Archiv der Kategorie: Feierabend! #29

Nix Neues im Leipziger Osten

Naziaktivitäten und Antifa in Reudnitz

Dass es naiv war zu glauben, mit dem Ende der Worch-Aufmärsche gäbe es in Leipzig kein Problem mehr mit Neonazis, konnte man schon am 22. Juni 2007 sehen. Einen Tag nachdem Christian Worch mit einem kleinen Fußvolk von ge­rade mal 34 Personen durch Leipzig mar­schiert war, führten die „Freien Kräfte Leipzig“ eine Spontandemo in Reudnitz durch, an der sich etwa 100 Kamer­adIn­nen beteiligten. Ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass mit der hiesigen Neonazi-Szene noch zu rechnen sei.

Vor allem in Reudnitz konnten sich die „Frei­en Kräfte“ im letzten Jahr etablieren. Nach dem Modell der „Autonomen Nationalisten“ legen sie auf Abgrenzung gegenüber der als zu wenig radikal empfun­de­nen NPD Wert, äußerlich orientiert man sich bei Kleidung und Gestaltung von Transparenten und Aufklebern an links­radikalen Gruppen. Hinzu kommt, dass man sich nicht auf Propaganda-Ak­tio­nen beschränkt, sondern auch vor ge­walt­tätigen Übergriffen auf reale oder vermeintliche politische Gegner nicht zu­rück­geschreckt wird. Dies demonstrierten die „Freien Kräfte“ u.a. am 27. September 2007, als sie im Verbund mit rechten Lok-Hools [gewaltverliebte Fußballfans] ver­suchten, eine im Rahmen der Proteste gegen den „Tønsberg“-Laden in der Leip­zi­ger Innenstadt stattfindende Kundgebung der Jusos zu attackieren – ein Vorhaben, dass an den zahlreich anwesenden An­tifas und dem Eingreifen der Polizei schei­terte. Vor al­lem wurde aber ein in der Reud­nitzer Hol­steinstraße gelegenes, zum Teil von Stu­den­tInnen bewohntes Haus in den letzten Mo­naten zum Ziel von An­grif­fen. So attac­kier­ten am 22.11.2007 rund 40 Personen das Haus, u.a. mit Leuchtraketen. Schon vor­her waren an der Hauswand neonazi­stische Schmierereien angebracht worden.

Dass es mittlerweile auch gute Kon­takte zu auswärtigen Neonazi-Gruppen gibt, zeig­ten die „Freien Kräfte“ mit einem Auf­marsch am 12. Januar 2008, an dem sich etwa 350 Nasen beteiligten (siehe auch FA! #28). Die Zwischenkundgebung fand da­bei – mit Genehmigung des Ordnungsamtes – direkt vor dem erwähnten Haus statt. Als die Bewohner ver­suchten, die Kund­­­gebung mit lauter Musik zu stören, stürmte die Polizei das Haus, schal­te­te den Strom ab (wobei der Sicherungs­kasten stark beschädigt wurde) und be­droh­te die Bewohner. Wegen der Genehmigung der Demonstration und insbesondere des Ortes für die Zwi­schenkundgebung geriet auch Ord­nungs­bür­ger­meister Heiko Rosenthal (Die Linke) in die Kritik – zuvor hatte sich dieser den Umstand, dass die Nazidemo rei­bungs­los über die Bühne gehen konnte, noch als Erfolg angerechnet. Wie berechtigt diese Kritik war, konnte man schon eine Woche später sehen: Am 19. Januar wur­de das Haus erneut attackiert, die An­grei­fer dran­gen dabei in das Innere des Hau­ses ein. Sie versuchten, sich Zugang zu einer Wohnung zu verschaffen, woran sie von den Be­woh­nerInnen nur mit großer Anstrengung ge­hindert werden konnten. Die Angreifer war­fen Feuerwerkskörper, eine Fenster­schei­be wurde eingeschlagen.

Diese Vorgänge rufen mittlerweile vermehrten Widerstand hervor. So fand Ende Februar eine Aktionswoche statt, bei der mit In­for­mationsveranstaltungen und Vorträgen versucht wurde, für das Problem zu sen­si­bilisieren. Den Schlusspunkt bildete am 1. März eine antifaschistische Demonstration durch Reudnitz. Der Tag begann mit Sturmböen, Hagel und Gewitter. Obwohl das Wetter weiterhin ungemütlich windig und nasskalt blieb, fanden sich am frühen Nachmittag an die 800 AntifaschistInnen, Vertreter der Linken und der Grünen ebenso wie Reudnitzer BürgerInnen am S-Bahnhof Stötteritz ein. Schon am Vortag hatte es eine Antifa-Spontandemo in Groß­zscho­cher gegeben, einem Stadtteil, wo ebenfalls ver­mehrt Nazi-Aktivitäten zu verzeichnen sind. Diese Demonstration wurde jedoch von der Polizei gewaltsam beendet, dabei gab es mehrere (zum Teil schwer) Verletzte.

Bei der Demo in Reudnitz hielten sich die Beamten dankenswerterweise zurück. Zwar waren auch hier mehrere Hundertschaften im Einsatz, im Vorfeld wurden – wie es bei Antifa-Demos mittlerweile zur Gewohnheit wird – die Personalien der Teil­neh­me­rInnen aufgenommen, um mut­maßliche „Gefährder“ ausfindig zu machen. Die De­monstration selbst verlief weitgehend ohne Zwischenfälle, wenn man davon ab­sieht, dass 6 De­mon­strantInnen verhaftet wurden.

In der Holsteinstraße wurde eine Zwi­schen­­kundgebung abgehalten, einer der Bewohner des angegriffenen Hauses schilderte in seiner Rede die Vorgänge der letzten Monate. Ein weiterer Grund für die Wahl dieses Platzes war der Fakt, dass Istvan Repaczki – der bei den „Freien Kräf­ten“ eine zentrale Rolle spielt und u.a. als Anmelder des Neonazi-Aufmarsches vom 12. Januar fungierte – gleich um die Ecke (in der Oststraße) wohnt. Auch diesem wurde ein Redebeitrag gewidmet und nahegelegt, sich doch einen anderen Ort zum Wohnen zu suchen. Von dieser Art Kraft­meierei, wie man sie von vielen An­tifa-Demos kennt, mag man halten, was man will. Es ist auch zweifelhaft, ob es sinn­voll ist, sich als AntifaschistIn darüber lustig zu machen, dass Herr Repaczki ja selbst kein „richtiger Deutscher“ sei.

Überhaupt entsprachen viele Ansagen und Redebeiträge nur zu sehr den Erwartungen. Man ist eben gegen Nazis, tieferge­hen­de Kritik kommt da oft zu kurz. „Das Problem heißt Deutsch­land“ war fast schon die tiefgründigste Aussage, zu der der Sprecher der Leipziger Antifa (LeA), der die meiste Zeit das Mikrofon in der Hand hatte, sich hinreißen ließ. Nervig war auch der arrogante Tonfall, der immer wieder aufkommt, wenn die lokale Antifa sich mal aus dem heimischen Kiez herauswagt – als würden in anderen Teilen Leipzigs sonstwas für hinterwäldlerische Zustände herrschen. Es fragt sich, ob Leute, die zufällig nicht in Connewitz wohnen und gerade darum in ihrem Alltag weit stärker mit Neonazis konfrontiert sind, von solchem elitären Gehabe nicht eher abgestoßen werden. Lobenswert immerhin, dass während der Demo zweimal ein vorproduziertes Statement gegen homophobe und sexistische Sprüchen und Verhaltensweisen bei Antifa-Demos abgespielt wurde. Ein wenig Selbstkritik hat noch keinem geschadet…

(justus)

Wächterhäuser – Ist Lindenau denn noch zu retten?

Stadtentwicklung im Leipziger Westen zwischen Abriss und Hauserhalt, zwischen Erbwerbslosigkeit und Armut

Ausflug gen Westen

Fernab des städteplanerischen Größenwahns der Stadtoberen; weit weg vom Knirschen und Schieben jenes Ungetüms namens „Leonie“ (1), dass sich da mitten durch das Leipziger Herz frisst und nicht mehr als vergoldete Immobilien und feiste Investoren hinterlässt; gleich hinter der Elster, wo vom Auenwald her zum Leutzscher Holz hin ein frischer Atem die Stadt auf­stöh­­nen lässt, dicht gekauert in den Leip­ziger We­sten, liegt Lindenau; abgekoppelt von der Stadt­entwicklung und amtlicher Hafen & Hei­mat für viele aus dem Er­werbs­lo­sen­heer der ARGE zu Leipzig.

Die Rittersippe von und zu Lindenau würde sicher stau­nen, hätte sie vor Augen, welche Spuren die Industrialisierung an ihrem einst so be­schaulichen Bauern­dorf hinterlassen hat. Ja … ja hätte nicht ein gewisser Karl Hei­ne Mit­­te des 19. Jahrhunderts all sein Bemühen daran gesetzt, aus dem kleinen Dörfchen eine Fabrikhölle des aufstrebenden deut­­schen Junkerregimes zu machen, viel­leicht gäbe es dann ja gar kein architektonisches Substanzproblem in den gäh­nend kah­len Schluchten der Arbeiterviertel, kein darbendes Gewerbe, keine soziale Notlage, keinen so hohen Drogen-&-Al­ko­hol-Konsum … sondern eine Perspektive, beschaulich zwar, aber immerhin.

Denn mit der gescheiterten Leip­ziger Olympia-Bewerbung sind auch unter den Optimisten die letzten Hoff­nungs­laternen ausgegangen, dass der fette Speck von selbst zum armen Mäuschen kriecht und der Stadtteil sich wie von „un­sicht­barer Hand“ aus seinen Struktur­prob­le­men pellt. Die Industrie ist lange weg und wo keine Brachen und Ruinen gammeln, da strahlen frisch geweißte Häuser­wän­de vom schie­fen Schein notdürftiger Sanierung und ver­höhnen die „Moder­ni­sie­rung“. Die meisten Quartiere sind auf die Normen der Be­darfs­gemeinschaften zugeschnitten, „an­ge­­harzt“ sozusagen. Es fehlt überall an rege­ne­ra­tiven Flächen, Nutzräu­men und tagtäglich rollt die Blechlawine über den Westen Richtung Schkeuditz/Autobahn oder Halle. Die meisten Leute haben kein Geld in der Tasche und dement­spre­chend schlecht geht‘s dem Gewerbe. „Blau nach Linde­nau“, wie die Leipziger Ver­kehrs­be­triebe wer­ben, d.h. fern der sozialen Stigma­ti­sie­rung vor allen Dingen eines: Perspektiv­lo­sigkeit. Über­­all in Lindenau ist sie spürbar, diese re­­signierte Unruhe eines desillusio­nier­ten Klein­bürgertums, das den Dienst­­lei­stungs­zug des dritten Marktes verpasst hat und nun in der deindustria­li­sier­ten Sack­gasse fest­sitzt. Weder Arbeit noch ein schönes Le­ben und schon gar nicht bei­des zusammen, wie es sich der korpo­rier­te Freimaurer und Groß­grundbesitzer Heine mit seiner Westend-Baugesellschaft wohl erträumt hatte; nichts von dem, was vor 150 Jahren einem phantasiereichen bürgerlichem Bewusstsein noch möglich schien: rauchende Schlote, mit Maschinendampf und Heizöl vermischten Schweiß und den Dreck der Gossen als „blü­hende Landschaft“ vorzuschwärmen; nichts davon ist heute wirklich. Wie es der obe­ren Einkommensklasse an Visionen fehlt, so der unteren an Hoffnung und Mut. Und wo beides abhanden kömmt, da mangelt es der bürgerlichen Re­vo­lution eben an dem Zunder, der sie der­einst noch vorwärts trieb.

Häuser halten!?

Nun könnte man fragen, warum bauen wir Lindenau nicht zum Dorf zurück? Offensichtlich war dies ja auch ein Hintergedanke der Olympia-Planer, als sie im Rah­men der Leipziger Bewerbung weite Tei­le Lindenaus für das olympische Dorf vorsahen und tausende von modernen Apartment-Wohnungen entstehen lassen wollten. Die Antwort darauf ist ganz einfach: Es fehlt sowohl am Geld als auch am Bedarf und der Stadtteil schmachtet nun schon länger in der sogenannten „Ertragslücke“. Der nach ­wie vor hohe Leerstand in Leipzig drückt auf die Mietpreise und hält Immobilien-Spekulanten davon ab, hier in Wohn­­raum zu investieren. Andersherum sind die meisten Miet­parteien vordergründig nicht an einer qua­li­tativen Aufwertung ihrer Wohn­ver­hält­nis­se, sondern an möglichst nie­drigen Preisen interessiert, da die astronomisch gestie­ge­­nen Öl- und Gaspreise mittlerweile fast die Hälfte der fixen monatlichen Kosten bean­spru­chen. Von den schmalen Lohntüten, so­fern überhaupt vorhanden, der starken In­fla­tion und den gestiegenen Mobilitätskosten mal ganz abgesehen. Um quasi so­ vie­le Lücken in die Lin­de­nauer Ar­bei­tervier­tel zu reißen und diese zu renaturieren, dass man wieder von einem „Dorf“ reden könnte, steht weder genügend Geld noch Interesse interner wie externer Investoren zur Verfü­gung. Einzig blieben die hoch­verschuldeten staat­lichen Instanzen von Stadt, Land und Bund. Und die leisten sich wegen der akuten Schuldenlage eben nur prestigeträchtige Groß­projekte wie Autobahnen oder Flughäfen und den City-Tunnel bspw., bzw. finan­zieren ansonsten nur den lokalen und be­schränk­ten Abriss. Baugrundstücke sind ja auch was wert, wenn da nur die entspre­chen­de Nachfrage da wä­re. Es bleibt dabei: Auch unter staatlicher Ob­hut würde unser vor­ge­stell­tes Re-Design Lindenaus minde­stens auf hal­ber Strecke stagnieren und von dörflicher Be­schaulich­keit könnte man im Bild riesiger Betonflä­chen, dröger Werbeta­feln und ver­waister Ge­­wer­­be­viertel, kaum re­den.

Wenn also der sozialverträgliche Rückbau Lin­denaus ausfällt und eine Re-Industrialisierung sowieso unrealistisch ist, dann steht schließlich am Ende nur eine Pa­ro­le: Die Häuser halten! Für eine emanzipatorische Perspektive in Lindenau hieße das frei­lich vor allen Dingen: Häuser besetzen! Und sie der Spekulation entziehen, um Frei­räu­me aufzubauen, innerhalb derer sich der ‚ge­meine‘ Lindenauer in Solidarität und Zu­­sam­menarbeit, in antikapi­ta­listischen Prak­ti­­ken übt, die ihn letztlich be­fähigen, sich der na­tio­nalistischen Regression des Be­wusst­­seins und dem Stumpfsinn von Staat und Partei ent­gegen zu stellen. Und Freiräu­me sollen eben das ja sein: Orte, an denen das freie Denken von Alternativen und pro­gres­­sive soziale Experimente ihren Platz finden. Auf den Erfolg gibt es da­bei nie eine Ga­rantie, aber solche Entfaltungsräume sind schließ­lich die Bedingung der Möglich­keit emanzipatorischer Entwicklungen. Und das ganz im Sinne Rosa Luxemburgs etwa, die im Streik und der Gewerkschaft eben auch nur ein Mittel zur Sozialisation der Mas­sen sah, also die Freisetzung von der Arbeit und von der Isolation am Arbeitsplatz als Bedingung der Möglichkeit dafür annahm, eine emanzipatorische Entwicklung kollektiv voranzutreiben. Hier wie da geht es erstmal darum, gegenüber der kapi­ta­­li­stischen Konkurrenz und deren Lei­stungs­zwang einen Freiraum behaupten zu können, um über­haupt handlungsfähig zu werden.

Nun, zumindest der erste Teil dieser Bedingung ist ja in Lindenau erfüllt, die meisten EinwohnerInnen sind von der Arbeit „freigesetzt“. Doch leider fehlt es sowohl am nötigen Bewusstsein, bspw. über die gemeinsa­me soziale Lage, als auch an wirksamen Organisationen, um die freie Zeit durch die Eroberung von Freiräumen besser, und das heißt hier schon progressiv, zu nutzen. Die gesamte Leipziger Linke, über den palavernden Staats­sozialisten oder nationaltümelnden Gewerkschafter bis hin zum linksradika­len Krypto-Kom­munisten, alle sind da­bei, dieselben Fehler zu wiederholen, wie in Reud­­nitz und Schönefeld/Neu-Schönefeld, wo mittlerweile die Freien Kräfte und andere faschistische Kol­lek­tive die politische Rhyth­­mik der Viertel dominieren. Auch der Feierabend! selbst kann sich von dieser Kritik nicht ausnehmen, ist es doch in den letzten Jahren weder in Reud­nitz, noch in Neu-/Schönefeld, noch in Lindenau gelungen, wei­tere Verkaufsstel­len aufzubauen.

Nochmals muss also der Zoom der Lupe erhöht werden, um auf noch konkreterer Ebe­ne zu sehen, wo sich in Lindenau über­haupt ema­n­zipatorische Impulse und Freiräume bil­den. Und hier erst, wo nun schon wirklich kleine Brezeln gebacken und von ei­ner er­bau­lichen Perspektive wahrlich kaum noch ge­sprochen werden kann, rückt die Arbeit des HausHalten e.V. ins Zentrum der Be­trach­tung. Denn wer aufmerksam durch Lin­­de­nau und Plagwitz wandert, wird hier und da feststellen, dass an unsa­nierten Häusern ein großes gelbes Banner mit der Aufschrift prangt: Wächterhaus. Ganz der Paro­le vom „Häuser halten!“ verpflichtet, bemüht sich ein Verein von Architekten und Stadt­planern schon seit 2003/04 darum, vor al­len Dingen einige der stark gefährdeten Linde­nauer „Gründerhäuser“ vor dem Verfall zu retten.

Das Wächterhaus – zwischen bloßem Substanzschutz und wirklicher Stadtentwicklung

Propagierte dieser gemäßigte und bürgerlich-liberale Verein einzig den Substanzschutz im Viertel und hätte neben völlig ab­strusen musealen Vorstellungen keinen Blick für die soziale Lage, es wäre müßig, sich mit sei­ner Arbeit näher auseinander zu setzen. Da das „Wächterhaus-Konzept“ des Haus­Halten e.V. aber vor allen Dingen auf ei­gen­lei­stende NutzerInnen, die sogenannten „Wäch­ter“ setzt, tritt der Verein gegenteilig sehr offensiv mit dem Anspruch auf, Stadt­­entwicklung nicht nur im rein archi­tek­­­tonisch substanziellen Sinne, sondern vor allem im sozialen Sinne zu betreiben. Gün­sti­ger Nutzraum soll die Attraktivität der an­gren­zenden Quartiere erhöhen, Kün­stle­rInnen, Gruppen und Projekte ins Viertel zie­­hen, ihnen Entfaltungsraum geben und so das soziale Leben bereichern, nicht weniger haben sich die Mitglieder des Vereins auf die Fahnen geschrieben. Der/Die politisch versierte Leser/in wird sich sofort fra­gen: „Lebensbereicherung“, steckt hinter dieser Phrase wirklich eine konkrete so­zial­­po­li­tische Qualität? Wird hier nicht der blo­­ße Substanzschutz blumenreich ausgeschmückt? Und wie soll das gehen, Stadt­ent­­­wicklung im sozialen Sinne, ohne eine po­­li­­tis­che Perspektive, die den engen Zwing­­­­kreis von Arbeit und Geld letztlich sprengt? Der Ver­ein stellt ja Boden- und Im­mo­bilien-Spe­ku­lationen keineswegs in Frage. Im Gegenteil: Sein Programm zielt gera­de darauf ab, zu­rück­gebliebene Immobi­­lien wieder in den Markt einzugliedern. Die Skep­sis gegenüber dem Anspruch des Haus­Halten e.V. wirk­liche Stadtentwicklung mit dem „Wäch­terhaus-Konzept“ zu betreiben, hat al­so genügend Anlass laut ausgesprochen zu wer­den. Um allerdings vom Zweifel zur ernst­­haften Kritik fortzuschreiten, müssen wir den Gegenstand auch auf seine Sach­hal­­tig­keit hin prüfen. Denn es kann ja sein, dass sich trotz der mangelhaften Ausrichtung des Vereins, hinter der hohlen Phrase von der Bereicherung des sozialen Lebens, auf der in­­­direkten Ebene, über die Potentiale des Wäch­terhaus-Konzeptes selbst, Freiräume bil­den, die emanzipative Prozesse fördern. Das ist die Spur, der wir im weiteren folgen wol­len, wenn wir das Konzept der Wächterhäuser hier näher untersuchen, Fragen an die Mitglieder des HausHalten e.V. stellen (siehe hier) und in den folgenden Heften Exkursionen in die Le­bens­realitäten der „Wäch­ter“ starten.

Im ersten Schritt ist deshalb zu prüfen, ob die Nutzung der Häuser ausgerichtet auf eine soziale Entwicklung der angrenzenden Quar­tiere überhaupt genügend Berücksichtigung im Gesamtkonzept des Vereines findet. Denn schließlich sollen die nutzenden Wächter ja die Träger und Protagonisten sol­cher positiven Prozesse sein. Welche Par­ti­zipations­mög­lichkeiten haben sie? Welche Geltung wird ihren Interessen zugestanden?

Des weiteren gilt es zu untersuchen, inwieweit der Verein seine Nutzungs­vorstel­lun­gen, von denen er sich ja eben jene se­gens­reiche Wir­kung auf die Entwicklung der Viertel ver­spricht, überhaupt absichert. Gibt es Nu­t­zungs­kriterien und ihre Kon­trol­­le? Oder regiert am Ende die Beliebig­keit? Und wie will man verhindern, dass der entstehende Raum der­art genutzt wird, dass gegenteilig sozial missgünstige Entwicklungen befördert werden?

Abschließend muss dann die wirkliche Praxis, die Realitäten der Nutzung im Zentrum der Analyse stehen. Wie gehen die „Wächter“ mit den an sie herangetragenen Nut­zungs­­vorstellungen um? Welche eigenen ha­ben sie? Gibt es da Widersprüche? Einen kommunikativen Raum der Klärung? Wie schätzen die NutzerInnen das Engagement des Vereins dahingehend ein?

