Gegen den Stillstand

Die Proteste in Bosnien und Herzegowina

Im Februar diesen Jahres gingen in Bosnien und Herzegowina mehrere Tausend Menschen auf die Straßen. Gegen die korrupte politische Elite des Landes, gegen Privatisierungen und gegen Massenarbeitslosigkeit. Ausgang nahmen die Demonstrationen in Tuzla. Anlass waren dort die Privatisierungen von fünf Fabriken, wogegen Arbeiter_innen demonstrierten, die seit mehr als einem Jahr keinen Lohn erhalten haben und nicht mehr krankenversichert sind. Später weiteten sich die Proteste auf Sarajevo, Mostar, Bihac, Zenica und weitere Städte aus.

Schon im Juni 2013 war es zu größeren Protesten gekommen. Anlass damals war die lahmgelegte Bürokratie, die keine Personenregisternummern für Neugeborene ausstellen konnte, weil sich die Politiker aus Föderation und serbischer Republik in Bosnien und Herzegowina nicht einigen konnten. Konsequenz: keine Geburtsurkunden, keine Pässe. Ein Baby benötigte eine dringende Knochenmarktransplantation, welche nur im Ausland möglich ist, konnte aber nicht ausreisen. Die Proteste wurden daher mancherorts als „Bebolucija“ (Baby-Revolution) bezeichnet.

Die Proteste diesen Februar haben jedoch eine andere Qualität erreicht. Mehr Menschen, mehr Aggressivität. Regierungsgebäude wurden gestürmt und in Brand gesetzt, Demonstrant_innen und Polizist_innen verletzt. Vier Kantonsregierungen sind in Folge aufgelöst worden: in Tuzla, Una-Sana, Sarajevo und Zenica-Doboj.

Die Ursachen für den Ärger in der Bevölkerung liegen in einem Netz zwischen politischen und wirtschaftlichen Stillstand, getragen von geschichtspolitischen Auseinandersetzungen und ethno-nationalistischer Propaganda in der Politik.

Das politische System in Bosnien und Herzegowina ist zementiert auf dem Gerüst des „Daytoner Friedensabkommens“. Dieses beendete zwar 1995 die kriegerischen Auseinandersetzungen, übertrug jedoch die Konflikte auf die politische Ebene. Vorwiegend als ethnischer Konflikt verstanden, handelten die Diplomat_innen ein ethnisch fundamentiertes politisches System aus. Bosniaken, bosnische Serben und Kroaten sollten sich die Macht teilen. Andere Gruppen in Bosnien und Herzegowina, etwa Roma oder Juden, fanden in dieser Sichtweise keinen Platz. Das Land wurde in zwei Entitäten geteilt, die bosnisch-kroatische Föderation und die Republika Srpska, sowie den entitätsfreien Bezirk Brcko.

Dieser politische Stillstand paart sich mit einer anhaltenden wirtschaftlichen Misere. Vor allem die Jugendarbeitslosigkeit ist immens hoch, liegt bei über 63%(1). Korruption in Politik, Verwaltung und Gerichtswesen ist weit verbreitet.(2) Die Anti-Korruptionsbehörde hat erst letztes Jahr ihre Aktivitäten aufgenommen und bisher keine erkennbaren Ergebnisse geliefert. Die zahllosen Privatisierungen von ehemaligen Staatsbetrieben nach Ende des Krieges verliefen oftmals völlig intransparent. Das Auswärtige Amt betrachtet die Privatisierungen als abgeschlossen und fügt auf seiner Webseite in einem Nebensatz hinzu: „rund 90 Prozent des Eigenkapitals liegen in ausländischer Hand“.(3)

Das Vertrauen in die „internationale Gemeinschaft“ ist ebenfalls gering. Die NGOs, die nach dem Krieg wie Pilze aus dem Boden schossen, werden oftmals nur noch als eigener Wirtschaftszweig ohne Bedeutung für die Bevölkerung gesehen. Die internationalen Organisationen als Garant des Status Quo. Der Beitritt in die Europäische Union steht in weiter Ferne, und auch hier wächst die Skepsis, ob sich mit diesem denn auch wirklich positive Veränderungen verbinden.

Die Proteste gehen in verschiedensten Städten weiter, auch wenn nur noch mit wenigen Menschen, regelmäßig in Sarajevo, aber auch punktuell, wenn Arbeiter_innen ihre lang ausstehenden Löhne einfordern. Die täglichen Abendnachrichten sind voll davon. Am 9. Mai trafen sich bis zu 500 Menschen in Sarajevo, die zuvor in Protestmärschen aus der ganzen Föderation nach Sarajevo gelaufen waren. In mehreren Städten wurden Plena eingerichtet, auf denen aktive Bürger_innen über das weitere Vorgehen beraten und konkrete Forderungen formuliert haben. Einige dieser Forderungen wurden bereits auf lokaler Ebene umgesetzt, wie beispielsweise die Abschaffung von Jahresgehältern an schon abgewählte Politiker. Diese Plena fanden in riesigen Sälen statt und brachten mancherorts hunderte Menschen an einem Abend zusammen. Gegen den Stillstand und für neue Perspektiven.

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(1) UNDP, Human Development Report 2013

(2) Transparency International; www.transparency.org/country#BIH. Bosnien und Herzegowina befinden sich auf dem Corruption Perception Index auf Platz 72, zusammen mit Serbien, hinter Kroatien und Montenegro, aber vor Kosovo und Albanien, und auch vor Ländern wie Griechenland oder Bulgarien.

(3) www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/BosnienUndHerzegowina/Wirtschaft_node.html

Antifa in der Krise? Antifa in der Krise!

Seit nunmehr etwa 30 Jahren sind antifaschistische Gruppierungen damit beschäftigt, in der Bundesrepublik einen Kampf gegen den Faschismus zu organisieren – mit mäßigem Erfolg. Immer wieder ist es in den vergangenen Jahrzehnten, trotz vehementer antifaschistischer Agitation, zu Übergriffen auf Asylbewerberheime und Migrant_innen gekommen. Die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrundes bildet da nur den absoluten Höhepunkt. Fremdenfeindliche Diskussionen finden in vielen demokratischen Leitmedien aus Rundfunk und Fernsehen seit Jahrzehnten regelmäßig statt. So diente der Spiegel im September 1991, ein knappes Jahr vor den Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen, als Brandbeschleuniger für einen von Christ- und Sozialdemokraten seit den 1980er Jahren intensiv betriebenen, ausländer- und insbesondere asylbewerberfeindlichen Diskurs, als das Magazin titelte: „Flüchtlinge, Aussiedler, Asylanten – Ansturm der Armen“. (1) Auch als konsequente Argumentationshilfe für antimuslimische Rassist_innen traten demokratische Leitmedien in den letzten Jahren hervor.

Im Jahre 2004 berichtete der Spiegel über „Allahs Rechtlose Töchter“, im dazugehörigen Leitartikel durfte Alice Schwarzer die Öffentlichkeit über den schwierigen Umgang der Deutschen mit Musliminnen und den wachsenden Einfluss des Islam“ aufklären, im Jahre 2006 dann vom heiligen Hass“ der Muslime gegen die aufgeklärte Welt, und 2007 über die stille Islamisierung“ Deutschlands berichten. (2) Dass Thilo Sarrazin wenig später mit unverhohlenem Rassismus publizistische Erfolge erzielen konnte, verkommt da schon fast zur Randnotiz. Um den Antifaschismus in Deutschland scheint es nicht gut bestellt zu sein. Die Interventionistische Linke (IL) hatte deshalb im April in Berlin zu einem Kongress unter dem Motto „Antifa in der Krise?“ geladen.

