Stadtentwicklung im Leipziger Westen zwischen Abriss und Hauserhalt, zwischen Erbwerbslosigkeit und Armut
Ausflug gen Westen
Fernab des städteplanerischen Größenwahns der Stadtoberen; weit weg vom Knirschen und Schieben jenes Ungetüms namens „Leonie“ (1), dass sich da mitten durch das Leipziger Herz frisst und nicht mehr als vergoldete Immobilien und feiste Investoren hinterlässt; gleich hinter der Elster, wo vom Auenwald her zum Leutzscher Holz hin ein frischer Atem die Stadt aufstöhnen lässt, dicht gekauert in den Leipziger Westen, liegt Lindenau; abgekoppelt von der Stadtentwicklung und amtlicher Hafen & Heimat für viele aus dem Erwerbslosenheer der ARGE zu Leipzig.
Die Rittersippe von und zu Lindenau würde sicher staunen, hätte sie vor Augen, welche Spuren die Industrialisierung an ihrem einst so beschaulichen Bauerndorf hinterlassen hat. Ja … ja hätte nicht ein gewisser Karl Heine Mitte des 19. Jahrhunderts all sein Bemühen daran gesetzt, aus dem kleinen Dörfchen eine Fabrikhölle des aufstrebenden deutschen Junkerregimes zu machen, vielleicht gäbe es dann ja gar kein architektonisches Substanzproblem in den gähnend kahlen Schluchten der Arbeiterviertel, kein darbendes Gewerbe, keine soziale Notlage, keinen so hohen Drogen-&-Alkohol-Konsum … sondern eine Perspektive, beschaulich zwar, aber immerhin.
Denn mit der gescheiterten Leipziger Olympia-Bewerbung sind auch unter den Optimisten die letzten Hoffnungslaternen ausgegangen, dass der fette Speck von selbst zum armen Mäuschen kriecht und der Stadtteil sich wie von „unsichtbarer Hand“ aus seinen Strukturproblemen pellt. Die Industrie ist lange weg und wo keine Brachen und Ruinen gammeln, da strahlen frisch geweißte Häuserwände vom schiefen Schein notdürftiger Sanierung und verhöhnen die „Modernisierung“. Die meisten Quartiere sind auf die Normen der Bedarfsgemeinschaften zugeschnitten, „angeharzt“ sozusagen. Es fehlt überall an regenerativen Flächen, Nutzräumen und tagtäglich rollt die Blechlawine über den Westen Richtung Schkeuditz/Autobahn oder Halle. Die meisten Leute haben kein Geld in der Tasche und dementsprechend schlecht geht‘s dem Gewerbe. „Blau nach Lindenau“, wie die Leipziger Verkehrsbetriebe werben, d.h. fern der sozialen Stigmatisierung vor allen Dingen eines: Perspektivlosigkeit. Überall in Lindenau ist sie spürbar, diese resignierte Unruhe eines desillusionierten Kleinbürgertums, das den Dienstleistungszug des dritten Marktes verpasst hat und nun in der deindustrialisierten Sackgasse festsitzt. Weder Arbeit noch ein schönes Leben und schon gar nicht beides zusammen, wie es sich der korporierte Freimaurer und Großgrundbesitzer Heine mit seiner Westend-Baugesellschaft wohl erträumt hatte; nichts von dem, was vor 150 Jahren einem phantasiereichen bürgerlichem Bewusstsein noch möglich schien: rauchende Schlote, mit Maschinendampf und Heizöl vermischten Schweiß und den Dreck der Gossen als „blühende Landschaft“ vorzuschwärmen; nichts davon ist heute wirklich. Wie es der oberen Einkommensklasse an Visionen fehlt, so der unteren an Hoffnung und Mut. Und wo beides abhanden kömmt, da mangelt es der bürgerlichen Revolution eben an dem Zunder, der sie dereinst noch vorwärts trieb.
Häuser halten!?
