Archiv der Kategorie: Feierabend! #05

Feierabend! vorm Arbeitsamt

Für den 5. und 6. Februar 2003 war zu einem Tag der Erwerbslosen aufgerufen worden, werden da doch allmonatlich die aktuellen Arbeitslosenstatistiken verkündet. Für Feierabend! Grund genug, etwas engeren Kontakt zu suchen mit den zu allererst Betroffenen. Mit Militanten der FAU Leipzig fanden wir uns an einem sonnigen Morgen zum Frühstück zusammen, schließlich dauert es eine Weile, bis zehn Liter Wasser zum Kochen gebracht sind. Es sollte an diesem Tag Tee geben vor´m Arbeitsamt, ein Schwätzchen, und die Schwerpunktausgabe zu den neuen Hartz-Gesetzen. So reisten wir frohen Mutes in der Straßenbahn zum Ort des Geschehens.

Der Stand war fix aufgebaut, die FAU-L verteilte Flugblätter, in denen der DGB wegen der Tarifverhandlungen für ZeitarbeiterInnen scharf kritisiert wurde, und wir harrten der ersten Durstigen. Die meisten Menschen aber eilten an uns vorbei, gehetzt zum Termin mit dem „Schicksal“.

Nur mit zwei [sic!] Erwerbslosen kamen wir ins Gespräch, und mit dem Ordnungschef des Arbeitsamtes. Jene zeigten sich rat- und hoffnungslos, dieser verwies uns des Privatgeländes Arbeitsamt, Wie ausbrechen aus der Tretmühle, wie helfen …? Diese Fragen bleiben offen, aber wir werden sie weiterhin stellen!

A.E.

Hartz-Gesetze

OLYMP(ia): Idole und Millionäre

Es ist wohl kein Zufall, dass der Gründer der neuzeitlichen olympischen Spiele, Pierre Fredy de Coubertin – ein vermögender, nationalistischer Adliger – die Spiele im 19. Jahrhundert, im Sinne ihres antiken Mythos ins Leben rief. So war ihm ein Platz im modernen Olymp sicher. Wie es sich für einen Göttersitz gehört, kommen nur diejenigen rein die, die nötigen Voraussetzungen mitbringen. In unserer Zeit also eine hohe Verwertbarkeit oder Kapital. Aber weil wir hier auf Erden genug mit uns selbst zu tun haben, sollten wir die Finger von Göttern oder ähnlichen zwielichtigen Figuren lassen.

Aktualität gewinnt das Thema Olympia dadurch, dass es den Verwaltern der Stadt Leipzig zu Kopfe gestiegen, Olympia 2012 und damit lauter zwielichtige Gestalten nach Leipzig holen zu müssen. Im Juni 2004 soll die erste Bewerberauswahl getroffen werden. Olympia kann ein paar Investoren und Großverdienern nützlich sein, aber nicht denen, die auf Lohnarbeit angewiesen sind. Olympia nach Leipzig holen zu wollen, ist entweder dumm gedacht oder bösartig. Denn was im Mythos Götter sind, sind in unserer Zeit u.a. ein ehemaliger Minister unter dem faschistischen Regime Francos und ein Geheimdienstchef die mit dem olympischen Label Milliardengewinne einfahren. Was im Mythos sportliche Fairness ist, ist längst in Leistungszwang, härteste Konkurrenz und menschliche Werbeträger umgeschlagen. Es stimmt sicherlich, dass die Gewinnerinnen hohe Summen bekommen. Doch betrifft das immer nur zwei von Millionen, die restlichen Sportler bleiben auf der Strecke. Spätestens hier ist klar, dass Olympia alles andere eine „sportliche Internationale“ ist, sondern Sport, der dem kapitalistischen System komplett untergeordnet ist. Nicht mal von dem Mythos der sportlichen und friedlichen Zusammenkunft ist viel geblieben. Bei den Sommerspielen 2000 in Sydney machten die sogenannten „Sportsoldaten“ ein Viertel der deutschen Mannschaft aus. In Atlanta hatte der Anteil der Bundeswehrangehörigen noch bei deutlich unter 20 Prozent gelegen.

Dies ist eine Veranstaltung die niemanden gut tut, aber Sport ist deswegen nicht per se abzulehnen. Denn abseits von jeglichem Missbrauch, sind gesundheitliche Vorteile des sogenannten „Breitensports“ nicht zu leugnen. Es sollte sich also niemand dazu veranlasst fühlen, aus der Ablehnung des mörderischen Leistungssports heraus, auf seine eigene körperliche Fitness zu verzichten.

Doch nicht nur die Sportler werden zum Produktionsmittel der Firma „Olympia“, bei den olympischen Spielen sind wohl zuerst die Spiele gestorben. Denn wo der Profit eines Unternehmens sich mit Sport paart, bleibt von Spiel und Sport nichts. Weder einem Athleten dürfte es wirklich Spaß machen, noch den Zuschauern. Es ist langweilig horrende Summen bezahlen zu müssen, um dann nicht mal mitmachen zu können. Seinen Lieblingssportlern sollte der Fan eher wünschen, dass ihnen Olympia erspart bleibt.

Das einzige, was Olympia wenn überhaupt, an Positivem bringen könnte, wäre… ja was? Betrachten wir die „Argumente“ der Stadtoberen einmal genauer: Zuerst einmal wird man auf den offiziellen Webseiten vor allem mit seichten Argumenten und hohlen Phrasen abgespeist. Da heißt es, man brauche Olympia, weil die „friedliche Revolution“ auch von Leipzig ausgegangen sei. Dies ist aber eine leichte Geschichtsverdrehung, die Leipzigerinnen haben gewiss nicht irgendeinen Präsidenten bekehrt, sondern demonstrierten zu einem politisch günstigen Zeitpunkt. Auch scheint es überzogen, wegen vergangener Demonstrationen den Leipzigerinnen mit der Firma „Olympia“ zu drohen.

Olympia soll Prestige und Arbeitsplätze bringen. Das Prestige wird sich wohl schnell in Mitleid für die Ortsansässigen wandeln und die Arbeitsplätze sind zuerst ehrenamtlich. Alle, die sich als Sportbegeisterte für lau abrackern werden, tragen zum weiteren Profit der Marke „Olympia“ bei. Überall wo die Olympiakarawane vorübergezogen ist, fahren private Sponsoren fette Gewinne ein, die Städte gehen pleite. Barcelona war pleite, München ist seit den Spielen zu einer der teuersten Wohnorte Deutschlands geworden und Athen (Olympia 2004) kommt schon mit den Vorfeldkosten nicht klär. Leipzig ist da einen Schritt weiter, die Stadtregierung steht auch ohne die Zusage für die olympischen Spiele 2012 vor der Pleite. Beispielsweise für Sportstätten für den Breitensport, geschweige denn kulturelle Veranstaltungen bleibt da kein Geld, aber ein Bürgerverein Pro-Olympia wurde schon mal gegründet. Wenn also die in der Stadt lebenden Menschen kein Plus machen, wer dann? Die selben wie im realen Leben eben auch.