Für die Organisator_innen stellte sich die Problematik dabei wie folgt dar. Es sei ein Erstarken rechter Bewegungen, Parteien und Bündnisse in Deutschland und im europäischen Ausland zu beobachten: „Der antisemitische und extrem rechte Front National um Marine Le Pen und die niederländischen Rechtspopulist_innen um Geert Wilders rücken zusammen und schmieden ein Bündnis gegen Europa. […] Auch in Deutschland wird auf dieser Klaviatur gespielt. Die NPD versucht, aus ihrer desolaten Situation durch die von ihr vielfach gesteuerten Proteste gegen Flüchtlingsunterkünfte herauszukommen. Mit der Alternative für Deutschland ist ein Parteiprojekt entstanden, in dem sich marktradikale Eurogegner_innen bis hin zu extrem rechten Kräften sammeln.“ (3) Die „neue Herausforderung“ bestünde nun darin, zu ermitteln, wie sich dieses Äußerliche in der Agitation der Rechten genau verändert haben könnte, und wie man als Antifa auf diese Veränderung im Äußerlichen des politischen Gegners am besten zu reagieren habe: „Nicht nur in Deutschland bringen sich neofaschistische und rechtspopulistische Parteien in Stellungen. Überall in Europa nutzen sie die aktuelle Situation zur Neugruppierung ihrer Kräfte. […] Wie sind die Veränderungen im Lager der extremen Rechten zu bewerten? Welche Rolle spielen die sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Zeichen der Krise? Welche Schwerpunkte sind in der eigenen Arbeit zu setzen? Wie können geeignete Gegenstrategien aussehen?“ Diese Debatten seien notwendig, denn die „antifaschistische Bewegung tut sich mit der Analyse dieses europäischen Rechtsruck schwer“. (3)

Dieses zurecht festgestellte Unvermögen einiger Antifas, den Faschismus zu erklären, stellt jedoch keine Schicksalsfügung dar, sondern lediglich das Resultat einer gewollten Politik von Antifas wie der IL selbst, die sich mit Äußerlichkeitsbeschreibungen des politischen Gegners aufhalten, und sich bereitwillig zu Parteigängern der bestehenden Verhältnisse machen. Diesbezüglich ist die IL ein besonders drastisches Beispiel. Dem deutschen Parlamentarismus stellt sie, in den Worten Franz Josef Strauß’, ein befriedigendes Zeugnis aus: „Noch hat sich in Deutschland bundesweit keine Partei dauerhaft und erfolgreich rechts von CDU/CSU etablieren können. Doch immer wieder kommt es zu Vorstößen“. Ihr Urteil, die Union im Parlament sei immer noch besser als die NPD, lässt sich die IL auch nicht dadurch beschädigen, dass sie anschließend selbst feststellt, beim Verbreiten rassistischer Parolen sei „immer auch die bayrische CSU“ mit dabei. (3)

Die IL will den Faschismus bekämpfen, aber mit dem Staat als Waffenbruder. Ihre Integration in die Klassengesellschaft wertet sie daher auch als großen Erfolg. So ist IL-Mitglied und Mitorganisator des Antifa-Kongresses Henning Obens sehr stolz darauf, wenn auch einmal „jemand von uns“ in der Tagesschau sprechen darf. (4) Für Aktivist_innen mit einem Selbstverständnis wie Obens muss die Überraschung da natürlich groß sein, wenn derselbe Staat, den sie verzweifelt um Anerkennung für ihre Agitation ersuchen, ihnen dennoch „keinen Fuß breit traut“, sie beständig observiert, und ihnen Polizei und bundesrepublikanische Staatssicherheit ins Szenelokal oder in die Wohnung schickt, sobald einzelne Mitglieder auch nur im Verdacht stehen, die staatlich genehmigte antifaschistische Marschroute in Richtung Antikapitalismus verlassen zu haben. Doch für Obens ist der Verzicht auf Antikapitalismus als Grundlage antifaschistischer Agitation ohnehin kein Problem: „Auf diese politischen Konstellationen müssen wir auf der Höhe der Zeit reagieren. Das auf die Parole »Hinter dem Faschismus steckt das Kapital, der Kampf ist international« herunterzubrechen, […] geht dann nicht mehr. Daran ist zwar ganz viel Wahres, doch es spiegelt eben längst nicht alles wider.“ (4)

Obens Selbstverständnis und Arbeitsweise sind unter Antifaschist_innen keineswegs eine Rarität. So erschöpft sich dann auch die Agitation vieler Antifas in Blockade und Störung von Naziaufmärschen, Konzerten und anderen Verstaltungen, auf die minutiöse Dokumentation rechter Agitation und Gewalt, auf das Katalogisieren rechter Kleidungs- und Sprechcodes, und auf das Outen von Faschist_innen mit Namen und Anschrift. Dieselben Antifas stellen nun verdutzt fest, dass Faschist_innen im Zuge der ökonomischen Krise immer größere Teile der frustrierten, weil materiell zunehmend prekarisierten Arbeiterklasse ideell an sich binden können. Nichts fällt den Faschist_innen mittlerweile leichter, als all die staatlich produzierten Bildungsverlierer_innen, Niedriglohnempfänger_innen und Umsonstarbeiter_innen darauf hinzuweisen, dass Antifaschist_innen mit genau diesem Staat gemeinsame Sache machen wollen. Hier beweisen Faschist_innen politischen Instinkt, indem sie die materielle Not vieler Menschen als gegeben hinnehmen, und ursächlich in Zusammenhang zu bringen versuchen mit einem vom derzeitigen Staat und seinen mutmaßlichen Handlangern auf der linken Seite organisierten, vermeintlich „gegen das deutsche Volk gerichteten Kapitalismus“. Diesem „Antikapitalismus von rechts“ stehen viele Antifaschist_innen ratlos gegenüber. Sie können der Gesellschaft nicht nur nicht erklären, was an ihm so furchtbar falsch ist, sondern auch dem materiell prekarisierten Teil der Gesellschaft nicht erklären, was am demokratisch regierten Kapitalismus so großartig sein soll.

Einige dieser Antifas haben deshalb – konsequenterweise – auch ihre antifaschistische Stoßrichtung komplett umgeworfen, und den Faschismus kurzerhand zu einer Art Massenprojekt der Arbeiterklasse und des Islam umdeklariert. Dazu stellen die Journalist_innen Susann Witt-Stahl und Michael Sommer fest: „Und wenn Phase 2-Antifas heute ihren Haß auf den »Prolet-Arier« herausbrüllen, dann gilt die Aggression meist weniger den »Ariern«, den Neonazis, sondern dem Proleten: »Gerade antikapitalistischer Widerstand manifestiert sich leicht als antisemitischer, auch in der deutschen Arbeiterbewegung«, lautete schon vor zehn Jahren ein Argument in einem Streit zwischen Hannoveraner Antifas. […] Anetta Kahane, Vorstandsvorsitzende der »konsequent gegen Rechtsextremismus« engagierten Amadeu Antonio Stiftung, hat Antiimperialisten und Abgeordneten der Linkspartei, die sich an der »Free Gaza!«-Flotte beteiligt haben, den Kampf angesagt. […]Daher streitet Kahane lieber für das westliche Sanktionsregime gegen den Iran – beispielsweise auf der Kundgebung »Freiheit statt Islamische Republik« zusammen mit der neokonservativen Kriegslobby (Stop the Bomb und das Iranian Freedom Institute).“ (5)

Dass die faschistische Ideologie stete Kultivierung erfährt, durch die gegenwärtige, staatlich gewollte und gesetzlich festgeschriebene kapitalistische Vorsortierung von hier lebenden Menschen in Deutsche und „Asylanten“, nutzlose und nützliche Ausländer, Leistungsträger_innen und Sozialschmarotzer_innen, ist diesen Antifas dann natürlich unbegreiflich. Ebensowenig im Stande zu begreifen sind sie, dass auch Faschist_innen die heutigen Produktionsverhältnisse befürworten, und gar nichts auszusetzen haben an Privateigentum an Produktionsmitteln, Konkurrenz, Elitenbildung und Ausbeutung im Wege der Lohnarbeit, solange dies nur alles im Zeichen des „völkischen Gemeinwohls“ geschieht. Sowohl Faschist_innen als auch die große Mehrheit der Demokrat_innen innerhalb der Parlamente stimmen grundsätzlich darin überein, dass aufgrund gedachter Merkmale (Staatsbürgerschaft, Leistungsfähigkeit) unterschiedliche rechtliche und materielle Lebenspositionen gerechtfertigt sind. (6)

Die Organisator_innen des Kongresses haben mithin Recht: Der Antifaschismus in Deutschland steckt tatsächlich in einer Krise. Doch liegt diese Krise nicht etwa in Umgruppierungen, Machtverschiebungen oder Uniformwechseln innerhalb des rechten Parteienspektrums begründet, sondern einzig in der beständigen Weigerung vieler Antifaschist_innen, den Antikapitalismus wieder zur Grundlage ihrer Agitation zu machen. Wer, wie die IL, dem Staat bejahend gegenüber steht, hat letzten Endes gar keine andere Wahl, als sich in bloßer Beschreibung des politischen Gegners aus ästhetischer, ideeller und psychologischer Sicht zu ergehen. Denn eine Erklärung des Faschismus darf niemals über die Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnissen erfolgen. Eine Erklärung des Faschismus aber, die sich einzig aus seiner Beschreibung ableitet, ist „nicht nur keine kritische Theorie des Faschismus, es ist überhaupt kaum Theorie“. (7)

carlos

(1) Spiegel, 37/1991

(2) Spiegel, jeweils: 47/2004, 6/2006, 13/2007

(3) kriseundrassismus.noblogs.org/warumdieserkongress/

(4) Martin Höfig, „Antifa auf der Höhe der Zeit?“, www.neues-deutschland.de/artikel/929872.antifa-auf-der-hoehe-der-zeit.html

(5) Suanne Witt-Stahl, Michael Sommer: „Position. Die Einsicht, dass Antifaschismus und Antikapitalismus zusammengehören, droht verlorenzugehen.“, www.antifa.de/cms/content/view/1991/32/

(6) vgl. Freerk Huisken, „Der demokratische Schoß ist fruchtbar“, S.66 ff., VSA-Verlag, 2012

(7) David Renton, zitiert nach: Suanne Witt-Stahl, Michael Sommer: „Position. Die Einsicht, dass Antifaschismus und Antikapitalismus zusammengehören, droht verlorenzugehen.“, www.antifa.de/cms/content/view/1991/32/

Wie gefährlich ist Connewitz?

