Archiv der Kategorie: Feierabend! #35

Lager schließen, Abschiebungen stoppen!

Vom 17. bis 19. November 2010 fand in Hamburg wieder die alljährliche Innenministerkonferenz (IMK) statt. Auf der Tagesordnung standen u.a. auch flüchtlings- und migrationspolitische Themen, wie „Aufent­halts­recht für integrierte Kinder und Jugendliche“ und „Maßnahmen zur Förderung der Integration“, aber auch „Sanktionierung integra­tionswidrigen Verhaltens“.

Seit dem 13. November gab es dagegen Demonstrationen und vielfältige Proteste, die sich gegen den Ausbau der Polizei, gegen Sicher­heits­wahn, Repression, Ausgrenzung und eine zunehmend autoritär formierte Gesellschaft richten, aber auch gegen die rassistische Migra­tions- und Flüchtlingspolitik Deutschlands.

Zeitgleich zur IMK veranstalteten bspw. die Jugendlichen ohne Grenzen (JOG)* wie jedes Jahr eine eigene Konferenz zum Thema „Abschiebung“ und initiierten zum Auftakt am 17.11. eine Demonstration unter dem Motto „I love Bleiberecht“, mit der Forderung nach einem bedingungslosen Bleiberecht. Obwohl überwiegend Kinder, Jugendliche und Familien daran teilnahmen, wurde die Demonstration diesmal von massiver Polizeipräsenz begleitet. Demonstrations­teil­­nehmer_innen konnten dadurch kaum mit der Öffentlichkeit Kontakt aufnehmen, um wie sonst Fragen zum Thema zu beantworten.

Am 18. November kürten die Jugendlichen ohne Grenzen dann im Rahmen einer Gala den Bundesinnenmini­ster Lothar de Maizière zum Abschiebeminister 2010. Diesen Preis als inhumanster Innenminister, den die JOG seit 2006 verleiht, erhielt de Maizière für seine Politik der Abschiebungen ins Drittland Griechenland trotz der katastrophalen Lage von Flücht­lingen dort. Mit 98 Stimmen setzte er sich deutlich gegen den Innenminister von Niedersachsen Uwe Schünemann (58 Stimmen) und den bayrischen Innenminister Joachim Hermann (42 Stimmen) durch. Als Preis erhielt er einen Abschiebekoffer mit Utensilien, die er für eine Abschiebung braucht, einen Forderungskatalog der JOG und Geschichten, die Schicksale von Abgeschobenen schildern. Den Preis nahm der Abschiebeminister jedoch nicht selber ent­gegen, sondern schickte einen Mitarbeiter vor. Nicht zu schämen brauchten sich dagegen die Gewinner der drei Initiativpreise, die jedes Jahr an Schulen, Initiativen und Menschen verliehen werden, welche sich gegen Abschiebungen einsetzen.

Zu den Verleihungen fand wie in den vergan­genen Jahren auch eine Aufführung des GRIPS-Theaters aus Berlin statt. Das neue Stück, das den gleichen Titel wie die neu gestartete Kampagne der JOG „SOS for human rights“ trug, handelt von drei Menschen, die sich auf den langen Weg nach Europa machen. Dabei wird die Situation in den Heimatländern gezeigt und die Gefahren, die sie auf dem Weg nach Europa z. B. mit Frontex durchzustehen haben.

Abschiebelager in Möhlau

In Sachsen-Anhalt jedenfalls scheint sich der verantwortliche Innenminister Holger Hövelmann für den Preis als Abschiebeminister 2011 zu bewerben. Seit Jahren erklärt das Innenministerium, dass Flücht­lingsfamilien in „normalen“ Wohnungen untergebracht werden sollen. Ob sich die Ausländerbehörden daran halten oder nicht, spielt jedoch keine Rolle. Vor über zehn Jahren (1998) erklärte das Innenministerium, die großen Lager sollen geschlossen werden. Hier wurde auch explizit auf Möhlau verwiesen. Passiert ist nichts.