Angeblich soll es 7800 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Doch dies sind natürlich keine Langzeitarbeitsplätze, sondern vorübergehend wie das Großereignis. Kurz vor den Spielen werden mehr Helfer gebraucht werden und danach geht es ab in den nächsten Leiharbeitsjob. Hartz und Rürupp lassen höflichst grüßen…

Die Drohung der Olympiaplaner, die Stadtentwicklung würde sich um zehn Jahre nach vorn entwickeln, sollte uns zu Denken geben. Denn ein überdimensionales Unternehmen wie dieses, verlangt einen kompletten Umbau, die langfristige Veränderung der Infrastruktur ganzer Städte zum Zweck der kurzzeitigen Nutzung. Gewiss ist, dass die Stadtentwicklung getrennt von der Lohnentwicklung verlaufen wird; eine moderne Architektur – und Löhne zum im Altbau wohnen. Bezahlbare Wohnungen und Lebenshaltungskosten dürften dann äußerst knapp sein, denn: „Die Olympische Spiele werden die ganze Stadt prägen, verändern und in den Dienst der Spiele stellen. Ganz Leipzig wird somit Olympisches Dorf.“ Eben dies soll auch noch folgendes bringen: „den Wegzug von Interessenten aus Leipzig zu verhindern.“

Jedoch werden sich noch vor Ankunft der ersten Leistungssportler, vor allem die LeipzigerInnen in und um Lindenau überlegen müssen, ob sie sich Mieten nach Olympia leisten können: „Das Olympische Dorf wird im Leipziger Stadtteil Lindenau geplant. Es soll auf mehr als 40 Hektar ein modernes Stadtquartier mit einem differenzierten Angebot an Geschosswohnungen und Einfamilienhäusern entstehen.“ Dass das Olympiadorf kein Platz zum Wohnen für Normalsterbliche sein soll, machen die Planer deutlich: „Im eigentlichen Wohnbereich des Olympischen Dorfes entsteht auf über 240.000 Quadratmetern Geschossfläche Wohnraum für rund 16.000 Teilnehmer. Funktionaler und gestalterischer Schwerpunkt des neuen Stadtquartiers ist der Bereich am südöstlichen Ende des Olympischen Dorfes an der Einmündung Plautstraße in die Lützner Straße. Während der Olympischen Spiele konzentrieren sich hier auf einer Geschossfläche von knapp 60.000 Quadratmetern die Mensa, gastronomische Einrichtungen, das Sport- und Informationszentrum der Nationalen Olympischen Komitees, medizinische Einrichtungen, Betriebs- und Personalräume, Büroräume und ein Freizeit- und Vergnügungszentrum.“ Es ist also klar: wo man Konkurrenzkampf betreibt, kann kein anderes Leben sein. Wünschen kann man es wirklich niemanden,. dass die Spiele (sie spielen mit denen, die hinterher die Zeche zahlen müssen) vor seiner/ihrer Haustür stattfinden.

Letztlich kann Olympia als ein Versuch des Mitgliedes der Hartz-Kommission, des Leipziger Oberbürgermeisters Tiefensee betrachtet werden zu beweisen, dass die Hartz-Pläne doch ein paar Leiharbeitsplätze „schaffen“. Die negativen ökonomischen, kulturelle und soziale Auswirkungen, (von den ökologischen gar nicht gesprochen) sind da egal. Soweit die Ansichten der Planer von Olympia. Antworten wir ihnen, dass wir ihre Spiele nicht spielen wollen. Wehren wir uns gegen Krieg und Kapitalismus, egal in welchem Gewand sie auftreten, innenpolitisch, außenpolitisch oder sportlich!

hannah

Zitate aus: www.Olympia-leipzig2012.de

Informationen zur NOlympiaKampagne auf: www.nein-zu-olympia.de

Die klassische „Ente“

Absichtlich verbreitete Falschnachrichten – nerven so manchen Internetbenutzer, Doch „Enten“ sind keine Erfindung des Internetzeitalters. Tom Appleton machte sich auf die Spur der großen klassischen Zeitungsente.

Die klassische „Ente“ stammt von den Märchenbrüdern, Jakob und Wilhelm Grimm. „Hänsel und Gretel“, „Rotkäppchen“, „Schneewittchen“, so behaupteten sie, seien echt deutsch bzw. „ächt hessisch“. „In diesen Volks-Märchen“, schrieben sie im Vorwort zu ihrer berühmten Sammlung, „liegt lauter urdeutscher Mythus.“ Im Vorspann des Buches zeigten sie dazu das Bild einer „alten Märchenfrau“, Dorothea Viehmann, genannt die „Viehmännin“. Diese „Märchenfrau von Niederzwehren“ sollte stellvertretend für alle anderen auf die Quellen der Grimm-Märchen verweisen: alte, des Lesens unkundige Bäuerinnen, Ammen, also Leute aus dem Volk, die auf einen Fundus mündlich tradierter Geschichten aus längst vergangener Zeit zurückgreifen konnten. Es sollte der Eindruck entstehen, als hätten die beiden jungen Männer (damals beide Mitte zwanzig) an den Lippen ländlicher Analphabetinnen gehangen und Wort für Wort ihre Äußerungen mitgeschrieben.

Die „Kinder- und Hausmärchen“ wurden ein Hit, sie wurden das deutsche Volksbuch. Dass sich der Inhalt der Sammlung von einer Auflage zur nächsten änderte, oder dass Wilhelm Grimm (der jüngere der beiden Brüder) die bereits gedruckten Märchen (zwischen 1812 und 1857) weiter bearbeitete, um den „richtigen Märchenton“ genauer zu treffen, störte niemanden. Nicht einmal die Germanistik, stieß sich daran, dass die Grimms für ihre Sammlung außer der einen „Märchenfrau“ offenbar keine weitere Quelle nennen konnten. Auch, dass sie ihre ursprünglichen Aufzeichnungen verbrannt hatten, weckte keinen Argwohn. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts – 40 Jahre nach dem Tod der Grimms – gab es einen ersten Hinweis auf die wahre Quellenlage. Hermann Grimm, der Sohn Wilhelms, zeigt, dem Literaturwissenschaftler Johannes Bolte die eigenen Exemplare der Erstauflage aus dem Besitz der Brüder. An den Seitenrand hatten sie hier zu jedem Märchen handschriftliche Notizen gesetzt. „Aus Cassel“, „aus Hessen“, stand dort etwa. Es waren, wie sich zeigte, irreführende Hinweise. Denn aus den dazugehörigen Namen der Märchenlieferantenlnnen ging hervor, dass diese Geschichten fast ausschließlich aus dem Kreis der engsten Freunde der Grimms stammten. Insbesondere handelte es sich um die Familien Wild und Hassenpflug, mit denen sie eheliche Bande knüpften. Die Quellen der Geschichten waren keineswegs alte Leute vom Land, sondern junge, gebildete Yuppies, die in der Stadt Kassel oder in ihrer näheren Umgebung wohnten. Und die Märchen selbst waren weit davon entfernt, authentisch deutsch zu sein. Die Familie Hassenpflug, z.B. war hugenottischer Abstammung und die Umgangssprache zuhause war Französisch. Als diese Fakten ans Licht kamen, um 1900, im Kaiserreich, schwieg man sie einfach tot. Schließlich konnte niemand ein Interesse daran haben, die Erkenntnis an die große Glocke zu hängen, dass das urtümlichste deutsche Volksbuch aus französischen Quellen abgekupfert war.

Frankreich galt zu dieser Zeit, lächerlicher Weise, als „Erbfeind“ der Deutschen. Hermann Grimm trug daher noch ein wenig zur bewussten Spurenverwischung bei, indem er um 1895 eine weitere Amine, „die alte Marie“, aus dem Hut zog. Diese alte Dienerin im Haushalt der Wilds, von der angeblich viele der Märchen stammten, stellte sich bei genauerem Hinsehen (allerdings erst 1975, also 80 Jahre später) als eine Tochter der Wilds heraus, nicht als eine Dienerin. Auch war sie nicht alt, sondern jung, wie alle Quellen der Grimms, ja, sogar die jüngste der Töchter. Selbst die einzig echte, „alte“ Märchenquelle, Dorothea Viehmann, war, wie sich 1955, zur Feier ihres 200. Geburtstags, herausstellte, zur Zeit der Erstauflage von Grimms Märchen noch keine 60. Und auch sie war keine deutsche Bauersfrau, sondern eine, gebildete Bürgerin. Eine Hugenottin auch sie, deren erste Sprache Französisch war. Die Märchen der Gebrüder Grimm stammten mitnichten aus den Urtiefen der deutschen Mythologie, sondern aus der Märchensammlung des Charles Perrault und manch anderen, schriftlichen, französischen Quellen. Gegen die schlichte Einsicht, dass es sich hier um einen literarischen Betrug, um eine Fälschung handelt, wehrt sich nicht allein die Germanistik, sondern wenn man so will, die gesamte deutsche Nation – bis heute. Grimms Märchen sind zwar ursprünglich keine deutschen Volksmärchen gewesen, aber sie sind es geworden. Die Konterfeis der Grimms zieren denn auch, fast wie zur Belohnung, den 1000 D-Mark-Schein, Deutschlands höchste säkulare Seligsprechung. Doch mit dem Euro ist dies wohl auch irrelevant.