Die Debatte um Repression und Überwachung ist neu entfacht.

Der Leipziger Ortsteil Connewitz ist seit Februar diesen Jahres wieder in aller Munde. Nachdem der ritualisierte Rauch um das ebenfalls ritualisierte Sylvester-Come-in am Connewitzer Kreuz verflogen war, wartete die Polizei gemeinsam mit der Stadt Leipzig mit einer ganz speziellen Idee auf: einem eigenen Polizeiposten für Connewitz.

Dieser hat Anfang Februar die Räume des ehemaligen Bürger*innenamtes in der Wiedebachpassage bezogen. Dieses Amt wiederum ist mehrfach Ziel von Angriffen gewesen und blieb seit Sommer 2013 aufgrund der wiederholten Zerstörung der Schaufensterscheiben geschlossen.

Der Polizeiposten fungiert – wie auch die rund um die Uhr davor stationierten Polizeiwagen – laut Stadt und Polizei als Schutz, das Bürger*innenamt selbst ist ins Innere der Passage gezogen. Man werde keine rechtsfreien Räume in der Stadt zulassen, so der Oberbürgermeister zur Eröffnung des Postens. Eine Wortkonstruktion, die übrigens auch die rechtsaußen-Parteien NPD und AfD für den Stadtteil verwenden.

Die aufkommende Kritik am Polizeiposten, der von so manchem/r im Viertel als Machtdemonstration wahrgenommen wird, wurde schnell zum Protest. Nach einer ersten satirischen Protest-Kundgebung vor dem Posten (1) verlagerte sich die Diskussion allerdings schnell weg vom eigentlichen Sujet hin zur Frage, was Satire darf. Die eigens gegründete Initiative „Für das Politische!“ versucht(e) die Diskussionshoheit zurückzugewinnen. In dem Aufruf „Let’s talk about Connewitz“ (2) wird versucht die Eröffnung der Polizeistation in einen größeren Kontext einzuordnen: eine massive Polizeipräsenz im Alltag, verdachtsunabhängige Kontrollen, die polizeiliche Dauer-Videoüberwachung am Connewitzer Kreuz (mit kurzer Unterbrechung seit 1999) und die Stigmatisierung des Viertels als Hort „linksextremistischer“ Gewalt.

Von den staatlichen Organen wird Connewitz als „gefährlicher Ort“ kategorisiert – ein juristisches Konstrukt, das es der Polizei z.B. erlaubt, Personen, die sich an jenen Orten aufhalten, ohne konkreten Tatverdacht festzuhalten und sie polizeilichen Maßnahmen, i.d.R. Identitätsfeststellung und Durchsuchung – zu unterziehen. Hinzu kommen die Möglichkeiten des Eingriffes in die informationelle Selbstbestimmung durch die Videoüberwachung öffentlicher Räume. „Gefährliche Orte“ heißen im sächsischen Polizeijargon „Kontrollbereiche“. Sie sind im Sächsischen Polizeigesetz in den §§ 19, 23 und 24 definiert.

Nach dem Sozialwissenschaftler Peter Ullrich werden „die sozialräumlichen Gestaltungsmöglichkeiten auf Grundlage dieser Rechtskonstruktion […] mittlerweile zur Erreichung unterschiedlicher stadtplanerischer, ordnungs- und kriminalpolitischer Ziele eingesetzt: von der Umgestaltung und insbesondere der Aufwertung städtischer Räume über Migrationsmanagement oder die Befriedung politischer Dissidenz bis zur Durchsetzung hegemonialer Ordnungsvorstellungen.“ (3)

Der Polizei wird damit nicht nur das Aushebeln von Grundrechten ermöglicht, es wird zudem der Willkür gegen unliebsame gesellschaftliche Gruppen Tür und Tor geöffnet – alles unter dem Deckmantel der „Prävention“.

In Sachsen sind die Schwellen für solche Maßnahmen vergleichsweise niedrig. Im Nachgang der Antinazi-Aktivitäten in Dresden im Februar 2011 konnte zumindest die massenhafte Funkzellenabfrage unter dem Namen „Handygate“ erfolgreich skandalisiert werden. Wirkliche Konsequenzen folgten daraus, bis auf die Anerkennung der Verfassungswidrigkeit der Maßnahme durch das Landesgericht im April 2013 und der angeordneten Löschung der erhobenen Daten, augenscheinlich nicht.

Nur wenige Wochen nach Eröffnung der Polizeistation erhärtete sich die These, dass es tatsächlich einen sehr speziellen Umgang der Sicherheitsbehörden mit dem Kiez gibt. In einem leer stehenden Haus in der Simildenstraße wurde sehr teure Überwachungstechnik gefunden und deinstalliert. Die Beschaffenheit des Technikequipment – eine Brennstoffzelle, Kamera, ein System zur Bildaufzeichnung und ein LTE-Router zur Steuerung der Technik und zum Übertragen der Aufnahmen – ließ vermuten, dass es sich um eine staatliche Überwachungsmaßnahme handelt. Gegenüber der Presse räumte die Staatsanwaltschaft Dresden mittlerweile ein, dass die Observationsmaßnahme im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens durchgeführt wurde. Weitere Informationen werden bis dato verweigert. Abgeordnete der Oppositionsfraktionen haben bereits Anfragen in den parlamentarischen Geschäftsgang gebracht. (4)

Währenddessen will die Initiative „Für das Politische!“ den Protest gegen Überwachungsmaßnahmen und den kriminalisierenden Umgang mit der im Kiez angesiedelten politischen und alternativen Szene vorantreiben. Dazu gehört auch die Frage nach kollektiven Formen des Widerstandes gegen Gentrifizierungsprozesse. Dabei geht die Initiative darüber hinaus, politische Erklärungen für eingeschlagene Scheiben zu liefern, deren Motivation und Anlass eher nebulös erscheinen. Die Herausarbeitung gemeinsamer inhaltlicher Positionen der Connewitzer_innen, die Planung politischer Stadtteilrundgänge und die Bildung verschiedener Arbeitsgruppen weisen eine hoffnungsvolle Dynamik auf.

Rote Hilfe Leipzig

Anmerkungen:

(1) Die Initiative „No Police District“ (NPD) Connewitz hatte am Abend des 22.2.2014 zum Protest gegen den neuen Polizeiposten aufgerufen. Fast 200 Menschen kamen, mit Schildern („Dafür sind wir 1998 nicht auf die Straße gegangen“, „Geht doch zurück in die Südvorstadt“ etc. pp.), Mistgabeln und Fackeln aus Pappe. Mit diesem Auflauf sollten die rassistischen Mobilisierungen gegen Asylunterkünfte durch Bürger*innenmobs auf die Schippe genommen werden.

