsteig konnten sie jedoch nicht verlassen, weil der Leipziger Polizeipräsident eine Spontandemo aufgrund des polizeilichen Notstandes nicht genehmigte. Es waren nicht nur zu wenig Beamt_innen, sondern vor allem zahlreiche Gegen­demons­trant_in­nen im und um den Bahnhof zugegen.

Das Fazit des Tages: Die Neonazis wurden erneut in die Schranken gewiesen, von einem beeindruckenden Aufmarsch und einer „Gasse für die Wahrheit“ der Nazis keine Spur. Der Polizeieinsatz dagegen wird noch ein juristisches Nachspiel haben. Und das Bündnis Dresden Nazifrei wird sich nicht einschüchtern lassen. Denn immer mehr Menschen sind bereit, sich gegen Aufmärsche von Neonazis zu stellen – und dies nicht mehr nur symbolisch.

(J.M. & exa)

Bündnis Dresden Nazifrei

Das Bündnis Nazifrei – Dresden stellt sich quer! entstand im Oktober 2009. Damals organisierte das aus Antifa-Gruppen bestehende No Pasaran!-Bündnis eine Aktionskonferenz in Dresden. Ziel war es, noch mehr Initiativen an der Mobilisierung zu Massenblockaden gegen Europas größten Naziaufmarsch zu beteiligen. Im Februar 2010 gelang es durch die Beteiligung von über 12.000 Menschen aus unterschiedlichen Spektren, den Aufmarsch zu verhindern. In diesem Jahr konnte sich das Bündnis nochmals verbreitern. Aktiv an der Vorbereitung beteiligt sind Antifa-Gruppen, Gewerkschaften, Parteien, Jugend- und Stu­dieren­denverbände, Initiativen sowie engagierte Einzelpersonen.

www.dresden-nazifrei.com

Kriegseinsatz im neuen Gerüst

Probleme und Folgen der Bundeswehrreform

„Unser Entscheiden reicht weiter als unser Erkennen“, formulierte Immanuel Kant schon im 18. Jahrhundert. Die vom Ex-Minister zu Guttenberg „auf den Weg gebrachte“ Bundeswehrreform bestätigt Kants Beobachtung im Besonderen. Denn selbst konservative Köpfe raufen sich nun die Haare und überlegen, wie sie die Reform reformieren und somit die Diskrepanz und inhaltliche Distanz zwischen Problemanalyse und Reformtragweite minimieren können. Die Mi­litarisierungsgegner_innen hingegen müssen derweil aufpassen, dass sie sich angesichts der erwartbaren Folgen der vermeintlich „größten Reform der Bundeswehr in ihrer Geschichte“ nicht am eigenen hämischen Grinsen verschlucken.

Doch von vorn: Dem vorerst von der Bildfläche verschwundenen Verteidigungsminister zu Gutten­berg wurde im Juni 2010 im Rahmen des Sparpaketes (siehe FA!#38) der Auftrag erteilt, im eigenen Haushalt 8,3 Milliarden Euro einzusparen. Da dies aber nicht das einzige zu bearbeitende Problemfeld auf seinem Schreibtisch darstellte, verknüpfte er kurzerhand verschiedene innen- und außenpolitische Anforderungen sowie drängende Strukturfragen und präsentierte dann eine Bundeswehrreform, die Geschichte schreiben sollte – eine Reform, die Qualitätssteigerung und gleichzeitig finanzielle Einsparung versprach. Oder auch qualitative Aufrüstung bei quantitativer Abrüstung. Kernelement dieser ist jedenfalls der Umbau der Armee weg von der Wehrpflicht hin zur Freiwilligenarmee. Gesprochen wird allerdings nur von einer (wenn auch dauerhaft vorstellbaren) „Aussetzung“, denn das Grundgesetz solle nicht gleich verändert werden, sondern als „Rückversicherung“ weiter die allgemeine Wehrpflicht führen. So wurde das vorher für CDU/CSU Undenkbare nun als Fortschritt verkündet und prompt zum Heil- und Profilie­rungs­mittel ausgebaut. Im Reformpaket enthalten sind aber nicht nur die Abkehr von der Wehrpflicht und somit die Reduzierung der Zahl der Bundeswehrbesoldeten, sondern weitreichende Veränderungen, durch die am Ende eine weit größere Anzahl an Soldat_innen für Auslandseinsätze zur Verfügung stehen wird (1). Zudem sollen Führungsstrukturen um- und die allgemeine Einstellungsdauer ausgebaut werden sowie Investitionen in neueres militärisches Equipment erfolgen. Unterm Strich der Rechnung sollte damit zum einen eine immense Kosteneinsparung, zum anderen eine Steigerung der internationalen Anerkennung durch größere Hand­lungs­fähig­keit in Militär­bün­dnissen stehen.

