Archiv der Kategorie: Feierabend! #55

Editorial FA! #55

Unfassbar … schönes Wort, muss ich gleich an ein Fass Bier denken, das der unbeugsamen Redax an der Bar nach getaner Arbeit gereicht wird. Nachdem über der letzten Ausgabe noch das Damokles-Schwert der Unterbesetzung und eines möglichen Endes schwebte, hat der Feierabend! #55 dank einiger neuer Köpfe das Licht der Welt erblickt. Das merkt ihr sicher auch an einigen Themen, die es so noch nicht im Heft gab, etwa die Frage nach dem Aktivismus auf dem Land (S. 1, 9ff) oder ein Essay „Der radikale Zyniker ist der Sadist“ (S. 24f). Aber auch die „üblichen“ Themen bleiben im Blickfeld wie Militarismus (18ff) oder Arbeitskampf (15ff). Vielleicht ist dieses Heft ein wenig szenelastiger als andere, aber was soll‘s. Wir schreiben von den Dingen, die uns interessieren und die ihr uns zuschickt.

Der Aufruf aus dem letzten Heft gilt nach wie vor. Schickt uns Texte, Themen, Termine, Kritik, Groupiefanpost oder eine nette Postkarte aus dem Urlaub. Und wir suchen auch weiterhin Redaxmitglieder, die Lust darauf haben, eine Ausgabe zu planen, Themen zu recherchieren, Texte zu schreiben, die grafische Aufmachung zu gestalten, Comics zu zeichnen, den Vertrieb zu betreuen, den physischen Druckprozess zu begleiten (wir drucken Off-Set also Hands-On).

Als Verkaufsstelle des Monats (Die Hoffnung stirbt zuletzt!) haben wir diesmal unsere wackeren Handverkäufer gekürt, die unermüdlich am Tresen rumlungern, auf Festivals über die Wiese schlendern oder im latentpolitischen Freundeskreis politische Reden schwingen, immer bemüht, den Feierabend! an Interessierte zu verticken.

Eure Feierabend!-Redax

Es ist schon ein Kreuz mit dem Kreuz

Die Leipziger Katholikentage beweisen wieder einmal die Tragik der christlichen Erlösergeschichte. Ja, Jesus ist für die Sünden der Menschheit gestorben, aber hätte er nicht zumindest dafür Sorge tragen können, dass nach knapp 2000 Jahren nicht schon wieder ein Sündenschnitt fällig ist??

Dass Abertausende von Katholiken und sonstigen Frömmlern fünf Tage lang die Leipziger Innenstadt besetzt hielten, setzt dem höllischen Schauspiel nun die Ketzerkappe auf. Mit grünen Schals, Stadtführern und Bibelkurs-Prospekten bewaffnet, wuselten zwischen dem 25. und 29. Mai 2016 unzählige Christkinder durch unsere Stadt mit dem hehren Bestreben, den gottlosen Osten zu remissionieren.

Jeder Ungläubige weiß spätestens jetzt, wo Steuergelder und lieblos zusammengekramte Kollekte zwangsläufig enden: Im übervollen Portmonee einer Religionsgemeinschaft, die es sich nicht nehmen lässt, ihr Marketing-Programm und die Botschaft einer körperlosen Über-Entität völlig anteilslosen Mitbürgern, wie Mastgänsen, in die Kehle zu stopfen.

Und es ist nicht übertrieben, wenn man von astronomischen Subventionen ausgeht, die Staat und Stadt diesem bizarren Schauspiel fleißig zukommen lassen haben: Bei einem fast 10 Millionen Euro schweren Festival, wird die knappe Hälfte aus öffentlicher Kasse gezahlt.
Natürlich rechnet sich der Spaß für die Stadt, denn irgendwo bleibt das Geld auch wieder hängen, dass Zehntausenden von hungrigen, durstigen und vergnügungsgeilen Spaßpilgern abgeknüpft wird.

balu

Was sonst noch war…

Die Debatte um „linksextremistische Gewalt“ geht weiter, führte aber bisher nicht zu aufregenden Ergebnissen. In seinem im April 2016 veröffentlichten Jahresbericht stellte der sächsische Verfassungsschutz (wieder mal) fest, dass Leipzig eine „Hochburg der Linksextremisten“ sei. Weiteren Aufschluss soll jetzt eine Studie zu den „Ursachen urbaner Gewalt“ bringen – dies entschied der Leipziger Stadtrat im Juni 2016. Warten wir ab, welche Erkenntnisse da mit Hilfe der modernen Polizeiwissenschaft zu Tage gefördert werden.

++++

Am 14. Juni zogen rund 60 Menschen durch die Leipziger Innenstadt, um ihre Solidarität mit den Protesten in Frankreich, die sich gegen das geplante Arbeitsgesetz richten, kund zu tun. Aber auch die geplante Verschärfung der deutschen Hartz-IV-Gesetze war ein Thema der Demonstration. Trotz der recht kleinen Teilnehmer_innenzahl war es ein gut gelaunter und – wie sagt man? – kraftvoller Protest, der schließlich vor dem französischen Honorarkonsulat endete.

++++

Seit dem 4. Juni – zum Redaktionsschluss also schon seit gut einem Monat – ist ein leer stehendes Objekt in der Arno-Nitzsche-Straße besetzt. Das Gelände gehört der Deutschen Bahn, die die Besetzer_innen zum Verlassen der Gebäude aufforderte, aber (bislang) noch keine Schritte zur Räumung unternommen hat. Ein guter Anfang also, aber trotzdem bleibt die Zukunft des Black-Triangle-Squats bis auf weiteres ungewiss. Das Projekt freut sich über eure Unterstützung.

Krawalle für alle

Zu den Ereignissen vom 12. Dezember 2015

Statt dem geplanten „Sternmarsch auf Connewitz“ wurde es doch nur ein müder Spaziergang durch die Südvorstadt. Kein Wunder, denn neben Silvio Rösler mit seiner Offensive für Deutschland und Thügida hatte sich auch der notorische Christian Worch mit seiner Partei Die Rechte angemeldet – und der hat schließlich jahrelange Erfahrung, wie man mit solchen Aufmarschversuchen ordentlich scheitert. Am Ende waren es nur 135 bis 150 Hanseln, die ein paar hundert Meter durch die Südvorstadt latschten, von der Polizei großzügig mit Hamburger Gittern abgeschirmt.

Der Nazi-Aufmarsch selbst war somit nicht weiter beachtenswert. Die damit beabsichtigte Provokation gelang aber durchaus. So waren auch die lokalen Antifa-Sportgruppen an diesem Tag besonders sportlich unterwegs und mühten sich redlich, den guten schlechten Ruf zu verteidigen, den Connewitz sich im Lauf der Jahre erarbeitet hat. Der Krawall gestaltete sich dabei zwar ziemlich flächendeckend, aber eben darum auch wenig zielgenau. Brennende Mülltonnen ergeben zwar hübsche Pressefotos, nützen nur praktisch wenig, wenn sie mehr als einen Kilometer von der Aufmarschroute entfernt sind. Aber so macht mensch das eben, wenn man einerseits hübsch militant sein, sich aber andererseits nicht mit der Polizei ins Gehege kommen will…

Die Polizei ließ sich ihrerseits nicht lumpen und brachte an diesem Tag nicht nur vier Wasserwerfer, sondern auch jede Menge Tränengas zum Einsatz, was in der belebten Südvorstadt natürlich eine total dufte Idee war. So wurden an diesem Tag – mal mehr, mal weniger zielgenau – exakt 78 CS-Gas-Kartuschen verschossen. Ob die Polizei sich damit einen Eintrag im Guinessbuch der Rekorde sichern oder vielleicht auch nur ihre gammeligen Lagerbestände loswerden wollte (1), konnte noch nicht abschließend geklärt werden.

 

Keine Gewalt – sonst knallt´s!

Das Ausmaß an Gewaltbereitschaft (2), das da zu Tage trat, war natürlich schockierend – wobei die Beamten bekanntlich für so was bezahlt werden, also schon per Definition keinerlei „Gewalt“, sondern nur ihren Beruf ausüben. Umso empörter war die bürgerliche Öffentlichkeit über die Ausschreitungen der fiesen Autonomen.

Auch hier zeigte sich wieder das bekannte Fallgesetz des öffentlichen Diskurses: So wie ein fallender Gegenstand umso mehr an Geschwindigkeit gewinnt, je mehr er sich von seinem Ausgangspunkt entfernt, so drehten die Beteiligten der nachfolgenden „Debatte“ umso doller am Rad, je weniger sie von den Krawallen selbst direkt betroffen waren. Der Chef des Café Puschkin zum Beispiel war bei Ereignissen sehr nah dran gewesen (so wurden die Puschkin-Sitzbänke für Barrikadenbauversuche zweckentfremdet). Er äußerte sich in einem Facebook-Kommentar also ziemlich unaufgeregt und sarkastisch: „Wir danken der Stadt Leipzig und dem verantwortlichen Amt in Bautzen für den gestrigen Tag. Durch die Entscheidung eine Gruppe von Vollidioten mit der Androhung unser Stadtteil in Schutt und Asche legen zu wollen, ‚demonstrieren’ zu lassen, hatten wir einen tollen Tag. Ich wollte schon immer mal Wasserwerfer und Panzerwagen vorm Laden sehen, auch wusste ich bisher nicht wie Tränengas schmeckt.“

Umso aufgeregter waren dagegen viele Leser_innen des Leipziger Zentralorgans LVZ, die von dem Geschehen selbst nichts mitbekommen hatten und nun, aufgrund der nachfolgenden Berichterstattung, vermutlich meinten, von der Südvorstadt sei nach den Krawallen nur noch ein rauchender Krater zurückgeblieben. So wurde in einer LVZ-„Leserdebatte“ vom 18. Dezember 2015 gar nicht groß debattiert, vielmehr waren sich im Prinzip alle einig, ganz nach dem Motto: Schlimm, diese Kriminalität – die sollte man wirklich verbieten!