(2) Der Aufruf „Let´s talk about Connewitz“ wurde mittlerweile von 24 Initiativen, Locations, Vereinen aus dem Kiez unterschrieben, fuerdaspolitische.noblogs.org/lets-talk-about-connewitz/

(3) Peter Ullrich & Marco Tullney: Die Konstruktion ‚gefährlicher Orte‘. Eine Problematisierung mit Beispielen aus Berlin und Leipzig, 2013, www.sozialraum.de/die-konstruktion-gefaehrlicher-orte.php

(4) siehe Anfrage an den Oberbürgermeister, März 2013, jule.linxxnet.de/index.php/2013/03/gentrification-kein-ordnungspolitisches-problem/

Bereits Anfang des Jahres und aktuell im Zusammenhang mit der Eröffnung des Polizeipostens in der Wiedebachpassage gibt es in Connewitz, aber auch in der Südvorstadt, scheinbar gehäuft Personenkontrollen und Durchsuchungen durch die Polizei. Es ist zu vermuten, dass die Polizei an diesen Orten Kontrollbereiche eingerichtet hat.
Kontrollbereiche sind nach Sächsischem Polizeigesetz das, was landläufig oder in anderen Bundesländern auch als „gefährlicher Ort“, „Kriminalitätsbrennpunkt“ oder auch „Gefahrengebiet“ bezeichnet wird. Hier kann die Polizei Menschen ohne konkreten Tatverdacht festhalten und sie polizeilichen Maßnahmen – Identitätsfeststellung und Durchsuchung – unterziehen. Außerdem ist in diesen „Kontrollgebieten“ der Einsatz polizeilicher Dauer-Videoüberwachung, sprich ein dauerhafter Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, möglich.

Kontrollbereiche müssen durch das Sächsische Innenministerium oder mit seiner Zustimmung eingerichtet werden. Konkrete Anlässe und Motive bleiben in Bezug auf Connewitz nebulös. So sticht Connewitz nicht durch eine überdurchschnittliche Kriminalitätsrate heraus. (siehe: Polizei Sachsen: Kriminalität in den Großstädten nach Stadtteilen, 2012, Download als pdf). Denkbar ist, dass die Behörden pauschal das Begehen von „Straftaten gegen die öffentliche Ordnung“/ Staatsschutzdelikte unterstellen, was genannte Maßnahmen per Gesetz legitimiert. So oder so bleibt das polizeiliche Vorgehen intransparent, willkürlich und politisch motiviert.

TIPP: Der Ermittlungsausschuss (EA) rät, sich in konkreten Kontrollsituationen wie folgt zu verhalten: „Bleibt ruhig und fragt nach der Rechtsgrundlage bzw. welche Gefahr von euch ausgehen soll. Die Beamt*innen müssen euch das eigentlich sagen. Besteht außerdem darauf, dass die Beamt*innen euch ihren Namen sagen. Auch das müssen sie. Legt Widerspruch gegen die Kontrolle ein. Unterschreibt nichts!
Schreibt ein Gedächtnisprotokoll und meldet euch nach der Kontrolle bei uns in der Sprechstunde, um ein Vorgehen gegen die Kontrolle zu besprechen.“

Verdachtsunabhängige Kontrollen sind unverhältnismäßig und ein Eingriff in Grundrechte. Nehmt das nicht einfach so hin, hakt nach und meldet euch!

Sprechzeiten: Jeden 1. Freitag im Monat 17.30 – 18.30 Uhr (Bornaische Str. 3d)

Unsere PGP-Schlüssel findet ihr auf den bekannten Schlüsselservern wie pgp.mit.edu

antirepression.noblogs.org/

leipzig@rote-hilfe.de

ea-leipzig@gmx.net

Workers Memorial Day

Ein Bericht der ASJ

Anlässlich des Workers Memorial Day, der jährlich weltweit am 28. April begangen wird, hat die FAU Leipzig (Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union Leipzig) zusammen mit der FAU Halle, der ASJ Leipzig (Anarchosyndikalistische Jugend Leipzig) und Mitgliedern der IWW (Industrial Workers of the World) eine Mahnwache auf dem Richard-Wagner-Platz veranstaltet.

Insgesamt versammelten sich ca. 40 AnarchosyndikalistInnen und Mitglieder von Basisgewerkschaften, um der Toten und Verletzten durch Lohnarbeit in Deutschland und weltweit zu gedenken. Im Laufe der Veranstaltung wurde die Lage von ArbeiterInnen in Bangladesh aber auch in Deutschland thematisiert. So erinnerte die ASJ an die Katastrophe in Bangladesh, wo im April 2013 mehr als 1000 TextilarbeiterInnen beim Einsturz einer Fabrik ums Leben gekommen waren. Zwei Mitglieder der IWW berichteten über ihre z.T. lebensgefährliche Arbeitssituation, zum Einen in einer Chemiefabrik in Norddeutschland und als FahrerIn für eine große Pizzakette. Die FAU Leipzig betonte, dass die Ursachen für Tote und Verletzte durch Lohnarbeit klar im Kapitalismus zu finden sind und folgerichtig bekämpft werden müssen. Die FAU Halle nutzte die Gelegenheit, den aktuell stattfindenden Angriff auf das Streikrecht durch Bundesregierung, Arbeitgeberverbände und Teile des DGB-Vorstandes in Form der so genannten „Tarifeinheit“ anzuprangern. Die Lösung für diese Zustände kann nur in einer revolutionären Basisgewerkschaft liegen.

Außerdem machte ein Straßentheater die rücksichtslose Ausbeutung von Lohnabhängigen durch ArbeitgeberInnen anschaulich und vielen Interessierten wurden in Gesprächen, mit Flyern oder einer Ausgabe der „Direkten Aktion“ die Ziele und Ideale des Anarchosyndikalismus näher gebracht. Insgesamt hat die Veranstaltung gezeigt, dass der Anarchosyndikalismus und die Idee, dass nur wir Betroffenen selbst für eine Verbesserung unserer Arbeits- und Lebensbedingungen eintreten können, in Leipzig und bundesweit an Aufwind gewinnt.

An revolutionärer Gewerkschaftsarbeit Interessierte sind herzlich zu unseren offenen Versammlungen Donnerstags 18:30 Uhr in der Libelle, Kolonnadenstraße 19 eingeladen.

ASJ Leipzig

Mail: faul@fau.org / Tel: 015120679040

Facebook: FAU Leipzig

Ich möchte nicht Teil dieser „Bewegung“ sein

Das linksinterne Leipziger Montagsdemodilemma

Die Welle von Montagsdemos der sog. „Friedensbewegung 2014“ ist Ende März auch nach Leipzig geschwappt (siehe Artikel zuvor). Es geht, wie anderswo auch, um Frieden. Anlass dafür ist die aktuelle eskalationsfördernde Ukraine-Politik. Während sich hier – ähnlich wie noch immer in Berlin – am offenen Mikro anfangs vor allem Leute profilierten, die rechts- und verschwörungstheoretisch offen argumentierten, haben sich die Redebeiträge inzwischen verbessert.

In Leipzig haben einige linke Politaktivist_innen aktiv Einfluss genommen, um besseren Inhalt zu forcieren. Jetzt hängt montags auch ein großes Transparent mit dem Slogan „Nie wieder Krieg & Faschismus“ hinter dem Mikrobereich. Redebeiträge werden mit dem Orgakreis abgesprochen und jede_r, der_die sonst noch was sagen will, darf nur zwei Minuten das offene Mikro nutzen.

Trotzdem ist die grundsätzliche Beteiligung an den Montagsdemos zwischen Linken hier ein – zurecht – umstrittenes Thema. Erregte Gemüter diskutieren kontrovers bspw. auf diversen Gruppenplena miteinander, wie sich dazu verhalten werden sollte. Während die Einen aktiv mitgestalten, mobilisieren und provozieren die Anderen explizit dagegen – zum Teil mit zweifelhaften Nationallappen. Wiederum Andere versuchen die Demos zu ignorieren oder verfolgen die Entwicklung mit Interesse, ohne jedoch dazugerechnet werden zu wollen. Denn sie lehnen eine Identifikation mit dieser „Bewegung“ ab. Dazu gehöre ich auch.

Sag mir, wo du stehst…

Die Diskussionen drehen sich hauptsächlich darum, ob es sinnvoll und notwendig ist, in die Demos hineinzuwirken und durch fundierte Redebeiträge Rechte und Verschwörungstheoretiker_innen auszubremsen. Oder ob diese „Bewegung“ nicht besser ignoriert oder bekämpft werden sollte, weil sie Leute vor und hinter dem Mikro anzieht, die platte und oft falsche Botschaften bezüglich der Macht- und Weltpolitik verbreiten. Sollte man nicht die Empörung vieler Leute über die aktuelle Politik und Medienberichterstattung als Chance nutzen, um zur sinnvollen Politisierung und Gewinnung von neuen Leuten beizutragen? Oder muss eine Beteiligung abgelehnt werden, weil man nicht wollen kann, dass diese Bewegung in ihrem bundesweiten Charakter an Gewicht gewinnt?