Danach, so ist zu hoffen, hat sich ein facet­ten­reiches Bild für eine nüchterne Einschätzung der konkreten Möglichkeiten emanzi­pa­­tiver Prozesse innerhalb und um die Wäch­­­­ter­häuser verdichtet. Und der eine oder die andere Leser/in hat genug Hinweis und Aufklärung gefunden, um sich richtig ent­­­scheiden zu können, ob nun für oder ge­gen die Nutzungsangebote des HausHal­ten e.V..

HausHalten – Die Idee vom runden Tisch der Interessen

Die Grundidee zur Rettung substanzgefähr­deter Häuser, die der Verein Haus­Halten e.V. entwickelt hat, ist oft gelobt wor­den. Mi­ni­ster haben sich die Klinke in die Hand gegeben. Sie beruht wesentlich darauf, dass sie zwei Königskinder zueinander bringt, die sonst teils aus Mangel an Interesse, teils aus Un­fähigkeit einfach nicht zusammenfinden. Das eine scheue Kindchen heißt da eigentümlich Eigenthymia, das andre schüch­­tern und bieder Stadtverwalterine. Die Problemlage hat ihre Wurzel in der Eigentumspolitik der BRD während der An­nexion der Gebiete der Ex-DDR. Die staatssozialistischen Reformen hatten dort das private Eigentum am Wohn­raum größ­tenteils abgeschafft und zentrale Mietkar­telle unter staatlicher Kontrolle dominierten den Markt. Neben den Besitz­in­te­ressen enteigneter Eigentümer ging es bei der „Wen­de“ also vor allen Dingen um eine Öff­nung dieses Marktes, um das Freisetzen der kapi­ta­listischen Konkurrenz. Es war deshalb nicht vorrangig aus moralischen Beweggründen erforderlich, die Rechtsgeschichte der DDR zu negieren, sondern in erster Li­nie aus ökonomischen Kalkülen. Die juristische Grund­lage hierfür lieferte die Restitu­tionsgesetzgebung, die allgemein gesprochen Rück­forderungsansprüche bei widerrechtlichen Aneignungen regelt. Nachdem also der Bund per treuhänderischer Verwaltung die bestehenden Kartelle übernommen und sich die besten Rosinen zum Wei­terver­scher­beln angeeignet hatte, legte er die Ver­wal­tung in die Hände der Kommunen & Stadt­verwaltungen und stellte es seinen Bür­gern ansonsten frei, in den alten Papieren zu blät­tern und wenn entspre­chen­de Rechts­titel noch vorhanden, die Immobilien zurück in private Hand zu fordern. Es gibt sicher heute noch hier und da vergreisten Spätadel, der ohne es zu wissen, Grund und Boden im Osten besitzen (könn­te). Frei­­lich machte auch nicht jeder von seinen Ansprüchen Gebrauch und Fälle von un­­geklärten Rechtsfolgen, verschollenen Er­­bengemeinschaften und verschwundenen Pa­pieren gab es genug. Hier half das Konzept der kommunalen Woh­nungsbau­gesell­schaften aus, das sich in der BRD schon beim Ausstieg der Zentralge­werk­schaf­ten aus dem sozialen Wohnungsbau und der Über­­nahme vieler gewerkschaftlicher Wohn­-Immobilien bewährt hatte (2). In die­­sen lokalen Kartellen, oftmals hundert­pro­zentige Tochterunternehmen der kom­munalen Stadtverwaltungen, sammelte sich der Restbestand der unveräußerlichen Immobilien. Teils als reine Kredit-Ab­siche­­rung, teils als Instrument sozialpolitischer Pro­gramme oder auch über bloße Ver­kaufs­ge­­­win­ne waren diese Wohnungsbauge­sell­­schaf­­ten in den 90ern die Spina dorsalis, das Rückgrat der lokalen Stadtent­wicklun­gen unter kommunaler Verwaltung. Aller­dings befanden sich in diesem ausgesiebten „Rest“ auch kaum noch viele verwertbare Rosinen, so­ dass der Kostendruck durch abrissge­fähr­dete Häu­ser und Investi­tions­­ruinen von An­fang an ziemlich hoch war und immer noch wächst.

In diese Lage, von jedem Interesse entkop­pel­ter Immobilien, stößt nun die „Einzelfall-Tak­tik“ des Vereins Haushalten (3). Ein­zelne, aus dem Markt herausgefallene Im­mobilien sollen „aufgefangen“ und auf­ge­wertet werden. Schlech­terdings wird die Sub­­stanz des Hauses erhalten und die Unterhaltskosten in pri­vate Hand verlegt, be­sten­falls gewinnt die Im­mobilie wieder an Wert und lässt sich an den Kreis der üblichen Marktspekulation rück­koppeln. Der Ver­ein tritt dabei wesentlich als Dienstleister auf, der die Opportuni­tätskosten beider Parteien, also den Aufwand der Stadtverwaltung und den Widerstand des eigentlichen Besitzers, senkt, um beide Seiten und ihre un­terschiedlichen Inte­­ressen, die beiden Kö­nigskinder, an einen Tisch zu bekommen. Ei­nerseits bedient er die Interessen der kom­munalen Stadtver­wal­tung, die Erhal­tungs­kosten unrentabler Wohn­­immobilien loszu­wer­den bei gleichzeitiger Aussicht auf Stadt­er­neue­rung und einen permanenten An­­sprech­part­ner in Sachen Besitzpflichten, an­de­rerseits ködert er den investitionsscheuen Eigentümer mit hausei­genen Bau­gut­achten, Schät­zung & Planung und Fremd­­leistun­gen, um dessen Interesse auf hö­here Rendite am Objekt zu fördern.

Den Schlüsselfaktor der Strategie bildet da­bei die eigentliche Nutzung. Denn ohne „Wäch­­ter“, die ein verfallsbedrohtes Haus re­­­vitalisieren, heizen, lüften etc. pp., ist ein sol­­­ches Objekt kaum ohne weitere Groß-In­­­ve­stition im Wert zu steigern. Und gerade die hohen Investitionskosten halten ja vie­­le Besitzer davon ab, ihre Immobilien auf­zu­­werten bzw. zu „halten“. Der Verein re­kru­tiert deshalb NutzerInnen, Künstler­grup­­­pen, Vereine etc., die bereit sind, un­kom­for­tab­le Ver­hältnisse und hohe Eigen­lei­stun­gen in Kauf zu nehmen, um kurzfri­stig (in der Regel fünf Jahre) günstigen bis miet­freien Nutz­­raum (i.d.R. kein Wohnraum) in den quasi vor­übergehend vom Ver­ein verwalteten Häu­sern zu erhalten. Der HausHal­ten e.V. schließt hierzu Nutzungs­ver­träge ab, so­ge­­­­­nann­te Gestattungsver­ein­ba­rungen „Raum“, die den Nutzraum, die Zeit und die Art und Weise der Nutzung fest­stellen, den Nutzern grundversorgende In­standhal­tungs­­maßnah­men wie Elektro- und Wasser­an­schlüsse, Dach­sicherung und sa­nitäre Anlagen zusichern und gewisse Ent­schädigungen für Eigenleistungen bei vor­fristigen Ver­­­trags­kün­digungen regeln. Die Nut­zungs­ver­träge sind alle binnen drei Mo­naten kündbar, was einem herkömmlichen Miet­verhältnis entspricht. Der Haus­Halten e.V. kann des­halb als quasi besitzender Vermieter auftreten, da er gleichzeitig mit dem derzeitigen Verwalter bzw. rechtmä­ßi­gen Eigentümer des entsprechenden Objektes ei­ne sogenannte Ge­stattungsverein­ba­rung „Haus“ abschließt, in welcher dem Ver­ein Ver­wal­tungs­rechte übertragen werden und die Be­reiterklärung erfolgt, grund­ver­­sor­gen­de In­standsetzun­gen und erste Be­sitzpflichten hin­sichtlich der Verkehrs­si­cher­heit und Haf­tung der Immo­bi­lie zu über­nehmen. Durch diese doppelte Ver­trags­­struk­tur zwischen NutzerIn und Verein und zwi­schen Ver­ein und Eigentümer/Ver­walter, al­so ei­nerseits durch die Zusicherung über die Nut­ze­rInnen, monatliche Be­triebs­­kosten­ab­schlä­ge zu zahlen und ande­re­rseits durch die Versicherung des Besitzers, eine dies­­­be­zügliche Abrechnung auch in Gang zu setzen, etabliert der Verein so et­was wie ei­ne Vor­­form eines gewöhnlichen Miet­ver­hält­­nisses. Und von daher versteht sich auch das Ziel des Vereins, die Wächterhäuser wie­der zu „entlassen“. Gemeint ist da­mit näm­lich in erster Linie der Rückzug der vermittelnden Vertragsstruktur bei gleich­­zeitiger Etab­lie­rung eines direkten Miet­­vertra­ges zwischen den Parteien. Was na­­türlich im weiteren bedeutet, dass der Ei­gen­tümer be­­ginnt, seine wertgesteigerte Im­­mobilie bes­­ser zu pflegen und weiter zu in­vestieren (Hurra, hurra, der Markt ist wie­­der da!) und die Stadt­verwaltung bzw. Kom­mune sich da­rüber freuen kann, ein miss­liebiges Objekt aus dem Bestand losgeworden zu sein und gleichzeitig nun ein Ansprechpartner für Besitzpflich­ten und Kostenumlagen existiert.

Brosamen von der Herren Tische

Also rundherum ein Tisch, an dem alle Interessen gleichberechtigt zur Geltung gelangen? Ein Ideal-Modell um verfallsbedrohte Häu­ser zu halten und die maroden Arbei­ter­vier­tel wieder zu vitalisieren, mit emanzi­pa­to­rischen Impulsen gar zu beleben? Nein, denn insbesondere die direkten Interessen der Nut­zerInnen werden in dieser Interes­sens­run­de vorrangig vom Verein repräsentiert. Und hier liegt auch der Hase im Pfeffer. Genau be­se­hen wird nämlich die runde Interessenstafel hauptsächlich durch die substanzerhaltenden Kal­küle gestiftet. Der Ei­­gentümer hofft auf mehr Rendite, die Ver­waltung auf sinkende Ko­sten und ein gutes Stadtbild und der Ver­ein auf die Rettung architektonisch wert­voller Ge­bäude. Die Nutzung scheint letztlich nur Mit­tel zum Zweck, zweitrangig und be­liebig zu sein. Von einem umfassenden sozialpolitischen Plan, einer langfristigen Perspektive so­zia­ler Stadtentwicklung finden sich also wenig Spuren. Der Verein be­hält sich zwar vor, am konkreten Nutzungskonzept zu entscheiden, ob die jeweilige Nut­zung sinnvoll und pas­send zu seinen aktuellen Stadtent­wick­lungs-Vorstellungen ist. Letztlich aber ist da­von auszugehen, dass jede x-beliebige Nutzung in Kauf genommen wird, um ein leerstehendes Haus, bei dem die Verhand­lun­gsten­den­zen mit den anderen Parteien bereits positiv sind, mit „Wäch­tern“ zu besetzen. Es sticht da­bei der Wider­spruch besonders heraus, dass der Verein zwar über die konkrete Nutzung so­ziale Stadtent­wick­lung betreiben will, dafür aber keinerlei eindeutige Kriterien anzugeben weiß, was den Schluss nahelegt, dass er gar kei­ne spezifischen Vorstellungen progressiver sozia­ler Stadtentwicklung ausgebildet hat. Stadtentwicklung gilt allein dann schon als er­folg­­­reich, wenn die Immobilien an die freie Spe­­kulat­ion des Marktes angekoppelt sind und von privaten Investoren wieder markt­kon­­form betrieben werden. Dass damit auch das schnelle Aus alternativer Nutzun­gen droht, wie im Beispiel der Lower East Side in New York (3), verschweigt der Verein tunlichst, denn auf langfristige Perspekti­ven hat er es gar nicht abgesehen. Das Wäch­ter­haus-Konzept begnügt sich mit einer Ni­schen­politik, bei der letztlich vor allem die Ka­­pi­tal-Interessen von Eigentümer und Stadt­­verwaltung be­dient werden. Zwar stellt er auch An­sprech­partner für die Nutze­rIn­nen ab, aber ob auf dieser Kommunikationsebene Fragen der hausübergreifenden sozialen Stadtent­wick­lung überhaupt verhandelt wer­den, bleibt äußerst fraglich. Man kann so­gar da­von ausgehen, dass der Verein durch die kurz­fristige Projektanlage und dem Ziel der Mark­trückbindung, schließlich durch die Inte­ressensvertretung von Stadt und Be­sit­zer, progressive Vorstellungen über Nutzung und Wirkung der Wächterhäuser un­ter­bindet, insofern diese bei den NutzerIn­nen über­haupt vorhanden sind bzw. angesammelt werden. Aufwertung der Quartiere, d.h. für die Stadtplaner des HausHalten e.V. auch nicht viel mehr als Wertsteigerung der Immobilien. Noch dazu verhindert der Ver­ein über die Re-Aktivierung des rechtmä­ßi­gen Besitzers und die Etablierung gewöhnlicher Mietverhältnisse, dass solche Häuser anderweitig und langfristiger „besetzt“ und genutzt werden.

Es bleibt also Alles in allem ein fades Bild zu­rück. Wenn die Wächterhäuser in Linde­nau und Plagwitz Freiräume eröffnen und em­an­­zipatorische Impulse in die angrenzenden Quartiere ausstrahlen, dann wohl haupt­­säch­lich durch die Eigeninitiative der dort an­ge­siedelten „Wächter“, sofern diese nicht vom Verein selbst ausgebremst werden. Das wird in den folgenden Heften noch genauer an den konkreten Projekten zu untersuchen sein. Und sicher, der entstandene Nutzraum und die, wenn auch kurze, Zeit der alternati­ven Nut­zung, befördern solche Möglichkeiten des sozialen Engagements. Den­noch sollte sich jedeR, der/die erwägt, in ein Wächterhaus zu ziehen, klar darüber sein, auf welcher Schmalspur der Verein HausHalten e.V. ei­gentlich plant. Die hohen Eigenleistungen wer­den zwar durch den günstigen Nutzungspreis ei­ni­germaßen ausgeglichen, aber lang­fri­stig ar­beitet mensch hier nur dem Besitzer in die Taschen. Und wenn diesem, der Stadt oder dem Verein die Nutzung nicht mehr passt, ja dann, flattert wohl ganz schnell die Kündigung ins Haus.

Auf dieser Grundlage sind die Wächterhäu­ser ganz sicher nicht der neue Rettungsanker Lindenaus, nicht mal ein Tropfen in die trockene Kehle. Denn solange die Priorität al­lein auf den Substanzschutz und die spe­ku­lative Verwertbarkeit der Häuser gelegt wird, solange fehlt eben eine handfeste und lang­fristig nachhaltige Per­spektive für die positive soziale Stadtent­wicklung in den Vierteln. Und um diese vor­an zu treiben, soll­te man in Zukunft nicht die Häuser „halten“, um sie dem Besitzer at­trak­tiv zu machen, son­dern jene enteignen, die ja offensichtlich kein Interesse mehr an ih­rem Besitz aufbringen, und die Häuser eben „besetzen“ und kol­lektivieren. Als neue Ba­stionen des sozialen Zusammenlebens könn­ten diese dann bspw. selbstverwaltete Ar­beitsbörsen, auto­no­me Mie­ter­kol­lek­tive oder Büros von unab­hängigen Stadt­teil­räten, Gewerk­schafts­syn­di­katen und anderen sozial aktiven Gruppen beherbergen, schließ­lich Raum für Fahr­ge­mein­schaften bis hin zur gemeinsamen Kin­­derbetreuung bieten; etwas an­de­res frei­lich als erlebnisorientierte Künst­lerInnen und kreative Individuen des verarmten Bil­dungs­bürgertums. Eine solche Perspektive blie­be sicher nicht im Kleinen stehen und nö­­tigt dem Standpunkt einiges an Idealismus ab. Aber ohne den, zumindest ohne den Mut und die Hoffnung der unteren Schichten, werden in Lindenau auch in Zukunft nur kleine Brezeln gebacken, Brosamen von der Herren Tische, die den Hunger und die Trostlosigkeit kaum stillen.

(clov)

 

(1) Der Leipziger City-Tunnel-Bohrer, den man extra für die unterirdischen Baumaßnahmen entwickelt hat, wurde auf den wenig phantasiereichen Namen „Leonie“ getauft. Das ganze Bauprojekt dürfte durch die anhaltenden Verzögerungen (3 Jahre +) mittlerweile schon ca. 1,5 Milliarden Eu­ro verschlungen haben. Allein der Eigenanteil von Stadt und Land ist im letzten Jahr von 500 Mil­lionen auf weit über 800 Millionen geklettert.

(2) Siehe hierzu auch FA!#25 „Neue Häuser“

(3) Freilich ist die Strategie nicht ganz neu. Schon in den 1980ern wurde bspw. genau mit die­sem Mo­dell (5-Jahres-Verträge mit kreativen Köp­fen, In­tellektuellen etc. pp.) die Lower East Side in New York entwickelt bzw. „gentrifiziert“. Mit der Fol­­ge, dass die meisten der Angeworbenen nach Ab­lauf der Verträge durch das teilweise bis auf über 500% gestiegene Mietniveau wieder ver­drängt wurden. Siehe hierzu auch das interes­san­te Interview in der aktuellen Direkten Aktion mit Prof. Dr. Neil Smith aus New York, der dort schon seit langem zu Gentrifizierungsfragen forscht: DA, Nr. 186, „Kapitaler Abschaum“, S. 6

„Vom Rand her schrumpfen“

Fritjof Mothes im Interview

Fritjof Mothes, geboren 1970, innerhalb des Vereins für Nutzerbetreuung und Eigentümerberatung zuständig, ist Stadt- und Regionalplaner, Mitherausgeber der „Leipziger Blätter“ und einer der Initiativgeber zur Gründung von HausHalten e.V. sowie Vorstandsmitglied.

FA!: Sie sind von Beruf Stadt- und Regionalplaner, wie kam es zur Idee, zum Verein HausHalten und wann?

Fritjof Mothes: Als Stadtplaner produziert man ja viel Papier, nur an der Umsetzung ha­­pert es meistens. Wir wollten 2003 mal pro­­bieren, ob man das Konzept der Stadt­teilplanung für den Leipziger Westen auch in die Tat umsetzen kann. Damals haben wir uns pro Haus nur eine Person vorgestellt, die dort lebt und arbeitet. Letzt­end­lich hat sich ein Team aus Beteiligten, welche sich aus diesen Zusammen­hängen kannte, zusammengefunden mit dem Ziel, ein praktisches Beispiel zu schaffen und zu sehen, ob das tragfähig ist.

FA!: In knapp 4 Jahren von einer lokalen Initiative zu einem staatlich gefördertem Kompetenzzentrum. Sind sie zufrieden mit den Fortschritten des Vereins? Werden ihnen Steine in den Weg gelegt?

FM: Wir sind von der Resonanz, vor allem von der Nachfrage, was Interessenten für die Nutzung der Gebäude betrifft, über­­rascht. Wir hatten schon Zweifel, ins­be­­­­­­­­son­­­dere als wir im letzten Jahr den Schritt in den Osten getan haben, wo wir mit der Ludwigstraße und der Eisenbahn­stra­­ße zwei Häuser haben, die sehr groß sind. Aber auch dort hatten wir nach we­nig­­­­­en Besichtigungen das Haus quasi voll. Nur manch­mal hatten wir Schwierigkeiten, die Eigentümer zu überzeugen, weil die sich unter dem Konzept nichts vor­stel­­l­­­­en konnten. Generell können wir uns über mangelnde Unterstützung nicht be­schwe­­r­­en. Problematisch ist eher, dass wir als kleiner Verein mit rund zehn Mitgliedern mit den Kapazitäten an die Grenzen stoßen.

FA!: Das Wächterhaus-Konzept ist eigentlich unabhängig vom Interesse der Stadt, be­vor­­zugt die Substanz an vorhandenen Grün­der­häusern zu erhalten. Warum also stehen ge­rade diese Häuser im Zentrum der Aktivi­tä­ten des Vereins und können Sie sich vorstellen, dass etwa auch Plattenbauten bspw. in Grünau als „Wächterhäuser“ fungieren?

FM: Grundsätzlich orientieren wir uns da­nach, dass wir bewusst nicht in Stadtteile wie Südvorstadt oder Connewitz gehen, die es auf dem Immobilienmarkt leich­ter ha­ben. Wir glauben, dass sich da auch nor­male Investoren zur Genüge finden. Wir ge­hen ganz bewusst in die Stadtteile, wo wir Probleme sehen, wie bei­spiels­­­weise im Leip­ziger Osten und Westen. Man kon­nte vor einigen Jahren nicht sagen, dass Lin­denau jetzt der hippeste Stadt­teil ist. Wir hatten Anfangs in einem Haus in der Dem­meringstraße auch durch­aus eine hohe Fluktuation, weil Bewohn­er wieder zu­­rück nach Connewitz ge­zogen sind, da ihnen der Stadtteil nicht kre­ativ und hip ge­­nug war, das hat sich mitt­ler­weile geän­dert. Wir glauben, dass das durchaus ein Bau­stein ist, dass Wächter­häuser sich in­zwi­schen dort auch konzentrieren. Mitt­ler­­weile gibt es dort meh­re­re, die sich gegen­­seitig befruchten und Ge­gen­den, die vor­her eben nicht so ange­sagt waren, mit in den Fokus rücken. Zur Aus­wahl der Ge­bäu­de kann ich nur sagen: Unser Hauptziel ist es, die his­torisch­en, das Stadtbild prä­­gen­den Gebäude zu hal­ten und für Leip­­zig über die Zeit zu ret­ten. Wir gehen ganz bewusst nicht nach Grün­au, weil wir der Überzeugung sind, dass wir es dort mit einem erheblichen Leer­stand zu tun ha­ben und natürlich auch sehen, dass es Ge­­biete und Wohnungs­­­­überhänge geben wird, die abgebaut wer­den müssen. Und da sagen wir: den his­torischen, urbanen Kern zu behalten ist wich­tig. Das heißt auch, dass wenn man schon schrumpft, man vom Rand her schrumpft.