Nun könnte man fragen, warum bauen wir Lindenau nicht zum Dorf zurück? Offensichtlich war dies ja auch ein Hintergedanke der Olympia-Planer, als sie im Rahmen der Leipziger Bewerbung weite Teile Lindenaus für das olympische Dorf vorsahen und tausende von modernen Apartment-Wohnungen entstehen lassen wollten. Die Antwort darauf ist ganz einfach: Es fehlt sowohl am Geld als auch am Bedarf und der Stadtteil schmachtet nun schon länger in der sogenannten „Ertragslücke“. Der nach wie vor hohe Leerstand in Leipzig drückt auf die Mietpreise und hält Immobilien-Spekulanten davon ab, hier in Wohnraum zu investieren. Andersherum sind die meisten Mietparteien vordergründig nicht an einer qualitativen Aufwertung ihrer Wohnverhältnisse, sondern an möglichst niedrigen Preisen interessiert, da die astronomisch gestiegenen Öl- und Gaspreise mittlerweile fast die Hälfte der fixen monatlichen Kosten beanspruchen. Von den schmalen Lohntüten, sofern überhaupt vorhanden, der starken Inflation und den gestiegenen Mobilitätskosten mal ganz abgesehen. Um quasi so viele Lücken in die Lindenauer Arbeiterviertel zu reißen und diese zu renaturieren, dass man wieder von einem „Dorf“ reden könnte, steht weder genügend Geld noch Interesse interner wie externer Investoren zur Verfügung. Einzig blieben die hochverschuldeten staatlichen Instanzen von Stadt, Land und Bund. Und die leisten sich wegen der akuten Schuldenlage eben nur prestigeträchtige Großprojekte wie Autobahnen oder Flughäfen und den City-Tunnel bspw., bzw. finanzieren ansonsten nur den lokalen und beschränkten Abriss. Baugrundstücke sind ja auch was wert, wenn da nur die entsprechende Nachfrage da wäre. Es bleibt dabei: Auch unter staatlicher Obhut würde unser vorgestelltes Re-Design Lindenaus mindestens auf halber Strecke stagnieren und von dörflicher Beschaulichkeit könnte man im Bild riesiger Betonflächen, dröger Werbetafeln und verwaister Gewerbeviertel, kaum reden.
Wenn also der sozialverträgliche Rückbau Lindenaus ausfällt und eine Re-Industrialisierung sowieso unrealistisch ist, dann steht schließlich am Ende nur eine Parole: Die Häuser halten! Für eine emanzipatorische Perspektive in Lindenau hieße das freilich vor allen Dingen: Häuser besetzen! Und sie der Spekulation entziehen, um Freiräume aufzubauen, innerhalb derer sich der ‚gemeine‘ Lindenauer in Solidarität und Zusammenarbeit, in antikapitalistischen Praktiken übt, die ihn letztlich befähigen, sich der nationalistischen Regression des Bewusstseins und dem Stumpfsinn von Staat und Partei entgegen zu stellen. Und Freiräume sollen eben das ja sein: Orte, an denen das freie Denken von Alternativen und progressive soziale Experimente ihren Platz finden. Auf den Erfolg gibt es dabei nie eine Garantie, aber solche Entfaltungsräume sind schließlich die Bedingung der Möglichkeit emanzipatorischer Entwicklungen. Und das ganz im Sinne Rosa Luxemburgs etwa, die im Streik und der Gewerkschaft eben auch nur ein Mittel zur Sozialisation der Massen sah, also die Freisetzung von der Arbeit und von der Isolation am Arbeitsplatz als Bedingung der Möglichkeit dafür annahm, eine emanzipatorische Entwicklung kollektiv voranzutreiben. Hier wie da geht es erstmal darum, gegenüber der kapitalistischen Konkurrenz und deren Leistungszwang einen Freiraum behaupten zu können, um überhaupt handlungsfähig zu werden.
Nun, zumindest der erste Teil dieser Bedingung ist ja in Lindenau erfüllt, die meisten EinwohnerInnen sind von der Arbeit „freigesetzt“. Doch leider fehlt es sowohl am nötigen Bewusstsein, bspw. über die gemeinsame soziale Lage, als auch an wirksamen Organisationen, um die freie Zeit durch die Eroberung von Freiräumen besser, und das heißt hier schon progressiv, zu nutzen. Die gesamte Leipziger Linke, über den palavernden Staatssozialisten oder nationaltümelnden Gewerkschafter bis hin zum linksradikalen Krypto-Kommunisten, alle sind dabei, dieselben Fehler zu wiederholen, wie in Reudnitz und Schönefeld/Neu-Schönefeld, wo mittlerweile die Freien Kräfte und andere faschistische Kollektive die politische Rhythmik der Viertel dominieren. Auch der Feierabend! selbst kann sich von dieser Kritik nicht ausnehmen, ist es doch in den letzten Jahren weder in Reudnitz, noch in Neu-/Schönefeld, noch in Lindenau gelungen, weitere Verkaufsstellen aufzubauen.