Ich denke, dass Antworten auf diese Fragen nur generiert werden können, wenn man sich über die Ziele der Intervention verständigt. Wenn es darum geht, den Einen oder die Andere auf lokaler Ebene für fundierte Kritik an politischen Verhältnissen zu gewinnen, dann ist das vielleicht durchaus möglich. Schließlich sammeln sich derzeit wöchentlich auf dem Augustusplatz mehrere hundert Menschen, die sich nicht als politisch verstanden wissen wollen, sehr wohl aber von den aktuellen politischen Verhältnissen empört sind. Dabei repräsentieren sie einen bunten Haufen an Weltanschauungungen und Haltungen, die sich in alle erdenklichen Schubladen packen lassen. Einige davon sind sicher auch empfänglich für neue inhaltliche und auch kritische Impulse. Andere sicher nicht.

Oder geht es bei der Beteiligung an den Montagsdemos seitens linker Politaktivist_innen darum, den Rechten und anderen Spinnern einen Profilierungsraum zu nehmen? Dann ist das ein hehres Ziel, das ein hohes Engagement erfordert und letztendlich vielleicht auch in einer großen Enttäuschung endet. Weil sich Demagogen auch mit begrenztem Mikro auf dem Augustusplatz profilieren können. Und weil viele der anwesenden Leute recht oberflächlich so ziemlich alle beklatschen, die am Rednerpult bestimmte Reizwörter verwenden.

Besteht hingegen das Ziel darin, eine breite Friedensbewegung zu fördern, dann halte ich das Engagement im Rahmen einer Leipziger Montagsdemo für grundsätzlich falsch. Weil Leipzig bundesweit als Teil der sog. „Friedensbewegung 2014“ wahrgenommen wird, deren Ruf alle Alarmglocken leuchten lässt. Und weil das, was auf lokaler Ebene vielleicht „besser“ gemacht wird, bundesweit kaum Einfluss hat, vielmehr noch dazu beiträgt, das Treiben in anderen Städten harmloser erscheinen zu lassen.

…und welchen Weg du gehst

In Leipzig bemühen sich einige Linke, die mitmachen, auch um Abgrenzung zu Berlin und anderen Städten der „Friedensbewegung 2014“. Leider nur sehr halbherzig. Denn die immer noch aktuelle „Leipziger Erklärung“ ist schwammig formuliert, verhandelt zu viele (auch kritikwürdige) Themen und ist offen für so ziemlich alle und alles (1). Auch kann ich keine Abgrenzung zu Berlin erkennen, wenn ich vernehme, dass bspw. Ken Jebsen am 12.05. reden durfte. Und grundsätzlich klappt Abgrenzung zur „Friedensbewegung 2014“ auch nicht, wenn man unter der gleichen Fahne läuft bzw. die gleiche medial bekannte und verbrannte Methode „Montagsdemo“ nutzt.

Ich halte es für gefährlich den bundesdeutschen Kontext dieser Montagsdemo-Bewegung auszublenden, nur weil sich lokal vielleicht was bewegen lässt. Denn bisher ist völlig unklar wohin diese Bewegung marschiert. Und der eigene Einfluss erscheint dann groß, wenn man aus der Froschperspektive auf den Augustusplatz schaut. Diversen zweifelhaften Demagogen unwidersprochen das Feld zu hinterlassen, klingt aber auch nicht nach einer guten Lösung.

Im Grunde wünsche auch ich mir eine gute, breite und starke Anti-Kriegsbewegung. Aber nicht um jeden Preis. Ich möchte nicht Teil der bundesweiten „Friedensbewegung 2014“ sein, denn diese hat die Schmerzgrenze meiner Toleranz überschritten. Aber ich würde gern meinen Unmut gegen die hiesige Eskalationspolitik auf die Straße bringen. Und ich bin damit nicht allein. Dafür brauche ich eine Bewegung, die klare und konkrete Ziele verfolgt, Grenzen der Kooperation definiert und Aktionsformen nutzt, die nicht von der aktuellen Bewegung belegt sind. Vielleicht verliert man dadurch den ein oder anderen Menschen, der sich nicht als rechts oder links bezeichnen will. Vielleicht wird es dann keine Massenbewegung mehr. Aber schaden würde sie nicht.

momo

(1) Leipziger Erklärung: http://s14.directupload.net/images/user/140407/dazikgef.pdf

Lokales

Allein unter Menschen

Über die „Friedensbewegung 2014“

Er sei weder links noch rechts, sondern einfach ein Mensch – so erklärte es ein Redner bei der Montagskundgebung, die am 28. April auf dem Leipziger Augustus­platz stattfand. Diese Formel scheint sich innerhalb der „neuen Friedensbewegung“ mittlerweile flächendeckend durchgesetzt zu haben. So mittig zu sein, dass man im Prinzip überhaupt keine besondere Position mehr vertritt, ist freilich ein hoch gesteckter Anspruch. Solange man sich nur auf die Forderung nach Frieden beschränkt, mag es noch angehen – darauf könnten sich vermutlich auch Merkel, Putin und Obama einigen. Sobald mensch von diesem Minimum abgeht, wird es schwierig: Letztlich klappt es einfach nicht, sich rein „als Mensch“ überhaupt keine Gedanken zu machen. Auch der Redner auf dem Leipziger Augustusplatz konnte nicht ganz verbergen, was für Ideen er so hat und wo er diese herhat – spätestens als er gegen „Politikerdarsteller“ und die angeblich stattfindende „Umverteilung von Fleißig nach Reich“ zu wettern begann.

Die Formulierungen stammen aus dem von Andreas Popp und Rico Albrecht verfassten Manifest „Plan B – Revolution des Systems für eine tatsächliche Neuordnung“ (1), welches sich offenbar großer Beliebtheit in der neuen „Bewegung“ erfreut. Dabei machen Popp und Albrecht kein großes Geheimnis daraus, in welcher Traditionslinie sie sich bewegen: Sie beziehen sich in ihrem „Plan B“ unverhohlen positiv auf den nationalsozialistischen Ökonomen Gottfried Feder und dessen „Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft“ von 1919. So klagen die beiden Autoren, dieser „große Wirtschaftstheoretiker“ würde leider „noch immer mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht, obwohl er ab 1933 keine Rolle mehr spielte und seine Zinskritik von da an von Kapitalisten, Kommunisten und Nationalsozialisten gleichzeitig bekämpft wurde.“

Popp und Albrecht scheinen ihr Publikum für ziemlich dumm zu halten. Eine fünfminütige Internetrecherche reicht, um herauszufinden, dass Gottfried Feder selbst ein überzeugter Nazi und Antisemit war, wovon etwa seine 1927 verfasste Schrift über „Das Programm der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundlagen“ (2) beredtes Zeugnis ablegt. Und wer wissen will, mit welch brachialen Mitteln Feder von den Nazis „bekämpft“ wurde, muss nur mal bei Wikipedia nachlesen: „Nach der ‚Machtergreifung’ Hitlers 1933 wandte sich die Wirtschaftspolitik der NSDAP von der antikapitalistischen, jedoch nicht von der antisemitischen Haltung Feders ab. Er wurde entgegen seinen Hoffnungen im Juni 1933 nur zum Staatssekretär im Reichsministerium für Wirtschaft ernannt.“ (3)

Auch Lars Mährholz, der als Organisator der Proteste in Berlin und überregional eine wichtige Rolle spielt, vertritt eine ähnliche „Zinskritik“, die freilich noch ein wenig platter daherkommt als bei Popp und Albrecht. Mährholz betont gerne, dass er erst in den letzten Monaten begonnen habe, sich mit Politik auseinanderzusetzen. Immerhin hat er sich schon ein gut strukturiertes Weltbild zugelegt, das auf einer einzigen Grundannahme beruht: Die US-amerikanische Notenbank Fed ist die Wurzel allen Übels. So meinte Mährholz in einem Interview im Leipzig Fernsehen: „Die Privatbank Federal Reserve ist sozusagen das Krebsgeschwür des Planeten.“ Man ahnt schon, wo der Mann sich in den letzten Monaten informiert hat… Fast dieselbe Metapher findet sich jedenfalls auch bei Popp und Albrecht, die schreiben: „Das System selbst verhält sich wie eine Wucherung und wuchert unersättlich. Aber auch innerhalb des Systems wird gewuchert, und zwar in Form von Zinswucher.“ Ein Schelm, wer da an Antisemitismus denkt, an das Klischee vom „wuchernden Geldjuden“ oder gar an eine mögliche „Zersetzung“ oder „Entartung“ des gesunden Volkskörpers!

