Ende Juli 2001 demonstrierten rund 300.000 Menschen in Genua gegen die unmenschliche Politik der G8 und artikulierten im Rahmen des Genua Sozial Forums alternative Entwürfe einer gerechteren Welt. Die Repression gegen die Proteste war von einer barbarischen Brutalität, wie es wohl keiner, auch nach den Schüssen von Göteborg, jemals für möglich gehalten hätte. Die Höhepunkte der Gewalt waren die Ermordung von Carlo Guiliani, die Massaker in der Diaz-Schule und die Verschleppung hunderter Menschen in die Bolzaneto-Kaserne. Die Bilder und Berichte über diese Verbrechen haben sich vielen eingebrannt. Doch was bedeutet „Genua“ heute? Schon im Vorfeld des G8-Gipfels im Juli 2001 in Genua, formierten sich einige AnwältInnen zum Genoa Legal Forum (GLF) um den Beschneidungen der Grundrechte, die im Rahmen der Proteste gegen den Gipfel zu erwarten waren, entgegenzustehen.
Nachdem der Nebel von tausenden von CS-Gasgranaten sich aus Genua verzogen hatte, die stählerne Trennmauer, die die Stadt über Wochen teilte abgebaut und die meisten der – häufig illegal – inhaftierten Menschen wieder auf freien Fuß waren, begann die juristische „Aufarbeitung“ der Revolte von Genua. Für Empörung, Verzweiflung und ein Gefühl der Ohnmacht sorgte 2003 der Freispruch für den jungen Carabinieri, der Carlo Guiliani während der Proteste am 20. Juli 2001 auf der Piazza Alimonda in den Kopf schoss. Der Carabinieri Placanica hat bis heute keine Aussage gemacht und plant bei den nächsten Kommunalwahlen für die rechtsextreme Alleanza Nazionale zu kandidieren. Der zweite Prozess, der schon abgeschlossen wurde, ist der gegen die Opfer des Überfalls auf die Diaz-Schule. Er endete mit Freisprüchen.
Im Moment ist die Arbeit des GLF durch drei große Prozesse bestimmt. Zum einen ist dies die bestmögliche Verteidigung von 25 Angeklagten aus ganz Italien, zum anderen die Nebenklage in den Prozessen gegen die Polizisten, die am Angriff auf die Diaz-Schule und die Verschleppung hunderter Demonstranten in die Bolzaneto-Kaserne beteiligt waren.
Die Verteidigung der 25 Menschen, die der „Verwüstung und Plünderung“ angeklagt sind, ist dabei sicherlich eine Hauptaufgabe. Diese Protestteilnehmer sind von massiven Haftstrafen bedroht. Der Strafrahmen beträgt bei einer Verurteilung unter diesem Paragraphen zwischen acht und fünfzehn Jahren. Zum letzten Mal angewandt wurde dieser Paragraph 1945 nach Ende der deutschen Besatzung gegen Plünderer! Jetzt soll er zum ersten Mal gegen Demonstranten angewendet werden. Die italienische Justiz versucht mit diesem abwegig hohen Strafmaß an den 25 Angeklagten ein Exempel zu statuieren, um so die gesamte Linke in Italien zu verunsichern und die Protestbewegung gegen die kapitalistische Globalisierung von weiterem Widerstand abzuhalten. Die Verfahren gegen die 25 scheinen indes nur die Spitze der juristischen Repression nach Genua zu sein. Es gilt als sicher, dass um die 50 weitere Ermittlungsverfahren gegen Protestteilnehmer abgeschlossen in der Schublade der italienischen Justiz liegen und es nur eine Frage der Zeit ist, dass Anklage mit ähnlich schweren Vorwürfen erhoben wird. Die Verjährungsfrist für den Vorwurf der „Verwüstung und Plünderung“ beträgt dabei 50 Jahre! Weitere 200 Prozesse gegen Personen aus Italien und auch dem Ausland, die am Rande der Proteste verhaftet wurden und teilweise monatelang in italienischer U-Haft saßen, werden in nächster Zukunft eröffnet werden. Diesen Personen gilt es in Zukunft solidarisch beizustehen! Die Repression richtet sich nicht nur allein gegen diese Personen sondern gegen uns alle!
Es geht bei der Verteidigung der vielen Angeklagten vor allem auch darum, den Kontext zu betonen, aus dem heraus es zur Revolte des 20. und 21. Julis kam. Anhand der zum Prozess zugelassenen Beweismaterialien wird versucht zu rekonstruieren was zu der Revolte des 20. Juli führte. Das GLF war in der Lage dabei eine Reihe von Erfolgen zu erzielen. Neben die bekannten Thesen des „black bloc“, faschistischer Provokateure seien in der Demo gewesen etc., rückte zum ersten Mal als Erklärungsmöglichkeit für die eskalierten Gewalt auch der massive Angriff verschiedener Polizeieinheiten auf die genehmigte und bis zu diesem Zeitpunkt absolut friedliche Demonstration der Tute bianche. Unter anderem gelang es dem GLF eindeutig zu dokumentieren, dass von Teilen der Polizei bei diesen Angriffen Stahlrohre oder „frisierte“ Schlagstöcke eingesetzt wurden. Die den Angeklagten vorgeworfenen Taten müssen in diesem Kontext bewertet werden. Sie sind als Teil einer Revolte gegen massive Einschränkungen der Menschenrechte bis hin zur versuchten gewaltsamen Unterbindung einer genehmigten Demonstration zu verstehen und zu beurteilen.