Die Lebensbedingungen im Lager Möhlau sind unverändert unzumutbar: Isoliert, zwei Kilometer außerhalb des Provinzdörfchens ohne nennenswerte öffentliche Verkehrsanbindung gelegen, sind die Menschen dort in einer ehemaligen, maroden sowjetischen Plattenbaukaserne Perspek­tiv­losig­keit, Armut und institutioneller Willkür ausgeliefert. Einige leben bereits seit 16 Jahren in dieser Ausweglosigkeit. Die meisten von ihnen bekommen keine Arbeitserlaubnis oder Geburtsurkunden für ihre in der BRD geborenen Kinder. Immer noch können einige nur an zwei Tagen im Monat mit Gutscheinen einkaufen und verfügen kaum über Bargeld. Unhygienisch, baufällig und karg – das sind die auffälligsten Eigenschaften ihrer Unterbringung, an deren Unterhaltung das private Unternehmen KVW Beherbergungs­betriebe (siehe unten) horrende Summen verdient. Die vom Landkreis dafür bereitgestellten Gelder stehen in keinem Verhältnis zu den erbrachten Leistungen; hier wird ein großes Geschäft auf Kosten der Flüchtlinge gemacht! Das gravierendste Problem stellt jedoch nicht die unwürdige Unterbringung dar, sondern die stetige Schikane durch die Ausländerbehörde Wittenberg, welche die ohnehin schon flüchtlingsfeindliche und rassistische Ge­setzes­lage auch noch äußerst rücksichtslos anwendet.

Diese unzumutbare Situation führte bereits zu mehreren Selbstmorden und viele Flüchtlinge sind daran erkrankt. Die Initiative no lager halle engagiert sich deshalb seit Februar 2009 u.a. an einem Runden Tisch zusammen mit den Flüchtlingen aus Möhlau für die Schließung des Lagers. Doch trotz vieler Aktionen konnte in den letzten zwei Jahren außer direkte Hilfe für die Betroffenen wenig erreicht werden gegen die sture Verwaltung und die Absurditäten der deutschen Abschiebepolitk.

Neue Lösungen, aber keine Auswege

Anfang des Jahres gründete der Landkreis Witten­berg zwar endlich eine AG Möhlau, die aus Vertretern der Parteien und der Verwaltung besteht. Diese erarbeitete ihre „In­formationsvorlage zur künftigen Unterbringung von Asylbewerbern und geduldeten Zuwanderern im Landkreis Witten­berg“ aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit und den Betroffenen, jegliches Gespräch mit dem Runden Tisch wurde verweigert. So traf die AG am 28. April auch einmalig im Lager zusammen. Die Lagerleitung zeigte ihnen ausgewählte Wohnungen, ohne die dort wohnenden Flüchtlinge vorher zu fragen. Bei der Sitzung durften fünf Flüchtlingsver­tre­terInnen sich je­weils fünf Minuten zum Leben im Lager äußern. Der Lagerbetreiber Wiesemann war die gesamte Sitzung anwesend. Diese fünf-minütige „Redezeit“ blieb jedoch der einzige Kontakt der AG Möhlau mit den Flüchtlingen.

Im Juni 2010 sollte dann ursprünglich entschieden werden, ob das Lager Möhlau geschlossen wird. Doch die Grünen zogen ihren Antrag zur Schließung des Lagers zurück, da sie davon ausgingen, dass es dafür keine Mehrheit im Wittenberger Kreistag geben werde, der Landrat Jürgen Dannenberg (Die Linke) aber signalisierte, auch ohne Abstimmung die Schließung des Lagers durchzusetzen. Verändert wurde aber nur die Kündigungsfrist des Vertrages, der bisher einmal jährlich mit einer halbjährigen Kündigungsfrist beendet werden konnte; nun kann dieser vierteljährlich gekündigt werden.