Ein Leserbriefschreiber machte z.B. folgenden glorreichen Vorschlag: „Woher stammt die Angst der Verantwortlichen, einen ‚Ausweis für Gewaltlosigkeit’ einzuführen, den jeder, der demonstrieren will, vorher zu unterschreiben hat? Tut er es nicht, verliert er so lange das Recht auf Demonstration, wie er diese Unterschrift verweigert.“ (3) Der gute Mann hat vermutlich noch nie an einer Demonstration teilgenommen – wer demonstriert, will ja immer irgendwas geändert haben, was schon mal mangelnde Staatstreue anzeigt und deswegen verdächtig ist. So kennt sich unser Leserbriefverfasser mit den Abläufen bei Demonstrationen wahrscheinlich nicht so aus und kann darum natürlich auch nicht wissen, dass dort bereits heute schon ein generelles Steineschmeißverbot herrscht. Und dass es Leute gibt, die sich trotzdem nicht dran halten, das dürfte für ihn schlicht unfassbar sein, denn: Wenn etwas verboten ist, dann darf man das doch nicht machen!

Ein anderer Leserbriefschreiber dekretierte: „Bürger, die den Staat bekämpfen, haben das Recht verwirkt, die Vorteile des Staates zu nutzen. Milde ist gegen derartige Bürger keinesfalls gerechtfertigt.“ Der Mann fühlte sich durch die begangenen Rechtsverletzungen offenbar so dolle in seinem Empfinden verletzt, dass er den Rechtsstaat sofort über den Haufen werfen wollte. Das wirft dann aber allerlei verzwickte Fragen auf: Haben „derartige Bürger“ nun auch das Recht auf eine ordentliche Beweisaufnahme und ein Gerichtsverfahren verloren? Falls ja: Wie entscheidet man dann, wer zu den „Derartigen“ dazugehört? Frei nach Lust und Laune? Und nach welchen Rechtsgrundsätzen soll man die Leute überhaupt noch verurteilen, wenn sie doch alle Rechte „verwirkt“ haben? Hoffen wir mal, dass Polizei und Staatsanwaltschaft auf solche Sonderwünsche aus der Bevölkerung keine Rücksicht nehmen…

Empört war offenbar auch der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung: „Diese Gewalt von Anarchisten und sogenannten Autonomen ist schockierend. Hier waren Kriminelle am Werk, die vor nichts zurückschrecken. Das ist offener Straßenterror“, äußerte er sich in einer Pressemitteilung (4). Wahrscheinlich weiß Burkhard Jung gar nicht genau, was „Anarchisten“ sind. Er hat aber im Lexikon nachgeguckt und konnte somit der LVZ nähere Auskunft geben: „Hier steht uns eine Gruppe gegenüber, die diesen Staat abschaffen will.“ (5) Gegen die müsse man mit rechtsstaatlichen Mitteln „mit aller Härte“ vorgehen.

Genau. Anarchisten wollen den Staat abschaffen – das ist aber eine ganz klar politische Zielsetzung, was Jungs gleichzeitig geäußerter Meinung, man hätte es mit schlichten Kriminellen zu tun, sehr deutlich widerspricht. Ansonsten mag die Einschätzung des OBMs richtig sein oder nicht – in jedem Fall sind die möglicherweise gehegten langfristigen Ziele mancher Beteiligter kein geeigneter Maßstab, um das Geschehen zu beurteilen. Der 12.12. war eben kein Auftakt zur Weltrevolution, sondern nur der erfolglose Versuch, eine zahlenmäßig unbedeutende Nazidemo zu verhindern. So wurden zwar diverse Mülltonnen sowie einiges anderes kaputtgemacht, der Fortbestand des deutschen Staates war an diesem Nachmittag aber zu keiner Sekunde ernsthaft bedroht – falls doch, müssten wir auch über das Mülltonnenanzünden noch mal neu diskutieren.

 

Der kleine Aufstand zwischendurch

Nun überschätzt aber nicht nur der Oberbürgermeister die Randalierer, sondern scheinbar auch die Randalierer sich selbst. Diesen Eindruck erweckte jedenfalls ein Text, der u.a. bei Indymedia verbreitet wurde und mit „Insurrektionalistische Linke / Undogmatische Gruppen“ unterzeichnet war. (6) Die anonymen Verfasser_innen freuten sich, weil an diesem Tag soviel an Zeug kaputtgegangen war: „Wir gratulieren zu den Angriffen auf die Sparkasse und den Rewe am Connewitzer Kreuz, auf das großflächige Zerklimpern der Bundesbank, den etlichen zerschepperten Werbetafeln, den vielen in Brand gesteckten Mülltonnen, die zu Barrikadenzwecken auf die Straße gezogen wurden, zu dem Zerstören der LVB-Haltestellen, der Sabotage der Eisenbahnschienen, zu jedem einzelnen Reifen, der auf die Straße gezogen und in Brand gesteckt wurde, zu jeder eingedellten Bullenkarre“… Und so weiter. Wie man sieht, wurde an diesem Tag eine ganze Latte an unterdrückerischen Einrichtungen zerschlagen.

Es folgte ein bissel Manöverkritik, die inhaltlich aber auch nicht weiter bemerkenswert war: „Wir bekommen es nicht hin, richtig gute Barrikaden zu bauen, und wir bekommen es auch nicht hin, den Bullen so richtig zuzusetzen.“ Ähnlich tiefschürfend die folgende Bemerkung: „Was uns aufgefallen ist: Es scheint so eine gewisse Scheu davor zu geben, sich eine Hassi anzuziehen. Aber gerade für das Gesicht ist sie das A und O der Vermummung. Mütze und Schlauchtuch sind nichts dagegen.“ Das wirft immerhin spannende Fragen auf. Zum Beispiel die Frage, an welchen Körperteilen man sich denn sonst noch mit einer Hasskappe vermummen könnte, wenn man sie zur Abwechslung mal nicht „gerade für das Gesicht“ benutzen will – am Knie vielleicht?

Aber lassen wir die blöden Witze. Denn im Anschluss wird es richtig ernst und grimmig, wenn sich die Verfasser_innen von der unsolidarischen Linken distanzieren, die „sich immer und immer wieder distanziert“. Denn merke: „Wer die Möglichkeit zum Krawall abgibt, hat seine Untertänigkeit bereits bewiesen. Von ihm/ihr ist kein Widerstand mehr zu erwarten. Ihr steht auf der Seite der Herrschenden und bettelt um ein Stückchen Macht. Ihr und wir gehören nicht zusammen. Ihr müsst nicht mitmachen und könnt einfach eure Aktionen machen, wir hindern euch nicht und distanzieren uns nicht, aber wenn ihr nicht solidarisch seid, sondern euch distanziert, dann gehört ihr zur SPD, den Grünen und zur Linkspartei. Bitte lasst uns in Ruhe.“

Man merkt, diese aufständischen Linken sind zwar nach außen hart, aber innen doch ganz weich. Wenn andere Linke sie kritisieren, dann kümmert das unsere Flugblattschreiber_innen einerseits überhaupt nicht, aber insgeheim fühlen sie sich doch davon verletzt. Da schreibt mensch sich schnell in Rage und textet flugs eine Menge Unsinn zusammen.

Erstens kommen eventuelle Distanzierungen ja immer erst hinterher, wenn der eigentliche Krawall schon vorbei ist. Es ist also schlicht dummes Gejammer, dass man selbst keine Aktionen mehr machen könnte, wenn andere Leute sich nachträglich davon distanzieren. Zweitens geht es den Verfasser_innen auch gar nicht um die bloße „Möglichkeit zum Krawall“, weil sie die Möglichkeit, dass ein Krawall in manchen Momenten auch mal nicht sinnvoll sein könnte, gar nicht in Betracht ziehen. Die Frage lautet für sie nicht etwa: „Krawall oder nicht?“, sondern nur noch: „Wickeltuch oder Hasskappe?“ Krawall gilt ihnen in jedem Fall als das richtige, weil angeblich wirkungsvollste Mittel. Wer den Krawall im konkreten Moment für sinnlos hält oder einfach persönlich keine Lust hat, sich mit der Polizei zu kloppen (bzw. sich von dieser verkloppen zu lassen), hat eben nicht kapiert, was die richtige revolutionäre Strategie ist und damit dann direkt seine „Untertänigkeit“ bewiesen. Im Gegenzug stellt jede kaputte Schaufensterscheibe einen Auftakt zum kommenden Aufstand dar.

Distanzieren muss man sich davon tatsächlich nicht, weil einerseits für die jeweiligen Aktionen ohnehin nur diejenigen verantwortlich sind, die daran teilnehmen, und andererseits, weil der moralisch erhobene Zeigefinger auch nur ein schlechter Ersatz für inhaltliche Kritik ist (7). Wenn es das Hauptziel der Verfasser_innen ist, „den Bullen so richtig zuzusetzen“, kann man ihnen dabei nur Glück und gute Besserung wünschen. Um alles Weitere kümmern sich Polizei und Staatsanwaltschaft dann schon im Rahmen ihrer Berufsausübung, womit bei allem Krawall doch alles in der hübsch gewohnten Ordnung bleibt.

Überhaupt lässt sich darüber streiten, ob die üblichen Krawalltaktiken nun wirklich dermaßen wirkungsvoll sind – wie sich beobachten lässt, sind die Beteiligten die meiste Zeit über mit Weglaufen beschäftigt. Vollends sinnlos ist es, den „Aufstand“ als rein taktisches Problem zu behandeln, wie die Verfasser_innen es tun. Ein wirklicher Aufstand müsste schon etwas mehr bewirken als kaputte Mülltonnen und Fensterscheiben, nämlich grundsätzlich neue, auch längerfristig veränderte zwischenmenschliche Beziehungen herstellen. Das ist durch exemplarische Kleingruppen-Action nicht zu leisten. Auch der vermehrte Einsatz von Hasskappen wird da wenig weiterhelfen.

justus

 

(1) www.lvz.de/Specials/Themenspecials/Legida-und-Proteste/Legida/Bei-Dezember-Krawallen-in-Leipzig-wurde-abgelaufenes-Reizgas-eingesetzt

(2) vgl. demobeobachtung.noblogs.org/post/2015/12/13/pressemitteilung-der-demonstrationsbeobachtung-leipzig-zum-12-12-2015/

(3) dokumentiert unter linksunten.indymedia.org/de/node/162684

(4) www.leipzig.de/news/news/oberbuergermeister-burkhard-jung-zu-den-ausschreitungen-am-12-dezember-2015-in-leipzig/ (5) siehe www.lvz.de/Leipzig/Lokales/Krawalle-in-Leipzig-Jeder-wusste-was-kommt

(6) linksunten.indymedia.org/de/node/167216

(7) Kritik und allgemeine Solidarität schließen sich natürlich nicht aus, bzw. würde unsolidarische Kritik noch mal ganz anders ausschauen. So würde ich z.B. Neonazis nicht ausgerechnet für ihre taktischen Fehler kritisieren – davon können die gern so viele machen, wie sie wollen.