Information

Pjotr Kropotkin – Die Eroberung des Brotes

Heute leben wir Seite an Seite, ohne einander überhaupt zu kennen. An einem Wahltag treffen wir einander bei den Wahlveranstaltungen; dort hören wir das lügenhafte oder phantastische Wahlprogramm eines Kandidaten an und gehen wieder nach Hause. Der Staat hat die Aufsicht über alle Fragen von öffentlichem Interesse; er allein hat die Aufgabe, darüber zu wachen, dass wir nicht das Interesse unseres Nächsten verletzen und gegebenenfalls den Schaden wiedergutzumachen, indem er uns bestraft.“ [S. 45] (5)

 

Nachdem im letzten Heft der Klassenbegriff im Zentrum stand (der Diskurs wird auf S. 14/15 fortgesetzt), wollen wir in diesem wieder ein Schlaglicht auf die Geschichte und Ideen anarchistischer Theoriebildung werfen. Neben einem einführenden Exkurs sollen dabei in erster Linie Anregungen zur eigenständigen Beschäftigung geboten werden.

Wie bei vielen Anarchisten des 19. Jahrhunderts finden wir auch bei Pjotr Kropotkin, der zwischen 1842-1921 lebte, eine bewegte und von Höhen und Tiefen gekennzeichnete Biographie. Einer russischen Hochadelsfamilie entsprungen, diente er zuerst dem Pagenkorps Alexander des II., war dann mit dem Kosakenheer des Zaren in Sibirien unterwegs, bevor er Mathematik und Geographie in Moskau studierte. Durch seine geographischen. Arbeiten erlangte Kropotkin einige wissenschaftliche Reputation und von hieraus speist sich auch seine Vorstellung einer auf naturwissenschaftlicher Methodik fußenden Gesellschaftstheorie. Während seiner ersten Europareise knüpfte er Kontakt zur damals erstarkenden anarchistischen Arbeiterbewegung, ein Umstand, der sein sozialrevolutionäres Engagement weiter verstärkte. Nach seiner Festnahme und Inhaftierung (ohne Prozeß) 1874 und der späteren Flucht von der Peter-Paul-Festung, hatte die russische Tyrannei aus einem hochadligen „Gardeoffizier“ einen der glühendsten Verfechter der anarchistischen Bewegung gemacht. Wie viele der damaligen Anarchisten genötigt, ruhelos durch Europa zu ziehen (immer wieder verfolgt und verhaftet), findet er bei den Schweizer Uhrmachern aus dem Jura und den Tuchmachern aus Verviers (Belgien), damals dem Leitbild kommunaler Produktion und anarchistischer Organisation verpflichtet, immer wieder fruchtbares Asyl, um in Untersuchungen, Reisen, unzähligen Vorträgen, Zeitungsartikeln und Texten. sein Denken zu entfalten. Wie auch schon bei Proudhon, scheint der ganze Werkkorpus in wenig zufriedenstellender Form für die deutschsprachige Leserschaft aufbereitet. Was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass Kropotkin sowohl in russisch und französisch als auch deutsch und englisch schrieb. Ein Großteil der Artikelsammlungen ist vergriffen oder wird nicht mehr verlegt, auch sollen einige mehr schlechte als rechte Übersetzungen aus dem Französischen umherschwirren. Trotz alledem lassen sich, im Unterschied zu Proudhon die systematischen Eckpunkte der Philosophie Kropotkins ziemlich klar entdecken und beschreiben.

Gegenseitige Hilfe – ein Entwicklungsfaktor menschlicher Evolution

Laut Theoriegeschichte stellt der Ansatz Kropotkins den dar, den Anarchismus (natur-)wissenschaftlich zu begründen; Wie ist das zu verstehen? Im Streit mit dem damals heraufziehenden Sozialdarwinismus, der mit der Darwinschen Terminologie des „Kampfes ums Dasein“ die zeitgenössischen Praktiken der Ausbeutung und Unterdrückung legitimierte, wollte Kropotkin die evolutionstheoretischen Ansätze Darwins vertiefen, die Idee der gegenseitigen Hilfe, wir sie schon bei Proudhon in Form des Mutualismus kennengelernt haben, verstärken, die Gegenseitigkeit zweifelsfrei als Entwicklungsfaktor der Evolution nachweisen und somit die Theorie Darwins umgewichten. Hinter diesen hehren Absichten indes versteckt sich im Wesentlichen das anarchistische Argument gegen die liberalen Staatstheorien: dass nämlich der Mensch immer schon in Gesellschaft ist und nicht aus dem Naturzustand (Krieg aller gegen alle) via Vertrag in eben diese eintritt. Kropotkin versucht nun einen solchen Naturzustand zu konstruieren, in welchen neben dem Selbsterhaltungstrieb auch ein „Sozialtrieb“ („Sozialinstinkt“) ambivalent angelegt ist. Dabei macht er ihn für die hauptsächlichste Anpassungsleistung des Menschen als Art verantwortlich. Kooperations- und Selbstbehauptungswillen prägen ein natürlich ambivalentes Feld, aus dem der zwischen Individuation und Sozietät schwankende Mensch erwächst. Ein sehr naturalistisches Weltbild, wenn man es mit dem „vernünftigen“ (1) seiner Zeit vergleicht. Aber ohne Zweifel, der liberale Naturzustand war durchbrochen, zugunsten einer sozialen (libertären) Natürlichkeit. Dadurch allerdings scheint die Trennlinie zwischen Natur und Gesellschaft merkwürdig verschoben: Ist es denn nicht natürlich, dass mensch Natur korrumpieren lässt? Kann mensch sich nicht via Vernunft gegenüber der Natur emanzipieren?

Unkritischer Idealismus

Der wissenschaftliche Idealismus, welcher Kropotkins Schriften prägt, ist so unkritisch, dass ihn nur sein Forscherethos und seine guten Ideen vor einer vernichtenden Kritik bewahren. Er übertrug Beobachtungen aus dem Tierreich auf das Verhalten von Menschen, verglich Physik mit Gesellschaftstheorie und proklamierte eine naturwissenschaftlich exakte Methode (2). Ein Positivist sondersgleichen! Und damit bei weitem nicht der einzige seiner Zeit. Aber dennoch einer der einflussreichsten Theoretiker des Anarchismus. Im Widerspruch von Inhalt und Form hat sich doch der Inhalt über die Zeit getragen. Ich lass´ ihn am besten selbst reden:

[Die anarchistische Gesellschaft] sucht die vollständige Entwicklung der Individualität, verbunden mit der höchsten Entwicklung der unter allen Gesichtspunkten freiwilligen Verbindung für alle möglichen Stufen, für alle denkbaren Ziele: eine stets wandelbare Verbindung, die in sich selbst die Grundlagen für ihre Dauer trägt und die Formen annimmt, die in jedem Augenblick am besten den mannigfachen Bestrebungen aller entsprechen.“ (3)