Während sich der Landkreis Wittenberg mit einem neuen Unterbringungskonzept beschäftigte, bemühte sich die Ausländerbehörde um möglichst viele Botschaftsanhörungen (siehe Kasten) und Abschiebungen. Bereits im Januar 2010 konnte eine Ashkali-Familie nur durch die Härtefallkommission des Landes Sachsen-Anhalt vor der Abschiebung in den Kosovo bewahrt werden. Sämtliche syrische Flüchtlinge wurden der syrischen Botschaft vorgeführt, „Einladungen“ zu Bot­schafts­vorführungen bei den chinesischen, ghanaischen und der be­ninschen folgten, nur die Sammel­vorführung von 20 Flüchtlingen vor der Beninschen Botschaft am Ende August 2010 konnte verhindert werden. 17 Roma und Ashkali aus dem Lager Möhlau waren 2010 insgesamt von der Abschiebung in den Kosovo bedroht, nur die Härtefallkommission konnte sie davor schützen.

Zum 24. September veröffentlichte der Landkreis Wittenberg schließlich die Ausschreibung für die „Unterbringung und Betreuung von Asylbewerbern in einer zentralen Unterkunft sowie in Wohnungen im Landkreis Wittenberg“. Mitte Oktober fand dazu in Wittenberg der monatliche „Talk am Turm“ der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt e.V. statt. 20 Flüchtlinge beteiligten sich. Als Vertreterin des Landrates Dannen­berg war zum wiederholten Male Frau Tiemann aus der Verwaltung anwesend. Frau Tiemann war gebeten worden, das neue Unterbringungskonzept vorzustellen. Da kein wirkliches Unter­bringungs­konzept erarbeitet, sondern nur Gesetzes- bzw. Verordnungsauszüge zusam­menkopiert wurden und somit nur die Einhaltung der gesetzlichen Minimalstandards, wie z.B. mindestens 5 m² pro Person, vom zukünftigen Betreiber erwartet wird, blieben ihre Ausführungen recht karg.

So kann der neue Betreiber die Unterbringung nach eigenem Ermessen gestalten, solange er ein günstiges Angebot vorlegt. Die Entscheidungskriterien sind: 80% Preis, 5% Betreiberkonzept, 15% Infrastruktur. Gleich­­falls ergibt sich für Flüchtlinge im Landkreis Wittenberg keine andere Perspektive, als in den zu Verfügung gestellten Gebäuden ab März oder Juni 2011 zu leben. Für Alleinreisende, also Flüchtlinge ohne Familie, im neuen Lager und für Familien in einem extra Block mit Wohnungen. Nach dem Willen des Landkreises sollen sie so für mindestens fünf Jahre wohnen, so lange soll der Vertrag gültig sein. Ohne Kündigung verlängert sich der Vertrag mit dem Betreiber automatisch, genau wie der alte. Aus dem Lager kommen die Flüchtlinge nach wie vor nur durch Tod, Heirat einer deutschen MitbürgerIn, Abschiebung oder Illegalität.

(no lager halle)

 

* Jugendliche ohne Grenzen ist seit 2002 eine Initiative von jungen Flüchtlingen und Migran­ten, die sich aus dem Berliner Beratungszentrum junger Flüchtlinge, dem GRIPS-Theater-Jugendclub (Banda Agita) und der Flüchtlingsinitiative Brandenburg zusammensetzt.

 

Wiesemanns „Beherbergungsbetriebe“

Marcel Wiesemann betreibt mit seiner KVW Beherbergungsbetriebe drei Lager: Eins in Brandenburg und zwei in Sachsen-Anhalt. Diese Lager sind dafür bekannt, dass sich Mühe gegeben wird, viel Geld einzusparen und möglichst wenig für die Unterbringung der Flüchtlinge auszugeben. Dies bestreiten die Landkreisverwaltungen nicht.

Zur aktuellen Lage: Neuruppin (Landkreis Ostprignitz-Ruppin): Die Ausschreibung des Landkreises scheiterte jüngst wegen rechtlicher Fehler. Der Vertrag mit der KVW Beherbergungsbetriebe musste verlängert werden. +++ Zeitz (Burgenlandkreis): ganz im Süden Sachsen-Anhalts liegen zwei Lager, ein Containerlager in Weißenfels in Stadtnähe und ein weiteres bei Zeitz. Im Augenblick ist nicht klar, ob das Lager Weißenfels geschlossen wird und alle Flüchtlinge des Landkreises in noch größerer Isolation bei Zeitz leben müssen. +++ Möhlau (Landkreis Wittenberg): Die Bewerbungsfrist für die Bewirtschaftung der zukünftigen Unterbringung für die etwa 180 Flüchtlinge ist am 01. Dezember 2010 abgelaufen. Die alleinstehenden Flüchtlinge werden in einem neuen Lager untergebracht, die Familien sollen in Wohnungen ziehen. Die Ausschreibung macht es möglich, dass alle Familien in einem Wohnblock untergebracht werden und somit in Zukunft zwei getrennte Lager bestehen. Wiesemann hat bei der Bewerbung einen deutlichen Wettbewerbsvorteil, da er seit Juni von den Plänen zur Schließung des Lagers Möhlau weiß. Am 07. Februar 2011 wird darüber entschieden.