Vernetzung im Stadtteil

Gespräch zwischen „Soziale Kampfbaustelle“ und „Vernetzungstreffen Ost“

Im April trafen wir uns mit zwei Vertreter_innen lokaler Initiativen, bei welchen wir ähnliche Vorgehensweisen zu entdecken meinten. Die einen, Soziale Kampfbaustelle (SoKaBa), im Leipziger Westen, wollen eine solidarische Struktur zwischen den bestehenden linken Projekten und darüber hinaus anregen und ins Leben rufen. Die anderen, NetzOst, im Leipziger Osten, wollen ein solidarisches Miteinander und eine Organisation von unten aller Menschen in der Nachbarschaft. Gemeinsam schien uns die Zielsetzung, in den Stadtteil hineinzuwirken und von links eine Lösung für alltägliche Konflikte wieder zu entdecken oder zu verstärken.

 

SoKaBa: Die Idee ist vor ein paar Monaten entstanden aus einer allgemeinen Debatte darüber, was eigentlich gerade in Plagwitz und Lindenau passiert. Wir haben festgestellt, dass es mächtig rund geht, viel wird erneuert und gebaut, gleichzeitig haben wir viele Krisenphänomene. Leute haben viel Ärger mit dem Arbeitsamt, werden aus ihren Wohnungen und Vierteln verdrängt und es gibt darüber wenig Austausch in linken Kreisen. Uns geht es um eine Vernetzung, damit wir uns gegenseitig kennenlernen und tätig werden, und gleichzeitig um eine Auseinandersetzung und Debatten, in denen wir eine Perspektive entwickeln können, wie wir damit umgehen wollen. Wir wollen also nicht auf einen Schlag mit dem dicken Hammer, den wir wahrscheinlich nicht besitzen, dagegen vorgehen, sondern Strategien für den Alltag entwerfen.

NetzOst: Unsere Ziele sind relativ ähnlich. Die Idee vom Vernetzungstreffen entstand aus dem Ostarm der Sterndemo gegen Legida. Die Demo ist dann allerdings ausgefallen und wir haben dann eben dieses Treffen veranstaltet. Am Anfang ging es vor allem um Legida und kreativen Protest, welche – vielleicht neuen – Strategien wir entwickeln können. Ein anderes Thema war, wie wir Leute im Kiez willkommen heißen können, die geflüchtet sind. Im Verlauf der Treffen, die einmal monatlich stattfinden, haben wir unseren Fokus verändert und auch verbreitert. Wir hatten verschiedene Themen, öfters solche, die sich auf Geflüchtete beziehen und auch Gentrifizierungsthemen. Meistens beziehen wir uns damit eben auf den Stadtteil. Das nächste Treffen (24. April 2016) wird sich vor allem mit solidarischen Strukturen auseinandersetzen. Die Organisierenden kommen alle mehr oder weniger aus einem zeckigen Milieu und darum haben wir Kontakt zu politischen Gruppen, die verschiedene Themenfelder bedienen. Das Vernetzungstreffen versteht sich als Struktur, welche Leuten offen steht, die ein Thema haben und das mit anderen teilen wollen. Dafür haben wir auf jedem Treffen auch die AG-Slots, wir übernehmen die Moderation, die Leute gestalten dann den Rest. Bisher gehen allerdings eher wir auf Leute zu. Dass unser Ansatz stadtteilbezogen ist, liegt auch daran, dass wir einfach nicht größer sind und nicht die Kapazitäten haben, über den Leipziger Osten und unsere Kontakte vor Ort hinauszuwirken.

FA!: Habt ihr Fragen aneinander an diesem Punkt?

SoKaBa: Ich frage mich, ob das für alle offen ist, also, sind die kompletten Leute aus der Nachbarschaft eingeladen? Weil das ist etwas was uns sehr wichtig ist, denn wir wollen auch mit der Öffentlichkeit arbeiten und mit politischen Leuten, die bereits gegen Staat, Nation und Kapital aktiv sind. Mir geht es nicht darum, eine alternative Radwerkstatt einzurichten, wo die Leute hingehen, um Zeit und Geld zu sparen und kaufen sich dann von der Kohle die übrig bleibt ne Playstation und verbringen ihre gesparte Zeit damit. Ich möchte, dass unsere Arbeit weiterführende Effekte hat, dass die Leute dadurch mehr Zeit, mehr Mut, mehr Kraft entwickeln und einfach mehr Kohl haben, um sich gegen Dinge zu wehren. Es soll ein kleiner Schritt sein in der kleinsten Organisationseinheit, der eigenen Nachbarschaft, für ein sich stetig ausweitendes revolutionäres Konzept. Hier anfangen, hier das Viertel widerständiger machen, weil dann weiß ich, dass ich rausgehen kann und besser arbeiten, weil ich weniger Angst haben muss.

NetzOst: Wir haben den Fokus ein Stück weiter unten. Wir sind nicht so niedrigschwellig wie andere Orte, wo coole Dinge wie zusammen malen oder Sozialberatung stattfinden, aber sind auch nicht so stark politisiert. Niedrigschwelligkeit ist auf jeden Fall ein Punkt, der uns sehr wichtig ist. Wir bieten Übersetzungen auf Englisch und Arabisch an, haben aber leider nicht die Heterogenität des Publikums, die wir uns wünschen und haben zur Zeit vor allem ein linkes, weißes Studimilieu. Wir versuchen mit der Gestaltung der Brachfläche auf der Eisenbahnstraße woanders anzusetzen und fragen: was seht ihr in der Brache? Außerdem wollen wir ein Stadtteilfest im September organisieren, weil es erstmal darum geht, in Kontakt miteinander zu kommen. Wir haben viele Gruppen im Osten, die parallel nebeneinander herleben und wir alle sind Teil und betroffen von Gentrifizierung, und das müssen wir zusammen angehen. Man kann nicht mit allen über stark politische Themen sprechen, aber mit einer Pluralität von Themen kann man eben verschiedene Menschen an verschiedenen Stellen erreichen. Solidarität im Stadtteil kann Gentrifizierung nachhaltig etwas entgegensetzen! Wie ist es bei euch im Westen? Du hast ja auch schon erwähnt, dass viele Leute nicht im Kontakt stehen, ihr euch das aber wünschen würdet…

SoKaBa: Das gibts tatsächlich in vielen Stadtteilen, dass die Initiativen nebeneinander her existieren und klar das ist okay, weil die meisten eh schon so wenige sind und dann auch noch vernetzen, Struktur zieht immer Energie und Zeit und auch Geld. Die linke Szene hat bestimmte Strukturen, die sie sehr lange hat und die auch unglaublich hilfreich sind, solche Sachen wie die Rote Hilfe oder das Anarchist Black Cross, die ungemein helfen weil ich dann weiß, ich werde nicht in den finanziellen Ruin getrieben, nur weil ich mich was getraut habe. Wenn man sich mit älteren Genossen unterhält, dann erfährt man, dass es sowas früher auch für den Reproduktionsbereich gab, palettenweise Sachen mitnehmen und dann verteilen, oder Kampfkassen gegen das Jobcenter. Das ist mein Traum, eine materielle Infrastruktur herzustellen, die es Menschen ermöglicht, existentielle Ängste grade an so Schwellen wie Übergang zur Lohnarbeit, Kinderkriegen etc. zu überwinden, nicht rauszufallen und weiterzumachen. Aus der eigenen Betroffenheit, der ersten Person heraus die Dinge angehen, Freiräume erkämpfen und von da weiterzumachen, damit irgendwann der nächste Aneignungsschritt passieren kann. Wir sind enorm wenige, auch wenn das in Leipzig oft anders aussieht.

SoKaBa: Das Spannende ist gar nicht unbedingt das Camp, das wir dann im Sommer vorhaben, sondern schon die Treffen davor. Dass Leute zusammenkommen, über ihre eigene Betroffenheit reden und zusammen an Ideen arbeiten, wie man Probleme sozial und politisch angehen kann und zwar so, dass es nicht einfach nur eine Beratungsstruktur ist. Ich musste das auch erst lernen, es ist besser, wenn ich bestimmte Dinge nicht alleine mache. Ich kenne das aus der Autonomen Erwerbsloseninitiative, ich habe auf einmal nicht mehr soviel Angst, da sitzen 15 Leute, die solidarisch mit mir sind. Das hat was von sozialer und emotionaler Arbeit zusammen und dann auch politischer, wenn ich mir mit den anderen überlege, wie man sich wehren kann und das dann auch tue. Diese Erfahrungen bereitzustellen wollen wir hinkriegen.

NetzOst: Man kann Menschen erreichen, die schon organisiert sind und das machen wir auch. Es gibt verschiedene Anlaufstellen im Osten, das Seniorencafé, eine Anlaufstelle für Straßenkinder oder andere, die schon organisiert sind. Wir haben vor hinzugehen und mit den Leuten zu quatschen, ob sie nicht Lust haben, einen Stand beim Stadtfest zu machen oder ähnliches. Das ist dann der Punkt, wo das Gespräch beginnt und man in einen Austausch tritt. Es ist nicht unser primäres Ziel und ich halte es auch für schwierig, Menschen zu politisieren. Es ist schön, wenn sich Leute in einem solidarischen Miteinander zusammentun und Lösungen entwickeln für geteilte Probleme. Die Art, wie mit der Öffentlichkeit umgegangen wird ist eine andere wie bei einer Partei, die die Kohle für Stände und so weiter hat und mit deren Struktur die Leute vertraut sind oder im Gegensatz dazu versucht, das eher in einem Miteinander zu lösen. Also nicht so: Hier sind die Infos und jetzt wählt uns doch!, sondern indem man Dialoge schafft.