Doch wurde die Rechnung ohne den Wirt gemacht, der nicht nur anders bilanziert, sondern auch noch auf sein Trinkgeld besteht. Denn mit dem Wegfall der Pflicht muss nicht nur das Anreiz- oder Prämiensystem aufgestockt werden, damit weiterhin viele Menschen beschließen ihr kostbares Leben an den Staat zu verkaufen. Auch für den Zivildienst – ohne den unzählige soziale Einrichtungen sprichwörtlich einpacken können, weil ihnen die kostengünstigen Arbeitsplätze abhanden kommen – müssen Ersatzregelungen gefunden und finanzielle Mittel bereit gestellt werden. Schlussendlich zählt die Bundeswehr (glücklicher Weise) nicht zu den beliebtesten Institutionen, so dass auch der Werbeetat beachtlich aufgestockt werden muss, will man das Rekrutie­rungs­problem in den Griff bekommen. So belaufen sich derzeit die unge­plan­ten, nun geschätzten Mehrkosten auf ca. 2 Milliarden Euro. Oder noch viel mehr, wie einige Reformkritiker_innen befürchten. Auch den er­warte­ten internationalen Pres­tige­gewinn stellen diese in Frage, ist doch die Reform lediglich monetär motiviert, nicht aber in ein klares sicherheitsstrategisches Konzept integriert. So fehlt ihnen die sicherheitspolitische Herleitung der Re­form­notwendig­keiten und eine Anknüpfung an die im „Weißbuch“ der Bundeswehr formulierten militärstrategischen Zielsetzungen und Aufgaben der Armee. Zwar passt der Umbau, weg von der Wehrpflicht, in das Bild der obsolet gewordenen klassischen Landesverteidigung (2). Aller­dings reicht das Argument, man wolle die deutsche Beteiligung an Auslandseinsätzen steigern, allein kaum aus, um die ge­schichtsträchtigen „Staatsbürger in Uniform“ durch Söldner_innen zu ersetzen. Insgesamt scheint also der geplante historische Meilenstein „Bundeswehrreform“ zum strategisch kopflosen Unterfangen und finanziellen Nullsummenspiel zu mutieren. Oder er schlägt als Bumerang zurück und erzwingt weitere inhaltliche und organisatorische Umbauprozesse ungeahnten Ausmaßes.

Alte Probleme, neue Brisanz

Doch diese Entwicklungen sind leider kein Grund zur Freude für Militärgegner_innen. Obgleich mensch herzlich darüber streiten kann, ob nun die Wehrpflicht oder die Freiwilligenarmee das kleinere Übel darstellt, wird doch v.a. deutlich, dass mit dieser Reform nicht abgerüstet, sondern massiv aufge­rüstet wird. Denn zukünftig wird es mehr Sol­dat_innen geben, die in aller Welt für deutsche Interessen (gewalt-)tätig werden, die Welt­politik in erschütternder Weise maßgeblich mit beeinflussen und dabei helfen, dass bestehende Konflikte zu endlos anmutenden Kriegen ausufern. So waren in den letzten 20 Jahren insgesamt über 300 000 Sol­dat_innen in 37 Auslandseinsätzen aktiv. Derzeit gibt es 12 laufende Auslandseinsätze unter der Beteiligung Deutschlands mit über 7000 Bundeswehrkräften (3). Zur lang­fris­tigen Friedenssicherung tragen die militä­rischen Interventionen aber in den seltensten Fällen bei. Zudem lehrt uns auch das Bei­spiel Afghanistan, dass die Abzugspers­pektive ein hart umstrittenes und schwieriges Thema ist, wenn die „internationale Gemeinschaft“ einmal angefangen hat mitzumischen. Es profitieren also oftmals lediglich die Rüstungsindustrie und jene Akteure, die im Schatten der aktuellen „Friedensstifter“ ihre Geschäfte abwickeln können.