Nochmals muss also der Zoom der Lupe erhöht werden, um auf noch konkreterer Ebene zu sehen, wo sich in Lindenau überhaupt emanzipatorische Impulse und Freiräume bilden. Und hier erst, wo nun schon wirklich kleine Brezeln gebacken und von einer erbaulichen Perspektive wahrlich kaum noch gesprochen werden kann, rückt die Arbeit des HausHalten e.V. ins Zentrum der Betrachtung. Denn wer aufmerksam durch Lindenau und Plagwitz wandert, wird hier und da feststellen, dass an unsanierten Häusern ein großes gelbes Banner mit der Aufschrift prangt: Wächterhaus. Ganz der Parole vom „Häuser halten!“ verpflichtet, bemüht sich ein Verein von Architekten und Stadtplanern schon seit 2003/04 darum, vor allen Dingen einige der stark gefährdeten Lindenauer „Gründerhäuser“ vor dem Verfall zu retten.
Das Wächterhaus – zwischen bloßem Substanzschutz und wirklicher Stadtentwicklung
Propagierte dieser gemäßigte und bürgerlich-liberale Verein einzig den Substanzschutz im Viertel und hätte neben völlig abstrusen musealen Vorstellungen keinen Blick für die soziale Lage, es wäre müßig, sich mit seiner Arbeit näher auseinander zu setzen. Da das „Wächterhaus-Konzept“ des HausHalten e.V. aber vor allen Dingen auf eigenleistende NutzerInnen, die sogenannten „Wächter“ setzt, tritt der Verein gegenteilig sehr offensiv mit dem Anspruch auf, Stadtentwicklung nicht nur im rein architektonisch substanziellen Sinne, sondern vor allem im sozialen Sinne zu betreiben. Günstiger Nutzraum soll die Attraktivität der angrenzenden Quartiere erhöhen, KünstlerInnen, Gruppen und Projekte ins Viertel ziehen, ihnen Entfaltungsraum geben und so das soziale Leben bereichern, nicht weniger haben sich die Mitglieder des Vereins auf die Fahnen geschrieben. Der/Die politisch versierte Leser/in wird sich sofort fragen: „Lebensbereicherung“, steckt hinter dieser Phrase wirklich eine konkrete sozialpolitische Qualität? Wird hier nicht der bloße Substanzschutz blumenreich ausgeschmückt? Und wie soll das gehen, Stadtentwicklung im sozialen Sinne, ohne eine politische Perspektive, die den engen Zwingkreis von Arbeit und Geld letztlich sprengt? Der Verein stellt ja Boden- und Immobilien-Spekulationen keineswegs in Frage. Im Gegenteil: Sein Programm zielt gerade darauf ab, zurückgebliebene Immobilien wieder in den Markt einzugliedern. Die Skepsis gegenüber dem Anspruch des HausHalten e.V. wirkliche Stadtentwicklung mit dem „Wächterhaus-Konzept“ zu betreiben, hat also genügend Anlass laut ausgesprochen zu werden. Um allerdings vom Zweifel zur ernsthaften Kritik fortzuschreiten, müssen wir den Gegenstand auch auf seine Sachhaltigkeit hin prüfen. Denn es kann ja sein, dass sich trotz der mangelhaften Ausrichtung des Vereins, hinter der hohlen Phrase von der Bereicherung des sozialen Lebens, auf der indirekten Ebene, über die Potentiale des Wächterhaus-Konzeptes selbst, Freiräume bilden, die emanzipative Prozesse fördern. Das ist die Spur, der wir im weiteren folgen wollen, wenn wir das Konzept der Wächterhäuser hier näher untersuchen, Fragen an die Mitglieder des HausHalten e.V. stellen (siehe hier) und in den folgenden Heften Exkursionen in die Lebensrealitäten der „Wächter“ starten.
Im ersten Schritt ist deshalb zu prüfen, ob die Nutzung der Häuser ausgerichtet auf eine soziale Entwicklung der angrenzenden Quartiere überhaupt genügend Berücksichtigung im Gesamtkonzept des Vereines findet. Denn schließlich sollen die nutzenden Wächter ja die Träger und Protagonisten solcher positiven Prozesse sein. Welche Partizipationsmöglichkeiten haben sie? Welche Geltung wird ihren Interessen zugestanden?