FA!: Es ist aber vorstellbar, dass der Verein etwa in Reudnitz oder Neustadt/Schönefeld Häuser übernimmt?

FM: Wir sind da dran und wenn sich Partner finden, sowohl auf Eigentümerseite als auch bei den Nutzern, dann werden wir das auch angehen. Uns ist es allerdings wichtig, besonders die den Stadtteil prägenden Gebäude anzugehen und das sind vor allem die Eckgebäude an den Haupt­ver­kehrsstraßen. Ich glaube, das kann man ja an der allgemeinen Sanierungsent­wick­lung sehen, dass sich die ruhigen Seitenstraßen oft von ganz alleine entwickeln, aber sich an den Hauptverkehrsstraßen, die das Bild der Stadt ganz besonders prägen, die Probleme konzentrieren. Das ist unser Hauptbetätigungsfeld. Da befinden wir uns übrigens vollkommen im Einklang mit den Stadtentwicklungszielen der Stadt Leipzig. Da arbeiten wir eigentlich Hand in Hand und haben auch keine gegen­sätzlichen Auffassungen.

FA!: Der Verein bildet ja einen runden Tisch der Interessen. Neben denen des Eigentümers und der Stadt sollen auch die NutzerInnen-Interessen eine Rolle spielen. Wie deckt sich die Arbeit im Verein mit ihren Idealvorstel­lungen von Stadtentwicklung insbesondere in Bezug auf die soziale Entwicklung von Quartier und Milieu?

FM: Unser Ansatz verfolgt mehrere As­pek­­­te, das ist zum Ersten der bereits er­wähn­­­te Substanzerhalt. Der Zweite ist, dass dort Stadtteile belebt werden sollen. Aber wir wollen auch ganz bewusst jene un­­ter­stützen, die es auf dem klassischen Markt schwer haben. Das bedeutet ei­ner­seits, Räumlichkeiten zu bieten für Kreative, Künstler, für soziale Initiativen, die oft auch am Anfang stehen. Manche haben vor ihrem Einzug nur auf dem Papier ex­­istiert, weil sie sagten: „Wir können nicht arbeiten, wenn wir keine Räume haben.“ Wir bieten zu sehr günstigen Kon­­­ditionen die Räume, aber auch Zeit – aufgrund dessen weil es nicht so teuer ist – zu probieren und sich zu entwickeln. Das Andere, was uns auch sehr wichtig ist, ist für Existenzgründer Möglichkeiten zu bieten. Wir haben mehrere kleine Büros, zum Beispiel ein Grafikbüro, oder eine Sei­fen­siederei, die es sich überhaupt nicht hät­ten erlauben können, sich eine klassische Einheit irgendwo auf dem regulären Markt zu mieten, aber sich jetzt ausprobie­ren können und vielleicht irgendwann so­weit entwickeln, dass sie damit auch Geld verdienen können und sich in den normalen Wirtschaftskreislauf einbringen.

FA!: Wenn sich nun viele soziale Vereine für ein leerstehendes Ladenlokal bewerben würden, wie würden sie entscheiden, wem sie den Vorzug geben?

FM: Wir machen mehrere Besichtigungen und meistens fügt es sich dann, dass sich im Prinzip so ein oder zwei be­son­ders sinnvolle für den Laden zusamm­en­finden. Dann sehen wir, was uns auch im Zusammenspiel mit den anderen Nut­zern am sinnvollsten erscheint und dann ver­suchen wir auch relativ schnell, die Nut­­zer im Haus gemeinsam entscheiden zu lassen, was dort sinnvoll ist. Weil die Nut­­z­ungen sich ja auch vertragen müssen, also wenn auch mal wo länger Musik ge­spielt wird, passt das nicht, wenn da­run­­ter etwa ein Yogakurs gemacht wird. Das ist immer ein sehr diffiziler, spannender und einzelfallbezogener Prozess.

FA!: Inwieweit hilft und berät der Verein bei der Planung und Finanzierung der NutzerInnen-Interessen?

FM: Im Grundsatz sind die Leute für ihr Kon­zept selbst zuständig, wir hoffen – und das hat bisher auch immer geklappt – dass es innerhalb des Hauses eine Mischung gibt und die sich gegenseitig helfen können. Zum Beispiel funktioniert in­zwi­sch­en auch die Kommunikation zwischen den Wäch­terhäusern ganz gut. Das betrifft nicht nur Nutzerkonzepte, sondern auch bau­liche Sachen, weil am Anfang der Ausbau dominiert – die Häuser sind ja teil­weise in nicht gerade berauschendem Zustand. Wir sehen es aber nicht so sehr als unsere Aufgabe an, dort inhaltliche Unter­stützung zu geben, das ist in anderen Städten ganz anders. Wie jetzt in Halle oder auch in Chemnitz, wo ein Verein die Wäch­terhäuser etablieren will. Dort will der Verein die Kreativen auch in den in­halt­lichen Konzepten unterstützen, das ist hier in Leipzig nicht so sehr das Thema.

FA!: Welche Erfahrungen haben Sie mit der Inte­gration der Nutzungsinitiativen der „Wäch­ter“ mit ihrer nach­bar­schaft­lichen Um­gebung/ihrem Milieu?

FM: Unterschiedlich. Ich habe den Eindruck im Gespräch mit den Nutzern, dass die Akzeptanz steigt und man sich auch damit auseinandersetzt, was hier im Stadtteil passiert. Ich glaube, dass es wichtig ist, für eine gewisse Offenheit einzustehen, das ist der positive Aspekt. Auf der an­deren Seite ist es aber auch so – und da­für gibt es auch ein, zwei Beispiele – dass wenn Abends mal Party ist und das nicht unbedingt Konzept des Ladens war, dass sich Leute gestört fühlen, wenn da Leute auf der Straße stehen mit ’ner Bierflasche und drinnen Musik kommt. Da gibt’s dann auch mal Nachbar­schaftskon­flikte, wo wir dann wieder dran sind und gucken müssen, das im Zaum zu halten, zu vermitteln und die Nutzer aufzufordern, sich an die Regeln zu halten. Man kann eben nicht bis 24 Uhr Techno spielen, wenn ein anderes Konzept eigentlich vereinbart war.

FA!: Ziel des Vereins ist es ja, irgendwann aus der Betreuung der Wächterhäuser auszu­stei­gen, sie sozusagen in die „Selbstbestimmung“ zu entlassen. Bisher ist das nur mit dem Wäch­terhaus in der Kuhturmstraße gelung­en. Was waren hier die besonderen Umstände, die dies er­mög­lichten? Und werden bald weitere „Wächterhäuser“ diesem Beispiel folgen?

FM: Grundsätzlich ist es so, dass wir eine Art Durchlauferhitzer sind. Unser Ziel ist es, eben nicht unendlich viele Wächterhäu­ser zu haben, sondern es geht darum, die Nut­zergemeinschaften so zu bilden, dass sie irgendwann in die Selbständigkeit ent­lassen werden können. Dass das bei der Kuh­turm­straße gut funktioniert hat, liegt da­ran, dass es in diesem Haus nur wenige Nut­zer gibt, so drei oder vier an der Zahl, die sich unter­einander sehr gut kennen, und auf der anderen Seite haben wir eine Ei­gen­tümerin, die selbst Leipzigerin ist, mit der wir sehr gut zusammenarbeiten und eng verbunden sind, also eine Ver­trau­ensbasis da ist. Bei den anderen Häusern ist es grundsätzlich ein bisschen kompli­­­zierter, weil es einfach sehr viel mehr Nutzer gibt und das Verfah­ren ja so ist, dass wir als Verein mit dem Haus­ei­gen­­tümer eine ‚Gestattungsverein­ba­rung Haus’ auf der einen Seite treffen und auf der anderen mehrere ‚Ge­stat­tungs­­ver­ein­ba­r­ungen Raum’ mit den Nut­zern. Wenn nun die Nutzer eines Hauses sich zu einer Ge­mein­schaft zusammen­schlie­ßen und statt mehrerer nur noch einen Vertrag mit uns haben als Zwischenstufe und dann die­ser eine Vertrag mit dem Eigentümer di­rekt zusammengeführt wird, da können wir uns dann herausziehen. Und das ist na­tür­lich in einem Haus, wo es zehn verschie­dene Nutzer gibt, sehr viel kom­pli­zierter als in einem kleinen Haus wie in der Kuhturmstraße. Wir haben jetzt auch zwei Häuser, wo wir uns vor­stellen können, dass das sehr bald der Fall sein wird. Man darf aber auch nicht ver­gessen, dass die Eigentümer auch froh sind, einen seriösen „Puffer“ zwischen den Nutzern und sich selbst zu haben.

FA!: Hoffen sie denn, dass sich der Verein durch positive Entwicklung eines Tages selber überflüssig machen könnte?

FM: Ja, wir sehen das Projekt ‚Wächterhäuser’ bewusst als temporär. Wir glauben oder erhoffen, dass wenn man sich die Sanierungsentwicklung in Leipzig anschaut und auch die weniger wertvollen Häuser, die diese extremen Probleme haben, dass man uns in zehn Jahren nicht mehr braucht, weil dann dieses Problem der geflickten Häuser hoffentlich weitgehend befriedigt ist. Wir sind gerade dabei – das wird unser Schwerpunkt in nächster Zeit sein – dieses Modell in andere Städte zu exportieren; der andere Schwerpunkt ist es, das Modell weiter zu entwickeln, uns zu überlegen, ob es nicht auch andere Varianten des Hauserhaltes gibt. Da werden wir schauen, ob es gerade für Kleinstädte, wo die Probleme ja noch viel, viel größer sind als in Leipzig, noch weitere Modelle gibt und uns dann darauf konzentrieren in Zukunft.

FA!: Vielen Dank für das Interview.

bonz

Hoch die…! Nieder mit…!

Bei Nazis sind sich Alle einig: Raus! Raus! Raus! Doch ruhiges Hinterland gibt es auch bei der Antifa nicht, wie es sich während der Mobilisierung gegen den Demo-Versuch der freien Kräfte am 15.März zeigte.

All cops are bastards, zitterte es noch in den Knochen einiger sonst so alerter Antifascistas, die aus Angst vor prognostizierter Polizeigewalt lieber ausschlafen wollten.

Die Karli musste letztlich eh nicht Stein für Stein zurückgegeben werden, da die angekündigte Demo von NPD und freien Kräfte kurz vor knapp verboten wurde. „Na watt denn“, dachte sich das Ladenschlußbündnis und demonstrierte trotz fehlenden Nazis einfach unter dem Motto „gegen Rassismus von LVZ bis deutsche Stimme“, mit immerhin 150 Bewegten.

Selbst dem armen Häuflein Festent­schlossener wollte es nicht so richtig gelingen ein furioses Auftreten durch markige Parolen zu demonstrieren. Dabei bleibt bei fehlender Masse nicht viel Übrig außer guten Absichten verpackt in gute Sprüche.

Nicht dass aufgrund des schwindenden Mobilisierungspotenzials bald Deutschland brüllt: „nie, nie, nie wieder soziale Bewegung“. Da gilt es, nach Außen die Stärke wenigstens zu simulieren. Oft ist die Parole nicht nur Stütze, sondern gar der letzte Anker um wenigstens nicht ganz und gar belächelt zu werden. Gerade wenn die Demogrüppchen nicht mehr die Straße erschüttern, sondern eher wie mobile Phrasendreschmaschinen daherkommen. Es gruselt sich halt niemand mehr vor „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh“,

So eine gute Demoparole ist aber auch schwer. Muss sie doch konsensfähig sein, provokativ und humorvoll zu gleich, so sind das gleich drei Sachen auf einmal. Soll der glotzende Bürger sich obendrein noch einreihen, erschöpft sich wohl die Kraft jeder Parole.

Die Guten lassen sich dann nur vermuten, muss DemonstantIn resignativ zu Kenntnis nehmen. Politische Kritik ist eben kein Fußballjubelverein, der Erfolg einer direkten Aktion nicht nach 90 Minuten im Videotext nachzulesen. Der Slogan als Mittel zur Meinungsäußerung unterscheidet sich nur von der gebrüllten Parteinahme zu seinem Fussballverein, solange er Inhalte auch diskursiv entfaltet. Dies ist spätestens dann unmöglich, wenn von Seiten der Beamten – frei nach dem Motto „dumm brutal und national“ – das Verteilen von Flyern oder Infomaterial verboten wird, wie es sich die Polizei für den 15.März in Leipzig ausdachte. Je mehr das Demoerlebnis – ob Ost, ob West – vordergründig in Blessuren und Haftstrafen statt Erfolg endet, desto mehr gerinnen Forderungen wie „no nation, no border – fight law and order“ zu puren Phrasen. So in die Ecke gedrängt muss mensch Slogans schon wie Gedichte vortragen, um ihnen wenigstens ein Stück Gehalt zuzuführen. Wem dann einfällt, dass sich Agitprop nur schwer in ein Goethedrama verpacken lässt, der sollte sich komplett vom Sinn verabschieden und einfach Agitpop machen. Dieser ließe dann Sloganeering zu, die auf Adressaten und Meinung von vornherein verzichten und einfach nur noch die Bewegung inszenieren: Freiheit für Grönland, nieder mit dem Packeis. Gebrüllt wird einfach was mensch will und die bierernste Parole kann getrost der Bild-Zeitung überlassen werden. Die erreicht den gemeine Bürger sowieso viel eher, als jede durchdachte Parole der anspruchsvollsten Antifa.

bonz & karotte

Polizei in Bewegung

Es regt sich was in Mittel(ost)deutschland: Thü­ringens Innenminister Gasser (betreibt nebenbei eine Anwaltskanzlei mit dem hessischen Innenminister Bouffier) nahm seinen Hut, ohne dies näher zu be­grün­den, wohl aber wegen der parteiüber­grei­fenden Kritik an seinem Alleingang bei der Umsetzung der Polizeireform OPTO­POL. Im Zuge dieser Reform soll die Zahl der Thüringer Polizeidirektionen von sieben auf vier sinken sowie 433 Stellen und 25 Millionen Euro eingespart wer­den.

Zeitgleich plant Sachsen-Anhalts Innen­mi­nister Hövelmann, der sich schon mehr­­fach hat vorwerfen lassen müssen, dass seine Beamten eine relativ laxe Linie bei der Verfolgung rechtsextremer Straftäter ver­fol­gen, eine „Zentrale Be­schwer­de­stelle Polizei“. Bür­ge­rIn­­nen sol­len ebenso wie Poli­zi­­stInnen im Falle von Gewalt oder diskri­mi­nierenden Äuße­run­­gen durch Polizeibeamte ei­ne ‚neutrale‘ Überprüfung erhalten können. Anlass dafür war, ne­ben einer Vielzahl an weiteren Pannen und skan­da­lösen Enthüllungen, ein Polizeioberrat, der im Zusammenhang mit dem mysteriösen Tode Oury Jallohs sag­te „Schwarze brennen eben mal länger“ und dafür nach fast zwei Jahren Verfahren einen Minimalver­weis kassierte.

Ob das neue Gre­mium, in welchem neben dem Weißen Ring, der Mobilen Opferbe­ra­tung und dem Landespräventionsrat vor allem Mitarbeiter des Innenministeriums und Ver­treter des Haupt­personalrates der Polizei sitzen werden, Wirkung entfalten wird, ist äußerst zwei­felhaft. Die anderen Bundes­län­der sind an der Schaffung einer ver­gleich­baren Ein­rich­tung erst gar nicht inter­es­siert, nur in Ham­burg ist es zur Zeit eines unter vielen Themen der Koalitionsver­handlungen.

Die Campusmaut – Schrecken der Pisa-Generation

Wohin mit den Studiengebühren?

Aus die Maut?

Studienge­büh­ren – das Un­wort der studentischen Gegen­warts­ge­schich­te geht in eine neue Phase. Die tönernen Füße, auf denen das Modell der Campusmaut steht, bröckeln langsam und in Hamburg und Hessen sieht es ganz danach aus, als stünden die Gebühren vor dem Aus.

In Hamburg soll es ab dem Wintersemester 2008/09 keine Studiengebühren geben, das ließ die schwarz-grüne Regierung der Hansestadt während ihrer Koalitionsverhandlungen Anfang April verlauten, nachdem bereits an der Hochschule für Bildende Kunst in Hamburg (HfBK) rund die Hälfte der Studierenden offiziell exmatrikuliert wurde, nachdem sie sich weigerten, die Gebühren zu zahlen. Doch das Entgegenkommen der Hamburger Koalition ist mehr ein Kompromiss, als eine tatsächliche Abschaffung der Campusmaut, denn die Gebühren werden nicht während, sondern nach dem Studium bezahlt. Das heißt, die Absolventen müssen später ab einem Einkommen von 30 000 Euro pro Jahr für jedes studierte Semester, eine Gebühr, oder vielmehr eine Bildungssteuer von 375 Euro zahlen. Damit würden nicht nur die Gebühren sinken, sondern auch Bürokratie abgebaut werden, so die Koalitionspartner. Wie dieses Modell jedoch konkret aussehen soll, wurde noch nicht erläutert. Fragwürdig an dem Kompromiss ist zunächst einmal, weshalb ausschließlich Aka­demi­kerInnen von diesen Rückzahlungen betroffen sein sollen. Handwerksmeister mit demselben Einkommen müssen schließ­lich auch nicht Teile ihres Einkommens an die staatliche Ausbildungsunterstützung zurückzahlen.

Auch in Hessen bilden seit den letzten Landtagswahlen die Gebührengegner bei SPD, Grünen und Linkspartei die Mehrheit im Parlament. Erst unlängst fassten sie dort einen überraschenden Beschluss: sie wollen ihr Wahlversprechen einlösen und die Campusmaut abschaffen. Das verärgert vor allem den aus dem Amt scheidenden, aber noch geschäftsführenden hessischen Ministerpräsidenten Ro­land Koch, der in der Abschaffung der Campusmaut einen Schaden für Studierende und Universitäten prophezeit. Mit dieser Auffassung steht er in Hessen ziemlich alleine da. Dem hessischen Staatsgerichtshof liegen zwei Klagen gegen die Campusmaut vor. Die eine Klage hatten SPD und Grüne eingereicht, die zweite stammt von insgesamt 71.510 hessischen Bürger­Innen. Die KlägerInnen verweisen auf die hessische Verfassung, die eine Erhebung von Gebühren an staatlichen Hochschulen untersagt.

Die Situation in Sachsen

In Sachsen wird es ein gebührenfreies Erststudium zwar bis zur nächsten Landtagswahl im Jahr 2009 noch geben, für ein Zweitstudium fallen aber bereits, im Sinne des angloamerikanischen Bil­dungs­­modells, Zahlungen zwischen 300 Euro bis 450 Euro pro Semester an. Während auch für Prüfungen in diesem Rahmen Gebühren erhoben werden, ist das Nutzen der Bibliothek und des Rechenzentrums bislang noch kostenlos möglich. Die Frage ist nur wie lange noch, wobei die Antwort vor allen Dingen von einer Sache abhängt: der Partizipation und dem Engagement der Studierenden. Hier gilt es, seinen Unmut gegenüber einem fragwürdigen Regierungskurs zu äußern, der in erster Linie durch den sächsischen Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) vertreten wird und einzugreifen, bevor mensch davon betroffen ist.

Milbradt ist für Studiengebühren und brachte unter anderem rückzahlbare Darlehen ins Gespräch. Seiner Ansicht nach verschärfen Studiengebühren die soziale Selektion nicht, da, mensch lese jetzt sehr aufmerksam: Entscheidungen über spätere Bildungschancen bereits im Vorschulalter fallen würden und nicht erst an der Hochschule. Das ist harter Tobak, doch ist dieser Einwand tatsächlich berechtigt oder fallen heutzutage Entscheidungen, die die Bildungschancen betreffen zumindest teilweise nicht bereits bei der Geburt? Mit Sicherheit kann mensch jedenfalls davon ausgehen, dass Entscheidungen über Bildungschancen in Länderparlamenten fallen, die, wie im Fall von Sachsen von Teilen dieser Länderparlamente bewusst blockiert werden.

Während sich die CDU hartnäckig gegen soziale Gerechtigkeit an Hochschulen ausspricht, ist die sächsische SPD weiterhin auf Anti-Gebühren-Kurs. Momentan können sich die Sozialdemokraten damit noch behaupten, nicht zuletzt gibt es in Ostdeutschland gute Argumente, in Form von Wettbewerbsvorteilen, Abiturienten aus dem Westen auch in den nächsten Jahren mit offenen Armen aufzunehmen, anstatt sie abzuschrecken. Das größte Abschreckungspotenzial besteht dabei vor allem für die StudentInnen, die auf Studienkredite oder BaföG angewiesen sind. Robert Benjamin Biskop, Sprecher der Konferenz Sächsischer Studierenden­schaften (KSS), wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass schon jetzt 40% der Hochschüler BaföG-EmpfängerInnen seien. Stu­dien­gebühren stellten für sie eine erhebliche Zusatzbelastung dar.

Wie sehen es denn die Studierenden selbst? Die Forscher um das Hannoveraner Hochschulinformationssystem (HIS) haben die Nutzung von Studienkrediten untersucht und sind zu einem recht widersprüchlichen Ergebnis gekommen: Über die Hälfte der Studierenden ist demnach der Meinung, dass sie selbst dafür verantwortlich sind, sich an der Finanzierung des Studiums zu beteiligen und auch später dafür Geld zu bezahlen. Gleichzeitig finden fast zwei Drittel, dass Bildung eine öffentliche Aufgabe ist und Papa Staat sie vor finanziellen Einbußen zu bewahren habe. Hm naja, Bildung macht auch nicht immer schlauer.

Privilegierte Bildungshaie?

Acht von zehn Studierenden kommen aus der Schicht der Schönen und Reichen, zwei von zehn sind Arbeiterkinder. Eine aussterbende Spezies? Es ist zumindest zu erwarten, dass sich diese Zahl in den nächsten Jahren verringern wird. Denn, wer nicht genug Geld in der Tasche hat, kann sich tendenziell eine höhere Bildung schenken, oder aber sollte in Kürze das Grundeinkommen nicht eingeführt werden: malochen gehen, um zu studieren.