Bei diesem Geschichtsidealismus wird auch deutlich, dass Kropotkins Untersuchungen und Studien keine kritische Geschichte der Idee der „gegenseitigen Hilfe“ darstellen. Geschichte ist für ihn empirische Forschung und dementsprechend nur die Suche nach Belegen für eine ‚richtige‘ These. Im Erkenntnissubjekt Pjotr Kropotkins verbinden sich empiristischer und idealistischer Geist zu einem Gemenge, aus welchem die Qualitäten der Texte (Subtexte) ihre innere Spannung entfalten. Der Charakter seiner Arbeiten ist wohl am ehesten mit dem Begriff ‚Anthropologie einer Idee‘ umschrieben. Sozietät ist immer vorausgesetzt. Kropotkin untersucht unsere Geschichte der Gesellschaftsformen, indem er formal freiheitliche (libertäre) von herrschaftlichen trennt. Dementsprechend findet sich bei ihm ein Geschichtsfaden, der die Horde, mit der Gemeinde, der freien Stadt und modernen Kommunen verbindet und ein zweiter, der von der Familie, dem Römischen Reich, der Römischen Kirche bis zu den Ausprägungen des modernen Staates im 16. Jahrhundert reichen soll. Kropotkins Schriftwerk ist voll von Parallelen und Vergleichen und in diesem Sinne lesenswert, weil sich die geneigte Leserin dem Glauben stärken kann, gegenseitige Hilfe sei zur kulturellen Ausprägung fähig. Und dass es so ist, dafür liefert Kropotkin viele gute Gründe, Beispiele und Anekdoten. Aber ist bei einem solchen unkritischen Idealismus die Vorstellung einer anarchistischen Gesellschaft überhaupt haltbar?

Anarchistischer Kommunismus

Aus den Wirren seiner Zeit, der Französischen Revolution und ihrer Nachbeben, dem krassen Elend vieler Menschen, der Ausbeutung und Unterdrückung trotz steigender Produktion, letztlich aus dem Organisierungswillen der ohnmächtigen Massen zog Kropotkin den Schluss, dass die nächste revolutionäre Phase auf jeden Fall kommen würde. Dabei kritisierte er die sozialistische bzw. marxistische Strategie vor allen Dinge dahingehend, dass sie sich immer auf Machtübernahme und Agitation zuspitzte, anstatt in den ersten Stunden der „Revolution“ vor allen Dingen an die Neuorganisation der stillstehenden Produktion, an die Versorgung der Bevölkerung mit Brot, Kleidung und Nahrung zu denken. Hier liegt seines Erachtens der Hauptgrund dafür, dass solche politischen Restrukturierungsprozesse immer wieder vor nennenswerten Erfolgen verebbten, von der Reaktion eingeholt wurden, der Rückhalt in der Bevölkerung sank. Um in solchen revolutionären Phasen eine freiheitliche anstelle einer herrschaftlichen Organisation zu etablieren, bedurfte es vor allen Dingen der sofortigen Expropriation (Enteignung), der Produktionsmittel, Produkte und des Bodens (Wohnraum) und damit einhergehend der Abschaffung jeder Entlohnung. Dabei denkt Kropotkin sehr konkret und schon in diesem Sinne ist sein Buch „Eroberung des Brotes“ (4) lesenswert. Gegen abstrakten Kollektivismus und zentralistische Bürokratie (wesentlich kritische Punkte des Staatssozialismus sind hier schon vorweggenommen) beharrt er auf lokaler Autonomie. Konkrete Bedürfnisse können nur in konkreten Verhandlungen, konkret befriedigt werden. Nach Kropotkins Meinung würde der revolutionäre Impuls eine Freiwilligkeit aufdecken, die zu einer verantwortlichen Neuorganisierung der kommunalen Strukturen in weitestgehend autonome Kommunen führen könnte, wenn man sie denn nur ließe. Dabei kommt sein von Idealismus durchdrungenes Menschenbild wieder zum Tragen. Der Mensch in seiner Ambivalenz von Egoismus und Geselligkeit, ließe sich schon zur Freiwilligkeit bewegen, würde er nur der individuellen und sozialen Vorteile ansichtig. Die Organisationsüberlegungen Kropotkins sind deshalb auch eher als Faustregeln formuliert. Ist es soweit, schließt euch zusammen, die einen werden schon Gefallen daran finden, die Warenhäuser einer Inventur zu unterziehen, andere die Wohnungen listen, dritte die Produktion in der Fabrik wieder aufnehmen, vierte aufs Land zu den Bauern fahren. Jeder bekommt das aus den Lagern, dessen er bedarf, gibt´s wenig, zu wird egalitär rationiert, gibt´s zu viel, deren Kommunen getauscht.

Dabei spielt bei ihm die friedliche, auf Freiwilligkeit beruhende Partizipation die größte Rolle. Will der olle Graf auf seinem Schloss hocken bleibt, soll er doch – seine Frau wird spätestens dann Terz machen, wenn niemand mehr gegen Lohn putzen kommt. Und wer sollte das tun, wenn es des Geldes nicht bedurfte, um an die existenzsichernden Güter zu gelangen? In Kropotkins Überlegungen zur Ökononomie einer solchen autonomen Kommune spielte vor allen Dingen die Ökonomie als Ökologie, auch der eigenen Körper eine zentrale Rolle. Handgreifliche und geistige Tätigkeit wechseln sich nach Bedarf des Individuums ab, Arbeitszeitverkürzung steht im Vordergrund. Es ist eher eine soziale als eine politische und eher eine kommunale als eine nationale Ökonomie.

Kropotkins Glaube an die ungeheuren Produktivkräfte seiner Zeit, an den technischen Fortschritt, an die zur Geselligkeit und gegenseitiger Hilfe fähige Natur des Menschen, sein tiefes Misstrauen gegen akkumulierendes (anhäufendes) Privateigentum, gegen das ausbeutende Lohnsystem, seine Inspiration durch die kreative, politische Aktivität seiner damaligen Zeitgenossen, beflügelte seine Gedanken hin zu den Vorstellungen einer Gesellschaftsform, in der der Mensch beides, Individuation (Konkurrenz) und Sozialität (Vertrauen), in Konflikt und Harmonie, freiwillig und friedlich, ohne systematisch physisches und psychisches Elend und Leid ausleben könnte. Eine Möglichkeit in einer Welt, in der an den weiten Rändern eines westlichen Horizontes, das physische Elend ertragen wird, während der „Zivilisierte“ im Zentrum sein psychisches Leid zum Psychiater schafft? Ein Idealismus ohne Zweifel, aber einer, für den es sich zu kämpfen lohnt!

Wenn Sie mit uns wollen, dass die völlige Freiheit des Individuums und damit auch sein Leben respektiert werde, dann müssen sie notwendigerweise die Herrschaft von Menschen über Menschen, egal welcher Gestalt, ablehnen und die so lange verhöhnten Grundsätze des Anarchismus akzeptieren. Sie müssen mit uns nach Gesellschaftsformen suchen, durch die dieses Ideal am besten verwirklicht und jeglichen Sie empörenden Gewaltakten ein Ende bereitet werden kann.“ [S.55] (5)

clov

(1) Geistesgeschichtlich ist es nach Kant und Hegel bürgerliche Konvention, dass Verhalten und Erkenntnis vernunftgesteuert werden. Es gibt keinen Grund, einen Sozialtrieb anzunehmen, gesellschaftliche Organisation ist Ausdruck allgemeiner Vernunft, alle haben die sittliche Pflicht sich anzupassen, und insofern sie zur Vernunft fähig sind, werden sie die rechtmäßige Ordnung schon einsehen… … …???
(2) Kropotkin unterwirft sich damit dem Forschungsideal seiner Zeit, Dinge als tote zu beobachten und ihre Prozesshaftigkeit (Dynamik) mit der eigenen Logik und Kausalität der eigenen Sprache zu erklären und zweitens dem ideologiekritischen Vorwurf, wie er denn seine Beobachtungsperspektive als objektive rechtfertige. Derlei Kontroversen über die „richtige“ Gesellschaftsanalyse finden sich heute im methodischen Streit der interpretativen (qualitativen) und quantitativen Soziologie, wobei erstere vor allen Dingen auf die Beweglichkeit der Forschungsobjekte im Forschungsprozess selbst hinweist.
(3) Pjotr Kropotkin, Der Anarchismus. Seine Philosophie – sein Ideal, Berlin, Der freie Arbeiter, 1923 (Ersterscheinung: 1896), S.6
(4) Pjotr Kropotkin, Die Eroberung des Brotes, Trotzdem-Verlag, Grafenau, 1999
(5) Pjotr Kropotkin, Der Anarchismus – Philosophie und Ideale, in: Ders., Die Eroberung des Brotes und andere Schriften, Hauser, München,1973
Desweiteren: Kropotkin zur Einführung, Junius Verlag GmbH, Hamburg, 1989; * Anm. von mir