SoKaBa: Zum Unterschied dazu ist, was zum Beispiel jetzt an rechten Massenbewegungen in Deutschland entsteht. Das wird ja nicht durch tatsächliche Betroffenheit gebildet, sondern durch ein vorgestelltes Bedrohungsgefühl, das vollkommen an den Haaren herbeigezogen ist. Die Leute haben in der Realität ganz andere Probleme und die wissen das eigentlich auch. Da kommt auch der Punkt rein, dass es eine Kommunikation über eigene Betroffenheit braucht und nicht über Dinge, die nur in der Vorstellung der Leute stattfindet. Uns geht es darum, nicht exklusiv zu sein, denn umso mehr wir sind, umso stärker sind wir. Alleine machen sie dich ein, und wenn du Privilegien nur für eine Gruppe willst, begibst du dich in irgendwelche komischen und gewaltsamen Wettbewerbe rein, die ich grundsätzlich ablehne. Die Hoffnung ist ja, dass Leute erkennen, wieviel Kraft darin liegt, den eigenen Alltag gegen die kapitalistischen Widersprüche stark zu machen und das für alle zu öffnen, irgendwann. Das ist ein politischer Prozess, der erstmal mit den Widersprüchen umgehen muss, und dann stößt man auch auf die Frage: Wer ist denn das, alle?

NetzOst: Wir würden nicht sagen, wir machen das für Menschen, die politisch sind und erweitern dann den Kreis. Wir versuchen gleichzeitig auf verschiedene Weisen zu wirken. Wir wollen durch eine Solidarität im Stadtteil wirken, bei der gleich alle da sind. Wir haben natürlich Veranstaltungen, die ein politisch linkes Milieu bedienen und sich dadurch auch das Netzwerk verdichtet und so werden wir auch effektiver, auch wenn das ein blödes Wort ist, und wir treiben die Reflexion und den Austausch, der fehlt, voran. Gleichzeitig geht es aber auch darum, Menschen zu vernetzen, die gar keine politische Anlaufstelle haben, entweder weil sie nicht politisiert sind oder neu in der Stadt. Alle zu erreichen, ist schwierig, wer sind diese alle, und alle haben vielleicht auch keinen Bock. Da muss man auch schauen, welche Räumlichkeiten man wählt. Wir haben auch keinen Bock auf Parteien, trotzdem haben wir gesagt, dass wir die Anfangsveranstaltung im Linken-Büro von Peter Hans Franz Sodann, wie auch immer der heißt, weil es einfach ein Raum ist, der nicht zugetaggt ist. Leute haben einfach Angst, bestimmte Schwellen zu übertreten, grade zu linken Szeneläden. Wir sehen uns autonom gegenüber Strukturen, die Hierarchie reproduzieren, dennoch ist es etwas Vertrautes zu sagen, man geht jetzt bei der Linken ins Büro.

sam

Stadt, Land – Schluss???

Der ländliche Raum: Schier unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2016. Dies sind die gedanklichen Abenteuer eines jungen Anarchisten und Dorfjungen, der nun für einige Jahre unterwegs ist, um in Leipzig neue Welten zu erforschen, neues Leben und fremde Subkulturen. Drei Zugstunden von seiner Heimat entfernt, dringt er in Galaxien vor, die kein einziger seiner alten Nachbarn je zuvor gesehen hat…

So ist es, liebe GefährtInnen, GenossInnen und Freunde. Mit diesem „Outing“ reihe ich mich in die kurze Schlange derer ein, die zwar für ihre politische Weiterentwicklung die Nähe zum urbanen Aktivismus suchen, sich jedoch längerfristig auf eine praktische Umsetzung emanzipatorischer Projekte in ihrer Region konzentrieren möchten. Und mit Region meine ich das, was im städtischen Raum oft belächelt und gerne mit Begriffen wie „Provinz“, „Outback“ oder schlichtweg „Hinterland“ bedacht wird.

Das ebendieses keineswegs ruhig ist, bekommt unsereins zwar andauernd zu hören, allerdings scheint es oftmals bei dieser pathetischen Feststellung zu bleiben, ohne anschließend mit wirklich produktiven Ansatzpunkten rechnen zu können, was die Polit-Arbeit in solchen Gefilden betrifft.

Fest steht: Die regionalen Aktivisten sind mit völlig anderen Schwierigkeiten konfrontiert, auch wenn ihnen gleichzeitig eine breite Fülle an Protest- und Ausdrucksformen zur Verfügung steht, derer sie sich im engeren städtischen Raum nicht bzw. nur beschränkt bedienen können.

Es soll, anbei bemerkt, keine Aufgabe dieser theoretischen Episode sein, universell geeignete Antworten und Aktionsmöglichkeiten ausfindig zu machen. Der Großteil der gezogenen Schlüsse basiert generell auf persönlichen Betrachtungen und Überlegungen.

Richten wir zuallererst unser Augenmerk auf das soziale Gefüge, in dem sich unsere Archetypen, also ortsansässige und politisch engagierte Menschen, (bestenfalls) bewegen, also in einem ländlichen Gemeindeverband von höchstens mehreren tausend Einwohnern und einer pokalförmigen Alterspyramide. In solch einer Umgebung sind die bedeutendsten Probleme der ländlichen Aktivisten eindeutig die zu überwindenden Distanzen, das fehlende Publikum vor Ort, fehlende Anonymität innerhalb des Dorfes und mangelnde politische Bildung bzw. die konservativ-kleinbürgerliche Einstellung vieler Landbewohner.

 

Zu überwindende Distanzen: Da sich der öffentliche Verkehr in erster Linie auf die Zug- und Busverbindungen zwischen größeren Verkehrsknotenpunkten konzentriert und oftmals nur Dörfer, die auch direkt an solchen Streckenverläufen liegen, mit eingebunden werden, sind zahlreiche Gemeinden schwer bzw. nur durch hohen Eigenaufwand zu erreichen. Eine Alternative hierzu bildet natürlich der Transport mit Schulbussen, allerdings ist dieser zeitlich äußerst begrenzt und an den Wochenenden praktisch nicht zugänglich.

Damit politische Aktionen/Projekte/Veranstaltungen also auch entlegenere Ortschaften tangieren können, kommen für die An- bzw. Abreise in erster Linie nur eigene Mittel (Kfz, Fahrrad, etc.) oder Fahrgemeinschaften infrage, die allerdings zeitlich und kostentechnisch entsprechend organisiert werden müssen.

In diesem Sinne sind Aktivisten in einer derartigen Umgebung mit der erheblichen Schwierigkeit konfrontiert, sich angemessen organisieren und die gemeinsame Kraft für Aktionen bündeln zu können. Die vielfältigen Möglichkeiten moderner Telekommunikation sind zwar präsent und nützlich, aber für eine dauerhafte Kooperation, die die unmittelbare Umgebung aller Mitglieder einer politischen Gruppe betrifft, ist und bleibt der direkte, menschliche Kontakt unabdingbar!

 

Fehlendes Publikum: Selbstredend sieht man sich in Siedlungen von wenigen hundert Einwohnern keiner breiten Gesellschaft gegenüber, die man mit spektakulären oder groß angelegten Polit-Aktionen (Kunst, Demos, Workshop-Wochen, Konzerte, etc.) effektiv ansprechen oder gar mobilisieren könnte. Dabei ist es natürlich möglich Workshops, Vorträge, Kulturabende, usw. zu brisanten Themen aufzustellen, die direkt mit der alltäglichen Erfahrungswelt der Landbewohner korrelieren, allerdings sieht das bei Themenkreisen grundsätzlich anders aus, die sich in überregionalen oder globalen Kontexten bewegen.

Beispielsweise könnte ich die Menschen mit einer Veranstaltung zu den ökologischen Folgen der Biogasproduktion im lokalen Ökosystem ansprechen, während die gleiche Präsentation zum Thema von Kinderarbeit in Indien das öffentliche Interesse kaum streifen dürfte.

Die politische Botschaft kann also zum einen, aus rein quantitativen Gründen, deutlich weniger Menschen als in der Stadt erreichen und selbst bei medialem Interesse schnell in den Lokalnachrichten versacken. Zum anderen sind die Menschen auf dem Land deutlich weniger politisiert, weil sich die größten sozialen Brennpunkte und Unterschiede heutzutage, derart nur im urbanen Raum manifestieren.

Die natürlichen Voraussetzungen für eine sensibilisierte Gegengesellschaft und eine emanzipierte Protestkultur sind in der „Region“ also kaum auszumachen und wenn, dann nur sehr schwer zu bündeln.

 

Fehlende Anonymität: Vor allem wenn man in eine Dorfgemeinschaft hineingeboren wird, ist die soziale Bindung zu den Nachbarn, im Regelfall, sehr eng, was bedeutet das man sich vertraut ist, sich (bestenfalls) im Sinne eines nachbarschaftlichen Verantwortungsgefühls unterstützt und gemeinsam Aktivitäten, Vereine oder Feste organisiert.

Allerdings läuft dieses soziale Gefüge nicht selten Gefahr, durch Missverständnisse, Zwistigkeiten, Tratsch und Cliquen-Bildung in die Brüche zu gehen, weshalb die Dorfgemeinschaft als sozialer Raum viel empfindlicher und enger an die eigene Existenz gekoppelt ist, als dass etwa bei Städten der Fall ist.

Speziell im Sinne der Widerständler und Querköpfe wird hier ersichtlich, dass ebenjene sich also nicht ohne Weiteres im Sortiment provokativer bzw. offensiver Aktionsformen bedienen können (die im urbanen Raum evtl. geläufiger sind), ohne tiefgreifende Konflikte, verhärtete Fronten und somit die eigene Isolation zu provozieren.

Käme es nämlich soweit, wären nicht nur der Verlust der (mikro-)gesellschaftlichen Stellung in der Dorfgemeinschaft und die dadurch entscheidend verschlechterte Lebensqualität fatal, sondern auch der breite Wegfall potenziell empfänglicher Köpfe und Einflussmöglichkeiten. Die entsprechenden Akteure würden sich selbst als Nachbarn und als Aktivisten schlichtweg ins „Aus“ katapultieren.

 

Mangelnde politische Bildung // Konservativkleinbürgerliche Einstellung: Was im vorhergehenden Punkt bereits angedeutet wurde, ist der anspruchsvolle Balanceakt zwischen der Vertretung eigener Ideale und dem Tolerieren konservativer oder gar menschenverachtender Ansichten. Ebendieser kann eine große Belastung darstellen, der nicht alle Gemüter gewachsen sind und die die Kraft produktiver Wut und energetischer Empörung leicht zerstreut oder in Resignation umwandelt.