Eine unmittelbare Existenzsicherung würde über kurz oder lang die Studienverlaufsplanung der Studierenden ersetzen. Damit würde sich das Studium nicht verkürzen, sondern eher verlängern, denn die modularisierten Studiengänge setzen den Besuch bestimmter Veranstaltungen voraus. Wer keine Zeit hat, hat Pech gehabt und muss im nächsten oder übernächsten Semester wiederkommen. Das vor­her­seh­bare Ergebnis: Studienabbruch.

Aber es gibt auch eine positive Prognose: Die Zeit zum Arbeiten wird fehlen. Denn wer heute einen Bachelor-Abschluss anstrebt, kann ein Lied davon singen, wie viele Job-Möglichkeiten sich in dem durchgestylten Stundenplan überhaupt noch offenbaren. Der Leistungsdruck, der sich durch Anwesenheitslisten aufbaut und bis zu dem Ziel führt, zum besten Drittel der Fachschaft zu gehören, um einen aufbauenden Master-Studiengang überhaupt in Erwägung zu ziehen, ist für viele nicht mehr zu schultern.

Das zeigt beispielsweise eine aktuelle Studie der FU Berlin. Die Einführung des Bachelorstudiengangs, durch den Studienabbrüche und Langzeitstudierende eigentlich der Vergangenheit angehören sollten, kommt zu einem ernüchternden Ergebnis: „Studierende geben in einem größeren Umfang als bisher ihr Studium auf“, heißt es da. Zudem habe sich die Zahl der BewerberInnen für ein höheres Fachsemester verringert. Als Gründe werden Desinteresse und das Unvermögen genannt, entsprechende Leis­tungs­nachweise zu erbringen.

Vielleicht aber sind manche auch nur mit der Gesamtsituation überfordert. Das könnte sowohl auf das universitäre Personal, dass sich mit den neuen Reformen und dem erhöhten Verwaltungsaufwand auseinander setzen muss, als auch auf die Studierendenschaft zutreffen, die sich den Leistungsvorgaben nicht mehr gewachsen fühlt. Kein Wunder: die Studierenden sollen mehr leisten ohne mehr dafür zu bekommen, ein klares Verlustgeschäft für die Studis.

Von einer Verkürzung der Langzeitstudiendauer kann laut Untersuchung ebenfalls keine Rede sein: Nur von 30% der Studierenden wird demnach ein Abschluss innerhalb der vorgegeben Regelstudienzeit erwartet. In Baden-Würt­tem­berg, dem Vorreiter der Studiengebühren, könnte das die Bildungshungrigen teuer zu stehen kommen, denn pro Halbjahr werden hier bereits 510 Euro verlangt. Aber denken wir konstruktiv und schauen wir nicht nur voller Argwohn in die Zukunft: Der demographische Wandel ist unaufhaltsam. Wenn im Jahr 2050 jeder zweite über 50 und jeder dritte über 70 ist, könnten die Langzeitstudierenden zu den Auserwählten gehören, die dann die reifen Früchte einer herbstlichen Republik ernten können, indem sie keine überfüllten Seminare mehr erleben müssen, eine Eins-zu-Eins Betreuung bekommen, die Bibliotheken als Ruhe-Oasen besucht werden und die Absolventen nach dem Abschluss auf­grund ihres reichen Er­fahrungs­schatzes gleich übernommen werden. Wozu also Eliteunis schaffen? Der demografische Wandel schafft sie von selbst.

Die Mär vom besseren Studium

BefürworterInnen von Studiengebühren halten die Studis grundsätzlich für finanziell belastbarer, da sie einer privilegierten Elite angehören und tatsächlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass lediglich 37% eines Jahrgangs ein Studium beginnen. Doch der Begriff der Elite kann hier eigentlich nur relativ und nicht absolut gesehen werden, denn von großen Reichtümern sind die meisten Studierenden weit entfernt. Wie die neueste Erhebung des deutschen Studentenwerks zeigt, haben Studenten im Durchschnitt über 770 Euro monatlich zur Verfügung. Ein Drittel allerdings hat weniger als 640 Euro zum Leben.

Die soziale Lage der Studierenden ist den Maut-Verfechtern nicht unbekannt. Sie argumentieren dann in der Regel damit, dass AkademikerInnen im Anschluss an ihr Studium mit fühlbar höheren Gehältern rechnen können. Entsprechende Rendite-Tabellen einzelner Studiengänge sind bereits im Umlauf. Danach sollte mensch keinesfalls Sozialarbeit studieren, denn hier seien die Gehälter so niedrig, dass die Studienkosten ein Leben lang nicht wieder erwirtschaftet werden können. Ebenfalls wenig ertragreich seien Kunst, Agrar- und Geisteswissenschaften. Nur Jura, BWL und Medizin seien demnach, wer hätte es vermutet, lukrativ. Studis werden so angehalten, ihre unternehmerischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen und ihre Bildung als rentable Investition zu betrachten, indem sie Studienkredite aufnehmen. Würde diese Logik konsequent weiter gedacht werden, würde sie zwangsläufig dazu führen, die Maut zu staffeln und so StudentInnen der Wirtschaft mehr zahlen zu lassen als KunststudentInnen – als eine Art vorgezogene Vermögenssteuer. Doch schließlich gibt es auch arbeitslose Betriebswirtschaftler und im Grunde genommen macht es vor allem dann Sinn AkademikerInnen an den Studienkosten zu beteiligen, sobald sie durch ihr Studium gegenwärtig materiell profitieren. Dafür gibt es bereits ein einfaches Regelwerk: die Einkommenssteuer, die für die Bevorteilten um 1-3 % heraufgesetzt werden könnte. In diesem Sinn kann der Schritt, den die Hamburger gegangen sind, zumindest als ein Schritt in die richtige Richtung gesehen werden.

Studiengebühren, so ein weiteres gängiges Argument, das von seinen Befür­wor­ter­­Innen eingesetzt wird, führen zu nachhal­tigen Qualitätsverbesserungen. Dass es sich bei diesen Verbesserungen leider um keine handelt, die die Studierenden selbst betreffen, wie etwa ein verstärktes Mitspracherecht der Studis, zeigt sich an der aktuellen Hochschulreform. Das Mit­sprache­recht der Studis wird auf ein Minimum zusammengeschrumpft und Professoren, Politiker und Vertreter aus der Wirt­schaft, die in Zukunft verstärkt in den obersten und entscheidenden Gremien der Hochschulen das Zepter schwingen werden, entscheiden, welche internen Haushaltslöcher mit den Gebühren gestopft werden. Denn durch die Gebühren werden die Studis nicht, wie mensch zu­nächst etwa annehmen könnte Anteilseigner, sondern vielmehr Bildungssteuerzahler, die das System sanieren sollen.

Dass sich angebliche Qualitätsver­bes­serungen vermutlich auch nicht in einer verbesserten Lehre niederschlagen werden, belegt ein interner Verwendungsbericht, den jüngst die Kölner Uni erstellt hat. Dort wurden in diesem Jahr lediglich 25% der Studiengebühren (500 Euro pro Semester) gezielt zur Verbesserung der Lehre verwendet. Im Jahr 2006 wurden so 17 Mio. Euro in die Kassen der Hochschule gespült. Allein drei Millionen Euro flossen in den obligatorischen Ausfallsicherungsfonds, der die Studenten-Darlehen absichert. Von dem verbliebenen Geld ging eine Million Euro für die Verwaltung der Beiträge drauf. Bleiben summa summarum 4,1 Mio. Euro, die laut Bericht für zusätzliches Personal oder Material ausgegeben wurden und damit also den Studierenden zugute kommen. Der Rest sind Rückstellungen oder Überträge ins nächste Jahr. Und Studiengebühren finanzieren auch den Kampf gegen sie: Die Uni legte einen Teil des Geldes aus dem Studiengebühren-Topf für die erwarteten gerichtlichen Auseinandersetzungen mit Studierenden wegen der Beiträge zurück.

Hier könnte mensch sich dazu veranlasst sehen, von einer „Zweckentfremdung“ der Gebühren zu sprechen. Erhärtet wird diese Annahme durch den geplanten Verbleib der Gebühren an anderen Hochschulen. Malte Dürr beispielsweise, seines Zeichens stellvertretender AStA-Vorsitzender an der Uni Bochum, erzählt von Plänen der Uni für ein 250.000 Euro teures elektronisches Leitsystem. Auf Monitoren könnten die Studierenden jederzeit erkennen, wo welche Vorlesung stattfindet. Wenn das mal keine qualitative Errungenschaft ist! Für manch einen äußert sich ja Qualität durchaus nicht im Inhalt, sondern in der Form.

Eine andere Problematik, die die angepriesene qualitative Verbesserung an Hochschulen mit sich bringen kann, kennt die AStA-Vorsitzende der Uni Bielefeld, Mira Schneider: „Vor allem die geisteswissenschaftlichen Fakultäten wissen oft mit den Gebühren nichts anzufangen“. Als Mitglied der Studienbeitragskommission ist ihr bekannt, dass sich die Fakultäten Geschichte, Philosophie und Theologie schwer getan haben, Verwendung für das Geld zu finden. Am Ende werde zwar Tutorium über Tutorium angeboten, eine echte Verbesserung der Lehre gebe es aber nicht.

Anhand der wenigen bereits veröffentlichten Studien zur Campusmaut wird deutlich, wie relevant es ist die Berechtigung von Studiengebühren und deren Auswirkungen auf Lehre, Forschung und Studier­verhalten zu überprüfen und zu hinterfragen. Bildung ist ein Menschenrecht, wie der Schutz vor Folter oder Meinungsfreiheit und darf keine Handelsware sein. Durch eine Campusmaut werden potentielle AkademikerInnen, vor allem aus den unteren Schichten, von einem Studium ausgeschlossen. Bereits die Einführung von Langzeitstudiengebühren hat gezeigt, dass Gebühren dazu führen, dass das soziale Ungleichgewicht und die Selektion an den Hochschulen eher zu-, als abnehmen. Bildung ist ein Gut, dass mit gesamtgesellschaftlichen Interessen verbundenen ist und den marktwirt­schaftlichen nicht weichen darf. Bildung ist ein öffentliches Gut und muss dementsprechend für alle zugänglich sein. So weit so unzureichend.

Apropos für alle zugänglich: Bei der ganzen Gebühren-Kakophonie sollte aber eine Sache nicht außer Acht gelassen werden, nämlich, dass es in unserem Land auch Menschen gibt, die praktisch kein formelles Recht auf Bildung haben. Einige Bundesländer beispielsweise hindern Flüchtlinge von den Menschen ohne irgendeinen Aufenthaltsstatus ganz zu schweigen daran, Schulen zu besuchen. Insgesamt benachteiligt sind Kinder von Zuwanderern, die nur in wenigen Fällen das Abitur schaffen und dafür in Haupt- und Sonderschulen überproportional vertreten sind. Die Soziologin Heike Diefen­bach spricht in diesem Kontext gar schon von „ethnischer Segmentierung“ an Schulen in Deutschland. Doch es sind nicht nur Zuwander-Kinder, die in Sonderschulen ihr Dasein fristen. Insgesamt sind knapp eine halbe Million so genannter Lernbehinderter auf Förderschulen untergebracht, die ihrem Namen leider nicht immer gerecht werden. Manche Forscher nennen sie deshalb auch Orte der „kognitiven Friedhofsruhe“.

Protestiert wird, wenn mensch sich existentiell bedroht fühlt, wenn es an seine eigenen Reserven, sein ethisches und finanzielles Vermögen geht und selbst dann nicht immer. Generation Pisa findet sich gerne auch mit den gegebenen Zuständen eines internationalen Mittelmaßes ab. Bildung wird als Gottesgeschenk oder zumindest als eine obligatorische Bereitstellung von Seiten des Staates wahrgenommen. Bildung ist aber nicht zuletzt auch ein Instrument, das sobald es einmal erworben wurde, dazu eingesetzt werden kann, den eigenen Verstand auch auf praktischer Ebene einzusetzen: Alternativen finden, Ideen spinnen, das Bildungssystem hinterfragen, sich seiner eigenen Verantwortung bewusst werden, denn sich auf den Staat zu verlassen, war noch nie der sicherste Weg. Wer will, muss anfangen zu handeln. Was die Campusmaut betrifft, scheint dafür gerade jetzt ein optimaler Zeitpunkt zu sein.

(clara fall)

ERSTER MAI – Ein Tag zum Feiern oder Kämpfen?

Am 01.05.1890 verweigerten erstmalig Belegschaften und gewerkschaftliche Gruppen verschiedener Länder gleichzeitig die Arbeit und forderten den 8h-Arbeitstag, das Ende des para/staatlichen Terrors gegen die Organisationen der Arbeiterbewegung und Schluss mit der globalen kapitalistischen Ausbeutung. Heute, fast 120 Jahre später, kann weder von verkürzten Arbeitszeiten noch vom Ende des Raubbaus an Natur und Körpern die Rede sein. Ist also der 01. Mai 2xxx ein Tag zum Feiern, um Kräfte zu sammeln für den alltäglichen Kampf gegen die Mühlen, eine Zeit der Besinnung auf vergangene Siege? Oder ein Kampftag, den mensch dazu nutzen sollte, die Streiks und Arbeitsverweigerungen der nächsten Tage zu planen, und den Ausbau gegenseitiger solidarischer Assoziationen voranzutreiben? Brauchen wir den Ersten Mai noch? Und ist er überhaupt noch anschlussfähig für eine gegenwärtige soziale Bewegung? Einige Argumente und Schlüsse tragen die Diskutanten hier vor. Die Rolle des Weiterdenkens fällt dagegen Euch zu.

PRO:

Wenn die Rede davon ist, einen Feiertag zur Finanzierung von Steuerlöchern abzuschaffen, geht immer ein großer Aufschrei durchs Land. Und das zu Recht, denn wer lässt sich schon gern ein Privileg wegnehmen. Und trotz dieser Empörung muss es nach Ansicht der „Finanzexperten“ von Bund und Ländern doch manchmal sein. Dann geht das große Rätselraten los: „Welcher Feiertag entspricht am wenigsten unserer Kultur und ist ohne Identitätsverlust am ver­schmerz­barsten?“ Bis jetzt waren es immer die kirchlichen Feiertage. Betrachtet, welche Feiertage es gibt, sind es bis auf den National-Feiertag am 3.10. und eben dem „Internationalen Tag der Arbeit“ , nur solche. Dass die Kirchenoberhäupter das Abschmelzen der heiligen Tage nicht begrüßen, ist nachvollziehbar, aber sie haben die Streichungen hingenommen, denn ihr Einfluss ist be­grenzt. An die Streichung des 1.Mai hinge­gen hat sich noch keine deutsche Regierung gewagt, geschweige denn überhaupt nur diesen Gedanken geäußert. Ob dies nun ein Indiz ist für die Stellung dieses symbolischen Ta­ges in der Landeskultur oder für den Ein­fluss, den die Gewerkschaften und ihre Mitglieder in diesem Land haben, sei dahingestellt.

Fakt ist, die Arbeiter und Arbeiterinnen auf der ganzen Welt haben es in den letzten 100 Jahren geschafft, einen „Weltfeiertag“ zu installieren, der unabhängig von politischen Entwicklungen die Zeit überdauert hat. Hat der Ostblock diesen Tag vordergründig missbraucht, um mittels Panzer und Raketenparaden auf den „Roten Plätzen“ die­ser Blockwelt militärische Stärke zu de­monstrieren, hat die andere Seite diesen Tag genutzt, um ihren Forderungen nach arbeitsfreien Samstagen (1956), Atomwaf­fen­freiheit (1962) oder Vollbeschäftigung (1976) Ausdruck zu verleihen.

Der 1. Mai als letztes Überbleibsel aus Zei­ten der großen Streikbewegungen zu Mitte der Industrialisierung erinnert noch heu­­te an den Geist dieser Bewegung und muss deshalb gebührend gefeiert werden. Das ist doch auch der eigentliche Sinn ei­nes „Feiertages“ – zu feiern. Jeder Näher, Sekretär und Projektmanager hängt noch einen Brückentag an und freut sich über ein langes Wochenende, an dem sie frei vom „Ich-muss“ sind, der ihnen jeden Tag körperlich oder geistige Höchstleistungen abverlangt und ihnen die Zeit gibt, sich Ge­danken über ihre Situation in dieser Ar­beitswelt machen zu können. Und sollte es nicht zu Einsichten kommen, ist es we­nig­stens gewonnene Freizeit für Freunde und Familie, die allen dieser Tag beschert.

Während dessen formieren sich abseits von Tarifverträgen und Arbeitsplatzgaran­tien andere Interessengruppen rund um den 1. Mai, die sich nicht im wohlbehüteten Gebilde von Staat, Wirtschaft und Gewerkschaften befinden. McJobber, Dauer­praktikanten, Migranten und Ich-Ag-ler, Menschen die um ihre Existenz bangen, das sogenannte Präkariat. Gemeint sind die zunehmend unsicheren Arbeits- und Lebensbedingungen, denen der Mensch im Zeitalter des flexiblen Ka­pi­talismus ausgesetzt ist. Ob mit Wischmopp oder Laptop, Mini-Jobber oder Prak­tikant, im Call-Center oder hinterm Tresen: Gemeinsam ist den Prekarisierten die permanente Ungewissheit, wie es morgen weitergehen soll. Sie greifen den Gedanken 1. Mai wieder bei seiner ursprünglichen Bedeutung auf, um in einer staatsgrenzenübergreifenden Protestbewegung den weltweiten Wachstumsbestrebungen des Kapitals entgegen zu treten.

Können die Ereignisse von Seattle und Ge­nua als Beginn dieser Bewegung gesehen werden, manifestiert sich nun langsam die Einsicht in den Köpfen der Menschen, dass der trügerische Schein der so­zia­len Sicherheit eben nur Schein ist. Die in der Natur des Kapitalismus liegenden In­teressenkonflikte zwischen den „Klassen“ führen weiterhin zu einer Verschärfung der Lebenssituationen der arbeitenden Menschen. Daran soll dieser Tag im Mai erinnern. Aus den Ereignissen seiner Ge­schichte ist der 1. Mai DAS vereinende Moment. Er wird damit zu einem Ge­denk­tag, ohne den die Mach- und Durch­setzbarkeit von großen gesellschaftlichen Umwälzungen in der alltäglichen Realität der Menschen noch weiter aus ihren Blickwinkeln geräte.

(etap)

CONTRA

Eigentlich ist der 1. Mai eine ziemlich vorhersehbare Angelegenheit: Da gibt es zum Einen die üblichen DGB-Demos mit anschließenden Redebeiträgen und Bratwürsten. Für eher sportlich Interessierte stehen noch die traditionellen „Maifestspielen“ in Berlin-Kreuzberg zur Auswahl. Da geht es etwas dynamischer zur Sache, beim Räuber-und-Gendarm-Spielen mit der Polizei.

Trotz aller oberflächlichen Unterschiede zwischen diesen beiden Arten, den Tag zu nutzen, haben diese in ihren Ursprüngen mehr gemeinsam als man denkt. Als es noch eine Arbeiterbewegung gab, die diesen Namen auch verdiente, wurde eben nicht gewartet, bis einem von staatlicher Seite mal ein Feiertag genehmigt wurde. Nein, am 1. Mai wurde einfach gestreikt, und das weltweit. Solch praktische Kritik der Arbeitswelt ergänzt sich gut mit der praktischen Kritik der Warenform, wie man sie am 1. Mai 1987 beobachten konnte. Da plünderten Kreuzberger Punks und Bürger gemeinsam einen Supermarkt (und lieferten sich hinterher Straßenschlachten mit der Polizei).

Mit dieser ruhmreichen Vergangenheit hat der 1. Mai heute (leider) nicht mehr allzu viel zu tun. Alle Reminiszenzen an diese dienen nur dazu, die öde Gegenwart etwas besser dastehen zu lassen. Der 1. Mai ist zur Revolutionsfolklore geworden, kein Ausdruck des Willens zur Veränderung mehr, sondern nur noch Routine, und so ein Ausdruck des grundlegenden Mangels an wirklichen Wahlmöglichkeiten. Indem dieser Tag offiziell zum Feiertag erklärt wurde (zum dauerhaften Feiertag wurde der 1. Mai in Deutschland bezeichnenderweise erst von den Nationalsozialisten gemacht), wurde der einstige Arbeiterkampftag seiner Substanz beraubt. Hinter solcher Symbolpolitik steht die Behauptung, die Forderungen, die sich früher mit diesem Datum verbanden, seien im wesentlichen eingelöst.

Die ritualisierten Gewerkschaftsdemos passen da nur zu gut ins Bild. An denen beteiligt sich das DGB-Fußvolk, wie es das auch bei Streiks tut, pflichtschuldig und gewissenhaft – halt so, wie mensch sonst auch zur Arbeit geht. Und die Riots in Kreuzberg kann man mit etwas gutem Willen vielleicht noch als Protest gegen einen durchreglementierten Alltag begreifen. Nur ist dieser Protest begriffslos und individualisiert, der Gehalt der ganzen Veranstaltung erschöpft sich hauptsächlich auf den Adrenalinkick oder hautnahe Erfahrungen in Sachen Polizeigewalt.

Natürlich, zum Protest taugt der 1. Mai so gut wie jeder andere Tag. Aber hat es die Menschheit jemals irgendwie weitergebracht, wenn alle nur das tun, was von ihnen erwartet wird? Vielleicht sollte man den Feiertag also lieber nutzen, um sich mal ordentlich auszuschlafen – dafür den 2. Mai zum internationalen Arbeiterkampftag erklären und gut ausgeruht streiken, bis auch der ein Feiertag ist. Und dann weitermachen, bis dieser unschöne Einheitsbrei von Ausbeutung und staatlicher Herrschaft 365 Tage im Jahr Schnee von gestern ist!

(justus)

JOIN THE UNION ?!?