Theorie & Praxis

Die Großstadtindianer (Folge 4)

Eine Heimat, ein Springer und ein paar Gläser IV

‚Ich war beim letzten Male noch nicht ganz zu Ende gekommen.‘ Während ich am Bleistift kaute, das rotseitige Büchlein vor mir, schoss der Gedanke durch meinen Kopf. ‚Aber die erste Episode war immerhin fast fertig, ein wenig zu idyllisch und ein Schuss zuviel Realismus, trotzdem, für den ersten Versuch…‘ Ich schrieb den Gedanken auf und erinnerte mich noch einmal an den letzten Tag, als Kalle und ich mit Boris, Schlumpf und Schmatz losgezogen waren, um Buggemüller wegen seiner Wagenladung Gläser in der Kneipe „Zum Fass“ zu treffen. Der Wirt hatte mir das Brett in die Hand gedrückt, nachdem Kalle und Buggemüller sich lauernd gegenüber setzten. Boris, Schlumpf und Schmatz warteten am Wagen. Kalle gewann weiß, und ich zweifelte keine Sekunde an seinen Künsten. Buggemüller war ein einfältig geradeaus-denkender Linienspieler, gegen Kalles ausgefeilte Springertaktiken hatte er kaum eine Chance: Er musste ihn mittlerweile ein Dutzend mal geschlagen haben, und Buggemüller konnte einfach nicht begreifen, wie es einem „jungen Kerl ohne Erfahrung“, wie er sagte, gelang, ihm eine derartige Schmach zuzufügen. Doch von vorn.

Um an die Einweckgläser der Fabrik im Osten der Stadt heranzukommen, die Buggemüller in unregelmäßigen Abständen zur Deponie fuhr, mussten wir damals seine Schwachstellen herausfinden. Die Suche währte nur kurz. Sein ehrgeiziger Charakter verband sich mit seinem wöchentlichen Hobby zu einer der menschlichsten Schwächen auf unserer Scholle: er konnte einfach nicht verlieren. Schon gar nicht im Schachspielen! Es war ein leichtes gewesen, ihn zur Wette um seine Wagenladung zu reizen. Damals waren wir einfach zum sonntäglichen Treffen gegangen, und Kalle hatte Buggemüller herausgefordert. Der nahm selbstsicher an. Und der ganze Schachstammtisch sah zu. Kalle gewann zweimal. Matt und Matt. Buggemüller kochte vor Wut und sein feistes Gesicht lief rot an. Er presste zwischen den verbissenen Lippen nur ein Wort heraus. „Revanche!!!“ Das war der Moment, an welchem er sicher um fast alles gewettet hätte. Als Kalle ihm erklärte, dass wir nur die Gläser haben wollten, die er in jenem Monat von der Fabrik holte, stutzte er kurz und grinste dann verächtlich: „Top, die Wette gilt!“ Buggemüller müller hatte wohl erkannt, dass ihn das wenig kostete, im Gegenteil bezahlten Feierabend versprach. Kalle machte jedoch der aufkeimenden Euphorie Buggemüller ein jähes Matt und wir gewannen unsere erste Ladung Gläser. Dabei hatten wir Buggemüllers Ehrgeiz richtig eingeschätzt. Er konnte es einfach nicht ertragen, nicht gegen Kalle gewinnen zu können. Der Köder hatte gestochen. Und so verabredeten wir mit ihm, ein weißes Tuch an seine Lkw-Antenne zu binden, wenn er, wieder einmal Gläser geladen hatte, zur Kneipe zu fahren und dort auf uns zu warten. Es war schon zu einem Ritual geworden, und Buggemüller nutzte die gewonnene Zeit nach den verlorenen Spielen, um seinen Lohn und seine Ehrsucht im Alkohol zu ertränken.

Ich hörte Kalles Stimme: „Springer auf F5, Herr Buggemüller, haben Sie das nicht gesehen?“ und blickte zu ihm. Er war mittlerweile in eine tiefgrübelnde Haltung verfallen und brütete über seiner aussichtslosen Stellung. „Du Bastard“, zischte es zwischen seinen Zähnen hervor, „ich geb auf!“ Er warf mit einem für seine Handmaße fast zärtlichen Schubs seinen König um und wischte dabei ein Pferd vom Brett: Beim Bücken sagte Kalle zu ihm: „Vielleicht beim nächsten Mal, Herr Buggemüller!?“ Der Fleischberg schwieg einen Moment, fixierte den sich aufrichtenden Kalle und sagte dann gebrochen kurz: „Ja!“ Ich trat zum Tisch. „Wir laden jetzt die Gläser ab. Schönen Feierabend Herr Buggemüller. Wir sehen uns beim nächsten Mal.“ Er antwortete monton kurz: „Ja!“, und als Kalle ihm die Hand entgegenstreckte, war sein Blick in die Ferne entrückt. Erst als wir schon fast draußen waren, hörten wir das bekannt selbstbewußte Brummen und Tönen seiner Stimme, die wieder Sicherheit atmete. „Beim nächsten Mal schlag ich den Burschen. Bestimmt!“ Kalle schmunzelte mir zu, ich zwinkerte zurück.

Kaum waren wir durch die Tür getreten, vermischte sich das Brummen mit dem Gezeter einer reifen Frau, welches in Salven über die Straße hackte. Wir sahen uns an. Das war doch Charlotte Götz, oder Oma Lotte, wir wir sie liebevoll nannten. Sie besuchte uns an und wann und tauschte Einweck gegen den besten Kuchen der Stadt. Beim Handwagen hatte sich eine kleine Ansammlung gebildet. Ich hörte Schlumpf schrille Töne aus seiner Flöte blasen. Schmatz jagte seinen zottligen Schwanz, Boris stand ein wenig abseits, und Oma Lotte redete wie wild auf Oberwachtmeister Otto (Spitzname „00“) ein. Der hatte sich vor Schlumpf aufgebaut, um ihn wohl des Betteln zu bezichtigen. Doch Oma Lotte musste bereits eine ganze Weile zetern, denn der Wachtmeister war schon auf dem Rückzug. Als wir hinübergingen, hörten wir noch die letzten Worte, die sie dem flüchtenden Otto hinterherwarf „Kleine Kinder, Arme und dann am besten noch alte Omas, wart´, das werd´ ich Deiner Mutter erzählen! Kunstbanause!!!“ Wir bedankten uns für ihre Hilfe, und während des Umladens der Gläser gaben Schlumpf und Schmatz noch ein Konzert extra für Oma Lotte. Schlumpf spielte wie toll auf seiner kleinen Flöte und Schmatz jaulte und tanzte. Die Heiterkeit steckte nicht nur Charlotte Götz, sondern auch uns an, und so waren die Gläser flugs auf dem Handwagen und in den Kiepen verstaut. Samt Gummis und Deckel eine fette Beute! Wir verabschiedeten uns von Oma Lotte und traten den Heimweg an, den Berg hinauf in Richtung unserer Heimat. Am Tor empfing uns, vom Aussichtsturm winkend, Moni. „Wir sind alle zum Essen eingeladen, bei Fabian und Ilba. Aber vorher spült ihr noch die Gläser aus, bitte Jungs! Die stinken so …“, sie kniff sich in die Nase, „Pfui, pfui!“ Das Ende eine kleinen Episode. Ein Anfang. (Fortsetzung folgt.)

clov

…eine Geschichte

D.I.Y.-Revolutionscamp

Theorie, Direct Action und Anders Leben auf der Burg Lutter vom 14.04.-21.04.2003

Beim D.I.Y. -Revolutionscamp handelt es sich einfach gesagt um eine ,,Fortbildung“ für Linksradikale. Es geht darum Wissen zu vermitteln und Erfahrungen weiterzugeben, um Spezialisierung aufzubrechen und mehr Menschen eine breitere Handlungsfähigkeit zu ermöglichen. Darüber hinaus ist das Treffen eine Chance, sich zu vernetzen und die Isolation von Aktionsgruppen und Einzelpersonen zu überwinden. Ein wesentliches Konzept des Camps ist es, die Zersplitterung unseres Alltags zu überwinden und Theorie, politischer Praxis und Leben als eine Einheit zu begreifen.