Die wichtigste Frage lautet hier, wie man sich angemessen mit dem klassischen Dorf-Nazi, lokalen CDU-Kadern oder ähnlichen Meinungsträgern befassen muss, denen man auf dem Land schließlich fast tagtäglich über den Weg läuft, ohne seine politischen Ideale und Ansprüche zu verraten, aber gleichzeitig ein halbwegs gesundes Miteinander zu gewährleisten?

Um an dieser Stelle einem zu pessimistischen Bild von durchschnittlichen Dorfgemeinschaften vorzubeugen, muss fairerweise gesagt werden, dass der gemäßigte und sogar recht liberal denkende Teil der lokalen Bevölkerung sehr wohl überwiegen kann! Leider herrscht aber auch unter solchen Mitbürgern eine allgemeine Verwirrung und Unklarheit, insbesondere bezüglich politischer Begrifflichkeiten und Strömungen, was unseren Archetypen in ihren Bestrebungen behindern und sogar gefährlich werden kann.

Ohne auf das Paradebeispiel des Begriffes „Anarchismus“ näher eingehen zu wollen, sind es generell negativ konstruierte Bilder, die in der Öffentlichkeit mit der Bezeichnung zahlreicher emanzipatorischer Ansätze und Aktionsformen verbunden sind. Viele Termini können beim gemeinen Publikum Befremden, Angst oder gar offene Ablehnung hervorrufen, weil sie entweder in einen durchweg falschen Kontext gesetzt werden oder ihre Vielschichtigkeit unterschätzt wird. Einige Beispiele hierfür wären Begrifflichkeiten wie:

„Freie Liebe“ und „Kommune“, die gerne mit zügellosem und hedonistischem Sexualleben bzw. einer „Jeder-mit-Jedem“-Mentalität erklärt werden, häufig in Erinnerung an die zweite und skandalumwitterte Phase der Westberliner Kommune I.

„Sozialismus“, „Kollektivismus“ oder „Revolution“, an denen für viele immer noch der bittere Beigeschmack der letzten Jahrhunderthälfte klebt, die vor allem im ehemaligen Ostblock für eine Epoche repressivster Staatsgewalt und politischer Indoktrination steht.

„Antifa“, „Autonome“ und „Hausbesetzer“, also Bezeichnungen für Personengruppen im linken Spektrum, die in der Öffentlichkeit mit diversen Beschuldigungen konfrontiert sind, zumeist aber auf randalierende Steinewerfer, asoziale Unruhestifter oder linksextremistische Gewalttäter heruntergebrochen werden.

Doch auch so gestaltet sich der Umgang mit gängigeren, undifferenzierten Vorurteilen in der Dorfgemeinschaft schwierig, die sich häufig in passiver Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder Homophobie äußern, vor allem, wenn engste Beziehungen von derart drastischen Meinungsverschiedenheiten betroffen sind (Freundschaften, eigener Familienkreis, etc.).

Wie haben schwarz-rot oder schwarz-grün gestreifte Aktivisten also vorzugehen, wenn sie sich nicht in ihren Elfenbeinturm einschließen oder in die Stadt umziehen wollen?

GRUNDLEGEND GILT, dass im post-bäuerlichen Mikrokosmos „Dorf“ der Fokus politischer Arbeit auf den klassischen Denk- und „Stammtisch“-Strukturen liegen sollte, die den Weg zu einer lokal getragenen, solidarischen Protestkultur versperren. Derartige Gebilde müssen stückchenweise aufgebrochen werden, um der dortigen (inter-)kulturell, wie politisch meist isolierten Gesellschaft emanzipatorische Möglichkeiten aufzuzeigen.

Bis auf die Randgebiete der Metropolen sind besonders „oppositionell“ gesinnte Bevölkerungsschichten nämlich in dünn besiedelten, ländlichen Gegenden kaum auffindbar (oder beschränken sich auf nahegelegene Industrie- und Kulturzentren). Damit meine ich ebenjene Personen- und Interessengruppen, auf denen normalerweise großangelegte Aktionen (Demons-trationen, Streiks, Blockaden, Straßenfeste, etc.) fußen könnten. Regionale Aktivisten sind in diesem Fall also von überregionalen Solidaritätskampagnen und Unterstützern abhängig, die, nicht selten, kostspielige und zeitraubende Wegstrecken auf sich nehmen müssen, um sich angemessen am Widerstand beteiligen zu können. Erfolgreiche Beispiele hierfür sind natürlich vorhanden, wie bspw. Blockaden von Kohlebaggern und Castor-Transporten, Demos gegen unterirdische CO2-Einspeicherungen, Streikaktionen von Landwirten oder „Sit-In`s“ gegen Waldrodungen.

Dennoch tragen, wie gesagt, nur in den seltensten Fällen die Dorfgemeinschaften selbst derartige Aktionsformen mit, die ohne lokale Einzelkämpferinnen schlichtweg nicht in die Wege zu leiten wären. Ob Politikverdrossenheit, altersbedingte Resignation oder der Mangel an betroffener Jugend hier entscheidend ist, bleibt sicherlich von Fall zu Fall verschieden gewichtet, allerdings ist es an dieser Stelle auch wichtiger zu fragen, wie sich ebenjene Einzelkämpfer oder verschworene Cliquen einen Zugang zur, weitläufig apathisch gestimmten, Bevölkerung des ländlichen Raumes verschaffen können.

Wie kann so eine geistige Minderheit also mit ihren eigenen, „beschränkten“ Mitteln in einem Raum wirken, der von großen Teilen des links-alternativen Spektrums nicht beachtet wird, da schließlich ein nahezu einhelliger Konsens (unter engagierten Köpfen in der Stadt und besonders auf dem Land) darüber besteht, dass der politische/soziale Kampf nur in den bedeutenden Protestzentren, also den Metropolen entschieden werden kann?

Das soziale Dilemma, in dem sich unsere Archetypen befinden, ist ein schwerwiegendes und gern übersehenes Problem, das nur mit besonders behutsamen Strategien angegangen werden kann. Denn um sich am berüchtigten „Stammtisch“ behaupten zu können, als Widerständler und als Teil der Dorfgemeinschaft, ist es entscheidend, sich vermehrt auf Kompromisse einzulassen und ein größeres Verantwortungsgefühl zu entwickeln: Einerseits für die eigene moralische Position und Andererseits für die Notwendigkeit friedlicher Koexistenz.

Im Fazit ist es für die erfolgreiche Einflussnahme von Aktivisten im Hinterland also unabdingbar, sich geduldig dem verschränkten, konservativen oder gar rechten Gedankengut bzw. deren Trägern zu widmen, um sich im Dissens auszutauschen und festgefahrene Vorurteile (linke Steinewerfer vs. harmlose Polizei, etc.) mindestens zu lockern und irgendwann vielleicht sogar überwinden zu können. Erst dann würde überhaupt die Aussicht auf einen breiten, solidarischen Schulterschluss für lokale Initiativen bestehen und sich ein entscheidendes Fundament formieren können!

 

Abschließend zu der Thematik „Dorfaktivismus“, ist es angebracht zu erwähnen, dass die „Verstädterung“ der ländlichen Lebenswelten (seit ca. Ende des Zweiten Weltkriegs) die soziale Interdependenz in den Dörfern enorm verdünnt hat, autonome Grundstrukturen deshalb immer mehr verschwunden sind und die Menschen zusehends voneinander entfremdet werden. Der (klein-)städtische Raum ist heute (im globalen Norden) für die Menschen Arbeits-, Lebens- und Entwicklungssphäre geworden, weshalb wir auf dem Land schlichtweg nicht mehr das Potenzial ausmachen können, dass solche Bewegungen, wie z.B. die ukrainische Machnowtschina oder die mexikanische EZLN möglich gemacht hat.

Natürlich steht diese Bemerkung im Widerspruch zu den Punkten, die ich vorhergehend angeführt habe und die auf ein ungebrochen enges Verhältnis der Dörfler untereinander verweisen. Tatsächlich ist diese paradoxe Situation aber Programm, denn wo einerseits die älteren Generationen und auch einige jüngere Heimatfreunde zusammentreffen, um zumindest ein halbwegs intaktes Kulturleben auf ihrem Dorf aufrechtzuerhalten, finden sich oftmals auch genug Anteilslose oder Eremiten, die sich mit ihrem eigenen Traum vom Landleben zufriedengeben und sich freiwillig isolieren.

Bis auf einige ungebrochene Freizeitbauern ist dabei allerdings allen gemein, dass sie längst nicht mehr „mit“ dem Land, sondern nur mehr „auf“ dem Land leben. Hier liegt auch die Erklärung der sozialen Interdependenz, die schlichtweg nicht mehr gegeben ist: Mobilität und Wohlstand erlauben praktisch jedem Menschen in Zentraleuropa, sein Leben nach der nächstgelegenen Stadt zu richten, ohne von dem abhängig zu sein, was er im Garten anbaut oder was gerade in der Dorfkneipe, beim Fleischer, Bäcker, Schmied, etc. angeboten wird.

Die Zweck- und Lebensgemeinschaft „Dorf“, so wie sie den Menschen seit Jahrtausenden bekannt war, ist, zumindest in Europa, fast vollständig der Massen- und Konsumgesellschaft gewichen, die sich heute in den Städten entfaltet.

Und obwohl der Landmensch also seine alte Unabhängigkeit verloren hat, gibt es in seinem sozialen Umfeld dennoch genügend gesundes Misstrauen und eine „Do-it-Yourself“-Mentalität, die durchaus guten Nährboden für die Entwicklung neuer autonomer und alternativer Strukturen bilden könnten. Vielleicht ist es demnach nicht illusorisch zu erwarten, dass der soziale Kampf eines Tages auch wieder in den Dorfgemeinschaften Ausdruck finden wird, ungeachtet aller Hürden und Gegenbewegungen.

Natürlich ist das bis hierher nur meine persönliche Thesenkonstruktion bzw. Herangehensweise und das Bild der Zusammenhänge mag sehr subjektiv ausfallen, aber fest steht, dass ein gesellschaftlicher Wandel nicht zustande kommen wird, wenn (in der Stadt und auf dem Land) nur ausgewählte Kreise Gleichgesinnter an der großen Emanzipation arbeiten.

Diese Kreise sind grundsätzlich zu klein und in einer zu geschlossenen Position organisiert, um den sozialen Kampf dauerhaft organisieren und tragen zu können, weshalb sie sich zwangsläufig für die breite Bevölkerung öffnen müssen, auch wenn diese sich mehrheitlich nicht mit links-alternativem Gedankengut identifizieren kann.