Über die Bedeutung des Streiks und das Elend gewerkschaftlicher Organisierung*

Die Zeit der Zurückhaltung ist vorbei! So proklamieren derzeit die Funk­tio­nä­re der deutschen Gewerkschaften an allen Ecken des Landes. Man will doch ernst­haft an dem deutschen Apfelbäum­chen namens Volkswirtschaft rütteln, damit mal wieder ein kleiner Goldregen die Ba­sis da­rüber belehrt, warum die Mit­glieds­beiträge sich eigentlich noch lohnen. Und wahrlich, der Konkurrenz-Kampf um die Mitglieder ist in den letzten Jahren auch schlecht gelau­fen! Man hatte sich soweit vom Wahrnehmen der aufgetragenen Interessen „zurück­ge­halten“ und die Zeit mit dem Erfinden von Werbege­schen­ken zur Mitgliederbe­loh­nung ver­geu­det, dass Basis und gewerk­schaft­liche Be­wegung mit den Gletschern Grön­lands um die Wette schmolzen. Statt die landläufige Politikverdrossenheit positiv zu nutzen und Vielfalt und Stärke zu de­mon­­strieren, versuchte man die internen Impulse kleinzuhalten, deckelte lokale Initiativen, boote­te kleinere Gewerkschaften aus und paktierte mit dem politischen Geg­ner. Passend zum deutschen Kleingeist erfand man dem „passiven Widerstand“ da­bei eine völlig neue Bedeutung, den ‚sym­bo­lischen Streik ohne ökonomische Wir­kung‘. Eine mediale Groteske, die nicht we­nige mit Austritt quittierten und viele davon ab­schreckte, ein gewerkschaftliches Engagement überhaupt zu erwägen.

Kein Wunder, dass es da gerade die rückschrittlichsten Kleingewerkschaf­ten wie Cockpit, Marburger Bund oder die Gewerkschaft deutscher Lokführer (GDL) waren, die aus diesem nationalen Kuschel­kurs aus­scherten, um ihre Partikular-Interessen mit eigenen Fäusten durchzusetzen. Die relativ gute Streikorganisation und Kampf­­bereit­schaft hat die Funktionäre auf­geschreckt. Die Angst geht um, noch mehr Mitglieder könnten sich von den zen­tralen Verbänden abwenden. Und so kommt es zu so abstrusen Folgen wie zum Bei­spiel bei der Bahn, wo nun die Organi­sations­freiheit der Belegschaften im Rahmen von Tarifverträgen (!!!) eingeschränkt wird. Die GDL hat das selbständige Verhandlungsmandat nämlich nur um den Preis der Isolierung von der Ba­sis erhalten. Und Transnet plus die Gewerkschaft Deutscher Bundesbahnbeamten und Anwärter (GDBA) haben quasi per Ta­rif­verhandlung ihre Ver­bandsinteressen durch­gesetzt. Selbst wenn die Mitglieder wechseln wollten, sie könnten‘s nicht mehr.

Oh welch blend­ne­rischer Schleier des Nicht­­wissens zieht da durch die Köpfe der Ge­nos­senbosse! Welch Hohn der Ge­schich­­te und allem, was sie in sich als Solidarität jemals begriff! Diese Senke des Be­wußtseins nennt sich Solidarpakt und der Wald, der sie um­gibt, das ist das dichte Dickicht der Selbst­er­hal­tungs­interessen der Verwaltung. Solidarisch Handeln heißt ja auch immer die Be­­reitschaft, eigene Interessen hintan zu stel­len, beizuspringen und zu helfen, offen sein. Doch stattdessen: Wird für die ei­ge­nen Interessen nur taktiert, sind die Mit­glieder nichts als Zahlen in Bilanzen, die man sich dann beim Sektchen eitel un­ter die Nasen reibt. „Organizing“ heißt das neue Zauberwort. Völlig neuartige, dezentral und konkret ansetzende Werbe­stra­te­gien, um Mitglieder mit Konzepten aus der Kun­den­wer­bung zur Unterschrift zu locken. Natürlich alles ganz heiß aus Amerika! Die Gewerkschaft als moderner Dienst­­­­leister, flexibel, innovativ und natürlich völlig kostenlos … für Mitglieder. Es biegen sich die Balken und die vielen Toten der Geschichte stöhnen unter dieser dreisten Pos­sen­reiterei! Es gab mal Zei­ten, da war die Or­ga­nisation in der Ge­werk­schaft eine ge­sell­schaftspolitische Not­wendigkeit, und als Kampforgane der sozialistisch-kommunistischen Bewegung waren diese deren progressivster Teil. Die Mitgliedschaft war selbst­­verständlich und be­durfte keiner spiel­theoretischen Kalküle rationaler Wahl, keiner Kosten-Nutzen-Akro­batik, um Ent­schei­dungen für oder gegen eine Mit­glied­schaft aufs Niveau gewöhnlichen Kaufver­haltens zu reduzieren, und dann pro­gno­stizieren zu können, dass schwarze Werbekugelschreiber dreimal häufiger zu einer Mit­gliedsunterschrift füh­ren als die üblichen roten.

Nur für Mitglieder !?

Die Gewerkschaft als privatwirt­schaft­lich „organizster“ Dienstleistungsbetrieb!? Oh­ne Umschweife lässt sich sagen, dass die Gewerkschaften als Rechtdienstlei­stungs-Unternehmen ins­besondere in Sachen deutschem Arbeitsrecht einen Marktvorsprung hätten. Aller­dings ist fraglich, ob eine sol­che kapitalistische Unternehmung sich aus Mitgliedsgeldern sinnvoll finanzieren lässt und es überhaupt nicht effizienter wä­re, bei der nächsten Ver­waltungsreform die or­gani­sierte Basis einfach abzuschütteln, wie die Mutter das lästige Kind. Die für einen Rechts­dienstleister prekäre Lage von sinkenden Mitgliedszah­len und damit verkoppelt, sinkenden Einnahmen, wä­re ohne umfangreiche und kostenintensive „Orga­nizing“-Kampagnen mit einem Schlage auf­gehoben. Und die Herren Funk­tionäre hät­ten es endlich geschafft, das gewerk­schaft­liche Konzept von den Beinen derart auf den Kopf zu stellen, dass So­lidarität sich zur Konkurrenz verkehrt, dass die Offenheit zur Ab­schot­tung gerät, und die eminent wichtige länderübergreifende Ausrichtung endgültig zum Nationalismus degradiert wird. Anstelle eines basisnah orientierten Kampforganes für die sozialen Interessen Aller wäre die Gewerkschaft nicht mehr als ein kapitalistischer Normal­be­trieb, bezweckt durch die Partikular-Inte­ressen seiner Unternehmer, anstatt auf re­vo­lutionären Gestaltungswillen mit hu­ma­nistischem Anspruch & Gehalt aus-, wür­de sie auf reine Marktanpassung ab-ge­rich­tet. Es überreizt das Bild noch nicht, wenn man der zukünftigen Firma „Ge­werk­schaft“ einen zweiten Sektor vorstellt, in dem sie marktbeherr­schend werden könn­te, nämlich im Bereich der Polit-Dienstleistung, als Instrument des Konkurrenzkampfes zwischen den Konzernen. Und einige haben diesen rentablen Weg ja auch längst eingeschlagen. Die langjährige Kampferfahrung und das Netzwerk von Informanten in vielen Be­trieben – ach was könnte man da an Dividende für die Mitglieder ausschütten?! Am Ende würde man die alljährlichen Lohn­anpassungen ans Preis­niveau gar selbst bezahlen können … nur für Mitglie­der, versteht sich. Streiks wären völlig über­flüssig und dazu noch kostenneutral.

Für die Zukunft der gewerkschaftlichen Zen­­tralverbände werden also goldene Zeiten kommen, solange sie nur auf das beru­hi­­gende Wispern ihrer Markt- und Fi­nanz­be­rater hören. Doch was geschieht mit den Interessen, die die Gewerkschaft von einst re­präsentierte? Was hat die Arbeitnehmerschaft innerhalb und außerhalb der Ge­werk­schaften noch zu erwarten? Die Tarif­run­den des Jahres 2008 werden ohne Zweifel und trotz aller Rhetorik Nullnummern sein. Was man auf dem Papier als Lohner­höhungen verkaufen wird, sind nur die drin­gend notwendigen Anpassungen auf der Nachfrageseite des Binnenmarktes. Wenn nicht so, dann wären diese anders, über Steuererleichterungen etwa, gekommen. Bitter dabei ist, dass diese national-ökonomische Maßnahme faktisch immer nur eines nach sich zieht: Steigende Preise. Es erfolgt also gar keine klassische Umver­teilung von oben nach unten, von wenigen dicken Firmenkonten zu vielen prallen Geld­­beutelchen. Im Gegenteil, die akku­mu­lierten Kapitalien der Unternehmen blei­­ben völlig unangetastet. Vielmehr finanziert das Heer der Konsumenten die „Kon­sum­fähigkeit“ der jeweiligen lohnabhän­gi­gen Gruppe, indem die notwendigen Kosten über den Preis auf eine anonyme Gruppe möglicher KäuferInnen umgelegt werden, die ihr Beutelchen dann enger schnallen müssen. Deswegen haben die Unternehmer und Arbeitgeberverbände ja auch ein Inte­resse an möglichst geringen Löhnen, da­mit sie den Preis im Kampf gegen andere Kon­kurrenten als Waffe noch einsetzen kön­nen. Wären die Lohnumlagen zu hoch, müssten die Bosse nämlich wirklich ran ans dicke Konto und das würde kurzfristig die für frisches Geld unersetzliche, finanzielle Performance beeinträchtigen und langfristig, oh heiliger Mammon, sogar an der Rendite kratzen.

Zwischen Standort-Logik und Nationalismus

Während also die Funktionäre die Basis mit den Zahlen der Lohnforderungen einlullen und ihre mageren 6- bis 10-Prozent-Abschlüsse feiern, wird das Jahr 2008 auf der realen sozialen Ebene für viele Lohnabhängige weitere spürbare Verschlechterungen mit sich bringen. Steigende Mobilitäts- und Grundversorgungskosten und insbesondere verlängerte Arbeitszeiten, die bei den diesjährigen Tarifrunden ganz selbstverständlich und fraglos fast überall mit unterschrieben werden. Das ist offenbar der Preis, den die Un­ter­nehmer für das Erstumpfen ihrer Preis­waffe fordern. Von Widerstand dagegen kaum Spu­ren. Dabei dürfte doch jedem und jeder einleuchten, dass die größte Frucht der Industrialisierung und modernen rationalen Planung der Arbeit die Frei­setzung von der Arbeit, und nicht die Ver­sklavung unter selbige, ist. Doch nichts hört man mehr von der 35-Stundenwoche, mehr Urlaub, Lohnfortzahlung, verkürzter Le­bens­ar­beits­­zeit etc pp.

Klar, der Unternehmer hat nur sei­ne Ver­wal­tungsinteressen und sein internes Lei­stungs­niveau im Auge, aber gerade gegen diese Eng­­stirnigkeit, als „Bewusst­seins­stüt­ze“ so­zu­sagen, waren Ge­werk­schaften ein­mal gedacht, um genau diesem Schießschar­tenblick aus staatlichen und privatwirt­schaft­lichen Interessen eine soziale und offene Perspektive entgegen zu stellen. Die Ver­kürzung der (Lebens)Ar­beits­zeit, die Frei­setzung der Menschen von routinierten Prozessen unter fremdbe­stimm­ten Interessen, die Schonung der Kör­per und Geister, das Ende der Erniedrigung durch Arbeit; nach­haltiges Produzieren und der Aufbau wirksamer und stabiler sozialer Institutionen schließlich – das sind aktuelle Übersetzungen dessen, wofür die Gewerkschaften einst angetreten sind. Und genau wegen einer solchen sozial offenen Politik hat­te man damals auch kein Mitglieder­prob­lem. Es ist gerade die Reduzierung des gewerkschaftlichen Engagements auf be­triebs­interne bzw. branchenspezifische Poli­tik, das Fernbleiben allgemeinpolitischer Per­spektiven und außerbetrieblicher Ak­tionen, der reformistische Kurs und das So­zialpartnerschafts-Ge­schwafel, was starke Ge­werkschaften hierzulande verhindert.

Und dass wir hier alle in dem gleichen morschen Kahn namens Deutschland-AG sitzen, für diese Einsicht brauchts kein Abitur. Zu wenig Bildung des Bewusstseins scheint dagegen vorhanden zu sein hinsichtlich der offensichtlichen Missstände bei der Verteilung der unterschiedlichen Aufgaben und Chancen. Die einen schrubben immer nur die Planken, während andere nur rudern, Dritte lediglich steuern und ein weiterer Teil allein das Sonnendeck belebt usw. Letztlich nicht zu vergessen jene, die, bis zum Kopf unter Wasser, sich gerade mal an den Rumpf krallen können. Die sogenannte „deutsche Solidargemeinschaft“ findet ihre Wirklichkeit doch höchstens in dem Zwangssubjekt mit Namen „Steuerzahler“. Ein ernsthafter, starker und schließlich wirksamer Syndikalismus kann die Beseitigung dererlei gesellschaftlicher Missstände deshalb nicht an die staatlichen Institutionen delegieren, das ist die immer gleiche Lehre aus der Geschichte der Sozialdemokratie. Also Schluss mit diesen alten Reflexen!

Die bürgerliche Klasse der Unternehmer spielt gerade, vom neoliberalen Siegesrausch der „goldenen Neunziger“ nach dem Ende des Kalten Krieges noch ganz ergriffen, vor, wie man die juristischen Regelsätze umdeuten, auslegen und nach Belieben än­dern kann. Und die SPD hält dabei auch noch die Steigbügel. Und schon bröckeln die alten Errungenschaften wie das Arbeitsrecht oder die Betriebsverfassung. Denn sind wir ehrlich, wie wirksam ist denn das Arbeitsrecht aktuell? Ist es nicht vielmehr Richter der ka­pi­talistischen Arbeitsverwalter als An­walt der durch Arbeit Unterdrückten und Ausgebeuteten? Und wie hoch ist die orientierende Bindung an die abgeschlossenen, rechtlich abgesicherten Lohntarife wirklich? Mensch muss kein Prophet sein, um einzusehen, dass es beiderseits bergab geht; eben­so wenig, um hinter dem schnöden Rechtssatz die interessensgeleitete Auslegungspraxis windiger Winkeladvokaten auszumachen. Die syndikalistische Initiative mit humanistischem Inhalt und progressiver Gestalt kann deshalb nicht einhalten vor den Gesetzgebungen nationaler Interessen, sie beschwört keine „nationale Solidarität“, sondern entlarvt die Nations-Beschwörer als das Kartell der Profiteure, welches es realiter ist. Sie kennt keine ‚Stammbelegschaften‘, keinen nationalen ‚Kundenstamm‘, keine Standort-Ausrichtung. Denn um die durch die kapitalistische Marktkonkurrenz verursachten Probleme nachhaltig zu bekämpfen, gibt es keine nationalen Insel-Lösungen. Wenn man so will, ist diese späte Einsicht doch ein mahnendes Erbe der kommunistischen Revolution und des anschließenden Kalten Krieges.

Eine Zwischenbilanz

Es dürfte klar geworden sein, mit den gegenwärtigen Zentralgewerkschaften ist der­zeit nicht viel anzufangen. Bestenfalls ausgenommen von der Kritik ist das Engagement im Bereich von Bildungs-Sponsoring und bei der Finanzierung einiger Basisgruppen und -initiativen. Obwohl nach wie vor den Interessen breiter sozialer Schichten kei­ner­lei allgemeinpolitische Bedeutung bei­gemessen wird und die verschärfte soziale Lage die Menschen mobilisiert und radi­ka­lisiert, die Streikbereitschaft erhöht, ist die Macht der syndikalistischen Organisationen auf einem historischen Tief. Ist also die Zeit der gewerkschaftlichen Organisie­rung an ihr Ende gelangt? Nein, keines­wegs! Denn wie schon gezeigt, gibt es sowohl die Mög­lichkeit, eine empanzipative sozialpoli­tische Perspektive zu denken, als auch die Not­­wendigkeit, diese in sozialen Einrichtungen und Institutionen der Ge­sell­schaft zu verwirklichen. Dass man für solche Um­ge­staltungen der gesellschaftlichen Verhältnisse allerdings Macht organisieren muss, ist ebenso einsichtig. Und dafür ist der orga­nisatorische Zusammen­schluss der Einzelnen zu einem Kollektiv nun mal unerlässlich. Weiterhin: Dass auch eine ungeheure Macht aus der sozialen Stellung erwachsen kann, von der sich die bürgerliche Gesellschaft stets bemüht zu behaupten, sie wäre völlig ohnmächtig, weil ohne Kapital und Einfluss, diesen Weg wies Marx, und zeigte damit einen, vielleicht den entscheidenden gesellschaftlichen Kampfplatz um die richtigen Verhältnisse an: Den Arbeitsplatz, den wir in einer arbeitsteilig aufgebauten und funktional differenzierten Gesellschaft einnehmen, die nach den Zwecken der ständigen Mehrwert-Spekulation (Wachstum!!!) durch kapitalistische Unter­neh­mungen vorangetrieben wird. Eine solche ist nämlich aus­­gesprochen empfindlich gegen Arbeitskämpfe, Arbeitsverweigerung und das Stocken der weit verzweigten Pro­duk­tions­ket­ten. Zwar halten Chefs in der Re­gel jeden Einzelnen für ersetzbar außer sich selbst, aber ganze Belegschaften auszutauschen, das geht nun mal nicht von heut auf morgen. Und von daher haben auch diejenigen gute Karten beim Poker um die zeit­weise Verbes­serung der Arbeits­be­d­in­gun­gen, die soli­da­risch ge- und kämp­ferisch entschlossen für ihre Interessen am Ar­beits­platz einstehen.

Soweit zum Ein­malEins der Ge­werk­schaf­ten und Betriebs­rä­te. Doch ist das schon ge­nug? Reichen sol­che partiell und lokal zeit­weise erfolgreichen Ar­beits­kämp­fe aus? Nein, das tun sie eben nicht, das wuss­ten schon die fin­digen Köpfe der Gewerkschaftsbewegung an ihrer Wie­ge. Denn ein noch so progressiv eingerichteter Betrieb muss sich auf kurz oder lang der durch die Ka­pitalinte­ressen ent­fachten Konkurrenz wie­der stellen, will er seine Produkte als Wa­ren über den staatlich eingehegten Markt an Mann & Frau brin­­gen. Und ein eher an so­zialen Gesichtspunkten der Produktion orien­tierter Betrieb wird hier letztlich im­mer einer knallharten Aus­beutungs-Unternehmung unterliegen, da ersterer weder die Ef­fi­zienz noch das Lei­stungsniveau des zwei­teren erreichen kann und am Ende beim Preis­wettlauf um die Kon­sumenten verliert. Um also endgültig Schluss zu machen mit dem konkret a-sozialen Arbeitsleben, muss auch Schluss sein mit den allgemeinen Rah­menbedingungen, die dieses zuallererst bedingen. Es geht deshalb bei ernsthaften Ar­beits­kämpfen um nichts weniger als das Gan­ze, um ein revolu­tionär neues Gesicht der Ar­beitswelt und da­­ran gekoppelt, um ge­sell­schaftliche Ver­häl­tnisse, die dies ermöglichen. Dieses poli­tische Ziel, so selbst­ver­ständ­lich wie oft vergessen, ist aber weder durch einen reformistischen gewerk­schaft­lichen Kurs noch über den Gang in die Parlamente zu erreichen, das sollte jeder und jedem klar geworden sein, der oder dem es schwer fällt, die Sozialdemokratie von heute von der Zentrumspartei von gestern noch zu unterscheiden. Denn was diese in Jahr­zehnten parlamenta­rischer Gräben­kämp­fe am grünen Tisch erreicht hat, kassierte sie selbst in nicht we­ni­ger als zwei Re­gierungsperioden größten­teils wieder ein. Der einzig lohnenswerte Syndikalismus von morgen wird also sowohl außerparlamentarisch, antinational und antistaatlich, als auch antikapitalistisch aus­zu­richten sein, oder er wird nicht sein, was immer er auch von sich im Namen von Tradition und Institution behaupten mag.

Warum Streiks so wichtig sind und warum sie nicht ausreichen

Eines der gängigsten Argumente, das die bürgerliche Gesellschaft in den jüngsten Tagen den streikbereiten Belegschaften immer wie­der entgegenhält – erinnert sei nur stellvertretend an die juristische Farce des letzten Bahnstreiks, bei dem der GDL monatelang das staatlich zugesicherte Streikrecht entzogen wurde – ist jenes Ar­gu­ment vom volkswirt­schaft­lichen und damit gesellschaftlichen Schaden, die die Streiks immer wieder heraufbeschwören sollen. Und ja, insofern mit diesem „Schaden“ der Zusammenbruch der bürgerlichen Illusion einer bereits realisierten glücklichen Ar­beits­welt gemeint ist, trifft dies auch zu. Die Streikenden hingegen kann der Rech­nungs­saldo des Finanz­mi­nisteriums oder die Fir­men­bilanz so wenig interessieren, wie umgekehrt ihre Inte­res­sen in der Herren Häuser keine Rolle spie­len. Ein Streik ist kein Zahlenspiel und lässt sich auch nicht darauf reduzieren. Die reinen ökonomischen Kosten, die er verursacht, werden im Rahmen der kapitalistischen Verwertung und unter Einfluss diverser Interessenslagen umgelegt. Wohin, lässt sich nicht in ab­strac­to vorherbestimmen. Im schlimmsten aller Fälle schlägt die Ko­sten­falle sogar auf die Strei­kenden zurück, das sollte man durch­aus bei allem Aktionismus immer mit bedenken. Dennoch liegt im Streik das Au­gen­merk nicht auf den Kosten, sondern auf dem Gewinn, und der ist durchaus nicht nur ökonomischer Natur. Der Streik schafft nämlich direkt am Ar­beitsplatz einen Freiraum, der es dem durch die routinierten Arbeitsprozesse ein­ge­spannten Individuum erlaubt, sich mit anderen auszu­tau­schen und zu organisieren, und damit erst die Voraussetzung, um die gemeinsam be­treffenden Missstände durch kollektives Handeln aufzuheben. Und bei hohen Ar­beits­zeiten steigt auch die Bedeutung solcher selbstbestimmten Freiräume direkt am Arbeitsplatz und damit die Bedeutung eines Streiks. Wer kennt nicht das „Ausgepumpt-Sein“ nach 10-12 Stunden Arbeit, die Burn-Out-Symptome, die Schwierigkeiten beim Versuch, die gemeinsamen Interessen in der „Freizeit“ zu organisieren. Und genau deshalb ist der Katechismus von prosperierender Wachstumsgesellschaft und Vollbeschäftigung auch nicht das rechte Lehr­buch für eine eman­zipative gesell­schaft­liche Ent­wick­lung unter humanistischem Vorbild. Denn wie bitte schön soll der Mensch sich in der Wahrneh­mung seiner politischen Rech­te befleißigen und kollektiv für seine Inte­ressen einstehen können, wenn die Arbeit dafür weder die Zeit noch den Raum lässt? Auf die nationale Po­litik der (Lebens)Ar­beits­zeitver­län­gerung kann es deshalb auch nur eine syndikalistische Antwort geben: Verstärkte Streiks!