In den beiden Verfahren, die gegen Polizisten geführt werden, kämpft das GLF für die Rechte der Nebenklage. Dies ist zum einen der Diaz-Prozess, in dem 29 Personen angeklagt sind. Darunter einige ranghohe Polizisten und Carabinieri so z.B. der Polizeipräsident, der Chef der Antiterrorpolizei und der Vize des Staatsschutzes Digos, die allerdings bis heute in ihren Ämtern sind oder erst nach den Ereignissen von Genua in diese befördert wurden. Ihnen wird vorgeworfen, am Überfall auf die Diaz-Schule in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 2001 beteiligt gewesen zu sein oder diesen befehligt zu haben und Beweise gefälscht zu haben. In dieser Nacht stürmten rund 300 Polizisten die Schule, in der u.a. das Indymedia-Zentrum und eine erste Hilfe Station untergebracht waren und 93 Menschen schliefen. 81 Personen wurden bei dem stattfindenden Massaker verletzt. Drei von ihnen schwebten über Tage in Lebensgefahr, viele wurden ohne medizinische Hilfe in die Kaserne Bolzaneto verbracht. Im Verfahren um die Ereignisse dort, sind insgesamt 47 Angehörige von Polizia und Carabinieri sowie Ärzte angeklagt. Sie müssen sich für die dort stattgefundene Folter, die Misshandlungen und Demütigungen sowie wegen unterlassener Hilfeleistung verantworten.
In den beiden Verfahren scheint die italienische Justiz auf Verschleppung zu setzen. Allerdings gibt es hier ein wenig Hoffnung, dass es zumindest zum Abschluss der Verfahren kommen wird, was bisher durchaus nicht so schien. So waren die Verfahren wegen der Angriffe auf die Diaz-Schule und das Bolzaneto-Verfahren bisher vom so genannten „Lex Previti“ betroffen. Dabei handelt es sich um ein Gesetz, das Silvio Berlusconi auf seine Interessen zuschneidern ließ, und das die Zeitspanne für Strafverfahren nahezu halbierte. Somit könnten lang andauernde Strafverfahren ohne Urteil beendet werden. (1) Trotzdem sieht es so aus, als wolle die italienische Justiz die Prozesse wenn möglich mit Freisprüchen enden lassen. Nicht zuletzt von der Regierung würde dies sehr begrüßt werden. Silvio Berlusconi (FI) und Gianfranco Fini (AN) bezeichneten die angeklagten Polizisten schon mal als Helden.
Das Genoa Legal Forum und seine UnterstützerInnen leisten dabei Arbeit unter schwersten Bedingungen, denn die Verteidigung der vom Staat ausgewählten Delinquenten und vor allem die Berichterstattung aus den Prozessen ist nicht gern gesehen. Seit 2004 wird das GLF unterstützt durch die Arbeit von Supportolegale, einem Zusammenschluss von Menschen, die international für die Gerechtigkeit und die Freiheit aller Protestteilnehmer von Genua kämpfen. Ein wichtiger Punkt dabei ist vor allem die Finanzierung. Die Kosten für die Verfahren der Diaz- und Bolzaneto-Opfer und die Verteidigung der 25, belaufen sich monatlich auf ungefähr 10.000 Euro.
Schon während der Proteste in Genua und direkt danach, zog ein Sturm der Empörung durch alle „links-alternativen“ Zusammenhänge, bei manchen folgte die Wut, spätestens als klar wurde, welches Ausmaß die staatliche Gewalt hatte. In ganz Europa gab es in unzähligen Städten und wahrscheinlich vor den meisten italienischen Botschaften und Konsulaten Demonstrationen und Kundgebungen. Es folgte eine Welle der Solidarität mit den Inhaftierten und von staatlicher Repression Betroffenen. Heute ist das Interesse an den Prozessen innerhalb der Linken in Italien und erst recht außerhalb der italienischen Staatsgrenzen doch sehr gering. Der Unterstützerkreis ist eine personell gleich bleibende Gruppe. Wie konnte es passieren, dass die Erinnerung so schnell verblasste? Eine Erklärung ist sicher die betriebene Spaltungspolitik, der nicht klar genug entgegengetreten wurde! Solidarität nur für „unsere guten“ Demonstranten, die unschuldig misshandelt wurden?
Auf den Straßen Genuas wurde nicht unterschieden zwischen den unterschiedlichen politischen Spektren bevor draufgeschlagen wurde. Es war egal ob Mensch schwarz, weiß oder pinkandsilver trug. Es war ein Angriff auf unser Recht unsereMeinung zu äußern, auf unsere Rechte als Menschen, für den allein die italienische Regierung, Polizia und Carabinieri, als Handlanger der zutiefst undemokratischen Politik der G8 verantwortlich sind. Wir sollten uns nicht fragen, was genau die 25 getan haben, sondern warum sie es getan haben! Wir sind das Gedächtnis an die Ereignisse von Genua. Wir werden es schaffen, dass die Revolte von Genua nicht, wie sich das viele wünschen, die für die Verbrechen verantwortlich sind, in der Geschichtslosigkeit des Kapitalismus versinkt. Sorgen wir dafür, dass es als das was es war, einer Revolte gegen das Aufheben von Menschenrechten, in unsere Geschichte eingeht.
La memoria e` un ingranaggio colletivo! Freiheit für die 25 Menschen vor italienischen Gerichten! Solidarität mit allen Opfern der Repression!
Rote Hilfe Leipzig
(1) “Lex Previti”: www.tagesspiegel.de/politik/index.asp?ran=on&url=http://archiv.tagesspiegel.de/archiv/09.10.2005/2105805.asp
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