Dabei ist es natürlich leichter gesagt als getan, den „einfachen Menschen“ auf der Straße oder hinter dem Hoftor zu erreichen, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Sturköpfe nicht zwangsläufig offensive Reaktionäre sein müssen. Alle Menschen bleiben grundsätzlich lernfähig, selbst wenn sie einer vermeintlichen Alternativlosigkeit, destruktiven Weltanschauungen und mangelnder politischer Bildung unterliegen.

Projektorientierter Aktivismus in Form von Landkommunen, alternativen Landwirtschaftszentren (Permakultur), kreativen Protestgruppen oder freien Bildungsprojekten könnte hierbei entscheidend sein, um in der lokalen Öffentlichkeit eine größere politische Empfänglichkeit und Bewusstwerdung zu entfachen.

Meiner Meinung nach brauchen wir deshalb eine neue, unverbrauchte und antiautoritäre Avantgarde, aktive Kleingruppen also, die nicht einfach in ihrer Subkultur verharren, sondern die dörflichen und regionalen Mikrogesellschaften, aktiv und gleichzeitig mit aller Behutsamkeit, komplementieren und mitformen.

balu

Interview mit Bon Courage

Beispiel und Vorbild für linken Aktivismus im Landkreis Leipzig

Bon Courage e.V. ist ein Bornaer Verein, der in Form von politischer Öffentlichkeits-, Aufklärungs- und Bildungsarbeit in die Gesellschaft hineinwirken möchte, um diese für ein solidarisches, von gegenseitigem Respekt geprägtem Miteinander zu sensibilisieren. Der Schwerpunkt vieler Projekte liegt zum einen auf der Unterstützung und Beratung von Asylsuchenden und zum anderen auf der Durchführung gedenkstättenpädagogischer Bildungsangebote.“

— Vorstellung aus Vereins-Homepage (www.boncourage.de, 16.05.16)

 

FA!: Wie würdest du eure Anfangszeit beschreiben?

Angefangen hat unser Projekt ungefähr 2006 in Borna. Damals waren die Leute, die an der Gründung des Vereins beteiligt waren, zwischen 16 und 18 Jahren alt. Wir hatten damals jedes Wochenende Probleme mit Nazis, weshalb wir uns glücklich schätzen konnten, Beistand von Leuten wie Frau Simone Luedtke (Die Linke) zu bekommen, die momentan in Borna als Oberbürgermeisterin amtiert. Persönlichkeiten wie sie haben uns entscheidend bei der Formierung und Gründung unseres Vereins unterstützt, der dann schließlich am 06. Januar 2007 ins Vereinsregister aufgenommen werden konnte.

 

FA!: Kann man euch einer besonderen politischen Bewegung zuordnen?

Als sich unser gemeinnütziger Zusammenschluss damals aus einem großen Freundeskreis und verschiedenen Einzelpersonen bildete, sahen wir uns als keine homogen gepolte politische Gruppe. In den grundlegenden Fragen stimmten wir natürlich überein, aber tatsächlich war es in erster Linie unsere gemeinsame Bestrebung, die Bevölkerung hinsichtlich der Neo-Nazi-Szene in Borna und der näheren Umgebung zu sensibilisieren. Dass der damalige Oberbürgermeister selbstbewusst verlauten ließ, dass es keine Nazis in Borna gäbe, hat uns da natürlich noch zusätzlich empört, aber selbstverständlich auch motiviert.

Natürlich hat sich dieses vielfältige Gefüge in unserem Verein nicht großartig verändert und wir führen manchmal immer noch sehr interessante Debatten über den Umgang mit brisanten gesellschaftlichen Themen, politischen Fragen, etc.

Nichtsdestotrotz würden wir uns generell als „linksgerichteter“ Verein beschreiben, der seinen Schwerpunkt auch in diesem Sinne bestimmt, also in Richtung von Themen wie Globalisierungs-, Gesellschafts- und Kapitalismuskritik oder eben auch Antirassismus und Öffentlichkeitsarbeit.

 

FA!: Was für Projekte und Aktionen konntet ihr in dieser Richtung denn schon verwirklichen?

Wir haben uns durchweg, aber vor allem in unserer Anfangszeit auf Bildungsprojekte konzentriert, um den Menschen der Bornaer Gegend ein detaillierteres Bild von der Nazi-Zeit und den Gefahren des Neofaschismus zu eröffnen. Besonders die Gedenkstättenfahrten zu ehemaligen KZs in Polen spielen dabei eine große Rolle, die wir seit 2008 regelmäßig organisieren. Außerdem haben wir noch zahlreiche andere Aktivitäten wie Filmvorführungen, Aktionstage, Schulungen oder auch Workshops in die Wege geleitet.

Allerdings mussten wir unglücklicherweise über die Jahre hinweg feststellen, dass es wirklich sehr schwierig ist, in einer Kleinstadt wie Borna gewisse Bildungsveranstaltungen durchzuführen, auch wenn manchmal Leute kommen und sich offen interessieren. Das ist uns insbesondere bei einer Workshop-Reihe aufgefallen, die wir von 2008 bis 2011 über mehrere Monate hinweg angeboten haben. Dort lag das Interesse nämlich buchstäblich bei null Prozent. Auch die geplante Etablierung eines öffentlichen Raumes oder Zentrums, in dem sich Jugendliche treffen und austauschen können, ist in den ersten Jahren nach unserer Vereinsgründung ein wichtiges Thema gewesen, bislang aber einfach an einigen praktischen Hürden gescheitert (Raum, Mithelfer, usw.).

Wir mussten also lernen, dass der Öffentlichkeit und den Regionalpolitikern oft genug mehr daran gelegen ist, ihre eigene, kleine Lebenswelt aufrechtzuerhalten, anstatt sich mit Kulturangeboten zu befassen oder diese gar zu fördern. Was das Thema „Sport“ betrifft, sieht die Situation schon wieder ganz anders aus, weshalb wir uns beispielsweise schon mit einigen „Refugees-Welcome-Turnieren“ in Borna eingebracht haben.

 

FA!: Also ist auch die Zusammenarbeit mit Geflüchteten ein wichtiges Thema für euch?

Ja, das auf jeden Fall, und ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass seit 2009 die Asyl-Frage mittlerweile sogar zu unserem Hauptthema geworden ist. Im Landkreis Leipzig waren wir sogar einer der ersten Vereine, die sich offen mit der aktuellen Problematik von Flucht und Vertreibung beschäftigt haben, auch wenn das öffentliche Interesse anfangs generell gering ausfiel. Trotzdem konnten wir uns schon bald entsprechender Solidaritätsbekundungen sicher sein, wie beispielsweise von lokalen Kirchenvertretern, was für uns auch einen gewissen Erfolg darstellt. So oder so ist und bleibt das aber nur die eine Seite der Medaille…

 

FA!: Es gibt also auch entsprechende Schwierigkeiten mit einigen Personen oder Interessengruppen?

Natürlich gibt es die. Mittlerweile werden wir von einem großen Teil der lokalen Gesellschaft akzeptiert. Manche loben uns ab und zu hinsichtlich unserer „guten Arbeit“, während andere unsere Aktivitäten natürlich dementsprechend kritisieren.

Das Feedback fällt also im Regelfall sehr unterschiedlich aus, und doch scheinen wir insbesondere einigen hiesigen CDU-Vertretern ein Dorn im Auge zu sein. Bis heute wurde gegen uns meinungstechnisch wirklich extrem in der Öffentlichkeit rumgeschossen. Uns wurden bei der Organisation von Programmen andauernd Steine in den Weg gelegt und wir mussten uns auch zur Genüge mit dem Vorwurf auseinandersetzen, eine linksextremistische Gruppierung zu sein. Zugegebenermaßen kann man auch durchweg andere böse Zungen hören, die einen hinterrücks oder auf offener Straße als „Bombenleger“ bezeichnen, aber die massivsten Gegendarstellungen werden scheinbar ständig von einigen Mitgliedern der CDU in die Welt gesetzt.

Besonders ein Workshop den wir damals mit der Roten Hilfe organisierten und einer mit dem Titel „Richtiges Verhalten auf der Demo“ haben für reichlich Aufregung gesorgt. Obwohl diese Meinungsmache gegen uns besonders in den ersten Jahren extrem war, ist dieser „Linksextremismus“-Stempel eine Sache die uns manchmal nahegeht, weil Vorwürfe dieser Art einfach völlig unbegründet sind.

Wirklich schwerwiegend geschadet hat uns das zwar noch nicht, aber potenzielle Kooperationspartner_innen können durch so ein aufgesetztes Image einfach ein falsches Bild bekommen. Ich glaube, dass wir mittlerweile dennoch ganz gut mit unserer Arbeit und den angegangenen Projekten überzeugen konnten, aber dieses Schubfach-Denken nach Links- und Rechtsextremismus kritisieren wir generell.


FA!: Besteht denn Aussicht darauf, dass der Konflikt in Zukunft beigelegt wird?

Ich glaube schon, dass das rein theoretisch gehen würde, aber vor allem hinsichtlich der lokalen CDUler bezweifle ich stark die Stabilität so einer Verständigung, obwohl es sogar in den Reihen dieser Partei einige Leute gibt, die sich hinter uns stellen und für deren Unterstützung wir auch dankbar sind.

Praktisch kann ich mir das allerdings nicht bzw. überhaupt nicht vorstellen, weil es eben wirklich einige Personen gibt, die wiederum sehr schrecklich sind. Dass sich gewisse Parteivertreter vor einiger Zeit sogar dazu herabgelassen haben, die Wohnorte von Bon Courage-Mitgliedern im Internet zu veröffentlichen, ist uns immer noch unverständlich. Wir haben Gesprächsangebote gemacht, aber es wurde leider nicht weiter darauf eingegangen. Obwohl man soviel gemeinsam rocken könnte, wenn man sich nur mal zusammenreißen würde, werden wir immer noch ignoriert oder auf einem Niveau angegriffen, das meistens weit unter der Gürtellinie liegt.

 

FA!: Wie würdest du die weitere Lage des politischen Aktivismus in der Provinz um Borna einschätzen?