Dennoch wird man auch feststellen müssen: Befristete, lokale Streiks und die zeit­weise Freisetzung von der Arbeit reichen nicht aus, um die eiskalte Logik der kapitalistischen Konkurrenz ein für alle mal zu bre­­chen, und an deren Stelle den transnatio­nalen, solidarischen Zusammenschluss aller Menschen zu setzen, sowie neue Formen des nachhaltigen Produzierens in einer nach sozialen Gesichtspunkten eingerichteten, humaneren Arbeitswelt. Um die mehrwert­orien­­tierte Wirtschaftsweise als solche zu verändern, wird mensch auch die bedingenden gesellschaftlichen Co-Faktoren ändern müssen. Und diese lassen sich durch eine be­triebsinterne Politik, temporäre Arbeits­nie­­­derlegungen und zeitweise Verbesserung lokaler Arbeitsbedingungen eben nicht so einfach beeinflussen. Der Streik in der Form vorübergehender Arbeitsaus­setzung, ob nun als subversive Raucherpau­se, bloßer Warnstreik, harmloser Flexi-Streik oder komplett wilder Streik, kann des­halb nur ein Anfang, ein früher Freiraum, eine erste Experi­men­tier­stätte dessen sein, was es als ge­samtgesell­schaftlichen und sozialen Zusammenhang überbetrieblich erst noch zu formieren gilt. Streiks sind deshalb kein Selbst­zweck in dem Sinne, sondern vielmehr ein Mittel, um dem höheren Zweck der besseren Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu dienen. Und die Verlagerung der Ar­beitskämpfe auf andere gesellschaftspoli­tische Felder ist für eine Ge­sellschaft um so wichtiger, je mehr der to­tale Arbeitszwang der kapitalistischen Verwertung vor dem Hintergrund eman­zipa­torischer Ansprüche zerfällt. Positiv gewendet, bieten die brüchig gewordenen Er­werbs­biographien und die schichtenübergreifende Erfahrung von Arbeitslosigkeit nämlich Freiräume, um den solidarischen Austausch über den Arbeitskampf in andere gesellschaftliche Teilbereiche auszudehnen und stabile soziale Institutionen aufzubauen. Die Chancen, die in dieser Ausweitung der Kampfzone für eine starke syndikalistische Machtbasis liegen, zu wenig zu be­rücksichtigen, und stattdessen wie paralysiert auf die betriebsinternen lokalen Ar­beitskämpfe zu starren, ist der zentrale Vorwurf, den man allen deutschen Gewerk­schaf­ten, einschließlich der Freien ArbeiterInnen-Union (FAU) machen muss. Es darf schon ein bisschen mehr Be­tonung auf dem ersten Teil des Wortes „Anarcho-Syndikalismus“ liegen.

Zentralgewerkschaften und die doppelte Organisationsfrage

Um den Kampf vom Arbeitsplatz hinaus aus dem Betrieb und in die Ge­sellschaft hin­einzutra­gen, allgemeinpolitischen Ein­fluss zu nehmen und sozialere Verhältnisse für jeden Einzelnen zu gestalten, ist zweifellos mehr nö­tig als die kurzen Bande, die sich während der Streik­­phasen zwischen den Menschen knüpfen. Es braucht Organisation und Kontinuität im Wech­sel­spiel von Arbeit und „freier Zeit“, von lokalen Be­triebspro­blemen und globalen Mißständen.

Die­se „Or­ga­nisation“ ist aber gerade nicht der zen­trale Massenverband wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) oder ähnliche. Vielmehr ist die ‚Organisation‘ als solche die organisierte Bewegung, die mobi­lisierbare Basis selbst, in all ihren vielschichtigen Facetten lokaler Zusammenschlüsse. Der Mas­sen­verband dagegen ist nicht mehr als ein degenerierter „Homunkoloss“, Kopfgeburt eines all zu naiven Organsations­ver­ständ­nisses dieser Bewegung. In ihm haust, wie in fast allen zentralen bürgerlichen Verbänden, das alte Gespenst des mittelalterlichen Korpora­tis­mus, bei dem die Köpfe (Funk­tionäre) den Verband als ganzen repräsentieren können, der Körper (Basis) aber nicht. Aber was man sich für frühere Zeiten vielleicht noch als durch­aus vitalen Zusammenschluss vorstellen konnte, ist heu­te zusätzlich einbetoniert in die eisernen Richtlinien der bürokratischen Verwaltung, sodass in modernen Mas­senverbänden von einer Vermittlung zwi­schen Basis und Spitze gar keine Rede mehr sein kann. Die Folgen dieser mangelnden Vermittlung zeigen sich dann am gemeinsamen Nenner: 8+x%. Wie gut, dass Zahlen gleichzeitig Alles und Nichts aussagen!

Die Organisationsfrage der gewerkschaftlichen Bewegung lautete jedoch nie: Wie kriegen wir möglichst viele zahlende Mitglieder und Stimmen? Sondern: Wie organisieren wir die lokalen Gruppen und Zusammenschlüsse bzw. genauer: Mit welchen Mitteln organisieren wir uns und auf welchen Zweck hin richten wir unsere Organi­sierung aus? Und in dieser doppelten Li­nienführung der Frage stellt sich auch her­aus, woran es den Gewerkschaften heutzutage mangelt. ‚Organ‘-isation, schon der theoretische Begriff zeigt doch auf der Ebene der Mittel eine deutliche Abkehr vom Kor­po­ratismus und der Einteilung nach hier­archischen Stände-Verhältnissen an. „Wir organisieren uns!“ – das hieß optimistisch: „Wir lassen uns nicht mehr bevor­mun­den, wir sprechen für uns selbst!“.

Orga­nizing heute, das heißt, pessi­mi­stisch gewendet, Promotion für die Palet­te an Orga­nisierungsdienstleistungen, die der Verband aktuell anzubieten hat. Die Differenz könnte größer nicht sein, denn die Zen­tralge­werkschaften haben die Frage nach den rich­tigen Mitteln der Organi­sie­rung ja längst aufgegeben. Als gäbe es keine Funktionärs-Erblinien, kein Ver­mitt­lungs­­pro­blem mit der Basis, keine Stell-Ver-und-Daneben-Treter, keine Endlosschleife der Bürokratie, keinen chronischen Mangel an partizipativen Prozessen. Die Selbstbestimmung der Mitglieder, das ist bei allem Nacheifern bürgerlicher Institu­tio­na­lisierung völlig vergessen worden. An­statt dass die Gewerkschaft hält, was sie verspricht und den eingespannten Menschen durch den Zusam­men­schluss zum kollektiven Handeln und zum Wahrnehmen seiner Interessen ermächtigt, schweigt die Zen­­trale die Interessen der einzelnen Mitglieder tot und zwingt ihnen ob­endrein das Interesse des Verbandes insbes. seiner Verwaltung zusätzlich auf. Derweil legitimiert der Mummenschanz der parlamentarischen Demokratie das, was jedeR weiß: Die da oben machen doch eh, was sie wollen.

Und in dieser Lage der mangelnden inneren Organisierung der Mitglieder-Interessen sind die zentralen Gewerkschafts­ver­­bän­de auch kein Vorbild für die Massen. Es entsteht nicht mehr der Sog, der sich durch pro­gressive soziale Institutionen bildet, die den em­anzipativen Ansprüchen der Men­schen ge­nügen, weil die Gewerkschaften als ver­ban­desmäßige Organisation in ihrer konkreten Gestaltung nirgends sichtbar aus dem Sumpf der gewöhnlichen bürgerlichen Insti­tutionen herausragen. Die zu­kunfts­wei­sen­den Antworten auf die Frage nach den rechten Organisierungsmitteln der gewerkschaftlichen Bewegung werden also eng geknüpft sein an die Aspekte der Partizipation und Transparenz, an die Probleme der Mit- und Selbst­bestimmung und an die Schwierigkeiten der dezentralen und basisnahen Ver­knüp­fung lokaler Gruppen letzt­lich.

Die eine Seite der Organisations-Medaille bildet also die Frage nach den internen Verhältnissen der Organisierung, nach den rich­tigen Mitteln, um sich sinnvoller Weise als Kollektiv selbstbestimmter Individuen aufzustellen. Denn der Zweck heiligt eben nicht jedes Mittel, das ist höchstens ein nichtiger Aphorismus aus den Fibeln der kapitalistischen Marktwirtschaft. Die andere Seite nun betrifft die Ausrichtung, diese Organi­sie­rungs­zwecke eben. Und dabei ist gerade die geschlossene Ideologisierung bzw. der Rückzug auf Partikularinteressen der falsche Weg. Denn eine vitale Bewegung wird um­ge­kehrt immer abhängig von ihrer Offenheit sein, will sie dem Anspruch genügen, die Selbstbestimmung der basisnahen Interessen wirklich ernst zu nehmen. Das betrifft nicht nur den internen Austausch zwischen den Generationen, es betrifft auch die syndikalistische Machtbasis in ihrem Kern. Denn nur wenn es gelingt, die Bewegung auf eine breite Basis zu stellen und über die Arbeits­kämp­fe die Menschen schichtübergreifend in einen Kampf ums Ganze, um eine sozialere und emanzipative Gesellschaft zu verwickeln, kann sich das verwirklichen, worauf es schließlich ankommt: Die Aufhebung der kapitalistischen Konkurrenz. Die gewerkschaftlichen Gruppen werden sich also Ziele stecken und Aufgaben planen müssen, die über die eigenen eng begrenzten Interes­senslagen hinausragen, wollen sie offen und einladend wirken. Selbst die beste Organi­sierung nützt letzten Endes wenig, wenn sie nicht in der Lage ist, immer wieder neue Menschen, Ideen und Interessen einzubinden, sie endet schließ­lich als Papiertiger oder bürokratische Aktenleiche.

Innere Einrichtung und äußere Ausrichtung, Selbstbestimmung einerseits, Offenheit an­de­rerseits bilden also den Nerv einer richtigen Organisation. Und genau dieses dialektische Spannungsfeld muss von denen ständig beackert werden, die sich kollektiv organisieren und damit einen emanzipatorischen Anspruch auf die bessere Einrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse verbinden. Gibt man dagegen einen der beiden Pole auf, in dem man sich entweder auf die Interessen der Mitglieder beschränkt und ihre selbstbe­stimm­ten Interessen unterdrückt, oder die einzu­be­ziehenden Menschen auf einen nachfragenden Kunden reduziert und deren Interessen nicht wahrnimmt – dann sprechen wir vielleicht über die zur Tradition degenerierten Kontinuitä­ten deutscher Gewerkschaften, nicht jedoch über die progressive Gestalt eines (post)mo­dernen Syndikalismus.

Vom Ersten Mai, dem Generalstreik und dem Ende der Knechtschaft

Tradition versus Kontinuität ist das richtige Stichwort zum Schluss. Drei hartnäckige Missstände der gewerkschaftlichen Bewegung fallen hier besonders auf. Die Winkelemente-Zeremonien zum Ersten Mai, die romantisch-nostalgische Generalstreik-Rhetorik und der sozialstaatliche Irrsinn der So­zia­listen. Der Traditionalismus zeichnet sich nun dadurch aus, dass er sichtbar die Zeit aus­gesetzt hat und an die Stelle wirklicher Ent­wicklungen und geschichtlicher Konti­nui­täten die hohle und jedem Einspruch überhobene Einheit der Sache setzt. Und dementsprechend monoton und innova­tions­resistent erscheinen auch seine Rituale. Wie beim Ersten Mai, wo nach einem gemütlichen Spaziergang jede ernsthafte Auseinandersetzung zwischen Würstchen, bunten Kugelschreibern und schmalen Wer­beheftchen untergeht – alle Jahre wieder. Als hätte ihn nie jemand (mensch lese die Protokolle nach!) zum weltweiten Kampftag, zum Beginn einer globalen Arbeitsverweigerung, zum Generalstreik erklärt. Und als solcher ist er ja wohl an einem bürgerlichen Feiertag äußerst schlecht gelegen!

Ebenso fehl geht aber auch die syndikalistische Tradition des radikalen Flügels, die den Generalstreik immer nur als Anfang einer re­volutionären Neugestaltung der Gesellschaft begreift. In einem solchen Sinne kann er aber umgekehrt nichts anderes sein, als das Ende, die Vollendung einer organisatorischen Leistung, die an der Schwelle dahin steht, der kapitalistischen Konkurrenz kollektiv und global ein Ende zu bereiten. Die Welt muss dann schon ein schier uner­schöpf­liches Reservoir an Freiräumen, eine Vielfalt an sozialen Institutionen, selbstorganisierten und aufgeklärten Individuen bieten. Denn wie sollte sonst die Solidarität zwi­­­schen den Menschen den kapitalistischen Kleinkrieg mit einem Male ersetzen? Den höchsten Zweck als bloßes Mittel auszugeben und dabei stehen zu bleiben, solche Rhe­torik ist schließlich nichts als hohler Idea­lis­mus, der sich weder den konkreten Interessen der Menschen, noch den wirklichen Hindernissen und Problemen einer solidarischen Organisierung stellen will.

Über diesem allen Übel ragt jedoch die Tradition der Sozialdemokratie und der einge­schlif­fene Pragmatismus der Staatssozia­listen. Ganz blind für das Scheitern so ziemlich aller sozial­staat­lichen Projekte beharren diese Schein-Gewerkschafter von SPD bis Linkspartei auf dem bürgerlicher Apparat loyaler Beamten, auf der bürokratischen Verwaltung und den Maßnahmen sozialer Kontrolle und polizeilicher Überwachung. Als gälte es nicht gerade, sich davon zu befreien, um besseren Verhältnissen Platz zu machen. Doch diese neuen Herren sehen in gesellschaftlichen Prozessen nichts als Erfül­lungsbedingungen für die nationale Budge­tierung, den volkswirtschaftlichen Nutzen und die kapitalistische Konkurrenz. Ganz so, als wäre der Markt reiner Selbstweck und nicht lediglich ein Mittel. Ein so staatsgläu­biger Sozialist verschiebt die Organisie­rungs­probleme nachhaltiger und solidarischer Institutionen zwischen den Menschen letztlich auf den kalten Mechanismus einer durchgeregelten Arbeitswelt, wo weder vom individuellen Glück noch vom humanen Zusammenleben ernsthaft die Rede sein kann.

Nicht aber in den Fragen der national-staatlichen Rundum-Vorsorge, nicht in den Schwär­­mereien vom plötzlichen Aufzug eines unbestimmt Besseren, auch nicht in den sozial­part­nerschaftlich ergaunerten Ruhetagen und sonstigen Freizeiten, die nicht einmal für alle gelten, und deren Möglichkeiten der Mitgliedergewinnung – sondern in den Fragen der Organisation entlang der doppelten Linie von Selbstbestimmung und Offenheit, eingerichtet zur Emanzipation jedes Einzelnen und ausgerichtet auf die Verbesserung der sozialen Verhältnisse der ganzen Welt, liegt das Geheimnis einer wirkmächtigen syndikalistischen Bewegung mit dem Anspruch, an die Stelle der globalen Konkurrenz eine weltweite solidarische Gegenseitigkeit zu setzen. Und das ist auch die einzig sinnvolle und zweckmäßige Antwort, die der Anarchosyndikalismus in Anbetracht der Geschichte auf die neoliberale Entwicklung der Welt geben kann.

(clov)

* Der Text versteht sich als inhaltliche Aktuali­sierung des bereits 1896 von Gustav Landauer im „Sozialist“ veröffentlichten Textes anlässlich der Streikwelle, die die durch den verstärkten Militarismus prosperierende deutsch-preußische Nationalökonomie damals erfasste: „Die Bedeutung der Streiks“ (28.03.1896), nachlesbar bspw. in: „Signatur: g.l.“, hrsg. v. R. Link-Salinger, edition suhrkamp 1113, Frankfurt (M.), 1986, S. 233-236.

Machtbeweis

Die EU reformiert sich und keinen interessierts – alte Inhalte aus der 2005 gescheiterten EU-Verfassung sollen nahezu unverändert nun ab 1. Januar 2009 doch wirksam werden.

Was geht mich die EU an, mag mensch sich fragen. Wie funktioniert die über­haupt? Auf der Suche nach Ant­worten würde er/sie entsetzt feststellen, dass diese poli­tische Ge­­meinschaft sich stark durch zen­trale Ent­schei­­dungsgewalt, wirt­schaftlich­e Profitinter­es­sen, immensen Bürokratieaufwand, militärische Aufrüstung, Juristensprache und Uni­for­­mierung von Standards, Werten und Normen auszeich­net. Ganz im Sinne „was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, verschließt mensch gerne mal Augen und Ohren und ver­kennt den Größenwahn europäischer Politik. Dieser reicht von der Fest­le­gung von Mindestpreisen für Lebensmittel zum Schutz europäischer Landwirte, die welt­weit ohnehin schon zu den Bestverdie­nen­­den zählen; von der Normierung von Schlaf­säcken, Briefkästen etc. bis zur Gurken­krüm­m­ung zu­gunsten von Wett­be­werbs­vor­tei­­len der eigenen Massen­produktion; über das Verbot sozialer Mindest­standards (1); bis hin zur Selbster­mäch­tigung zwischen 27 na­tio­­nal­staatlichen Interessen zu vermitteln. Und so wusste B. Brecht damals schon: „Un­sicht­­bar wird der Wahnsinn, wenn er ge­nü­gend große Ausmaße angenommen hat.“

Hintergründe

Es geht um die Funktions­fähig­keit und somit Zu­kunft der EU, wenn die Chefs der 27 Mit­glieds­staaten meinen, die EU-Grund­ordnung ändern zu müssen. Diese ist bisher wesentlich in zwei Grund­lagen­ver­trägen (EG-Verträge von Rom 1957, EU­-Ver­trag von Maastricht 1992) geregelt. Spezifischer wird es durch zusätzlichen Protokolle, Erklärungen und Sonderregeln sowie den Beschlüssen, die als Richtlinien oder Ver­ordnungen umgesetzt wurden. Zu­sammengenommen umfasst so das Recht der EU 80.000 Seiten.

Die durch die Lissabon-Reform geänderten Grund­lagenverträge sind dagegen „nur“ ein paar hundert Seiten lang. Hier sind grund­sätzliche Vereinbarungen zwischen den 27 Regierungen festgeschrieben, Aufgaben und Aufbau europäischer Institutionen fest­gelegt und gemeinsame politische Be­stimmungen formuliert. Aus dieser Zusammen­arbeit re­sultiert ein rechtlicher Rahmen, der national­staatliches Recht/Gesetz brechen kann. Dieses sog. gemeinsame Europa­recht steht über der nationalen Rechts­prechung und betrifft bspw. in Deutsch­land 2/3 aller staatlichen Politik­bereiche, so dass jede/r mal mehr, mal weniger von Entscheidungen, die auf euro­päischer Ebene getroffen werden, betroffen ist. In den anderen 26 Staaten sieht es nicht viel anders aus, so dass die aktuelle Reform der EU-Grundlagenver­träge für nahezu 500 Millionen Menschen relevant wird.

Was zukünftig gelten soll, wurde bereits vor sechs Jahren erarbeitet und war als EU-Verfassung geplant. Nachdem diese 2005 scheiterte, wurden im Juni 2007 unter deutscher Ratspräsidentschaft die alten Ver­fassungsinhalte im neuen Reformvertrag innerhalb nur eines Tages wieder „auf den Weg ge­bracht“, um letztendlich ab dem 1. Januar 2009 in Kraft treten zu können. War 2005 das Nein der franzö­sischen und niederländischen Wähler noch ohrenbetäubend, hat das Ja einiger Parlamentarier zu den alten Inhalten in neuer Form Anfang 2008 kaum jemand gehört. In Frankreich, Slowenien, Malta, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Polen wurde die Reform bereits, und jeweils mit großer Mehrheit, in den nationalen Parlamenten ratifiziert. Es scheint, dass die sicherheitsfixierten Staaten die gesamte Bevölkerung unter Generalverdacht der Unmündigkeit gestellt haben, da nur in Irland ein Referendum über die neue Reform entscheiden wird. Und selbst dieses wird nicht mehr als Hindernis an­ge­sehen, da spätestens das zweite Referendum das er­wünschte Ja bringen wird, wie es schon bei der letzten Reform (Nizza-Vertrag seit 2003 gültig) funktionierte. Auf dem EU-Gipfel in Lissabon im Oktober 2007 haben sich die Staatschefs auf die neue alte Fassung geeinigt, im Dezember 2007 unter­schrieben und seitdem für den Ratifizierungsprozess freigegeben. Es ist gegen­wärtig sehr wahrscheinlich, dass auch in allen anderen Parlamenten „Ja“ zur Lissabon-­Reform gesagt wird, da diese auch mehr Mitspracherecht für die nationalen Parlamente vorsieht, so dass sich die Parlament­arier selbst um ein Vetorecht brächten, wenn sie die Reform ablehnen würden. Denn diese gibt ihnen die Möglichkeit, vor dem Europäischen Gerichtshof eine Klage einzureichen, wenn 2/3 von ihnen meinen, dass ein europäisches Vor­haben die nationale Souveränität un­ter­gräbt. Große Um­­brüche bringt eine Re­­form be­kannt­lich nicht – europäische und so­mit nationale Politik setzt natürlich weiter auf die Stabi­lität des bestehenden Systems.

Denn sie machen was sie wollen

Die neue Lissabon-Reform wird nicht, wie mit der damaligen Verfassung vorgesehen, beide Grund­lagenverträge im Ganzen ersetzen, sondern wird diese „nur“ ergänzen – in Form einer Auf­wertung der Außen-, Sicherheits- und Ver­teidi­gungspolitik der EU, der Pflicht zur militärischen Aufrüstung und einer weiteren Zentra­lisierung von Entscheidungs­kompe­tenzen.