Botschaftsanhörungen

Sog. Botschaftsdelegationen von Ländern wie z.B. Guinea, Nigeria, Sierra Leone halten sich in der BRD auf und „begutachten“ Flüchtlinge aus „ihrem“ Land. Merkmale sind Sprache/Dialekt, Gesichtsform (dies geht bis hin zu „Kopfvermessungen“ [siehe hierzu auch S. 14ff in diesem Heft]), Narben etc., die die Botschaftsdelegation als vermeintliche Anhaltspunkte für Staatszugehörigkeiten nimmt bzw. behauptet zu nehmen.

Entscheidender dürfte aber sein, dass die BRD Interesse daran hat, Flüchtlinge, die staatenlos sind, abzuschieben. Für eine Abschiebung brauchen die Ausländerbehörden Reisepapiere, Pass- oder Passersatzdokumente. Diese sollen die Botschaftsdelegationen ausstellen. Die BRD zahlt deshalb der Botschaftsdelegation pro vorgeführtem Menschen Geld und pro ausgestelltem Reisepapier, also Dokument zur Abschiebung, nochmals Geld.

Genötigt werden Flüchtlinge aus dem ganzen Bundesgebiet. Teilweise werden sie ohne Ankündigung von der Polizei aus dem Bett geholt und unter Polizeibegleitung vorgeführt. Dann spielt sich die „Botschaftsanhörung“ wie eine tatsächliche Abschiebung ab, die unsanft aus dem Bett Geholten erfahren später, dass sie „nur“ einer Botschaftsdelegation vorgeführt werden und nicht zum Flughafen gebracht werden.

Besonders gefährlich macht diese Abschiebeanhörungen, dass viele Flüchtlinge vorgeführt werden und damit die kommende Abschiebung – mit den durch die Botschaftsdelegation ausgestellten Papieren – mit einer Chartermaschine direkt vorbereitet wird. Es ist dann weder mit eigenem Widerstand (durch den Flüchtling) noch durch Protest von Unter­stützerInnen möglich, den Flug zu verhindern. Von einer Teilnahme an einer Botschaftsanhörung ist deshalb dringend abzuraten!

Der Wald bleibt!

Interview mit einer Szene-Aktivistin über Waldbesetzungen und das Camp Lappersfort in Belgien

Am Rande der belgischen Touristenstätte Brügge befindet sich ein Industriegebiet in den Händen der Firma Suez/Fabricom. Nicht ungewöhnlich soweit – doch setzt mensch die Lupe genauer an, so wird neben Fabriken, breiten Straßen, Parkanlagen und Bürokomplexen ein ca. 3,5 ha großer Wald sichtbar. Dieser Wald ist jedoch kein gewöhnlicher, hat er sich doch seinen Platz seit 1960 sukzessive zurück erobert und marode gewordene Fabriken dabei ver­drängt. Doch nicht nur das: Seit September 2008 halten viele Menschen verschiedener Herkunft diesen Wald zum zweiten Mal besetzt und versuchen ihn so vor seiner Rodung zu schützen, da Fabricom seinen Industriekomplex gerne ausweiten würde, obwohl satte 30% der Industriefläche in Brügge leer stehen.Dagegen machen sie mobil, haben Baumhäuser errichtet, leben bedacht in und mit der Natur ohne Elektrizität oder Wasseranschluss und führen direkte Aktionen in ihrer Umgebung durch, um auf die Problematik der kapitalistischen Umweltzerstörung im Allgemeinen und ihr antinationales Camp Lappersfort im Speziel­len aufmerksam zu machen.