Wir möchten ein Grundgerüst mit vorbereiteten Themen, Kulturprogramm und Infrastruktur stellen, das genügend Freiraum für selbstorganisierte Workshops, AK’s und Diskussionen bietet. Der generelle Charakter des Camps basiert auf Selbstorganisation, d.h. bring Dich ein, statt einfach nur zu konsumieren. Folgende Themen sind angedacht:

Theorie: Vision & Utopie, Wertkritik, Arbeitskritik, Queertheorie, bolo’bolo & Subcoma, Subsistenzperspektive, Motivationsfrage…

Direct Action: Lock-ons bauen, Tripods bauen und aufstellen, Baumklettern, Pressearbeit, Anti-Repressionsarbeit, Organisationsstrukturen und Kollektive, Bezugsgruppensysteme, Entscheidungsfindung, Hacktivism, PGP, Pink and Silver, radical cheerleadering, Theater der Unterdrückten, verstecktes Theater, Scanner und eigene Kommunikation, eigene Medien, Internet, Zeitung- und Radio machen, Layout, Aktionsvideos drehen, Subvertising, Kommunikationsguerilla, Spaßguerilla, Verwendung und Bau von Puppen für Demos und Aktionen, movement action plan (map),

Anders Leben: Bildungssyndikat, Food-coop, Tips und Tricks sich der Lohnarbeit zu entziehen, Umsonstläden, Tauschringe, Selbstverteidigung, Körperarbeit, Capoeira, Einfälle statt Abfälle, Wie senke ich meine Lebenshaltungskosten, aber nicht meine Lebensqualität, alternative Wohnformen, Bauwagenplatz, Kommunen, Subsistenzproduktion, Woher nehme ich meine Motivation und Energie?

Wenn Du zu den genannten oder nicht genannten Themen Referentln sein kannst und Lust hast, das Camp zu bereichern, dann melde Dich doch einfach bei uns. Der derzeitige Vorbereitungsstand kann über folgende Adresse abgerufen werden: www.da-camp.de.vu

Die Kontaktadresse des Camps ist: D.I.Y-Revolutionscamp
FAU
c/o Alte Münze 12
49074 Osnabrück

Aktion

Leipzig & St. Pauli

Tapferes Leipzig. Das ist ja wie 1989 – kurz vor dem Umsturz. Die BürgerInnen der Heldenstadt schreien sich mal wieder auf emotionsgeladenen Diskussionsveranstaltungen ihre Wut aus dem Wanst und müssen von der Polizei bewacht werden, StudentInnen erheben sich gegen die Willkür der Landesregierung und fordern den Rücktritt von Wirtschaftsminister Rößler. Magnifizenz Bigl ist schon zurückgetreten und wird jetzt zur Ikone des Widerstands. Schade, dass es dabei nur um den (Nicht-)Wiederaufbau der 1968 von der Ulbricht-Regierung gesprengten Paulinerkirchenaula der Uni geht.

Die Sprengung der Kirche im Rahmen der „Sozialistischen Neugestaltung“ des Leipziger Stadtbildes, war eine stumpfe Machtdemonstration einer von Paranoia und Menschenverachtung besessenen Altmännerclique (1), bei der für Leipzig historisch einmalige Bausubstanz verloren ging. Ein Wiederaufbau würde dies, nach Meinung eines Großteils der an der Diskussion beteiligten, nicht ungeschehen machen und wäre nur ein Prestigeobjekt für gewisse Leute „da oben“. Wo aber sind diese jetzt so engagiert Protestierenden jedesmal, wenn ein (Um-)Bauvorhaben nach dem anderen mit mehr als fragwürdigem Sinn in, um und bald auch unter Leipzig beginnt? Prestigeobjekte, welche oft wirklich von ihren Steuergeldern und nicht durch Spenden finanziert werden und bei denen noch viel weniger nach deren Meinung gefragt wird.

Die einen wollen eine moderne, funktionale und für den härter werdenden „Bildungswettbewerb“ gerüstete Uni und die anderen einen teuren Original Wiederaufbau der Paulineraula. Beide Varianten schließen einander angeblich aus. Wer die Kirchenkopie ablehnt, ist noch lange keinE BefürworterIn der Sprengung. Aber sind, deshalb vielleicht auch nicht alle, die noch ein Fünkchen Empfinden für Ästhetik haben und das Aussehen der neuen Uni/des Augustusplatzes und ihren guten Geschmack nicht nur der Funktionalität und dem Leistungsprinzip unterordnen wollen, gleich CDU-WählerInnen, Ewiggestrige, religiöse Eiferer o.ä.?

Man könne keiften ersten Platz vergeben, druckste man im letzten Jahr herum, als es um die Bewertung der 27 in die Endauswahl gekommenen Entwürfe für die Neugestaltung der Uni ging, was eigentlich schon an sich Bände über die Qualität dieser „Vordiplomarbeiten überforderter Architekturstudenten“ (FAZ) sprechen sollte. Sehr viele Bürgerinnen äußerten sich da offener, man könne sich maximal ein paar interessante Elemente aus mehreren Entwürfen kombiniert vorstellen, sähe aber ansonsten keine großen Veränderungen zu Ulbrichts Kasten.

Betrachtet man nun den nach „Konzeptqualifizierung“ favorisierten modernen Entwurf von Behet & Bondzio in der Computersimulation, kommt einem dann wirklich das kalte Grausen, wenn man realisiert, dass dieser Neubau vollendet, was selbst Ulbrichts ideologisch gelenkte Stadtplaner nicht gewagt haben: Der Eingang der Grimmaischen Straße wird wieder auf seine mittelalterliche Enge reduziert, das Uni-Gebäude überragt das Kroch-Hochhaus und wird so in seiner dicht an dieses grenzenden Kastenform zum ästhetischen Overkill dieser Seite des Augustusplatzes.

Wer Ideen wie diese abliefert bzw. deren Umsetzung ernsthaft in Erwägung zieht, treibt zwangsläufig immer ins Lager der NostalgikerInnen. Lieber eine Kopie der Paulinerkirche und das Rad der Geschichte zurückdrehen, sagen sich da sicher manche, als einen noch größeren Schuhkarton, der auch noch die Freifläche in der Grimmaischen Straße verschlingt (2).