Weiter wird sich durch die Reform das Klientel der deutschen Waffenträger_innen wohl zugunsten derjenigen verschieben, die keine kritische Haltung oder eine geringere Hemmschwelle gegenüber der Anwendung von Gewalt in verschiedensten Ausprägungen haben – schließlich haben sie sich bewusst (wenn auch nicht unbedingt durchdacht) für diesen Job beworben. Es ist auch erwartbar, dass der Großteil der künftigen Soldat_innen, analog zu den Entwicklungen in den USA, eher aus jenen Menschen besteht, die für sich kaum anderweitige Einkommensperspektiven sehen. Schon jetzt beträgt der Anteil der Soldat_innen im Auslandseinsatz, die aus den strukturschwachen Regionen in Ostdeutschland kommen, rund 50% und liegt bei den „niederen“ Rängen sogar bei 62,5% (4).

Schlussendlich wird die Bundeswehr durch ihre Nachwuchssorgen auch im Inneren in immer unerträg­lich­erem Ausmaß auf sich aufmerksam machen müssen. Bereits jetzt bemüht sie sich um Ak­zep­tanz­steigerung und Re­krutenwer­bung: Durch Infostände auf öffentlichen Plätzen, Messen und Stadt­teil­festen; Wer­bung in Arbeitsämtern, Schulen und Universitäten; Sponsoring bei Sportvereinen; mediale Offensiven in Film, Zeitung, Radio und Internet; Anzeigen in Straßenbahnen oder durch eigene öffentliche Veranstaltungen. Eine Verstärkung der Bemühungen sich als attraktiver Arbeitgeber und kompetenter sowie kostengünstiger Ausbilder zu präsentieren (z.B. durch ein kostenfreies Studium), ist bereits beschlossene Sache. Eine besonders herausstechende Strategie ist hierbei die verstärkte und zunehmend institutionalisierte Präsenz an Schulen, wo sich Jugendoffiziere als Expert_innen im Bereich der Sicherheitspolitik und der politischen Bildung geben und Jugendlichen sowohl die vermeintliche Notwendigkeit von Militär vermitteln, als auch die Bundeswehr als coolen und „sicheren“ Arbeitgeber bewerben (siehe Kasten).

Mit Verstand zum Widerstand

Bei so viel Präsenz im Inneren und Schadensverrichtung außerhalb Deutschlands ist breiter Widerstand wichtig. Glaubte man früher, die Friedensbewegung der 60er und 70er sei „ausgestorben“, ist doch seit 1999, dem Beginn der deutschen Beteiligung an Auslandseinsätzen, eine kleine Renaissance und Zulauf bei den Friedensbewegten zu vernehmen. In nahezu jeder größeren Stadt gibt es inzwischen (wieder) Menschen die sich zusammenfinden, um gemeinsam gegen den Afghanistan-Einsatz mobil zu machen, oder der öffentlichen Bundeswehrpräsenz ihren Protest entgegen zu setzen. Zudem gibt es einige Organisationen sowie unzählige Internet­seiten und Blogs, auf denen sich vernetzt und inhaltlich diskutiert wird, Informationen zusammengestellt, Aktionsideen gesammelt und Materialien zur Verfügung gestellt werden (5). Besonders jetzt, wo durch die Bundes­wehrreform das weltweite Töten und Kämpfen im Namen „westlicher Werte“ wieder verstärkt salonfähig gemacht werden soll, ist lautstarker und unmittelbarer Protest vor der Haustür das gebotene Mittel der Stunde.

(momo)

 

(1) Die Bundeswehr umfasst derzeit ca. 250.000 Soldat_innen, von denen „nur“ ca. 7000 in Auslandseinsätze geschickt werden (können). In Zukunft soll die gesamte Armee nur noch aus ca. 180.000 Menschen bestehen, von denen dann ca. 15.000 (mindestens aber 10.000) im Ausland tätig sein sollen. Durch den Personalumbau und die Neuerung, dass alle freiwillig Wehrdienstleistenden auch ins Ausland geschickt werden können, sollen aber insgesamt über 130.000 der Soldat_innen für etwaige Auslandseinsätze ausgebildet sein. (Friedensjournal Nov. 2010 und „Blätter für deutsche und internationale Politik“ 3/2011)