Immer wieder gibt es Menschen, die sich aktiv dagegen wehren, dass aus reinem kapitalistischen Profitinteresse immer mehr Natur zerstört und Wälder gerodet werden. In Europa existiert bereits eine Mini-Szene, die an verschiedenen Standorten Wälder durch Besetzung schützen und dort gemein­sam alternative und nachhaltige Lebenswei­sen ausprobieren. Der Feierabend! sprach mit der Szene-Aktivistin else, die seit nunmehr fast 2 Jahren auf verschiedenen sog. „Protest-Sites“ lebt und zuletzt in Lappersfort aktiv war, über die Lebensweise dort, den politischen Anspruch und die Ziele der Waldbesetzungen im Allgemeinen.

FA!: Wie kann man sich das Leben auf einer Protest-Site wie Lappersfort vorstellen? Wie organisiert ihr euch, was macht ihr den ganzen Tag?

Im Grunde sind es zwei Dimensionen: die Kampagne und Aktionen und dann das Zusammenleben und das Alltägliche, Sachen wie Wasser holen, Essen besorgen, Struktu­ren aufbauen – all das soziale Zusammenle­ben eben. Die Leute [je nach Saison und Brisanz leben ca. 8-28 Menschen unter­schied­li­cher Herkunft mit individuell differierender Dauerhaftigkeit in Lappersfort] tun wonach ihnen ist, alles spielt sich aber draußen ab. Wir schlafen in selbst gebauten Baum­häusern, kacken in Kompostklos, essen Sachen die uns z.B. einheimische Bäckereien überlassen oder die wir containern oder finden. Was zu tun gibt es immer und jede_r bringt sich ein wie er/sie will und kann. Es ist auch noch einiges im Wald neu entstan­den, z.B. ein kleiner Garten, eine Schwitz­hütte, eine Fahrradwerkstatt und natürlich ganz wichtig der Feuerplatz bzw. die „Küche“ drumherum – das Zentrum quasi.

FA!: Wie gestaltet sich das Zusam­men­le­ben der Menschen, die dort wohnen oder mal vorbei schauen? Kann man es als „anarchisti­sches Zusammenleben“ begreifen?

Informell, intuitiv, kollektiv und doch individualistisch, das sind so Attribute mit denen man das Zusammenleben beschreiben könnte. Die Leute machen was sie wollen, für richtig halten und was getan werden muss. Das kollektive Zusammenstehen, die Community steht im Mittelpunkt, aber dennoch funktioniert vieles durch individu­elle Entscheidungen, vieles ist nicht formell geregelt aber hier und da diskutiert, im Alltag, es gibt kaum feste Regelungen sondern eher so Sachen wie „nicht mehr Sachen anschleppen als wieder mitgenommen werden“ oder „das Essen abends weg­packen“, common-sense-Sachen. Diese haben sich im Laufe der Zeit entwickelt und zwischendurch immer wieder geändert. Es sind auf jeden Fall nicht Entscheidungen die von oben gefallen sind. Der Anspruch besteht darin ohne Hierarchien, Führer oder etliche Plena zusammen zu leben. Die Leute arbeiten zusammen, wenn sie ein gemeinsa­mes Ziel verfolgen. Insofern kann man das Zusammenleben schon als anarchistisch bezeichnen, auch wenn so einige diese Zuschreibung ablehnen würden. Die Leute dort wollen keine bestimmte Ideologie vertreten und es ist auch nicht notwendig das Zusammenleben in einer politischen Kategorie zu beschreiben.

FA!: Inwiefern geht ihr mit eurem Protest nach außen, was gibt es für Akti­vitäten? Kennt euch die Bevölkerung in der Umge­bung und wie er­reicht ihr sie?