Mährholz hat ja auch vernünftige Gründe für seine Abneigung gegen die Fed – die ist nämlich verantwortlich für alle Kriege in der Welt: „Das ist sozusagen der Hauptgrund, wieso Amerika Kriege führt: hauptsächlich, um ihre eigene Währung zu stabilisieren. Und das nicht mal freiwillig, sondern auf Druck der Federal Reserve.“ (4)

Fragt sich nur, wie da die anderen Akteure der Ukraine-Krise (Deutschland, die EU, Russland) reinpassen. Dass die auch durchaus eigene, vom Willen der USA oder der Fed unabhängige strategische Interessen haben, scheint für Mährholz glatt undenkbar. Ähnlich undenkbar scheint für ihn zu sein, dass am redlichen Profit der industriellen Großkonzerne irgendwas auszusetzen sein könnte. Er empört sich nur über den „ungerechten“ Profit, den er im Zins verkörpert sieht, etwa wenn er rhetorisch fragt: „Woran kann das liegen, woran kann diese ganze Ungerechtigkeit liegen? Dieses Zinssystem sorgt doch für eine absolut ungerechte Verteilung des Geldes.“

In diesem Kontext darf der notorische Jürgen Elsässer natürlich nicht fehlen – dieser trat, neben Mährholz, Popp und Albrecht, bei der Kundgebung in Berlin am 21. April als Redner auf. Wer ihn noch nicht kennt: Elsässer ist Herausgeber des verschwörungstheoretischen Compact-Magazins, wohnt seit einiger Zeit in Leipzig und ist hier schon öfter unangenehm aufgefallen – so im November 2013 mit einer Konferenz, bei der unter dem Motto „Für die Zukunft der Familie!“ gegen Homosexuelle agitiert wurde (5).

Bei seiner Rede in Berlin erklärte auch er erstmal alle politischen Unterscheidungen zwischen links und rechts für überholt: „Warum? Weil sich die heutige Gesellschaft nicht mehr hauptsächlich in Arbeiter und Kapitalisten spaltet“. Elsässer wünscht Volksgemeinschaft statt Klassenkampf, er möchte „die 99 Prozent der Ehrlichen und Arbeitenden“ gegen „das eine Prozent der internationalen Finanzoligarchie“ in Stellung bringen. Im Anschluss geht es wieder gegen die amerikanische Notenbank, nur entlarvt Elsässer alles noch ein Stückchen gründlicher: Hinter der verschwörerischen Macht der Fed steht nämlich noch eine weitere Verschwörung! Während die Fed die US-Regierung lenkt, wird sie selbst wiederum von anderen Leuten gelenkt, als da wären „Rockefeller, Rothschild, Soros, Chodorkowski, das englische Königshaus, das saudische Königshaus. Warum dürfen wir nicht sagen, dass sich diese Superreichen der Federal Reserve bedienen? Warum sollte das antisemitisch sein? Diese Oligarchen haben keine Religion, […] sie huldigen nur einem einzigen Götzen, nämlich dem kalten Mammon. Reden wir über dieses eine Prozent Finanzoligarchie, reden wir über die Verbrechen dieser Heuschrecken – und lassen wir uns den Mund nicht verbieten!“ (6)

Wenn er kritisiert wird, glaubt Elsässer sofort, man wolle ihm den Mund verbieten. Stellen wir also bloß mal fest, was ziemlich offensichtlich ist: Dieses Gerede klingt wieder verdächtig nach Gottfried Feder bzw. nach der bekannten Unterscheidung von „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital. Während Elsässer den internationalen „Heuschrecken“ alle erdenkbaren Greueltaten zutraut, hat er für die ehrlichen einheimischen Ausbeuter nur wärmste Worte übrig. So erklärt er im aktuellen Compact-Editorial (7), warum er seit neuestem für den Frieden ist: „300.000 Arbeitsplätze hängen am Russland-Geschäft: Für VW ist das Riesenreich die derzeit wichtigste Wachstumsregion, Siemens baut den neuen Hochgeschwindigkeitszug Sapsan, für unseren Maschinenbau ist es der viertwichtigste Exportmarkt. […] Amis und Briten ist diese zahlungskräftige Nachfrage im Osten wurscht, weil sie außer Genmais, Drogen und Waffen ohnedies nichts zu exportieren haben. Aber uns als Industrieland kann es nicht gleichgültig sein, wenn ein weiterer guter Kunde zerschossen wird.“ Jetzt wissen wir immerhin, wie der Mann sein krudes Hochglanzmagazin finanziert: Er wird wahrscheinlich von VW bezahlt.

Und was ist mit den Protestierenden auf den öffentlichen Plätzen? Die militärischen Drohgebärden der EU, Russlands und der USA sind sicherlich nicht gerade beruhigend – und die propagandistische Begleitung, die von den deutschen Medien dazu geliefert wird, ist manchmal geradezu widerlich. Dass Leute deswegen besorgt sind, ist allemal verständlich. Aber die derzeitigen Proteste liefern meist keine adäquate Antwort darauf. Vielerorts werden sie von Verschwörungstheoretiker_innen oder Politsekten wie der Bürgerrechtsbewegung Solidarität (siehe FA! #21) dominiert. Neben „braven Bürger_innen“, die ihr Ideal demokratischer Herrschaft enttäuscht sehen und entsprechend empört reagieren, beteiligen sich auch eindeutige Neonazis und versuchen den Protest in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Aber auch wenn die Mittel, mit denen die Protestierenden versuchen, sich das Weltgeschehen zu erklären, oft mehr als mangelhaft sind, sollte mensch sie nicht mit Typen wie Elsässer allein lassen. Statt sich nur auf das eigene Besserwissen zurückzuziehen, sollte man auch die Fehler der Bewegung ernst nehmen und sich ebenso offensiv wie kritisch damit auseinandersetzen. Immerhin drückt sich dort, in wie verzerrter und verdrehter Form auch immer, ein reales Unbehagen an den Verhältnissen aus. Daran knüpfen die Verschwörungstheorien an. Sie wirken nicht nur beruhigend, indem sie vermeintlich eindeutige Ursachen für alles Übel liefern. Sie helfen auch, die gefühlte Machtlosigkeit erträglich zu machen, sich als Teil eines großen (nationalen) Kollektivs zu fühlen, während der „Feind“ immer außerhalb steht… Ist es nicht beruhigend zu wissen, dass auch die Chefs von VW oder Daimler auf derselben Seite stehen wie man selbst?

Solche Ideologie ist hartnäckig. Solange es nicht einer linken Bewegung gelingt, die Klassengesellschaft ernsthaft in Frage zu stellen, solange es also keine wirksame gesellschaftskritische Praxis gibt, wird es schwierig sein, den Leuten ihre theoretischen Fehler auszureden. Bei einem geschlossenen verschwörungstheoretischen Weltbild dürften solche Therapieversuche ohnehin nicht anschlagen – darin besteht ja die schlichte (und ein wenig stumpfsinnige) Eleganz solcher Erklärungsmuster, dass sich hinter praktisch allen Geschehnissen in der Welt dieselbe große Verschwörung vermuten lässt. Die Frage ist, ob die „Friedensbewegung 2014“ auf ihrem jetzigen Niveau verbleibt oder doch einige Lernprozesse stattfinden. Sich mit Berufung auf das eigene „Menschsein“ vor allen inhaltlichen Auseinandersetzungen zu drücken, reicht in jedem Fall nicht aus.

justus

(1) www.wissensmanufaktur.net/plan-b

(2) Zu finden unter https://archive.org/details/Feder-Gottfried-Das-Programm-der-NSDAP

(3) http://de.wikipedia.org/wiki/Gottfried_Feder

(4) siehe www.youtube.com/watch?v=sUpmgI1ps8g

(5) Bei dieser durften u.a. der Eugenik-Experte Thilo Sarrazin, Frauke Petry von der Alternative für Deutschland sowie die russische Duma-Abgeordnete Elena Misulina gegen eine angeblich drohende „sexuelle Umerziehung“ wettern und sich um das Erbgut der europäischen Völker Sorgen machen – siehe auch FA! #50.