Des weiteren gilt es zu untersuchen, inwieweit der Verein seine Nutzungsvorstellungen, von denen er sich ja eben jene segensreiche Wirkung auf die Entwicklung der Viertel verspricht, überhaupt absichert. Gibt es Nutzungskriterien und ihre Kontrolle? Oder regiert am Ende die Beliebigkeit? Und wie will man verhindern, dass der entstehende Raum derart genutzt wird, dass gegenteilig sozial missgünstige Entwicklungen befördert werden?
Abschließend muss dann die wirkliche Praxis, die Realitäten der Nutzung im Zentrum der Analyse stehen. Wie gehen die „Wächter“ mit den an sie herangetragenen Nutzungsvorstellungen um? Welche eigenen haben sie? Gibt es da Widersprüche? Einen kommunikativen Raum der Klärung? Wie schätzen die NutzerInnen das Engagement des Vereins dahingehend ein?
Danach, so ist zu hoffen, hat sich ein facettenreiches Bild für eine nüchterne Einschätzung der konkreten Möglichkeiten emanzipativer Prozesse innerhalb und um die Wächterhäuser verdichtet. Und der eine oder die andere Leser/in hat genug Hinweis und Aufklärung gefunden, um sich richtig entscheiden zu können, ob nun für oder gegen die Nutzungsangebote des HausHalten e.V..
HausHalten – Die Idee vom runden Tisch der Interessen
Die Grundidee zur Rettung substanzgefährdeter Häuser, die der Verein HausHalten e.V. entwickelt hat, ist oft gelobt worden. Minister haben sich die Klinke in die Hand gegeben. Sie beruht wesentlich darauf, dass sie zwei Königskinder zueinander bringt, die sonst teils aus Mangel an Interesse, teils aus Unfähigkeit einfach nicht zusammenfinden. Das eine scheue Kindchen heißt da eigentümlich Eigenthymia, das andre schüchtern und bieder Stadtverwalterine. Die Problemlage hat ihre Wurzel in der Eigentumspolitik der BRD während der Annexion der Gebiete der Ex-DDR. Die staatssozialistischen Reformen hatten dort das private Eigentum am Wohnraum größtenteils abgeschafft und zentrale Mietkartelle unter staatlicher Kontrolle dominierten den Markt. Neben den Besitzinteressen enteigneter Eigentümer ging es bei der „Wende“ also vor allen Dingen um eine Öffnung dieses Marktes, um das Freisetzen der kapitalistischen Konkurrenz. Es war deshalb nicht vorrangig aus moralischen Beweggründen erforderlich, die Rechtsgeschichte der DDR zu negieren, sondern in erster Linie aus ökonomischen Kalkülen. Die juristische Grundlage hierfür lieferte die Restitutionsgesetzgebung, die allgemein gesprochen Rückforderungsansprüche bei widerrechtlichen Aneignungen regelt. Nachdem also der Bund per treuhänderischer Verwaltung die bestehenden Kartelle übernommen und sich die besten Rosinen zum Weiterverscherbeln angeeignet hatte, legte er die Verwaltung in die Hände der Kommunen & Stadtverwaltungen und stellte es seinen Bürgern ansonsten frei, in den alten Papieren zu blättern und wenn entsprechende Rechtstitel noch vorhanden, die Immobilien zurück in private Hand zu fordern. Es gibt sicher heute noch hier und da vergreisten Spätadel, der ohne es zu wissen, Grund und Boden im Osten besitzen (könnte). Freilich machte auch nicht jeder von seinen Ansprüchen Gebrauch und Fälle von ungeklärten Rechtsfolgen, verschollenen Erbengemeinschaften und verschwundenen Papieren gab es genug. Hier half das Konzept der kommunalen Wohnungsbaugesellschaften aus, das sich in der BRD schon beim Ausstieg der Zentralgewerkschaften aus dem sozialen Wohnungsbau und der Übernahme vieler gewerkschaftlicher Wohn-Immobilien bewährt hatte (2). In diesen lokalen Kartellen, oftmals hundertprozentige Tochterunternehmen der kommunalen Stadtverwaltungen, sammelte sich der Restbestand der unveräußerlichen Immobilien. Teils als reine Kredit-Absicherung, teils als Instrument sozialpolitischer Programme oder auch über bloße Verkaufsgewinne waren diese Wohnungsbaugesellschaften in den 90ern die Spina dorsalis, das Rückgrat der lokalen Stadtentwicklungen unter kommunaler Verwaltung. Allerdings befanden sich in diesem ausgesiebten „Rest“ auch kaum noch viele verwertbare Rosinen, so dass der Kostendruck durch abrissgefährdete Häuser und Investitionsruinen von Anfang an ziemlich hoch war und immer noch wächst.