In Lappersfort speziell sind die Beziehungen zu Anwohner_innen relativ gut, es gibt seit Jahren bereits eine laufende, lokale Kampag­ne für den Erhalt dieses speziellen Waldes. Es war auf Initiative von Ortsansässigen hin, dass der Wald besetzt wurde, und wenn diese Unterstützung und Zustimmung erst einmal da sind, braucht es vor allem das „in Kontakt bleiben“ und „sich auf dem Laufenden halten“. Wir haben und halten ganz guten Kontakt zu einigen Nachbarn und Leuten in der Stadt, die uns unterstützen bzw. wo wir uns gegenseitig helfen. Ansonsten versuchen wir relativ viel Öffentlich­keits­ar­­beit zu machen, mit Transparenten, Flyern und Infoständen in der Stadt und auf dem Markt, um zu zeigen, was mit den Wäldern in Belgien passiert. Aber wir machen auch Sachen wie ein offenes Café oder Kletterkurse und laden Kinder und Familien und Men­schen allgemein in den Wald ein. Wir haben auch eine eigene kleine Zeitung gebastelt, eine Internetseite gemacht [lappers­fort.freehostia.com], aber auch Aktionen, wie das Stürmen von Büros oder Demos etc. Allerdings ist es natürlich schon so, dass damit nicht jede_r erreicht wird. Ist ja klar, gerade in Brügge gibt es auch ziemlich viele ignorante Leute, die mit dem Status Quo zufrieden sind.

FA!: Was wollt ihr mit eurem Protest erreichen, was sind die Ziele? Wie lange werdet ihr ausharren?

Das ist sicherlich für Jede_n verschieden, aber generell kann man sagen, dass wir alle mit der Besetzung in Lappersfort zum einen die Pläne der Rodung und Bebauung stoppen, fürs erste, mit der Option, dass mit dem Aufschieben vielleicht das ganze von Fabricom geplante Projekt gekippt wird und der Wald als Wald erhalten bleibt. Vor allem wird aber erstmal Aufmerksamkeit erzeugt für die Problematik. In Lap­­pers­fort verteidigen wir konkret einen ganz bestimm­ten Wald, der jedoch auch symbolisch für hunderte und tausende andere bedrohte Wälder steht. Dadurch, dass wir im Wald sind, werden wiederum andere Menschen angezogen die das interessiert, nicht nur Aktivist_innen, sondern auch Ortsansässige. Und die lokalen Initiativen gewinnen dadurch wieder mehr Auftrieb und Perspek­ti­ven. Es ist aber speziell in Lappersfort schon so, dass verschiedene Leute auch verschiedene Forderungen vertreten, wie z.B. generell: keine weiteren Waldrodungen, sondern Wiederaufforstung oder gar Flächen einfach als Wälder wieder wachsen lassen, wilde Flächen wild lassen und mehr Flächen wieder wild wachsen lassen. Außerdem steht für viele generell die Idee der Community im Mittelpunkt, ein kollektives Schaffen und eine DIY-Attitüde, selbst Verantwortung übernehmen ganz praktisch. Und Leute näher an die Natur und Wildnis heranbrin­gen und dazu bringen, neue alternative Wege zu suchen. Auf jeden Fall aber werden wir so lange bleiben, bis die Kampagne entweder erfolgreich war und der Wald gerettet, oder wir gewaltsam geräumt werden.

FA!: Wie ist der aktuelle Stand der Dinge? Wie reagieren Unternehmen und Stadt auf den Protest?

Die Stadt Brügge ist sehr konservativ und würde uns am liebsten aus dem Wald heraus haben. Der Bürgermeister sitzt bei Fabricom, dem Eigentümer des Geländes und Baupla­ner, im Vorstand, der würde den Wald gern gerodet und bebaut sehen. Die Polizei ist auch sehr repressiv, es gab eine Reihe von Verhaftungen außerhalb des Camps, um uns einzuschüchtern, bspw. wurden zweimal Leute wegen Containern für bis zu zwei Wochen ins Gefängnis gesperrt. Bis zum 30.11.2009 gibt es allerdings gerade eine Art „Waffenstillstand“, der zwischen uns, der Stadt und Fabricom ausgehandelt wurde. Danach kann es aber durchaus passieren, dass Lappersfort gewaltsam geräumt wird!

FA!: Gibt es eigentlich viele Protest-Sites wie Lappersfort?