(6) Vgl. juergenelsaesser.wordpress.com/2014/04/22/elsasser-auf-der-montagsdemo-nicht-links-gegen-rechts-sondern-unten-gegen-oben/#more-6424

(7) juergenelsaesser.wordpress.com/2014/03/24/krieg-gegen-putin-wer-stoppt-die-nato/

Lokales

Vom Widerspruch einer Idee

Das Einheits- und Freiheitsdenkmal in Leipzig

Dieses Jahr sollte das Einheits- und Freiheitsdenkmal auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz zum 25. Jubiläum der gewaltlosen Proteste am 9. November 1989 in Leipzig eingeweiht werden – als bunter Platz der 70.000, als bunte Bodengrafik mit den Errungenschaften der Proteste oder als Herbstgarten „Keine Gewalt“ mit Apfelbäumen.(1) Letztendlich wird nichts gebaut. Die Nerven auf der politischen Ebene liegen blank. Das Interesse in der Bevölkerung am Bau eines derartigen Denkmals ist so niedrig wie nie zuvor.
Im November 2007 beschloss der Bundestag, ein sogenanntes „Einheits- und Freiheitsdenkmal“ in Berlin zu errichten.(2)
Linke und Grüne stimmten dagegen. Den Grünen fehlte eine gesellschaftliche Debatte. Sie sahen in dem Beschluss staatlich verordnete Erinnerungskultur. Die Linke kritisierte darüber hinaus die geschichtspolitische Verschmelzung von „friedlicher Revolution“, deutscher Einheit und deutschen Freiheits- und Einheitsbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert. Leipzig war schon damals in der Diskussion, wegen seines symbolischen Gehalts als Schauplatz der Proteste. Der Beschluss wurde im Dezember 2008 konkretisiert.(3)
Leipzig wurde paralleler Gedenkort. Der Anspruch: Ein Erinnerungsort, nicht so bedeutungsschwanger wie die Idee für Berlin, kein klassisches Denkmal auf einem Sockel, aber viel Bürgerbeteiligung. Der Bund, der Freistaat Sachsen und die Stadt Leipzig gaben gemeinsam mehr als 6 Millionen EUR frei, um parallel zum geplanten Einheits- und Freiheitsdenkmal in Berlin einen Erinnerungsort in Leipzig zu errichten.(4)
Davon wurden bis jetzt rund 450.000 EUR ausgegeben.(5) Umfragen, Workshops, Foren und Onlineplattformen wurden organisiert und eingerichtet, um Bürger_innen und Expert_innen aus unterschiedlichen Bereichen in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Ein internationaler Wettbewerb mit Teilnehmendenhonoraren und Preisgeldern wurde ausgeschrieben. Der ersten Wettbewerbsphase mit drei Preisträger_innen folgte eine Weiterentwicklungsphase, die anfangs nicht geplant war. Die vormals Drittplatzierten gingen als Sieger hervor, die vormaligen Sieger als Drittplatzierte. Letztere klagten. Das Oberlandesgericht Dresden gab der Klage im Februar diesen Jahres Recht und erklärte die Weiterentwicklungsphase für ungültig. Daraufhin verlangte die Bürgerinitiative „Einheits- und Freiheitsdenkmal Leipzig“ in einem offenen Brief den Abbruch des Wettbewerbs und einen kompletten Neuanfang.(6) Und auch der Stadtrat zog nach. Das Wettbewerbsverfahren um den Bau des Denkmals zur Erinnerung an die „friedliche Revolution“ 1989 auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz solle beendet, der Neuanfang verschoben werden. Auf 2039 zum Beispiel, den 50. Jahrestag. Die Linke wirbt nun für ein Bürgerbegehren zur Frage als Teil ihres Wahlkampfes zu den anstehenden Kommunalwahlen.
Zeit für Schuldzuweisungen aus allen politischen und gesellschaftlichen Ecken. Schuld sei die Stadt mit ihrer intransparenten und amateurhaften Verfahrensplanung. Schuld sei die frühe Entscheidung für den Wilhelm-Leuschner-Platz als Erinnerungsort, der völlig ungeeignet sei, weil er keine Rolle bei der „friedlichen Revolution“ gespielt hätte. Die Stadt wolle die zugesagten Fördergelder nutzen, um die Brachfläche ohne große Eigeninvestitionen zu gestalten. Eine städtebauliche Entwicklung dieses Ortes sei aber derzeit wichtiger als ein Denkmal. Schuld seien die Agenturen, die mit ihren Entwürfen zur Gestaltung des Erinnerungsortes einem würdevollen Gedenken nicht gerecht würden, oder zumindest ihre Ideen der Bevölkerung nicht genügend erklären konnten. Schuld seien die lokalen Medien, die zur Polarisierung der Bevölkerung und damit negativen Stimmung gegen das Denkmal beigetragen hätten. Schuld sei die Zeit, die einfach noch nicht reif für ein derartiges Denkmal sei.

Die derzeitige Situation als Ausdruck für den Widerspruch zwischen Erinnerungspolitik von oben und der Mitsprachemöglichkeit der Gesellschaft von unten. Wer Verfahren festlegt, bestimmt maßgeblich das Ergebnis. Wer Regeln für Mitsprachemöglichkeiten festsetzt, schließt bestimmte Akteure an bestimmten Stellen ein, andere aber auch aus. Das politische Gedenken an die Macht der Gesellschaft über die Politik, gescheitert an der Gesellschaft. In diesem Sinne kann man der derzeitigen Situation sogar etwas Positives abgewinnen. Vielleicht sollte man ein Denkmal zur Erinnerung an den Prozess errichten.
Vielmehr ist die verfahrene Lage aber Ausdruck der realitätsfernen Idee, es gäbe eine gesamtgesellschaftlich geteilte Interpretation sowie Repräsentation der Ereignisse im November 1989. Eine solche große Erzählung kann von oben vorgegeben werden. Wünschenswert ist das nicht, wie das Einheits- und Freiheitsdenkmal in Berlin eindrücklich zeigt: Eine begehbare Schale auf dem Sockel Kaiser Wilhelms I. auf der Berliner Schlossfreiheit, eingeordnet in eine lineare und zielgerichtete historische Erzählung des Strebens der Deutschen nach Einheit und Freiheit.(7) Die Vielfalt an Interessen- und Deutungsmustern von Geschichte in der Gesellschaft kann ein einzelner Erinnerungsort nicht widerspiegeln. Die Frage ist also nicht, wie alle Stimmen mit der Schaffung eines Erinnerungsortes zufriedengestellt werden können, sondern wie alle Stimmen Gehör finden können.
Der Prozess ist ein Erinnerungskonflikt geworden, in dem unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Interessen und Einstellungen um Deutungen, Anerkennung und Ressourcen streiten. Die Stadt, das Land wie auch der Bund sind Akteure in diesem Konflikt, und können diesen daher nicht regeln, geschweige denn lösen. Derzeitige Vorschläge von Abbruch, Neuanfang und Verschiebung werden diesem Sachverhalt nicht gerecht. Die Konflikte werden weiterbestehen und sollten als solche in ihrem konstruktiven Potential verstanden werden.
Ein Erinnerungsort sollte Ort für Diskussionen sein, nicht Diskussionen zum Abschluss bringen. Und das hat nichts mit Zeit zu tun. Nichts mit den Entwürfen. Nichts mit dem Ort. Aber mit dem Verfahren, welches auf unbrauchbaren Konzepten von gesellschaftlicher Mitsprache und Erinnerungskultur basiert.

tung

(1) www.denkmaldialog-leipzig.de
(2) dipbt.bundestag.de/doc/btd/16/069/1606974.pdf
(3) dip21.bundestag.de/dip21/btp/16/16193.pdf
(4) www.leipzig.de/buergerservice-und-verwaltung/unsere-stadt/leipziger-freiheits-und-einheitsdenkmal/schritte-20092010/
(5) Quelle: facebook-Auftritt „Freiheitsdenkmal Leipzig“; Antwort des Beigeordneten für Kultur der Stadt Leipzig auf eine Anfrage der CDU-Fraktion
(6) www.l-iz.de/html/downloads/Einheitsdenkmal-Offener-Brief.pdf
(7) Der Siegerentwurf des Freiheits- und Einheitsdenkmals in Berlin trägt den Titel „Bürger in Bewegung“. Auf einer begehbaren Schale, die sich wie eine Wippe mit dem Gewicht der Wippenden bewegt, ist der Schriftzug platziert: „Wir sind das Volk – Wir sind ein Volk“. Mehr dazu: www.freiheits-und-einheitsdenkmal.de