(2) Die Geschichte der Bundeswehr begann 1955 unter Adenauer (unter heftigen Auseinandersetzungen, ob Deutschland überhaupt je wieder über eine Armee verfügen sollte) der diese als „Verteidigungsarmee“ aus dem Bundesgrenzschutz heraus gründete. Ziel war hier die klassische Landesverteidigung im Falle eines Angriffs vom kommunistischen Gegner; Kernelement die Wehrpflicht – auch um die weltanschauliche Entfernung der Soldat_innen vom Staatsbürger zu verhindern. Mit Ende des Kalten Krieges und dem Wegfall der direkten „Landesbedro­hung“, wandelte sich die ehemalige Verteidigungsarmee sukzessive zur Angriffsarmee, um deutsche Interessen in aller Welt umzusetzen.

(3) Die derzeitigen Einsätze: ISAF in Afghanistan und Usbekistan (4765 Soldat_innen); KFOR im Kosovo (1490 Soldat_innen); „Atalanta“ um Somalia (330 Soldat_innen); UNIFIL im Libanon (300 Soldat_innen); „Active Endeavour“ im Mittelmeer (215 Soldat_innen); EUFOR Bosnien-Herzegowina (125 Soldat_innen); „Statairmedevac“ mit Flugbasis in Deutschland (40 Soldat_innen); UNMIS im Sudan (32 Soldat_innen); EUTM Somalia (10 Soldat_innen); UNAMID im Sudan (5 Soldat­_in­nen); EUSEC im DR Kongo (3 Soldat_innen); UNAMA in Afghanistan (1 Soldat). (Friedensjournal Nov. 2010)

(4) Eine umfassende Analyse zu den neuen Rekrutierungsherausforderungen der Bundeswehr machte kürzlich die IMI: www.imi-online.de/2011.php?id=2257

(5) Einige wichtige Seiten zum Thema: www.imi-online.de; www.dfg-vk.de; www.kehrt-marsch.de; www.bundeswehr-wegtreten.org

Die Schuloffensive der Bundeswehr

Das Nachwuchs- und Akzeptanzproblem der Bundeswehr lässt sich am effektivsten durch eine hohe Präsenz an Schulen lösen. Diese Erkenntnis ist nicht neu und wird seit Jahren in zunehmendem Maß in die Praxis umgesetzt. Allein im Jahr 2009 führten Jugendoffiziere und Wehrdienstberater bundesweit über 17.000 Veranstaltungen in Bildungseinrichtungen durch und erreichten so knapp 400.000 (!) Jugendliche. Während sich die Wehrdienstberater direkt mit der Nachwuchsrekrutierung beschäftigen, werden die gut geschulten Jugendoffiziere als Expert_innen in Fragen Sicherheits- und Bildungspolitik eingeladen. In Präsentationen oder mit Hilfe des eigens entwickelten Planspiels „Pol&IS (Politik und Internationale Sicherheit) vermitteln sie jungen Menschen die vermeintliche Notwendigkeit von Armeen und „informieren“ über die „friedensstiftenden Maßnahmen“ der Bundeswehr im Ausland. Unterstützt wird diese Schuloffensive durch Lehrerfortbildungen und Seminare für Referendar_innen, die kostenlosen Unterrichtsmaterialien „Frieden & Sicherheit“ und Kooperationsvereinbarungen mit den Kultusministerien der Bundesländer. Letzteres ist eine besonders favorisierte Strategie, um auch künftig einen einfacheren Zugang zu Schuleinrichtungen zu erhalten: Acht Bundesländer – seit Dezember 2010 auch Sachsen – haben bereits Vereinbarungen mit der Bundeswehr abgeschlossen und wollen die Zusammenarbeit künftig intensivieren.

Auch hier lohnt und formiert sich jedoch Widerstand: Verschiedenste Organisationen mobilisieren derzeit lokal, landes- oder bundesweit gegen etwaige Kooperationsvereinbarungen und die Präsenz der Bundeswehr an Schulen. Dabei ist der „Beutelsbacher Konsens“, der die Mindestanforderungen an politische Bildung festlegt und dabei das Kontroversitätsgebot und Überwältigungsverbot aufstellt, ein wichtiges Argument, um der Bundeswehrpräsenz an Schulen Einhalt zu gebieten.

 

Infos u.a. im IMI-Factsheet: imi-online.de/download/factsheet_BW_Schule2010.pdf