Ich weiß momentan von drei weiteren, alle in Großbritannien: Bilston Glen bei Edin­burgh, Titnore Woods bei Brighton und seit kurzem Mainshill Woods in South Lanark­shire. In den 90er Jahren hingegen gab es viele Protest-Sites dieser Art mit massenhaft Leuten, die vor allem gegen den Bau weiterer Straßen gerichtet war­en, was für einige Zeit sogar den Regierungskurs in puncto Stra­ßen­­bau beeinflusst hat. Letztes Jahr gab es noch zwei weitere Sites, eine ist nach nur sechs Wochen geräumt, die andere ist nach 9 Jah­ren und einem erfolgreichen Ende verlassen und der Natur über­lassen worden. Auch in Deutschland gab es schon einige ähnliche Geschichten, z.B. die Waldbesetzung um den Frankfurter Flughafen herum, wo bis heute der Protest anhält, wenn auch abge­schwächt. Außerdem gibt es Proteste in Holland, Polen und Frankreich, oder bspw. die Feldbesetzungen auf Gentechnik-Feldern oder den Widerstand ganzer Dörfer gegen den Bau der Hochgeschwindigkeitszu­ges TAV in Italien und Spanien.

FA!: Sind die ähnlich organisiert oder gibt es wesentliche Unterschiede?

Die Taktiken und wie bspw. das Camp aussieht, sind natürlich verschieden. So sind z.B. die Camps im Baskenland noch viel kurzweiliger weil sie immer schnell geräumt werden. Es gibt aber auch Ähnlichkeiten, wie die Prinzipien der Organisierung, des Widerstandes gegen geltende Gesetze und der Pläne von oben. Oft hängt viel mehr davon ab, welche Individuen dort leben – wofür sie kämpfen, welche Strategien sie nutzen und welche Protest- und Gruppendy­na­mik im allgemeinen dort entsteht – und weniger in welchem Land es überhaupt ist.

FA!: Kann man da überall einfach vorbeikom­men und mitmachen?

Ja, auf jeden Fall!

FA!: Wie gestaltet sich der Austausch zwischen den Camps? Woher wisst ihr wenn anderswo geräumt wird, wie reagiert ihr darauf?

Viel läuft über persönlichen Austausch und informelle Netzwerke. So einige Leute reisen viel umher, verbreiten Informationen, wir versuchen Neuigkeiten auch über das Internet zu verbreiten, aber vieles ist einfach auch Mund-zu-Mund-Propaganda. Wenn es eine größere Bedrohung gibt, z.B. eine bevorstehende Räumung, gibt es Alarm über diese bestehenden Kanäle und dann wird unterstützt, d.h. wer kann und will, geht hin. Wobei natürlich eine Räumung oft relativ unerwartet kommt. Es wäre cool wenn wir mehr wären… das ganze kann dann sogar noch viel stärker sein!

FA!: Der Protest richtet sich ja in erster Linie gegen die Umweltauswirkungen im Kapitalis­mus, sprich die Rodung von Wäldern um bspw. Industrieviertel oder einen Tagebau zu errichten. Inwiefern geht der Protest über Umweltziele hinaus? Wie weit geht eure Kapitalismuskritik?

Auch wenn nicht Jede_r, der auf einer Protest-Site lebt, unbedingt antikapitalis­tisch eingestellt ist (wie gesagt, wir sind keine homogene Masse), gilt das in gewisser Weise schon für die meisten. Doch selten wird das konkret formuliert: Der (scheinbare) Bedarf an so viel Platz für Industrie und allem was Profit macht, ist ja erst im Kapitalismus so groß geworden und die massenhaften Waldrodungen von einem Großteil Europas sind ja in diesem Zusammenhang auch schon viel früher passiert. Wir kämpfen einfach für freie und natürliche Flächen, wo Menschen auch lernen, sich zu entwickeln und verschiedene Formen des Zusammenlebens ausprobieren können. Mit dieser Lebenswei­se stehen wir nicht außerhalb der Gesell­schaft, sondern sind offen und interagieren mit der Außenwelt.

Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Durchhaltevermögen und Erfolg bei eurem Protest!

(momo)

WEITER so? – Bitte nicht!