Obwohl wir uns mittlerweile verstärkt landkreisbezogen engagieren wollen, konzentrieren sich unsere Aktionen und Projekte immer noch in erster Linie auf die Kreisstadt Borna. Deswegen kann ich keine besonders detaillierten Angaben zur Situation von Aktivisten in den kleinsten Einheiten machen, obwohl ich schon durchaus einige interessante und positive Unterschiede in kleineren Gemeinden beobachten konnte.

Beispielsweise kommen in der Kleinstadt Zwenkau eher Standard-Projekte, Unterstützerkreise, usw. zusammen, was eben sicher auch mit dem vertrauteren Verhältnis zusammenhängt, das dort und in überschaubareren Ortschaften existiert. Natürlich ist die Bevölkerungsdichte in Borna auch nicht so erheblich, aber es herrscht trotzdem ein relativ hoher Grad an Anonymität, selbst wenn man regelmäßig die gleichen Gesichter auf der Straße sieht.

 

FA!: Wie sieht die Zukunft von Bon Courage deiner Meinung nach aus?

Das ist schwer zu sagen. Ein brisanter Punkt ist die Tatsache, dass fast niemand der originalen Vereinsmitglieder in Borna geblieben ist. Wir sind zwar fast alle in Borna zur Schule gegangen und dort auch aufgewachsen, aber der überwiegende Teil von uns ist längst weggezogen (viele nach Leipzig) und mittlerweile berufstätig. Das schlägt sich natürlich auch in unserer aktuellen Mitgliederzahl nieder, die zu Anfangszeiten um die 60 betrug, mittlerweile aber bei ca. 40 Personen liegt.

Der Anteil, der nicht unterstützend, sondern aktiv den weiteren Werdegang von Bon Courage gestaltet, lässt sich wiederum auf 10 Personen herunterbrechen, die aber alle eben nicht in Borna wohnen.

Selbstverständlich bringt diese relativ geringe Größe des harten Kerns auch einige Vorteile mit sich, aber wir suchen trotzdem durchweg nach Interessenten und Ehrenamtlichen, die uns bei kommenden Aktionen, aber auch direkt in Borna helfend zur Hand gehen würden.

Solidarische Grüße an alle Mitglieder von Bon Courage e.V.!

balu

Anmerkung: Insbesondere nach dem Anschlag auf das neue Vereins-Büro, der in der Nacht vom 03. zum 04. Mai 2016 stattfand, ist Bon Courage e.V. über jede weitere Form finanzieller oder beratender Unterstützung dankbar. Die Täter, die dem Verein unbekannt sind, haben die Fensterscheiben der Räumlichkeiten mit Steinen zerschlagen und mithilfe von Stinkbomben (aus Buttersäure) versucht, die Zimmer unbenutzbar zu machen.

Für weitere Informationen, besucht bitte ihre Homepage: www.boncourage.de

 

Kiffen, Koksen, Saufen, Rocken, Sterben

Da werden sich einige unserer Stammleser_innen beim Anblick des Titelbilds gefragt haben, ob sie wirklich den neuen Feierabend! in den Händen halten oder wir das libertäre Leipziger Leitmedium mittlerweile an die Springer AG verhökert und uns einen Altersruhesitz in Plaussig-Portitz zugelegt haben.

Nichts von alledem, nur die Erleuchtung höchstselbst war es, die uns ereilte. Man kann ja schlechtes über‘s Missionieren sagen und meckern, pöbeln, motzen – doch eines hat uns schlicht die Augen geöffnet und uns zu dieser Titelbildhommage inspiriert.

Ein Buch, so voller Wahrheit und Offenbarung, dass schon der Titel mir sündigem Empfänger ein Gefühl der himmlischen Geborgenheit gab, bevor sich die 37 packenden Reportagen gänzlich in mir entfalten konnten. Nicht einfach nur ein paar Schritte weiter von der Hölle entfernt, sondern die Rettung meiner Seele zum Greifen nah.

Ein kurzer Griff zum Katholikentag war es auch, der das kleine ergreifende Büchlein in meinen Besitz brachte und der Soulsaverin*, die sich aufopferungsvoll dem Verschenken des „DyingStars“ verschrieben hatte, ein Lächeln auf‘s Gesicht zauberte. Vom Greifenden zum Ergriffenen durch fesselnde Biografien verstorbener Stars wie Michael Jackson, Amy Winehouse und James Brown. Und neben den eingehenden Beschäftigungen mit Toten einer auf den Sex, Drugs & Rock‘n‘Roll-Punkt gebrachten Lebensweise auch höchst ironische Erkenntnisse wie in der Einleitung: „Party, Rausch, Musik und Sex und alles so oft und so exzessiv wie möglich. […] Das ist ganz schön kaputt und führt ins totale Elend. Einsam, krank und süchtig verenden sie als no name in irgendeinem dreckigen Loch.“

Richtig ernst wird es dann aber schnell, bspw. beim „Schriftsteller, Drogenkonsument und Waffenfetischist“ William S. Burroughs: „Er wurde 83 Jahre und ein reicher und berühmter Schriftsteller, der in dem letzten Drittel seines Lebens noch die erstaunlichsten Eskapaden in anderen Genres vollführte.“ Der Titel ist bei diesem Buch Programm, die meisten Biografien der verstorbenen Stars lesen sich, als hätten die Autor_innen hier wirklich selbst den Sex, die Drugs und den Rock‘n‘Roll im Blut.

Über Ahmet Ertegun, den Begründer von Atlantic Records, der sich nach erfülltem Musik-Leben und anderen unternehmerischen Höhepunkten im Alter von ebenfalls 83 Jahren auf einem Stones-Konzert durch einen Sturz eine Gehirnblutung zuzog, an der er später verstarb, heißt es: „Ein würdiger Rock‘n‘Roll-Abgang: Er starb wirklich für seine Leidenschaft!“

So klar die betörende Botschaft auch sein mag, rhetorische Fragen à la „Ist es wirklich so erstrebenswert, als Star in die Annalen der Geschichte einzugehen? Ist es wirklich erstrebenswert, ein Leben im rhythmischen Rausch zu führen?“ konnten mich nicht über die bittere Wahrheit hinwegtäuschen: „Alle Träume, die uns Hollywood und die Popindustrie verkaufen, werden spätestens mit dem Tod wie Seifenblasen zerplatzen.“ Hier holten mich die Autor_innen dann vom Himmel wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

Durchsetzt werden die morbid-motivierenden Reportagen immer wieder mit Ratschlägen und Zitaten eines gewissen Jesus. Hier haben die Soulsaver mich leicht in die Irre geführt, letztlich aber wahren Einblick in die Tiefen des Rock‘n‘Roll bewiesen. Denn dass gerade der als Jesus Christ Allin geborene „commanding leader and terrorist of Rock‘n‘Roll“** GG Allin dem Buch posthum einen roten Faden verleihen darf, ist angesichts der mannigfaltig beschriebenen Exzesse eine Offenbarung ohnegleichen.

Eine unbedingte Leseempfehlung also, dieses kleine Büchlein mit dem gewaltigen Inhalt sollte seinen Platz neben jeder gut sortierten Feierabend!-Sammlung finden. Wer nicht das Glück hat, bei einem Katholikentag ein Exemplar persönlich überreicht zu bekommen, bestellt es am besten bei soulbooks.de zusammen mit dem Vorgänger „Rock im Sarg“. Im 100er Pack.

Danke Soulsaver, rock on!

shy

 

*http://soulsaver.de

**aus: „GG Allin Manifesto“

Ein Redebeitrag der ASJ Leipzig

Der folgende Redebeitrag der anarchosyndikalistischen Jugend Leipzig wurde anlässlich der revolutionären 1.-Mai-Demo 2016 verfasst, konnte jedoch leider nicht verlesen werden.

Auch wir als syndikalistische Linke sind der Meinung, dass der Kampf gegen rassistische Verhältnisse mit dem Kampf gegen kapitalistische Verhältnisse zusammen gehört und auch zusammen gedacht werden muss. Denn der Rechtsruck in der sogenannten bürgerlichen Mitte und die Radikalisierung der Rechten sind für uns Ausdruck eines sich zuspitzenden Verteilungskampfes. Der Sprech von den angeblich erreichten Obergrenzen für Geflüchtete, der Überlastung und Überforderung macht dies unter anderem deutlich.

Für die Rechte oder die besorgten Bürger*innen spielt sich der Kampf um das bessere Leben zwischen ihnen selbst und den Neuankommenden ab. Wir sehen es als Aufgabe, daraus einen Kampf gegen Ausbeutung zu machen.

Dafür jedoch, so scheint es, muss erst einmal die eigene Position reflektiert werden. Wir sind Antifaschist*Innen und wir sind lohnabhängig. Ersteres ist selbstverständlich und äußert sich in einer bestimmten Politik, einer bestimmten Sprache bis zum Dress Code. Die eigene Position im kapitalistischen Produktionssystem hingegen wird nicht selten als nebensächlich abgetan. Dabei ist die Frage nach einer Gesellschaft frei von Unterdrückung und Ausbeutung unmittelbar damit verknüpft, wie stark sich im Betrieb gegen eben diese gewehrt wird.

Die Fragen an uns selbst lauten also: Inwiefern wird linke Politik in den eigenen Betrieb getragen? Inwiefern weiß ich über meine eigenen Rechte Bescheid, aber vor allem über die Möglichkeiten, solidarische Strukturen auf der Arbeit aufzubauen und die eigene Position zu stärken? Und daran anknüpfend: Wie kann es gelingen eine umfassende Solidarität aufzubauen? Bspw. bei Repression im Job entgegen zu wirken?

Für diese Zwecke haben sich Initiativen, Basisgewerkschaften und Gruppen gegründet, die sich dieser Themen annehmen. Die Unterstützung ist rar, die Mitglieder zu wenige. Arbeitskampf und Gewerkschaft gilt bei vielen nicht als wahnsinnig schick, auch in der radikalen Linken und das trotz aller Class-struggle-Rhetorik.

Dabei braucht der Kampf gegen Faschismus und Rassismus nicht nur eine antiparlamentarische und politisch autonome Basis, sondern auch eine Basis in den Betrieben. Erstens, um auch bisher unpolitische Menschen in unsere Kämpfe einzubinden. Zweitens, um auch hier Ausgrenzungsformen direkt zu begegnen und Menschen vor ihnen zu schützen. Drittens bringt eine Organisierung im Betrieb nochmal ganz andere Möglichkeiten politischer Wirksamkeit zu Stande: So können wirtschaftliche Abläufe gestört werden.