Welch ein Graus, dachten sich auch die 200.000 DemonstrantInnen im Oktober 2007 in Lissabon, die gegen den be­sagten EU-Gipfel protestierten und einem Aufruf der portugiesischen Gewerkschaft CGTP-IN gegen eine „EU-Verfassung durch die Hintertür“ folgten, während die 27 Staatschefs sich selbst und das Ende der Krise feierten. Proteste werden ignoriert und auch die Reforminhalte werden nicht öffentlich zur Debatte gestellt. Proteste, Diskussionen, Öffent­lichkeit dürfen eben nicht aufkommen, wenn es um die Zukunft der Europäischen Union geht.

Wenn es Probleme mit dem Grundgesetz gibt, muss dieses halt geändert werden. So leicht ist es auch, doch leider nur für deutsche Regierungsvertreter. Damit die neuen EU-Grundlagenver­träge verfassungskonform sind, muss das deutsche Grundgesetz, speziell der Artikel 23, geändert werden. Dieser „Europa­artikel“ trat mit dem Vertrag von Maast­richt 1992 in Kraft und erweiterte damals die EG zur EU, die seitdem über wirt­schaft­liche Beziehungen hinaus auch in Außen- und Sicherheitspolitik, Justiz, Polizei und Militär zusammenarbeitet. Mit Artikel 23 wurde die Weiterent­wick­lung der EU zum obersten Staats­ziel erhoben und erst­malig na­tionalstaat­liche Sou­verä­n­­ität auf einen Staa­t­­en­bund über­tra­gen. „Nur weiter so!“ mag mensch zu diesem Schritt der staatlichen Selbstauflösung meinen, wenn sich nicht deutsche Politik einflussreich in der EU wiederfinden würde. (2)

Konsequenzen

Der Reformdruck der Union der 27 liegt darin begründet, dass der bestehende konsti­tutionelle und institutionelle Rahmen nicht ausreicht, um in staatlicher Organ­isierung „handlungsfähig“ zu sein. Immer mehr „Kompetenzen“ werden von nationaler auf europäische Ebene übertragen, so dass mehr Gesetze erlassen werden, um die hinzu kommenden EU-Zuständigkeiten zu ordnen. Die letzte Reform ist acht Jahre her und seitdem ist viel passiert (EU-Osterweiter­ung, 9-11), was eine Um­struk­tu­rie­rung der Zusammenarbeit innerhalb der EU-­Institutionen (Gipfel­rat, Kommission, Mi­nisterrat, Parlament) not­wendig macht. So ver­schwin­det mit der Lissa­bon-Reform in noch mehr Bereichen das Vetorecht, in­dem die ursprünglich benötigte Einstimmigkeit bei wichtigen Entscheidungen zu Mehr­heitsabstimmungen verkommt. Übri­gens gilt ein Beschluss auch als einstim­mig, wenn sich einzelne Mitglieder ent­halten. Immer weniger dürfen mitreden, doch immer mehr kommt hinzu, was disku­tiert werden müsste. Immer mehr Kompetenzen schreibt sich die EU auf ihre Fahne, wie im Bereich Justiz, Mili­tär, Energie­sicherung und Umwelt und gibt ihrem Gerichtshof unbewältigbare Berge von Anträgen, Streits zu schlichten. Warum dies nicht in lokale und selbstbe­stimmte Hände gelegt wird, bleibt die Frage an Unternehmer des Standorts EU, Staats­getreue und Machtgierige. Bereits mit der Nizza-­Reform vor acht Jahren wurde die Möglichkeit der „Anpassung des Recht­sprechungssystems“ eingeräumt, jedoch nur für den Rat der 27 und die EU-Kommissare, die einstimmig oder auf An­trag die gesetzlichen Grundlagen der EU ändern können – ganz nach dem Mot­to: was nicht passt, wird passend gemacht. Die Lissabon-Reform nimmt grundlegende Änder­ungen an der bisherigen Struktur der vertraglichen Grundlagen des EU-Kon­struktes vor und hinterlässt ihre „dunklen Seiten der Macht“. (3) Die Spitzen­jobs wie Ratspräsident und Außenminister werden zur Vollzeitarbeit, die dop­pelte Mehrheit wird eingeführt und so Kerneuropa noch mehr Macht über die anderen, kleineren Staaten zugestanden. Zeit ist be­kanntlich Geld und so können Entscheidungen bald noch schneller gefällt werden.

Mit dem Blick auf die vertragliche EU-Grund­ordnung wird einiges klar und vieles bleibt unklar. Die Intention dieses Artikels ist von Anfang an begrenzt auf die Auf­klärung über die wichtigsten Punkte der aktuellen Lissabon-Reform. Der Autor versuchte, trotz mangelndem juristischen Werkzeug, Licht in den europäischen Paragraphensumpf zu schlagen. Das Ziel ist erreicht, wenn der/die Leser/in gegen Ent­mündigung und Bevormundung der Staatsoberen und der EU jetzt aufbegehrt!

Entscheidungsgewalt

Die Erleichterung von Ent­scheidungs­findungs­prozessen auf EU-Ebene ist Hauptbestandteil der Lissabon-Reform. Euro­päische Richtlinien und Verordnungen, die nur formell nicht als Gesetze bezeichnet werden, nehmen haupt­säch­lich im Europäischen Rat ihren Anfang. Dieser wurde 1974 als eine informelle Ge­sprächs­runde gegründet und ist mittler­weile zur einflussreichsten Institution euro­päischer Politik aufgestiegen. Dieser Rat der 27 Staatsoberen ist nicht zu verwechseln mit dem Ministerrat der EU und seinen 345 Fachministern. Die ersten be­griff­­lichen Verwirrungen sind also schon hier vorprogrammiert.

Der Rat der 27 trifft sich auf den jährlich stattfindenden, nicht-öffent­lichen EU-Gipfeln, um dort die gemein­sa­men Ziele und die allgemeine Richtung der EU-Politik festzulegen. Was danach in den EU-Institutionen – Kommission, Mi­nisterrat und Parlament – passiert, ist vor allem die Umsetzung der Be­schlüsse dieses Gipfelrates. Da es der Rat der 27 selbst war, in dessen Rahmen der Kompro­miss – alte Verfassung als neuer Vertrag – ver­handelt wurde, ist dessen Macht auch in Zukunft kaum beschränkt. Ganz im Ge­genteil: durch die Lissabon-Reform wird der bisherige sechs­monatige Vorsitz auf zweieinhalb Jahre erweitert. Davon verspricht sich der Gipfel­rat „mehr Kontinuität“ seiner Politik und der jeweilige Ratspräsident entsprechend mehr Einfluss seiner zu vertretenden nationalen Interessen in der EU-Politik und von da ausgehend auch auf internationaler Ebene. (2)

Neben diesem EU-Vorsitz als Ratspräsident soll zukünftig ein neuer EU-Außen­minister, der als „Hoher Repräsentant für Außen- und Sicher­heits­politik“ bezeichnet wird, der EU „ein außenpolitisches Gesicht“ geben. So muss wohl von einer Doppelspitze gesprochen wer­den, wenn dieser die EU zusätzlich nach Außen vertreten soll und mit nicht­-­EU-Staaten Verhandlungen im Bereich Handel, Diplomatie, Sicherheit und Verteidigung führen kann.

Was die 27 Staatschefs auf den Gipfeln be­schließen, wird daraufhin von der Europäischen Kommission als Gesetz erarbeitet. 27 sog. Kommissare machen dieses Gremium aus und wer­den vom Kommissionspräsidenten ernannt, der, wie könnte es anders sein, wieder­um vom Gipfelrat eingesetzt wird. Durch die Lissabon-Reform soll es ab 2014 nur noch 18 Kommissare geben, die dann ent­scheiden, wie die Rechte/Gesetze für die vom Gipfelrat erwünschten Inhalte zu formulieren sind.

Dass weniger mehr ist, soll auch für das EU-­Parlament gelten, wenn zur Europa­wahl im Juni 2009 nicht mehr 785, sondern 750 Parlamentarier direkt gewählt werden sollen. Was als das Demokratieelement in der EU gilt, versinkt bereits seit der ersten Direktwahl 1979 in der Bedeutungs­losigkeit. Für die kommende Europa­wahl wird die Wahlbeteiligung er­wartungs­gemäß weiter und sogar unter 40% fallen, so dass die Verbindung von Demo­kratie und EU mehr und mehr zur Heuche­lei verkommt. Es scheint symptomatisch, dass europäische WählerInnen kein Interesse zeigen, wer sie auf europäischer Ebene vertritt – werden sie doch sonst auch nicht gefragt. So verbleibt die Entscheidungsgewalt in der EU weiterhin hauptsächlich im Rat der 27 und somit bei nationalen Regierungsvertretern, Ministern und Staatsoberen.

Neben den Volksvertretern im Parlament müssen auch noch die 345 Fachminister im bereits erwähnten Ministerrat die Beschlüsse des Gipfelrates umsetzen. Was die Lissabon-Reform dabei neu regelt, ist nicht die Anzahl der Minister, sondern deren Stimm­verteilung. Wie wird eine Mehr­heit definiert? Eigentlich eine einfache Frage, nicht jedoch, wenn es um das Ab­­stimmungs­verfahren der EU-Fach­minis­ter geht. Schon mit dem Inkraft­treten der letzten Reform, des Nizza-Vertrages im Jahr 2003, wurde das nun noch bis 2014 geltende Abstimmungsprinzip der qualifizierten Mehrheit zur Norm. Danach kann eine Entscheidung durch­gesetzt werden, wenn mehr als die Hälfte aller 27 Mitgliedsstaaten, die mindes­tens 62% der gesamten EU-Bevölker­ung repräsentieren müssen, und 255 von den 345 Stimmen im Ministerrat haben, dafür stimmen. So könnte praktisch auch von einer dreifachen Mehrheit gesprochen werden. Ab 2014 soll ein neues Ab­stimmungs­system eingeführt werden, dass die Bevölkerungsstärke der einzelnen EU-­Staaten noch stärker berücksichtigt als bis­lang. Für einen Beschluss wird dann die Zu­stimmung von 55% der Mit­glieds­staaten nötig sein, die gleich­zeitig mindestens 65% der Ge­samtbe­völkerung der EU vertreten müssen, was als doppelte Mehrheit bezeichnet wird. Wie viel Stimmen ein Mitgliedsstaat hat, wird aus seiner Bevölkerungszahl berechnet. (5) So wird die Rolle des ohnehin schon einflussreichen „Kern­europa“ weiter ge­stärkt. Daran wird auch die neue Möglich­keit eines europaweiten Bürger­begehrens mit mind. einer Million Unter­schriften nichts ändern, da dieses, wenn es jemals zustande kommt, nur eine Recht­fertigung einfordert, anstatt einen Be­schluss gänzlich zu kippen.

Eine weitere Möglichkeit für „die Großen“, europäische Politik zu machen, liegt in der sog. ver­stärkten Zusammenarbeit. Einige Mit­glieds­staaten können den Ent­scheidungs­prozess, angefangen vom Gipfelrats bis zum Parlament, verkürzen, indem diese sich nur unter sich einigen und auf be­stimmte Vorgehensweisen verständigen. Diese Art der Zusammenarbeit muss von der Kommission vorgeschrieben und vom Parlament gebilligt werden und mindestens neun Mitgliedsstaaten umfassen. Bereits mit der Nizza-Reform 2003 wurden zehn Voraussetzungen für eine verstärkte Zusammen­arbeit auf eine einzige Bestimmung zu­sammen­ge­fasst, die zudem besonders im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik ausgeweitet. So kennt die EU nicht nur Gren­zen, sondern auch ihre Vorbilder aus den eigenen Reihen, die die gesamte EU-Politik nach ihren Vorstellungen voranbringen wollen.

Reformierte Militarisierung

Politisch weit vorgeprescht wird speziell im Bereich der „Verteidigung und Sicherheit“ der Union der 27. Hier liegt auch die Flinte im Korn. Den „Angriffen“ von außen sei durch Bewaffnung und Aufrüstung zu begegnen, um den eigenen Wohlstand vor Intriganten und Futterneidern zu schützen. Die Welt soll zwar offen für die EU sein, doch die EU nicht offen für die Welt. So werden Interventionen weltweit mit (h)ausgemachten Ängsten und Be­drohungen legitimiert, die in der Euro­päischen Sicherheitsstrategie (ESS) als Terror, Waffen, Aufstände, organisierte Krimi­nalität und „Scheitern von Staaten“ be­zeichnet werden. Zum Schutz der Inneren Sicherheit wird mehr und mehr nach außen gerichtete Kriegsmaschinerie ent­wickelt und durch die EU-Grund­lagenverträge sogar gefordert. Speziell mit Blick auf den Artikel 28 der Lissabon-Reform lässt sich erahnen, wo das noch hin­­führen wird. Dort geregelt ist ein neuer mili­­tärischer „Anschubfonds“, engere Zu­sammen­arbeit mit der NATO, eine Aufrüstungs­verpflichtung und die Rechtmäßigkeit einer europäischen Ver­teidi­gungs­agentur (EDA). Letzteres wurde be­reits 2004 eingerichtet und soll die Aufrüstung, Waffenbeschaffung und weitere EU-Militärprojekte voranbringen. Wie auch nationalstaatliche Politik setzt die EU auf Angstszenarien, die sie sucht und findet, diese dann als Handlungsgrund anführt, um sich so das Zepter zur An­wen­dung von Gewalt selbst zu reichen.Was schön positiv als Anschubfonds be­zeich­net wird, ist eine neu eingeführte EU-Finanzkasse, die sich aus Beiträgen der Mit­gliedsstaaten füllt. Und natürlich: wer mehr gibt, hat mehr zu sagen. Hier werden finanzielle Mittel gesammelt, um für militärische Einsätze Geld an­zuhäu­fen und gleichzeitig auf Mehrwert zu spekulieren. War bisher ein solcher perma­nenter EU-Militärhaushalt noch verboten, erlaubt dies nun die Lissabon-Reform. Auch wenn der Gründungs­mythos der EU, niemals wieder Krieg in Europa zuzulassen, seine Be­­rechtigung hat, ist die Beteiligung der EU an kriegerischen Konflikten mit eigenen Truppen eine Frage der Zeit. Der Kriegs­fall wurde auch in den Protokollen der aktuellen Re­form bedacht: heißt es hier, dass „niemand zur Todesstrafe verurteilt oder hinge­richtet werden“ darf, liest sich weiter unten dazu, dass dies selbstverständlich nicht im Kriegs­fall gilt und zusätzlich auch Erschießungen im Fall von Aufständen oder bei Flucht von Gefangenen möglich sind. Die kriegs­unterstützende Einstellung der EU wird auch aus der geplanten engeren Zu­sammen­arbeit mit der NATO offen­sicht­lich, wenn es im aktuellen Reformvertrag heißt, dass „europäische Vertei­­digungs- und Sicherheitspolitik […] zur Vitalität eines erneuerten Atlantischen Bünd­nisses“ beitragen soll. Hinzu kommt die Verpflichtung aller Mit­glieds­staaten „ihre militärischen Fähigkeiten schritt­weise zu verbessern“. Kaum erwar­ten können dies besonders Rüs­tungs­konzerne wie EADS (European Aeronautic Defense and Space Company) und British Aerospace, die sich bereits immense Profite durch den Bedarf an zusätzlichen Kampfhub­schrau­bern, gepanzerten Mili­tär­trans­portern, Luftab­wehr­raketensysteme und Kriegsschiffen ausrechnen.

Die Militarisierung geht mit großen Schritten voran und zeigt sich verstärkt in der Migrations- und Grenzpolitik der EU (6). Krieg und Aufrüstung im Namen von Sicherheit und Frieden – wie modernisiert muss es denn noch werden.

(droff)

 

(1) Mit der Bolkesteinrichtlinie ist das Her­kunfts­land­prinzip für EU-weite Dienst­leistung­en gültig. Dies bedeutet, dass Arbeiter­Innen in derselben Branche, Projekt oder Unternehmen z.B. nicht denselben Lohn für dieselbe Arbeit bekommen. Die Zahlung von ortsüblichen Löhnen z.B. in Deutschland gilt nur für deutsche und nicht z.B. für polnische Unternehmen, die ihren ArbeiterInnen die in Polen gültigen und wesentlich niedrigen Löhne zahlen, auch wenn diese gar nicht in Polen arbeiten. Gegen eine „Zersplitterung des Binnenmarktes“ und für den „ungehinderten Wettbewerb“ wird so der Wohlstand reicherer Länder auf den Rücken der ArbeiterInnen aus europäischen Billiglohnländern weiter ausgebaut. Die Bolkesteinrichtlinie gilt seit Dezember 2006 und muss noch bis Dezember 2009 in allen Mitgliedsstaaten in nationales Recht umgesetzt sein.

(2) s. FA! #11 „Deutschland in Europa“

(3) s. FA! #10 „EURO.PA – die dunklen Seiten der Macht“

(4) U.a. gehört es zu den Aufgaben des Ratspräsidenten, die Mitgliedsstaaten in den anderen EU-Institutionen wie auch in internationalen Organisationen wie UNO und WTO zu vertreten.

(5) Stimmverteilung im Ministerrat: Italien, Frankreich, Großbritannien, Deutschland: jeweils 29 Stimmen; Spanien und Polen: 27 Stimmen; Rumänien: 14; Niederlande: 13; Portugal, Ungarn, Belgien, Tschechien, Griechenland: 12; Österreich, Schweden, Bulgarien: 10; Litauen, Irland, Finnland, Dänemark, Slowakei: 7; Luxemburg, Zypern, Estland, Slowenien, Lettland: 4; Malta: 3.

(6) s. FA! #1 „The European Nightmare. Schengen Information System, repressive Asylpolitik und Kontrollstaat“; FA! #21 “Krieg um Welt. Welcome all Refugees from capitalist War“; FA! #25 „Marokko: Menschenrechtsverletzungen im Namen des EU-Grenzregimes“

Hilfe, wir werden entwickelt!

Entwicklungshilfe im Spannungsfeld von Armutsbekämpfung und Wirtschaftswachstum

Wir sehen, hören oder lesen es täglich in den Medien: Die weltweite Armut wächst. Die Erkenntnis ist aller­dings ist nicht neu und wurde zuletzt vor acht Jahren – passend zum Jahrtausend-Wende – als nötiger Paradigmenwechsel in der Ent­wick­lungs­­poli­­­­tik verkündet. Zu dieser Zeit erklärte der Weltentwicklungsbericht auch, dass extreme Armut und Einkommensdifferenzen in der Welt wachsen. Dementsprechend Gehör fand auch internationale Kritik an althergebrachten Entwicklungsstrategien, die nur auf wirtschaftliches Wachstum als Ent­wick­lungsmotor bauten. Armutsmin­de­rung als „Durchsickereffekt“ und Neben­pro­dukt von Wachstum hatte sich offensichtlich nicht eingestellt und so kehrten internationale Entwicklungsins­titutio­nen zur alten Parole der Armutsbekämpfung zurück, um sie als neue Errungenschaft zu verkaufen. (1) Neu gestecktes Ziel ist die Halbierung der weltweiten Armut bis 2015. Die UN-Generalversammlung verkündete hierfür die Millennium-Entwick­lungs­­ziele, die als Meilenstein ob der Konsensfähigkeit vieler Staaten gefeiert wurden. Die EU zog noch im gleichen Jahr nach und verortete Armuts­be­­käm­pfung als oberstes entwick­lungs­politi­sches Ziel. Ebenso verabschiedete die BRD 2001 auf dieser Grundlage ihr Aktions­programm 2015. Verblüffend hierbei war auch die Rolle des internationalen Wäh­rungs­­­fonds (IWF) und der Weltbank: Die einsti­gen Propagandisten von Wirtschafts­wachs­­tum und Handelsliberalisierung, die seit den 80ern hochverschuldeten Ent­wick­lungs­­län­dern Strukturanpassungsprogramme (SAPs) aufzwangen (siehe Kasten), verwandelten sich in eine ‚Bank der Armen‘ und arbeiten jetzt auch ganz im Sinne der Armutsbekämpfung. Ihre neuen Strategiepapiere – die zweifelsfrei innerhalb der Entwicklungshilfe im Ver­gleich zu Maßnahmen einzelner staatlicher Akteure mehr Einfluss besitzen – heißen PRSP (poverty reduction strategy papers) und versprechen Wachstum im Dienste der Armuts­be­käm­­pfung. Inwiefern diese Papiere tatsäch­lich einen Politikwechsel andeuten und ob diese Versprechungen mehr als hohle Phrasen sind, soll im Folgenden vor allem am Beispiel der PRSP kritisch betrachtet werden.

Theorie ohne Praxis

Die acht Millennium-Entwicklungsziele der UN verhandeln vor allem allgemeine Grund­sätze, die den sozialen Menschen­rech­­­ten erstaunlich ähneln, jedoch mit Zeit­zielen versehen sind. So soll bis 2015, ne­ben der Halbierung der extremen Armut und des Hungers, die allgemeine Grund­schulbildung für alle Kinder der Welt sichergestellt werden, die Geschlech­ter­­gleichheit auf allen Bildungsebenen ge­währ­leistet und die Verbesserung der Ge­sund­heit von Müttern gefördert werden. Zu­dem soll die Kindersterblichkeit um zwei Dri­t­tel gesenkt und Infektions­krank­­hei­ten wie HIV, Ma­laria u.a. zum Stillstand ge­bracht wer­den. Auch die Sicherung der öko­­­­lo­­­gi­­schen Nach­­hal­tig­­­­keit spielt erst­­­­­­­­mals ei­ne he­r­aus­ra­gen­de Rol­le, es soll z.B. der An­­teil der Men­schen hal­­­­biert wer­den, die keinen Zu­gang zu sauberem Trinkwasser haben. Schluss­­end­lich ist auch vom ‚Aufbau einer globalen Entwick­lungs­­part­ner­schaft‘ die Rede, die u.a. durch ‚nicht-diskrimi­nie­rende Handels- und Finanzsys­teme‘ und Schulden­er­leich­terung umgesetzt wer­den soll.