In diese Lage, von jedem Interesse entkoppelter Immobilien, stößt nun die „Einzelfall-Taktik“ des Vereins Haushalten (3). Einzelne, aus dem Markt herausgefallene Immobilien sollen „aufgefangen“ und aufgewertet werden. Schlechterdings wird die Substanz des Hauses erhalten und die Unterhaltskosten in private Hand verlegt, bestenfalls gewinnt die Immobilie wieder an Wert und lässt sich an den Kreis der üblichen Marktspekulation rückkoppeln. Der Verein tritt dabei wesentlich als Dienstleister auf, der die Opportunitätskosten beider Parteien, also den Aufwand der Stadtverwaltung und den Widerstand des eigentlichen Besitzers, senkt, um beide Seiten und ihre unterschiedlichen Interessen, die beiden Königskinder, an einen Tisch zu bekommen. Einerseits bedient er die Interessen der kommunalen Stadtverwaltung, die Erhaltungskosten unrentabler Wohnimmobilien loszuwerden bei gleichzeitiger Aussicht auf Stadterneuerung und einen permanenten Ansprechpartner in Sachen Besitzpflichten, andererseits ködert er den investitionsscheuen Eigentümer mit hauseigenen Baugutachten, Schätzung & Planung und Fremdleistungen, um dessen Interesse auf höhere Rendite am Objekt zu fördern.
Den Schlüsselfaktor der Strategie bildet dabei die eigentliche Nutzung. Denn ohne „Wächter“, die ein verfallsbedrohtes Haus revitalisieren, heizen, lüften etc. pp., ist ein solches Objekt kaum ohne weitere Groß-Investition im Wert zu steigern. Und gerade die hohen Investitionskosten halten ja viele Besitzer davon ab, ihre Immobilien aufzuwerten bzw. zu „halten“. Der Verein rekrutiert deshalb NutzerInnen, Künstlergruppen, Vereine etc., die bereit sind, unkomfortable Verhältnisse und hohe Eigenleistungen in Kauf zu nehmen, um kurzfristig (in der Regel fünf Jahre) günstigen bis mietfreien Nutzraum (i.d.R. kein Wohnraum) in den quasi vorübergehend vom Verein verwalteten Häusern zu erhalten. Der HausHalten e.V. schließt hierzu Nutzungsverträge ab, sogenannte Gestattungsvereinbarungen „Raum“, die den Nutzraum, die Zeit und die Art und Weise der Nutzung feststellen, den Nutzern grundversorgende Instandhaltungsmaßnahmen wie Elektro- und Wasseranschlüsse, Dachsicherung und sanitäre Anlagen zusichern und gewisse Entschädigungen für Eigenleistungen bei vorfristigen Vertragskündigungen regeln. Die Nutzungsverträge sind alle binnen drei Monaten kündbar, was einem herkömmlichen Mietverhältnis entspricht. Der HausHalten e.V. kann deshalb als quasi besitzender Vermieter auftreten, da er gleichzeitig mit dem derzeitigen Verwalter bzw. rechtmäßigen Eigentümer des entsprechenden Objektes eine sogenannte Gestattungsvereinbarung „Haus“ abschließt, in welcher dem Verein Verwaltungsrechte übertragen werden und die Bereiterklärung erfolgt, grundversorgende Instandsetzungen und erste Besitzpflichten hinsichtlich der Verkehrssicherheit und Haftung der Immobilie zu übernehmen. Durch diese doppelte Vertragsstruktur zwischen NutzerIn und Verein und zwischen Verein und Eigentümer/Verwalter, also einerseits durch die Zusicherung über die NutzerInnen, monatliche Betriebskostenabschläge zu zahlen und andererseits durch die Versicherung des Besitzers, eine diesbezügliche Abrechnung auch in Gang zu setzen, etabliert der Verein so etwas wie eine Vorform eines gewöhnlichen Mietverhältnisses. Und von daher versteht sich auch das Ziel des Vereins, die Wächterhäuser wieder zu „entlassen“. Gemeint ist damit nämlich in erster Linie der Rückzug der vermittelnden Vertragsstruktur bei gleichzeitiger Etablierung eines direkten Mietvertrages zwischen den Parteien. Was natürlich im weiteren bedeutet, dass der Eigentümer beginnt, seine wertgesteigerte Immobilie besser zu pflegen und weiter zu investieren (Hurra, hurra, der Markt ist wieder da!) und die Stadtverwaltung bzw. Kommune sich darüber freuen kann, ein missliebiges Objekt aus dem Bestand losgeworden zu sein und gleichzeitig nun ein Ansprechpartner für Besitzpflichten und Kostenumlagen existiert.