Darüber hinaus: Die Forderung nach einem Wohnraum für alle, nach ausreichender Gesundheitsversorgung, nach humanitären Arbeits- und Lebensbedingungen sind Forderungen wie sie von einer antikapitalistischen und ebenso antirassistischen Linken und darum von beiden gemeinsam gestellt werden müssen. Es müssen gemeinsam Alternativen formuliert und Kämpfe geführt werden. Dass sich die autonome Linke für gewerkschaftliche Themen und eine syndikalistische Politik öffnet, ist dabei ein wichtiger Schritt.

Wir glauben darum: Es ist ohne Zweifel wichtig, emanzipatorische Parallelstrukturen aufzubauen, um dort den Karren aus dem Dreck zu ziehen, wo der sogenannte Sozialstaat versagt hat. Doch genauso wichtig ist es auch politische Ansätze mit auf die Arbeit zu nehmen. Selbstorganisierung, Allianzen und Selbstermächtigung sind Schlagwörter, die im Betrieb genauso Anwendung zu finden haben wie in den Social Centers.

Deshalb: Solidarisiert Euch in sozialen Kämpfen, werdet Mitglied in gewerkschaftlichen Gruppen, kennt Eure Rechte, tut Euch mit euren Kolleg*Innen zusammen und tragt linke Politik in die Bereiche, in denen sie am meisten weh tut!

ASJ Leipzig

Klassenkampf, Organizing und das Verbinden der Kämpfe

Interview mit der Ortsgruppe Leipzig der Industrial Workers of the World

FA!: Aus welchen politischen Zusammenhängen und Berufsgruppen kamen die zu anfangs Beteiligten? Woher kam die Bewegung, eine IWW-Gruppe Leipzig/Halle zu gründen?

Die Leipziger Gruppe ist relativ studentisch bzw. akademisch geprägt. Viele von uns sind noch an der Uni als Studierende oder wieder an der Uni als Promovierende oder Dozierende. Wir haben aber auch Mitglieder, die gerade eine Ausbildung machen (im sozialen Bereich) oder bereits lohnarbeiten (bspw. im Callcenter oder als NachhilfelehrerIn).

Die Idee, eine Gruppe zu gründen, entstand, als wir genügend Wobblies (so werden die IWW-Mitglieder auch genannt) dafür zusammen hatten. 2014 waren wir noch zu zweit, nach einiger Zeit jedoch kamen ein paar Leute dazu. Als wir schließlich zu fünft waren, im Januar 2015, dachten wir uns, dass es nun Zeit ist, eine neue lokale Struktur aufzubauen.

FA!: Was sind eure Ziele für die nächste Zeit und die absehbare Zukunft in Leipzig und Halle? Gibt es einen bestimmten Bereich, in dem organisiert werden wird?

Unser primäres Ziel ist es natürlich zu organizen! Dafür haben wir uns die IWW als unsere Gewerkschaft ausgesucht. Wir wollen nicht von außen oder stellvertretend Arbeitskämpfe führen, wir wollen dort, wo wir arbeiten auch gewerkschaftlich tätig werden. Es gibt einige erste Ideen sich im Hochschulbereich zu organisieren – die Inspiration kommt dafür unter anderem aus Frankfurt am Main, wo sich eine basisdemokratische Gewerkschaftsinitiative („unter_bau“ heißt sie) für diesen Bereich gegründet hat.

FA!: Für diejenigen, die sich bisher noch nicht mit der Frage der Organisierung an der Arbeitsstelle beschäftigt haben – an wen richtet ihr euch und was sind eure konkreten Handlungsangebote und Möglichkeiten der Ermächtigung?

Als eine basisdemokratische Gewerkschaft gehen wir davon aus, dass es zum Organizen am Arbeitsplatz nicht wahnsinnig viel braucht, sondern jeder und jede dazu in der Lage ist. Natürlich braucht es Tipps und die richtigen Werkzeuge, die Unterstützung und Beratung aus den Ortsgruppen.

Genau das stellen wir bereit.

Innerhalb der IWW gibt es die sogenannten Organizing Trainings. Dort vermitteln wir unseren Mitgliedern wie sie an ihrem Arbeitsplatz erste Betriebsgruppen aufbauen können. Darüber hinaus wird der Prozess von der Gruppe vor Ort begleitet. Für die überregionale Vernetzung (bspw. mit Fellow Workers, die in der selben Branchen organisieren) gibt es das sogenannte OrganizingKommitee.

Für uns ist der Erfahrungsaustausch, da wir selbst aktiv werden wollen (und müssen), das A und O. Aus diesem Grund schauen wir auch immer, was die Wobblies in Nordamerika oder Großbritannien gerade machen und wie sich ihre Kämpfe entwickeln.


FA!: Was ist, wenn ich arbeitslos bin, vielleicht auch aus einer irgendgearteten politischen Überzeugung? Welche sozialen Milieus finden sich in der IWW wieder?

Ob arbeitslos, Studi, prekär beschäftigt, VollzeitarbeiterIn oder SeniorIn. Nach unserer Auffassung sind wir alle Teil der lohnabhängigen Klasse und haben dementsprechend unter dem Lohnsystem mit seiner Ausbeutung und Unterdrückung zu leiden. Und genau darum brauchen alle Lohnabhängigen auch eine Gewerkschaft bzw. brauchen wir sie in der IWW. Und tatsächlich kommen unsere Mitglieder aus ganz unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen, unterschiedlichen Branchen und sozialen Milieus. Da kann schon mal eine Soziologie-Studentin neben dem Hüttenarbeiter, dem Rentner oder der Sozialarbeiterin auf einem Treffen sitzen. Das ist auch der Gedanke hinter unserem Namen: Industrial Workers of the World bedeutet gewissermaßen „eine Gewerkschaft für die Arbeiter und ArbeiterInnen aller Industrien, weltweit“ (wobei Industrien als Berufszweige oder Branchen verstanden werden können).

Dem internationalen Anspruch werden wir auch ganz gut gerecht. Wir haben im deutschsprachigen Raum einige Wobblies, die nach Deutschland oder Österreich emigriert sind und sich bereits vorher oder vor Ort der IWW angeschlossen haben.

Ähnlich divers sieht es auch mit den politischen Überzeugungen aus. Die Leute kommen aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen. Bedingung ist allerdings, dass sich unsere Mitglieder und die Ortsgruppen zur IWW-Präambel bekennen, also bspw. ebenfalls den Kapitalismus überwinden wollen. Und natürlich gibt es auch für Diskriminierungsformen bei uns keinen Platz. Darüber hinaus jedoch sind die Leute unterschiedlich aufgestellt, was manchmal durchaus zu Konflikten führen kann.
FA!: Was haltet ihr von einer Strategie, wie sie die Solidarity Networks bspw. in den USA, aber auch in Griechenland oder Spanien verfolgen – diese scheint ja eher von einer Art auf alle Bereiche der Gesellschaft ausgedehnten Kampffelds auszugehen?

Wir wollen uns durchaus nicht beschränken auf das Thema Lohnarbeit, weil wir wissen, dass alle gesellschaftlichen Bereiche (wie eben bspw. Wohnen) vom Kapitalismus bestimmt und untereinander eng verknüpft sind. Darum begrüßen wir es, wenn sich die Idee der Selbstorganisierung auch auf andere Kämpfe überträgt oder sogar Kämpfe miteinander verbunden werden.

 

FA!: Was bedeutet es für euch, in der BRD des Jahres 2016 eine revolutionäre Strategie zu verfolgen, auch gerade mit Blick auf die transnationale Ausrichtung der IWW?

Wir merken natürlich, dass wir es als klassenkämpferische Gewerkschaft noch nicht leicht haben. Aber wir merken auch, dass sich Arbeiter und ArbeiterInnen von den etablierten großen Gewerkschaften ungenügend repräsentiert fühlen. Und durch die Erfahrungen der Wobblies in anderen Ländern, wissen wir, dass sich relativ schnell sehr viel entwickeln kann. Plötzlich bspw. werden im Niedriglohnsektor erfolgreich Kampagnen geführt – ein Bereich der bisher bei vielen reformistischen GewerkschafterInnen als unorganisierbar galt! Und es werden Kämpfe selbst organisiert, ohne FunktionärInnen, mit direkten Aktionen geführt. Das zeigt uns, dass klassenkämpferische Gewerkschaftspolitik heute nicht nur notwendig, sondern natürlich auch möglich ist.

Die transnationale Ausrichtung ist hierbei natürlich wichtig. Eine revolutionäre Perspektive kann nur eine globale sein. Langfristig müssen die LohnarbeiterInnen aller Länder ihre Kämpfe gemeinsam bestreiten.

 

FA!: Welche Erfolge konnte denn die IWW in den letzten Jahren verzeichnen?

In der IWW wurden in den letzten Jahren erfolgreich Arbeitskämpfe und Kampagnen geführt. In den USA bspw. gibt es rund 800 Gefangene, die Wobblies sind und in den Knästen durch die IWW unterstützt werden. Sie hat auch an Erfahrungen, an Internationalität und Mitgliedern gewonnen. In Großbritannien sind es innerhalb weniger Jahre über 1000 IWW-Mitglieder geworden und auch im deutschsprachigen Raum machen wir einige Fortschritte hinsichtlich unserer Betriebsarbeit und Zuwachses. Es gibt inzwischen 10 offizielle Ortsgruppen, es gibt unterschiedlich große Betriebsgruppen und es gibt sogar einen IWW-Betriebsrat. Zu tun bleibt natürlich genügend!


FA!: Ein Schlusswort?

Wir möchten uns ganz herzlich für das Interview bedanken! Obwohl wir als strömungsübergreifende Gewerkschaft den Anspruch haben alle Arbeiterinnen und Arbeiter zu organiseren, wundern wir uns immer wieder darüber, dass das Thema Betriebsarbeit innerhalb der autonomen oder libertären Linken so unattraktiv ist. Dabei gibt es mit der IWW oder auch der FAU (Freie ArbeiterInnen-Union) inzwischen Gruppen, die mit ihren basisdemokratischen und klassenkämpferischen Ansätzen die direkte Möglichkeit zur antikapitalistischen Praxis bereit stellen!
infos: www.wobblies.de/leipzig