Soviel zu den hehren Zielen, die allein schon wegen ihrer zeitlichen Fest­schreibung von vielen NGOs als uto­pi­sches Lippenbekenntnis ohne festen Um­setzungswillen kritisiert werden. An­ge­­sichts der Tatsache, dass die einzelnen Staats­ausgaben für Entwicklungs­hilfe größ­tenteils nicht (wie seit Jahren von nicht-staatlichen Institutionen gefordert) auf 0,7% des BIP angehoben werden, stellt sich zudem die Frage, wie denn die Ar­mutshalbierung bis 2015 finanziert und er­reicht werden soll. Auch bei der Zielde­fi­nition der ‚nicht-diskriminie­renden Han­dels- und Finanzsysteme‘ fragt Mann oder Frau sich nach der Ernsthaftigkeit der ver­fassten Papiere, wenn in der EU gleich­zei­tig eine Agrarsubventionierung fortgeführt wird, die den Absatz bestimmter Agrar­pro­dukte aus den Entwicklungsländern auf dem europä­ischen Markt de facto ver­hindert. Weil der Export landwirt­schaft­licher Produkte für viele ärmere Länder die Haupt­ein­nahme­­­quelle bildet, kann den Folgen der ungleichen Chancen nur da­durch entgegen­ge­wirkt werden, dass sich die ohnehin schon armen Bauern noch mehr selbst ausbeuten und unter ihrem Existenzminimum produ­zie­ren. Dass Ar­muts­­be­kämpfung dem widerspricht, ist offensichtlich.

Was dennoch an den Millen­niums­­zielen als fort­schrittlich gewertet werden kann, ist dass Armut nicht mehr nur an Einkommen gemessen wird, sondern vor allem am Man­gel von Chancen und Möglich­kei­ten. Dies verdeutlicht eine Abkehr von Mone­ta­rismus und klassisch ökonomischer Aus­rich­tung in den Entwick­lungs­zielen. Der Mensch mit seinen Ent­wick­lungs­poten­tia­len scheint wieder stärker in den Vor­der­grund zu treten und der Aspekt der Ver­teilung des Wachstums darf nun wieder (mit) diskutiert werden.

Praxis ohne Theorie

Diese Millenniumsziele wurden von einzelnen Entwicklungsakteuren in spezielle Strategien umgesetzt, die beschreiben, wie die Ziele konkret zu erreichen sind. Während das Aktionsprogramm 2015, das vom BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) erarbeitet wurde, ein Stra­tegie­papier für die bundesdeutsche Entwicklungszusammenarbeit ist, sind die PRS-Papiere von IWF und Weltbank initiiert und bilden Richtlinien für Entschuldungszustimmungen hochverschuldeter Entwicklungsländer. Letztere ernteten für ihre Abkehr von den Strukturan­passungs­pro­grammen (SAPs) viel Lob, da auch sie sich damit scheinbar von langjährig praktizierten neoliberalen Zielen abwenden und die Kritik an den sozialen Folgen der SAPs ernst nehmen. Konkret wurden die PRSP 1999 erstmalig beim Kölner G7-Gipfel eingebracht und bilden seitdem für die größten Gläubiger Weltbank und G7 die Grundlage für Entschuldungskam­pagnen, wie HIPIC (2). Mit Hilfe der neuen Strategie sollen die durch Schuldenerlass freiwerdenden Mittel im Entwicklungsland nun gezielt zur Armutsbekämpfung eingesetzt werden. Neu daran ist vor allem, dass die PRSP von den Entwicklungsländern selbst und unter Einbeziehung zivilgesellschaftli­cher Akteure erarbeitet und vorgeschlagen werden. Damit wird auch dem Ziel einer ‚gleichberechtigten Entwicklungspartner­schaft‘ Rechnung getragen und die Schlagworte ‚Partizipation‘ und ‚Ownership‘(3) sollen so mit Leben gefüllt werden.

Dennoch gibt es v.a. seitens der NGOs wie z.B. weed (4) beträchtliche Kritik am angeblich neuen Kurs, denn die von den Entwicklungs­ländern selbst erarbeiteten Strategien setzen weiterhin primär auf wirtschaftliches Wachstum und behandeln die Armutsbe­kämpfung nachrangig, statt sie mit wirt­schaft­li­chen Reformen zu koppeln. Rhetorisch wird sich zwar auf Armutsbe­kämpfung als Ziel bezogen, die Umsetzungs­strategien allerdings vernachlässigen dies und setzen weiterhin auf die altbekannten Wachs­tums­­strategien, wie z.B. den Ausbau des Exportsektors im Bereich der Landwirtschaft oder im arbeitsintensiven Textilbereich. Dass diese einseitige Förderung neue Abhängigkeiten schafft und insbesondere für die Landarbeiter durch den hohen Weltmarktdruck zu größerer Armut führt, ist eigentlich hinrei­chend bekannt. Hier fällt v.a. auf, dass es offenbar versäumt wurde, sich mit den negativen Folgen der SAPs auseinanderzusetzen und eben bisher kein ernsthafter Versuch unternommen wurde, Armut wirklich zu bekämpfen. Gerade im Bereich der Landwirtschaft wäre dies möglich, wenn man z.B. die Nahrungs­mittel­knapp­heit des jeweiligen Landes durch die Förderung der Produktion für den einhei­mischen Markt bekämpfen würde, anstatt weiterhin auf den Export von Bananen und Kaffee zu setzen, die ohnehin schwankenden Weltmarktpreisen und hoher Konkurrenz ausgesetzt sind. Auch die Frage der un­gleichen Landverteilung wird größtenteils ausgespart, obgleich sich hier Potentiale zur Armutsbekämpfung auftun. Mit Großgrund­be­sitzern lassen sich exportorientierte Wirtschaftsstrategien eben besser umsetzen, als mit Kleinbauern oder Kooperativen, die v.a. ihre eigene Ernährung durch die landwirtschaftliche Nutzung sichern wollen.

Bezüglich der Arbeitnehmer/innenrechte wird in den PRSP oftmals sogar von höherer Flexibili­sie­rung gespro­chen, was nicht nur der Vorstellung sicherer Beschäftigungsverhältnisse widerspricht, sondern auch die Forderung nach Einkom­men zum Auskommen unterhöhlt, wenn Heuern und Feuern das Alltagsgeschäft bleiben kann. Dummerweise bilden Handelslibera­li­­sie­rungen und Privatisierungen weiterhin Grundsäulen der PRSP-Strukturreformen. Bemerkenswert dabei ist auch, dass Grund­güter wie Wasser- und Stromversorgung sowie Sektoren wie Bildung und Gesundheit zunehmend privatisiert werden sollen und dementsprechend für die wirklich Bedürf­tigen real zum Luxusgut werden. Diesen Prozess gibt es zwar auch in den Industrie­ländern, allerdings regt sich hier Widerstand, der im Gegensatz zu den Entwick­lungs­­ländern eine größere Lobby hat und dementsprechend die Privatisierung der Grundgüter verlang­samt.

Auch nachhaltige ökologische Ziel­setzungen, Gender-Fragen und Vertei­lungs­­aspekte werden in den PRSP zwar als allgemeine Ziele definiert, bleiben allerdings bei der konkreten Strategieplanung oft unbeachtet. In den Papieren wird generell eine Analyse der bisherigen Entwicklungs­strategien und ihrer sozialen Folgen ausge­spart, so dass auch nicht aus bereits gemachten Erfahrungen gelernt werden kann. Nicht gespart wird hingegen mit Rhetorik und hehren Zielen, mit Hilfe der PRSP sowohl das Wirtschaftswachstum zu steigern, als auch die Armut bekämpfen zu können. Dass die durch Schuldenerlass frei werdenden Mittel im Verhältnis zu den benötigten Geldern für die Umsetzung der PRSP im krassen Missverhältnis stehen, scheint die „Bretton-Woods-Zwillinge“ IWF und Weltbank hingegen nicht zu stören. Da wirkliche Armutsbekämpfung in der konkreten Planung sowieso – kaum beachtet – zum Surplus des Staates degradiert ist und lediglich Strategien, die Wirtschaftswachs­tum bringen, ausbuch­stabiert werden, ist sowohl den Entschei­dungs­trägern des Entwicklungslandes, als auch IWF und Weltbank sicherlich klar, wo gekürzt wird, wenn die Gelder nicht reichen.

Stellt sich die Frage, warum die Entwick­lungs­länder nun ihre Chance nicht wahrneh­men, um mit internationaler Legitimation (durch selbst verfasste PRSPs), die eigene Armut wirklich zu bekämpfen. Zum einen kann mensch dies an der feh­len­den Bereitschaft der Ent­scheidungseli­ten im Entwick­lungs­land festmachen, die selbst sicher nicht an Hunger leiden und eher Profiteure der wirtschaftlichen Reformen sind. Da­für spricht die Beobachtung, dass es zwar angedacht war, die zivilgesellschaftlichen Akteure in den Entwick­lungs­prozess einzubeziehen, dieses aber oft­mals in der Pra­xis nicht aus­­reichend statt­findet, son­­­dern le­dig­lich finanzstär­kere Institutionen mit haupt­­­­­amtli­chem Personal integriert wurden.

Eine andere Erklärung ist das Vetorecht von IWF und Weltbank selbst: Denn trotz des Geredes von „Ownership“ sind es schluss­end­lich diese beiden, die dem Papier zustimmen müssen, auf dessen Grund­lage es erst zur Ent­schul­­­dung kommt. Da man als Ent­wick­­lungs­land auch nicht erst seit gestern mit diesen ‚global Playern‘ zu tun hat und um ihre wirtschaftspolitische Einstellung weiß, werden die Papiere dementsprechend wirtschaftsliberal verfasst, so dass sie der Entschuldung auch zustimmen. So verkommt selbst das hehre Ziel der „Entwick­lungs­part­ner­schaft“ zum Hohn, denn das Entwick­lungs­land selbst wird nicht, wie beteuert, aus seiner Rolle des Almosenempfängers heraus ermächtigt, sondern bleibt Spielball der Interessen der Industriestaaten.

Alter Wein in neuen Schläuchen

So entpuppen sich die PRS-Papiere schluss­end­lich doch als billige Rhetorik, um Kritiker/innen etwas zu erwidern, ohne den eigentlichen Kurs zu verändern. Armutsbekämpfung klingt toll und weltweit freut man sich über die moralisch guten, neuen Ansätze. Die alte Politik vom bloßen Wirtschaftswachstum als Ent­wick­lungs­ziel ist hingegen jenseits der Rhetorik nach wie vor Praxis, auch wenn offiziell Wachstum nur als Mittel zur Armutsbekämpfung deklariert wird.

Das ist angesichts der Geschichte von entwick­lungs­­poli­tischen Theorien im Grunde nicht verwunderlich. Blicken wir auf die Zeit vor dem Fall des Ostblockes, so gab es vor allem zwei große Theorie­strömun­gen, die sich in ihrer Armutsanalyse und den darauf auf­bauen­den Strategien diametral gegenüber standen: Die Modernisie­rungs­theorien bzw. Wachs­tums­theorien und die Dependenz­theorien (5). Dabei spiegelten sie gleichzeitig den politischen Ost-West-Konflikt und Kalten Krieg zwischen den zwei Weltsyste­men wider.

Die in den 50ern und 60ern vorherrschende Modernisierungstheorie ging davon aus, dass „Unterentwicklung“ ein selbstverschuldetes Problem der Länder sei, hervorgerufen durch Mangel an dynamischen Impulsen ihrer Kultur, Wertordnung und Schichtenstruk­tur. Nur eine Befreiung aus dem Traditiona­lis­mus hin zur Moderne könne der Theorie nach zu Entwicklung führen. Die Strategie dahin­ter ist relativ simpel: Entwicklung nach westlichem Vorbild, einhergehend mit Individualisierung, Leistungsorientierung und Kapitalismus.

Als politisches Pendant entwickelte sich im sog. Osten Ende der 60er Jahre die Dependenztheorie, die die Ursachen von Armut in den (außenwirt­schaft­li­chen) Abhängigkeitsstrukturen der Entwicklungsländer sah. Dabei wurde die strukturelle Abhängigkeit an mehreren, auch historischen Ereignissen festgemacht: Kolonialismus, ungleiche Weltmarktchan­cen, dominante Handels- und Kapital­ströme, die Schuldenproblematik, aber auch Klassen- und Herrschaftsverhältnisse wären demnach verantwortlich für Unter­ent­wick­­lung. Als Gegenstrategie wurde die Abkap­selung vom kapitalistischen Weltmarkt und eine autozentrierte, nach innen gerichtete Entwicklung empfohlen. Der große Theo­rien­streit endete Anfang der 90er, wo man zum Einen erkannte, dass die großen Globaltheorien angesichts der rasanten Entwicklung der asiatischen Tigerstaaten – die nicht dem westlichen, modernen Werten folgten, sich aber auch nicht vom Weltmarkt abkoppelten – Erklärungsdefizite aufwiesen und zum Anderen dem Diskurs durch den Fall des Ostblockes die Brisanz abhanden kam. Während vorher die Staaten entspre­chend ihrer vorherrschenden Ideologie versuchten, soviel wie möglich Einfluss auf die sog. ‚Peripherie‘ zu nehmen und dort für ihre Systeme Stellvertreterkriege führen ließen, war nun der Weg frei für mehr Selbstkritik an den bisher verfolgten Strategien und neuen, weniger ideologisch verhärteten Ansätzen. Man sprach fortan vom „Ende der großen Theorien“ und legte den Fokus auf sog. Strategien mittlerer Reichweite, wie z.B. Nachhaltigkeit und Armutsbekämpfung. Stellt man die Lupe – wie im Falle der Armutsbekämpfung – hingegen genauer ein, fällt auf, dass sich hinter den neuen Schlagworten trotzdem die alten Theorien verbergen. Freilich nur die eine, denn die Modernisierungs- bzw. Wachstumstheorie besitzt ja inzwischen keinen nennenswerten Gegenspieler mehr und muss dementsprechend auch nicht um die ideologische Herrschaft in der Welt buhlen. Es muss ja auch kein aufwendiger Theorie-Diskurs mehr bemüht werden, um die alte Wachstumsstrategie hinter den neuen Teilzielen wie z.B. Ar­muts­­be­käm­­pfung verstecken zu können.

Dass sich Wirtschaftswachstum und Ar­muts­be­käm­pfung in einigen Bereichen (wie z.B. bei Exportorientierung landwirt­schaft­­li­cher Produkte) konträr zueinander verhalten, ist dann wahrscheinlich ein „Schönheitsfehler“ bei der Fusion beider Strategien. Allerdings ist das insofern unproblematisch, wie sie ohnehin nicht ausreichend miteinander verknüpft sind und somit das Problem der Armut im Konfliktfall nachrangig behandelt werden kann. Natür­lich ist man sich weltweit einig darüber, dass Armut ein Problem ist und fast jedeR würde wohl zustimmen, dass allen Menschen ein menschenwürdiges Leben zu wünschen ist. Dennoch kann staatliche und multilaterale Entwicklungshilfe nicht altruistisch verstan­den werden, solange wir uns im Kapitalismus befinden. Da spielen zum einen (insbeson­dere seit dem 11.9.01) sicherheitspolitische Erwägungen eine Rolle, andererseits wird natürlich auch ein Geschäft gemacht mit der Unterlegenheit bestimmter Länder. Eine Exportorientierung der Entwicklungsländer zum Beispiel ist für die Industrieländer von Vorteil, wenn dadurch billig eingekauft werden kann und gleichzeitig neue Absatz­märkte geschaffen werden. Solange keines der Entwicklungsländer in der Lage ist, bspw. die Agrarsubventionierung des Westens abzuschaffen, werden die Industrie­länder davon einseitig profitieren. Ent­wick­lungs­po­li­­tische Maßnahmen geschehen also immer im Interesse der Geber, auch wenn der Nutzen kurzfristig nicht immer deutlich wird.

Ein Interesse, aus den Entwicklungsländern wirtschaftliche Größen zu machen, gibt es hingegen nicht. Diese könnten ja dann, wie im Falle Chinas, plötzlich zum Konkurrenten werden. Da bleibt es lohnens­werter, nur Sektoren zu entwickeln, die im Industrieland von Nutzen sind und vor allem Abhängig­keiten erhalten. Einseitige Exportorien­tierung seitens der Entwicklungsländer ist diesem Ziel dabei ebenso dienlich, wie die generelle Schul­den­­pro­ble­matik und damit verbundene Strukturanpassungsprogramme – die jetzt statt SAP einfach PRSP heißen. Letztere sorgen v.a. dafür, dass sich der Kapitalismus umfassender etabliert und die Konkurrenz zwischen den Menschen frei wirken kann. Von ‚Entwicklungs­part­ner­schaft‘ kann angesichts dieser Politik jedoch keine Rede sein, auch wenn die neue Rhetorik (die sich auch in ‚Entwicklungs­zu­­sammen­arbeit‘ ausdrückt) ein Zugeständnis an die Dependenztheorie darstellt und der eurozentristische Blickwinkel der Vergan­gen­heit damit eingeräumt wird. Solange es jedoch nur ein sprachliches Spiel bleibt, um die real existierenden Abhängigkeitsverhältnisse zu kaschieren, wird sich auch praktisch nichts verändern. Die Dependenz­theorie hat zwar kaum noch eine Lobby, ist aber insofern nicht obsolet, da sie genau diese Nutzen- und Abhängigkeitsverhältnisse zu den Indus­trie­län­dern anklagt. Abhängig­kei­­ten haben Armut geschaffen. Dement­spre­­chend nötig sind auch alle Bemühungen diese Abhängigkeiten zu beenden.

(momo)

 

(1) Armutsbekämpfung ist allein schon deshalb nicht wirklich neu, da sich sowohl zahlreiche NGOs seit Jahrzehnten an diesen Zielen orientieren, als auch internationale Organisationen wie Weltbank, ILO, WHO in den 70ern Grundbedürfnisstrategien verfolgten. Diese wurden allerdings in den 80ern ange­sichts der Schuldenkrise und Zahlungsschwie­rig­keiten vieler Entwicklungsländer, wieder durch neoliberale Strategien abgesetzt, die vor allem Kürzungen von Sozialausgaben zuguns­ten von Privatisierung und Liberalisierung vorsahen.

(2) HIPC steht für „heavily indebted poor countries“ (hoch verschuldete arme Länder). Die HIPC-Initiative wurde erstmals 1996 (auf Betreiben der G8) von IWF und Weltbank ins Leben gerufen und 1999 mit HIPCII neu aufgelegt. Insgesamt geht es um ein Entschul­dungs­­vo­lumen von 70 Mrd. US-Dollar, das sich bei den hochverschuldeten Ländern hauptsächlich auf Handelsschulden sowie Schulden aus der Entwick­lungs­zusammenarbeit bezieht.

(3) Die entwicklungspolitischen Konzepte, die hinter einer ‚gleichberechtigten Entwicklungs­partner­schaft‘ stehen und worauf sich v.a. die PRSP beziehen, sind ‚Partizipation‘ und ‚Ownership‘. Die neuen Schlagwörter in der Entwicklungszusammenarbeit werden als Konzept verstanden, bei dem die betroffenen Länder selber aktiv Anstrengungen zur Armutsbekämpfung unter- und zudem Verantwortung und Rechenschaftspflicht überneh­men. Sie sollen aus ihrer passiven Rolle herauswachsen und z.B. Pläne für die Armutsreduzierung selbst formulieren.

(4) weed, „Word Economy, Ecology and Develope­ment“, ist eine 1990 gegründete deutsche NGO, die sich v.a. mit kritischer Informationsarbeit in Deutschland beschäftigt. Kennzeichnend ist vor allem ihre Kritik an den weltwirtschaftlichen Rahmenbe­dingun­gen, der sie durch die Erstellung zahlreicher Publikationen und Durchführung von Seminaren Ausdruck verleihen.

(5) Die Vertreter der Modernisierungs- bzw. Wachstumstheorien (z.B. D. Lerner) beziehen sich ursprünglich auf die Väter der klassischen Nationalökonomie wie A. Smith und D. Ricardo, aber auch auf die Theorien der frühen Soziologen wie Weber und Parsons. Grob gesprochen spalten sie sich noch einmal in das neoklassische und das keynesianistische Lager. Vertreter der Dependenz­theorie (z.B. D. Senghaas) kommen eher aus dem linksliberalen, neomarxistischen Lager und beziehen sich in ihrer Theoriebildung hauptsächlich auf Theorien von Marx, Lenin (Imperialismustheorie) und/oder strukturalistische Ansätze.

Hintergrund: IWF & Weltbank

Der Internationale Währungsfond (IWF) und die Internationale Bank für Wiederauf­bau und Entwicklung (Weltbank) wurden 1945 auf der internationalen Wirtschaftskonferenz von Bretton Woods gegründet. Originäre Aufgabe des IWF ist die Verhinderung erneuter Weltwirtschaftskrisen, durch die Überwachung von Währungsstabilität, Inflationsraten und Finanzpolitik einzelner Länder. Die Weltbank, die ursprünglich für den Wiederaufbau des nach dem 2. Weltkrieg zerstörten Europas gegründet wurde, vergibt heute langfristige Kredite und Darlehen an Entwicklungsländer. Wegen der Schuldenproblematik und zunehmender Zahlungsunfähigkeit vieler Länder, wurden in den 80ern von Weltbank und IWF Strukturanpassungsprogramme (SAPs) entwickelt, die an die Vergabe von Krediten gekoppelt waren. D.h. um einen Kredit zu bekommen, war das Land verpflichtet, durch bestimmte Maßnahmen die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und Staatsbankrotte zu verhindern. Durch Reformen wie der Liberalisierung vom Finanzmarkt und Außenhandel, Erhöhung der Exporte, Privatisierung von Staatsbetrieben, Reduzierung der öffentlichen Ausgaben für Gesundheit und Bildung, Abbau von Subventionen und Zöllen, Abwertung der Währung und dem Verbot staatlicher Eingriffe in den Handel sollten diese Ziele erreicht, Wirtschaftswachstum gesteigert und die Zahlungsfähigkeit wiederhergestellt werden. Wegen der z.T. verheerenden Auswirkungen der SAPs, vor allem für die armen Bevölkerungsteile, stehen diese seither unter starker Kritik und werden nun zunehmend von PRS-Programmen abgelöst.