Brosamen von der Herren Tische
Also rundherum ein Tisch, an dem alle Interessen gleichberechtigt zur Geltung gelangen? Ein Ideal-Modell um verfallsbedrohte Häuser zu halten und die maroden Arbeiterviertel wieder zu vitalisieren, mit emanzipatorischen Impulsen gar zu beleben? Nein, denn insbesondere die direkten Interessen der NutzerInnen werden in dieser Interessensrunde vorrangig vom Verein repräsentiert. Und hier liegt auch der Hase im Pfeffer. Genau besehen wird nämlich die runde Interessenstafel hauptsächlich durch die substanzerhaltenden Kalküle gestiftet. Der Eigentümer hofft auf mehr Rendite, die Verwaltung auf sinkende Kosten und ein gutes Stadtbild und der Verein auf die Rettung architektonisch wertvoller Gebäude. Die Nutzung scheint letztlich nur Mittel zum Zweck, zweitrangig und beliebig zu sein. Von einem umfassenden sozialpolitischen Plan, einer langfristigen Perspektive sozialer Stadtentwicklung finden sich also wenig Spuren. Der Verein behält sich zwar vor, am konkreten Nutzungskonzept zu entscheiden, ob die jeweilige Nutzung sinnvoll und passend zu seinen aktuellen Stadtentwicklungs-Vorstellungen ist. Letztlich aber ist davon auszugehen, dass jede x-beliebige Nutzung in Kauf genommen wird, um ein leerstehendes Haus, bei dem die Verhandlungstendenzen mit den anderen Parteien bereits positiv sind, mit „Wächtern“ zu besetzen. Es sticht dabei der Widerspruch besonders heraus, dass der Verein zwar über die konkrete Nutzung soziale Stadtentwicklung betreiben will, dafür aber keinerlei eindeutige Kriterien anzugeben weiß, was den Schluss nahelegt, dass er gar keine spezifischen Vorstellungen progressiver sozialer Stadtentwicklung ausgebildet hat. Stadtentwicklung gilt allein dann schon als erfolgreich, wenn die Immobilien an die freie Spekulation des Marktes angekoppelt sind und von privaten Investoren wieder marktkonform betrieben werden. Dass damit auch das schnelle Aus alternativer Nutzungen droht, wie im Beispiel der Lower East Side in New York (3), verschweigt der Verein tunlichst, denn auf langfristige Perspektiven hat er es gar nicht abgesehen. Das Wächterhaus-Konzept begnügt sich mit einer Nischenpolitik, bei der letztlich vor allem die Kapital-Interessen von Eigentümer und Stadtverwaltung bedient werden. Zwar stellt er auch Ansprechpartner für die NutzerInnen ab, aber ob auf dieser Kommunikationsebene Fragen der hausübergreifenden sozialen Stadtentwicklung überhaupt verhandelt werden, bleibt äußerst fraglich. Man kann sogar davon ausgehen, dass der Verein durch die kurzfristige Projektanlage und dem Ziel der Marktrückbindung, schließlich durch die Interessensvertretung von Stadt und Besitzer, progressive Vorstellungen über Nutzung und Wirkung der Wächterhäuser unterbindet, insofern diese bei den NutzerInnen überhaupt vorhanden sind bzw. angesammelt werden. Aufwertung der Quartiere, d.h. für die Stadtplaner des HausHalten e.V. auch nicht viel mehr als Wertsteigerung der Immobilien. Noch dazu verhindert der Verein über die Re-Aktivierung des rechtmäßigen Besitzers und die Etablierung gewöhnlicher Mietverhältnisse, dass solche Häuser anderweitig und langfristiger „besetzt“ und genutzt werden.