Liegt das Problem dann nicht eher beim Mangel an guten, auch unter ästhetischen Gesichtspunkten vertretbaren Ideen, die eventuell einfach nur i(n eine)m verwandten Baustil (3) an die Paulinerkirche erinnern? Im Vergleich zu Behet & Bondzio’s Entwurf kommt dem bis jetzt leider nur die Idee einer originalgetreu wiederaufgebauten Paulinerkirche nahe und bleibt bis dahin der einzige auch optisch ansprechende Vorschlag.

mirek

Weiteres zum Thema im Internet:
www.uni-leipzig.de/-unineu/journal/0205/ 0205campussieger.html
www.uni-leipzig.de/campus2009/index2.html
www.paulinerverein.de
www.paulinerkirche.de
(1) Sicher hat hierbei auch die Verarbeitung gewisser traumatisch nachwirkender Kindheitserlebnisse, des ja aus Leipzig stammenden W. Ulbricht, eine Rolle gespielt.
(2) Im Zusammenhang mit der geplanten engen Bebauung der Grimmaischen Straße, ist sicher auch die Frage nach dem Sinn eines neuen „Café Felsche“ zu stellen, welches sicher auch nur irgendwelche Vorkriegs-Sentimentalitäten bedienen soll und dessen Platz der Uni sicher besser zugute käme.
(3) Hierbei wäre sicher zu klären, welche der verschiedenen Formen die St. Pauli im Laufe seiner 700jährigen Geschichte hatte, hierfür in Frage kämen. Eine Frage, um die auch der Paulinerverein nicht herumkommen wird, sollten sich wirklich die „So-Original-Wie-Möglich“-BefürworterInnen durchsetzen.

Lokales

Hänschen-klein, Jägerlein, lass das Schießen endlich sein!

Schon mal gefragt, warum der Militarismus wie ein Schatten durch unsere sozialen Netzwerke wandelt? Sind die Artefakte des Schrotthändlers wirklich so unwiderstehlich oder ist die Jugend einfach unfähig, vom Alter zu lernen? Stichwort: Traditionspflege. Frage: Wenn sich jährlich zu Pfingsten Reservisten aus Reichswehr, Wehrmacht und Bundeswehr im bayrischen Mittenwald versammeln, um über die guten alten Zeiten zu plaudern, ist …? Ist das das Treffen des „Kameradenkreises der Gebirgstruppe“ (KdG), zu dem immerhin mehrere tausend junge und alte Militaris pilgern. Um bei Tee und Kuchen gemeinsame Tradition zu pflegen. Kultobjekt: Im Allgemeinen die Gebirgsarmee und im Besonderen die 49. Gebirgsarmee der Wehrmacht. Die hat zwar ’ne Menge Dreck am Stecken, aber wen interessiert´s? Hauptsache die Waffen glänzen, das Hemd sitzt gerade und die Orden blinken. Ausflüge gibt´s auch: Zum Beispiel mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Dann pilgert mann über die alten Kriegspfade, sammelt hier und da ein paar Knochen toter Kameraden und summt die ewig gleichen Lieder … Ich hör ja schon auf. Wehret dem Schatten!

Was tut der Staat? Ermitteln.

Der Arbeitskreis „angreifbare Traditionspflege“? Zum diesjährigen Treffen am 7. u. 8. Juni Aktionen, Demonstration und Hearings veranstalten, wobei auch Vertreter des griechischen Nationalrats der Opferverbände und Militärhistoriker mitwirken sollen.

Und Du?

Noch ein Tipp: über angreifbare.tradition@freenet.de findest Du Genaueres zu Terminen, Treffpunkten. Ideen und Aktionen. Siehe auch: www.linkeseite.de/Texte/antifatexte/1444.htm

Aktion

Editorial FA! #5

Es ist gar nicht so einfach in diesen „bewegten Zeiten“ mit einem 1-1/2-Monatsheft wirklich auf dem aktuellen Stand der Dinge herauszukommen. Wer weiß, wie die Welt schon wieder aussieht, wenn unsere gutgläubigen ZeitungsverteilerInnen dieses Heft in die Läden bringen: Der Kampf um die Entmachtung der Schnauzbärte ist endgültig losgebrochen, die „Ulbricht-Uni“ wurde von Fanatikerinnen über Nacht gesprengt, Feierabend!-RedakteurInnen werden massenweise zur Leiharbeit bei Leipziger Volkszeitung und Kreuzer verpflichtet…

Trotz unseres Titelbildes, was sich ehrlich gesagt einfach nur aufgrund des Blickfanges angeboten hat, ist der Paulinerkirchen-Zoff nicht unser Schwerpunkt. Dafür ist uns das Thema dann doch nicht wichtig genug und das Niveau der geführten Debatten zu peinlich. Ganz der Stimme enthalten werden wir uns allerdings trotzdem nicht.

Auch der sich, bei oberflächlicher Betrachtung, aufdrängende Zusammenhang der Begriffe NOlympia, B.A.F.F. und St. Pauli – der sich als diffuser roter Faden durch diese Ausgabe zieht – konnte uns nicht zur Konstruktion eines SPORT-Schwerpunktes bewegen. Um uns nicht auf Krampf ein Hauptaugenmerk aufzuhalsen, präsentieren wir deshalb lieber eine um so breitere Palette an Themen.

Die VS des (1-1/2-)Monats ist Heidruns APOTHEKE AM ZOO. Zwar ist sie erst mit dem letzten Heft hinzugekommen, durch den dramatischen Umfang der Chefin im fortgeschrittenen Vermehrungsstadium sahen wir uns hier jedoch zu schnellem Handeln veranlasst. Man bedenke: um so näher die Zeit für #6 dieses Heftes schon wieder heran sein wird, um so wahrscheinlicher ist, dass Heidrun nun erst recht keine Zeit mehr hat um müßig vor ihrer Apotheke herumzuposieren. Wir wünschen jedenfalls fröhliche Niederkunft.

Die Feierabend!-Redax

Kapitalismus / Im Prinzip / Ohne Klassen

Im letzten Feierabend! wurde ein Artikel über Klassen („Wieder – immer noch weben“) veröffentlicht, der mich zu einer Erwiderung reizte. Schließlich hat eine Rubrik wie Theorie & Praxis auch viel mit Diskussion zu tun.

 

Um kurz zu rekapitulieren: Der genannte Artikel kam zu der Feststellung, dass sowohl die Einteilung in Besitz-, Erwerbs- und soziale Klassen hinfällig wird, aber über die Stellung im Produktionsprozess als „reine“ (abstrakte) Klassen bestimmbar seien. Im Folgenden meine Sicht der Dinge. die die Sinnhaftigkeit der Klassenanalyse an sich in Frage stellt. Ich denke, dass nicht die Klassen Basis politischen Analysierens und Handelns sein können, sondern die kapitalistischen Prinzipien, auf die ich dann noch näher eingehe, sinnvolle Grundlage sind. (Dieser Artikel ist auch ohne Kenntnis des Artikels in Ausgabe #4 verständlich. Dieser befindet sich für die, die es genauer wissen wollen, hier.)

Ich stimme zu, dass beim Übergang von der Feudal- in die kapitalistische Gesellschaft, die Klasseneinteilung weitergegeben wurde, da sie zum Einen sozialisiert und normal war und zum Anderen natürlich nur derjenige investieren kann, der nach dem Erhalt des eigenen Lebens, noch Geld zum investieren übrig hat, und mensch natürlich nie aus dem Dreck rauskommt, wenn der Arbeitslohn gerade mal so reicht, sich und die Angehörigen über Wasser zu halten.

Wichtiger Aspekt dieses Übergangs ist, dass die Arbeit erst einmal anerzogen werden musste. Viele Menschen zogen mangels Perspektive im ländlichen Raum in die Städte oder wurden, wenn sie keine Lust hatten ihr Land mit der Fabrik zu tauschen, auch mal gewaltsam von dort in die Fabriken getrieben. Es wurden Arbeitshäuser eingerichtet, in denen sie lernen mussten, dass Arbeit nichts mit ihren eigenen Bedürfnissen zu tun hat.

So gab es Menschen, die keinen Besitz hatten und nichts als ihre Arbeitskraft zum Verkauf anbieten konnten und Menschen, denen Fabriken, Handelskompagnien etc. gehörten, die durch die zunehmende Industrialisierung und die Ausbeutung der Kolonien an Geld und Einfluss gewannen. Wenn mensch sich das Massenelend in dieser Zeit anschaut, dann bot es sich an, die kapitalistische Gesellschaft am besten durch den Klassenbegriff, oder gar durch den Klassenantagonismus zu erklären. Dieses Verständnis blieb auch für Generationen von Linken, ob mit dem Selbstverständnis als Kommunisten, Anarchisten oder Autonome (man verzeihe mir die argumentationsbedingte Vereinfachung) dominantes Erklärungsmodell.