Lokales

Post vom Verfassungsschutz

Gut Ding will bekanntlich Weile haben. So sind Polizeibehörden und Geheimdienste, wenn sie das im Grundgesetz verankerte Post- und Fernmeldegeheimnis einschränken, also den Brief- und Telefonverkehr von „Verdächtigen“ überwachen, eigentlich dazu verpflichtet, die Betroffenen nach Ende der Maßnahme schriftlich zu informieren. Nur manchmal muss mensch darauf etwas länger warten – mitunter mehr als zehn Jahre.
So erhielten in den vergangenen Wochen verschiedene linke Gruppen und Projekte in Leipzig überraschend Post vom sächsischen Verfassungsschutz, der ja für Kompetenz und Tatkraft allenthalben bekannt ist – ihnen wurde mitgeteilt, dass sie zwischen 1996 und 2001 ins Visier „erweiterter Überwachungsmaßnahmen“ gekommen waren. Betroffen war davon u.a. der Buchladen el libro. Aber auch das Conne Island wurde von Februar 1999 bis Oktober 2000 durch den Verfassungsschutz überwacht (1), wobei sich das besondere Interesse der Behörde vor allem auf die Antifa-Gruppen Rote Antifaschistische Aktion Leipzig und das Bündnis gegen Rechts richtete. Für ein Strafverfahren oder ähnliches reichte es nie, aber Informationen sammeln kann man ja trotzdem mal…
Jetzt ist die Empörung groß. So wies das Plenum des Conne Island den Vorwurf gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichteter Bestrebungen entschieden zurück: „Angesichts der Tatsache, dass ein Großteil der Überwachten in erster Linie damit beschäftigt war, sich gegen rechte Gewalt und den rassistischen und antisemitischen Konsens in der Gesellschaft zu engagieren, kann dieser Verdacht nur als Frechheit verstanden werden.“ (2) Daher reichte der Trägerverein des Conne Island am 5. Mai 2014 Klage ein und fordert nun u.a. Akteneinsicht. Mal sehen, was daraus erwächst – in fünf oder zehn Jahren wissen wir sicherlich mehr.

justus

(1) www.conne-island.de/news/160.html

(2) www.l-iz.de/Politik/Sachsen/2014/05/Verfassungsschutz-raeumt-Bespitzelung-von-Conne-ein-55195.html

Lokales

Editorial FA! #50

Das Jahr 2014 ist da, und nun auch eine neue Ausgabe des Feierabend! Die Nummer 50, aber das habt Ihr sicher beim Blick auf die Titelseite bereits gemerkt. Die runde Zahl löst in der Redaktion eher zwiespältige Reaktionen aus. „Juchuu, ein Jubiläum!“, jubeln die einen. „Ach, das hatten wir doch erst letztes Jahr“, nörgeln die anderen. „Jubiläen werden voll überbewertet, und dem Dezimalsystem stehen wir eh skeptisch gegenüber!“ Die einen wollen besonders tolle Texte, ein reißerisches Titelbild und Gimmicks, die anderen lieber business as usual in bestmöglicher Qualität.

Doch auch so sind in diesem Heft einige dezente Neuerungen zu finden. So haben wir eine neue „raffinierte“ Rubrik, der Anfang einer dreiteiligen Reihe rund um Zucker. Und wir schreiben nicht nur lange Theorietexte, sondern befassen uns in diesem Heft auch mit unseren Gefühlen. Im Grunde sind wir eben doch schamlose Hippies… Aber nicht mit jedem Artikel sind alle Teile der Redaktion restlos einverstanden. Mitunter wird auch heftig kritisiert – z.B. der Text „Machtspiel der Konzerne“ (S.8ff.). Dieser bringt einen guten Überblick zum geplanten Freihandelsabkommen zwischen EU und USA. Aber es ist wohl nicht so, dass die Staaten der Macht der Konzerne hilflos ausgeliefert wären – schließlich sind sie es selbst, die die betreffenden Verträge unterzeichnen. Na, lest selbst und macht euch Eure eigenen Gedanken.

Noch was? Ja: Unsere Verkaufsstelle des Monats ist die Buchhandlung Kapitaldruck, die mittlerweile auf dem Gelände der Feinkost ihr neues Domizil gefunden hat. Glückwunsch, sagen wir, und wünschen Euch natürlich viel Spaß beim Lesen!

Die FA!-Redaktion

Zum problematischen Gebrauch der Parole A.C.A.B.

Ein Flugblatt der Roten Hilfe e.V.

Diese Parole kennt wohl fast jede_r von uns. Sie steht auf Stickern, T-Shirts, wird auf Demos gerufen, ist auch bei Nazis weit verbreitet und genießt auch in sich als links definierenden Zusammenhängen eine hohe Popularität. Wir, die Rote Hilfe e.V., halten A.C.A.B. grundsätzlich für kritikwürdig und für schwer vereinbar mit unserem Grundverständnis von linker politischer Tätigkeit. Wir haben auf Grund dieser Parole immer wieder Repressionsfälle und wollen uns deshalb mit diesem Flyer zu der Aussage positionieren und erläutern, was wir konkret an diesem Statement für nichtemanzipatorisch halten.

Wir hoffen, dass wir hiermit einen Diskurs und eine Reflexion innerhalb der linken Bewegung um A.C.A.B. und ähnliche stumpfe Parolen anstoßen können.

Klar ist: Es gibt viele gute Gründe, wütend auf Polizist_innen zu sein! Das reicht von alltäglicher Polizeigewalt bis hin zur Funktion von Polizei zur Sicherung bestehender Herrschaftsinteressen im Kapitalismus. Der politische Sinn davon, Polizeibeamt_innen zu beleidigen, soll hier nicht erörtert werden. Wenn es passiert, sollte allerdings auf A.C.A.B. verzichtet werden!

Wo liegt das Problem?

A.C.A.B. wird allgemein mit „all cops are bastards“ übersetzt, zu Deutsch: „Alle Polizisten sind Bastarde“.

„Bastard“ war ursprünglich die gar nicht abfällige Bezeichnung für ein uneheliches Kind, meist mit eine_r Partner_in aus niedrigem Stand. Im Laufe der Zeit änderte sich die Bedeutung allerdings deutlich und wurde zu einer Beleidigung. Das ergibt Sinn, wenn ein Großbürger seinen Sohn nicht mit einer Proletarierin zusammen sehen beziehungsweise das aus dieser Verbindung hervorgehende Kind nicht anerkennen will. Das ergibt Sinn, wenn Kirchenfürsten gegen die „Unmoral“ wettern. Als Schimpfwort können diese Bezeichnung in diesem Falle also nur Menschen benutzen, die entweder die „heilige Institution der Ehe“ richtig super finden oder etwas dagegen haben, dass uneheliche Kinder die gleichen Rechte haben wie „eheliche“, oder grundsätzlich gegen „außerehelichen Geschlechtsverkehr“ sind.

Schlimmere Bedeutung erlangte das Wort, als begonnen wurde, Kinder von Eltern unterschiedlicher Hautfarbe als „Bastarde“ zu bezeichnen. Diese Kinder, als „Mischung zweier Rassen“, hätten kein „reines Blut“ mehr und seien somit weniger wert als „reinblütige, reinrassige Menschen“. So wurden beispielsweise nach dem Ersten Weltkrieg Kinder von „einheimischen“ Frauen und Soldaten aus den französischen Kolonien in Afrika, die bei der Besetzung des Rheinlands involviert waren, als „Rheinlandbastarde“ bezeichnet. Sowohl die Kinder als auch ihre Mütter waren Diskriminierungen ausgesetzt.

Die Nationalsozialisten hatten sich mit ihrer „Rassentheorie“ dann ein Instrument gebastelt, nach der solche „Bastarde“ mindestens zwangssterilisiert, wenn nicht umgebracht wurden.

Personen oder Personengruppen als „Bastarde“ zu bezeichnen, bedeutet also, die gesellschaftliche Entwertung zu übernehmen, die auf Grund von Moralvorstellungen oder Rassismus Kinder bestimmter Eltern als minderwertig betrachtet. A.C.A.B. ist also eine Beschimpfung, die entweder von glühenden Verfechter_innen der Eheschließung oder Rassist_innen benutzt wird und auch den Nazis sehr gut in ihr Weltbild vom „deutschen Volkstod“ passt. Merkwürdig nur, dass viele Linke damit ebenfalls kein Problem zu haben scheinen.

Wie kann also „Bastard“ im Wortschatz vieler Linker einen Platz haben? Den Begriff mit sich herumzutragen, an Wände zu malen oder auf Demonstrationen zu rufen, ist vor dem Hintergrund linker, emanzipatorischer, antifaschistischer, antisexistischer und klassenkämpferischer Ansichten dringend diskussionswürdig.

Rote Hilfe