Es bleibt also Alles in allem ein fades Bild zurück. Wenn die Wächterhäuser in Lindenau und Plagwitz Freiräume eröffnen und emanzipatorische Impulse in die angrenzenden Quartiere ausstrahlen, dann wohl hauptsächlich durch die Eigeninitiative der dort angesiedelten „Wächter“, sofern diese nicht vom Verein selbst ausgebremst werden. Das wird in den folgenden Heften noch genauer an den konkreten Projekten zu untersuchen sein. Und sicher, der entstandene Nutzraum und die, wenn auch kurze, Zeit der alternativen Nutzung, befördern solche Möglichkeiten des sozialen Engagements. Dennoch sollte sich jedeR, der/die erwägt, in ein Wächterhaus zu ziehen, klar darüber sein, auf welcher Schmalspur der Verein HausHalten e.V. eigentlich plant. Die hohen Eigenleistungen werden zwar durch den günstigen Nutzungspreis einigermaßen ausgeglichen, aber langfristig arbeitet mensch hier nur dem Besitzer in die Taschen. Und wenn diesem, der Stadt oder dem Verein die Nutzung nicht mehr passt, ja dann, flattert wohl ganz schnell die Kündigung ins Haus.
Auf dieser Grundlage sind die Wächterhäuser ganz sicher nicht der neue Rettungsanker Lindenaus, nicht mal ein Tropfen in die trockene Kehle. Denn solange die Priorität allein auf den Substanzschutz und die spekulative Verwertbarkeit der Häuser gelegt wird, solange fehlt eben eine handfeste und langfristig nachhaltige Perspektive für die positive soziale Stadtentwicklung in den Vierteln. Und um diese voran zu treiben, sollte man in Zukunft nicht die Häuser „halten“, um sie dem Besitzer attraktiv zu machen, sondern jene enteignen, die ja offensichtlich kein Interesse mehr an ihrem Besitz aufbringen, und die Häuser eben „besetzen“ und kollektivieren. Als neue Bastionen des sozialen Zusammenlebens könnten diese dann bspw. selbstverwaltete Arbeitsbörsen, autonome Mieterkollektive oder Büros von unabhängigen Stadtteilräten, Gewerkschaftssyndikaten und anderen sozial aktiven Gruppen beherbergen, schließlich Raum für Fahrgemeinschaften bis hin zur gemeinsamen Kinderbetreuung bieten; etwas anderes freilich als erlebnisorientierte KünstlerInnen und kreative Individuen des verarmten Bildungsbürgertums. Eine solche Perspektive bliebe sicher nicht im Kleinen stehen und nötigt dem Standpunkt einiges an Idealismus ab. Aber ohne den, zumindest ohne den Mut und die Hoffnung der unteren Schichten, werden in Lindenau auch in Zukunft nur kleine Brezeln gebacken, Brosamen von der Herren Tische, die den Hunger und die Trostlosigkeit kaum stillen.
(clov)
(1) Der Leipziger City-Tunnel-Bohrer, den man extra für die unterirdischen Baumaßnahmen entwickelt hat, wurde auf den wenig phantasiereichen Namen „Leonie“ getauft. Das ganze Bauprojekt dürfte durch die anhaltenden Verzögerungen (3 Jahre +) mittlerweile schon ca. 1,5 Milliarden Euro verschlungen haben. Allein der Eigenanteil von Stadt und Land ist im letzten Jahr von 500 Millionen auf weit über 800 Millionen geklettert.
(2) Siehe hierzu auch FA!#25 „Neue Häuser“
(3) Freilich ist die Strategie nicht ganz neu. Schon in den 1980ern wurde bspw. genau mit diesem Modell (5-Jahres-Verträge mit kreativen Köpfen, Intellektuellen etc. pp.) die Lower East Side in New York entwickelt bzw. „gentrifiziert“. Mit der Folge, dass die meisten der Angeworbenen nach Ablauf der Verträge durch das teilweise bis auf über 500% gestiegene Mietniveau wieder verdrängt wurden. Siehe hierzu auch das interessante Interview in der aktuellen Direkten Aktion mit Prof. Dr. Neil Smith aus New York, der dort schon seit langem zu Gentrifizierungsfragen forscht: DA, Nr. 186, „Kapitaler Abschaum“, S. 6