Karl Marx hat in seinem Werk sowohl Klassenpositionen vertreten, wie auch die Grundlage für die Analyse der kapitalistischen Ökonomie gelegt. Er hat sozusagen hinter die Klassengesellschaft geschaut und zentrale Kategorien der kapitalistischen Produktionsweise, wie Wert, Warenfetisch und Kapitalakkumulation erforscht. Daraus ist auch eine eigene neomarxistische Theorieströmung hervorgegangen: die Wertkritik. Ich werde nicht wertkritisch, sondern mit eigenen Begriffen argumentieren.

Bei der Analyse kapitalistischer Vergesellschaftung fallen bestimmte Grundprinzipien ins Auge: die permanente Gewinnmaximierung als Selbstzweck, das betriebswirtschaftliche Denken, die Expansionsbestrebungen, bewusstloses Wachstum um jeden Preis, die Teilung in Arbeit und Freizeit zur Reproduktion, um den nächsten Arbeitstag (des Arbeiters wie Managers) ertragen zu können. Ganz wichtig ist der Prozess, der immer weitere gesellschaftliche und geographische Bereiche der kapitalistischen Logik unterzieht. Diese Logik umfasst, neben dem oben genanntem, den Druck der Selektion auf den Einzelnen, sich auf sich selbst gestellt in der Konkurrenz zu behaupten. Dies übt einen immensen Druck aus, Leistung zu erbringen.

Arbeit

Unter Arbeit verstehe ich eine durchrationalisierte, von den eigenen Bedürfnissen und Sehnsüchten entfremdete menschliche Tätigkeit. Es ist sinnvoll hier nicht den Begriff der Lohnarbeit zu verwenden, da die Entfremdung nicht nur auf die klassischen Arbeiter zutrifft. Nebenbei gesagt, macht die Gleichsetzung von Arbeit und Lohnarbeit nur dann Sinn, wenn mensch die Entfremdung auf die Lohnarbeitenden beschränkt und zum Beispiel die ganze Schar der Selbständigen ausschließt.

Dadurch werden den die Posten verteilt und die Hierarchien ermittelt. Diese Prinzipien sind die Basis für Einkommens- und Statusverteilung in der kapitalistischen Ökonomie mit ihrer bürgerlichen Gesellschaft.

Im 18./19. und 20. Jahrhundert brachten diese Prinzipien Klassen hervor bzw. übertrugen sich die Klassen der Feudalgesellschaft auf die entstehende kapitalistische Ordnung. Heutzutage bräuchte es einige Verrenkungen mit Klassen zu operieren.

Meines Erachtens ist es nicht möglich theoretische Klassen aufzumachen. Ich verstehe unter Klassen gesellschaftliche Bereiche in denen sich die Lebensbedingungen der Menschen so unterscheiden, dass sie in sich geschlossen bzw. nur mit wenigen Übergängen versehen sind. Von Klassen zu reden, hat nur Sinn, wenn sie gesellschaftlich auszumachen sind. Der Kapitalismus basiert nicht auf Klassen, sondern er kann Klassen hervorbringen.

Eine Klasse bedeutet annähernd gleiche soziale Lebenslagen, die ähnliche Interessen hervorbringen und auch als Klassenbewusstsein bezeichnet werden können. Dieses lässt sich nicht fordern, es ist da oder nicht. Die An- oder Abwesenheit eines solchen Bewusstseins ist Indikator für die Existenz von Klassen. Da hilft es auch nicht vorzurechnen, dass es besser wäre eins zu haben.

Auch der Organisierungsgrad der Arbeiter in Gewerkschaften ist ein Indikator. Während es Zeiten gab, in denen es eine schlagkräftige reformorientierte und eine relativ starke revolutionäre Arbeiterbewegung gab, ist der DGB heutzutage in der permanenten Krise, weil sich die Lebens- und Interessenlagen dermaßen stark ausdifferenziert haben, dass sich der DGB in der Gefahr sieht, seine Legitimität zu verlieren. Die einzige, sich noch revolutionär nennende anarchosyndikalistische Freie ArbeiterInnen-Union, scheint hoffnungslos marginalisiert. Dies liegt meines Erachtens unter Anderem an ihrer Unfähigkeit gesellschaftliche Veränderungen aufzugreifen, der Slogan „No War but Class War“ (Kein Krieg aber Klassenkrieg) auf einer Friedensdemonstration in Münster macht es deutlich. Diese Unflexibilität ist umso trauriger, da eine basisdemokratische Gewerkschaft für den Weg in eine selbstorganisierte Gesellschaft wünschenswert wäre. Eine Gewerkschaft, in der sich Menschen anhand ihrer sie prägenden Funktionen organisieren, um sich von diesen zu emanzipieren.

Der Wegfall der Klassen und seines Begriffsinstrumentariums ist kein Verlust, er öffnet den Blick auf die grundlegenden Prinzipien des Kapitalismus, in dem alles zur Ware und vermarktet wird, ob Mensch, Tier, Nahrung oder Lebensweisen, in dem die Menschen Humankapital sind, die sich auf dem Arbeitsmarkt selbst und möglichst gewinnbringend verwerten lassen sollen (dies wird anhand der Ich-AG besonders deutlich), in dem die Unternehmer der Marktkonkurrenz unterworfen sind und rationalisieren, entlassen und Produktionsstätten und Filialen schließen müssen, um nicht unterzugehen.

Dies damit zu erklären, „dass es schließlich Menschen mit Bewusstsein und Interesse sind, die derlei Prozesse tragen“, scheint mir zu kurz gegriffen, sind Bewusstsein und Interesse doch nicht einfach so aus dem Nichts da, sondern entstehen durch das lebenslange Wechselspiel von Sozialisation und Zwang. Um dies zu veranschaulichen: Die Konkurrenz ist bereits in den Schulnoten sichtbar, der Leistungsdruck setzt ein, weil diese Noten über die Versetzung entscheiden und die Eltern Druck ausüben, damit das Kind diese Versetzung schafft. In der Universität wird geübt, die Zwänge von Studien- und Prüfungsordnung weitestgehend freiwillig zu erfüllen um die Selektion durch Scheine und Prüfungen zu überstehen. Nach einer solchen 20jährigen Rosskur ist das bürgerliche Individuum bereit für den Arbeitsmarkt, bereit so zu funktionieren wie es das gelernt und im eigenen Umfeld erlebt hat. Wenn nicht, muss mensch sich Nischen suchen, sei es im negativen Fall das Obdachlosenheim und die Parkbank, oder im positiven Fall, eine Künstlernische, das Vagabundieren um die Welt oder einen sozialen Bereich, in dem sie oder er mit geringen Lebenshaltungskosten weniger mit Zwängen belastet ist.

Dass Menschen, die arbeiten wollen, in eine Sinnkrise stürzen, wenn sie niemand haben will, ist dem Arbeitsethos geschuldet, der dem Leben ohne Arbeit den Sinn abspricht. Dass nicht genügend Arbeit für alle da ist, liegt daran, dass sie nicht gebraucht wird. Trotzdem werden die Menschen bestraft, die keine Arbeit bekommen oder keine wollen, denn was würde passieren, wenn die Menschen sich von den kapitalistischen Prinzipien emanzipieren würden? Was würde passieren, wenn Manager oder Bauarbeiterin, Arbeitslose oder Künstler, Studentin oder Professor sagen würden: „Kein Bock mehr, mich permanent zu verbiegen und Zwängen unterzuordnen, die mich kaputt machen. Ich möchte mein Leben selbst bestimmen!“

kater francis murr