Am 30. Oktober erschien in Leipzig eine neue Wochenzeitung namens weiter, mit einer Startauflage von 1.500 Exemplaren zum Preis von je einem Euro, gefördert von der Jugendpresse Sachsen. Im Format und Layout stark an Kreuzer und ähnliche Magazine angelehnt, bietet die Erstausgabe sechzehn Seiten Geschichten aus Leipzig, also abzüglich Titel und Anzeigen ganze 12 Seiten Text.

Kommen wir zum Inhalt, der nach eigenem Bekunden der Redaktion explizit po­li­tisch sein möchte, ohne sich in einer bestimmten Ecke zu positionieren. „Aufmischen und Aufreger bringen“ wollen die ausnahmslos jungen Journalistik-Stu­dent_innen und zugleich die Lücken füllen, die durch die hiesige Zeitungslandschaft nicht gedeckt werden, da es ihrer Ansicht nach noch „kein wirkliches politisches Stadtmagazin“ gibt. Da fängt es schon an und hört bei der Lektüre leider auch nicht mehr auf, das bedrängende Gefühl, dass hier Dilettanten am Werke waren. So sind die beiden Artikel zur Quelle-Pleite wenig informativ, statt Fakten gibt es Mitleid für die kommenden Er­werbs­losen. Auf einem verschwenderisch großen Stadtplan sind gerade mal sechs Adressen von Second-Hand-Läden verzeichnet (geschmackloser Weise ist einer davon das Tierheim). In weiteren „Berichten“ erfahren die geneigten Leser_in­nen, dass es in der Stadt u.a. Füchse und Wasch­­bären gibt, die auch dem Straßen­ver­kehr zum Opfer fallen. Potzblitz – wenn mensch das geahnt hätte! Ebenso, dass manche Menschen verwundert reagieren, wenn sie von Wild­frem­den in der Straba angequatscht werden – das nennt sich wohl Undercover-Reportage und ist daher schon eine Seite wert. Die Satireseite wiederum bemüht sich, aus der pho­netisch­en Nähe von „Nägeln“ und „nageln“ Kapital zu schlagen – Gähnen muss hier schon mit Gewalt unterdrückt werden.

Gekrönt wird die publizistische Bauchlandung aber von der Titelstory, welche mit vier Seiten immerhin ein Drittel des Inhalts ausmacht. Auf entsetzlichem Niveau werden Zusammenhänge, brisante Fakten, Positionen oder gar Erkenntnisse sorgsam vermieden. Der Autor verzettelt sich hilflos zwischen der Tatsache, dass es in Leipzig Drogenkri­mi­nalität gibt und der (zumindest für ihn) unerhörten Ankündigung, dass die Polizei in Sachsen Stellen abbaut. Die Gewerkschaft der Polizei darf sich weitschweifend ausheulen, der Ordnungsbürgermeister Rosenthal gar vergeblich Fixerstuben fordern, ergänzt durch nichtssagende Balkendiagramme, die auch mit dem Inhalt nur entfernt in Verbindung stehen. Das Klagelied „den Polizeibeamten geht´s so schlecht“ findet sein Finale in der Forderung, dass mehr Polizeipräsenz wichtig wäre für die Moral der Polizisten und der Bürger. Würg! Soll weiter wirklich mehr als nur ein kostspieliger Ofenanzünder werden, müssen die Verantwortlichen also noch eine ganze Menge lernen. Wir empfehlen zuvorderst intensive Feierabend!-Lektüre, denn so kann es nicht weiter gehen!

(bonz)

„Viehmarktatmosphäre“ im Polizeikessel

„20 Jahre Mauerfall“ treibt nicht nur eventbewegte Bürger_innen (wie zum Leipziger Lichtfest, siehe S. 4) auf die Straße, sondern auch Neonazis. Unter dem Zusatzmotto „Wir sind das Volk“ mobilisierten die JN (Junge Nationaldemokraten) aus Sachsen-Anhalt und Niedersachsen am 7.11. nach Halle, um dort die Vereinigung „der Deutschen“ als wichtigen Schritt zum ersehnten „Groß­deutschland und „Teilsieg über das Ende der Fremdherrschaft seit 1945“ zu zelebrieren. Statt der anvisierten 500 Demo­teil­neh­mer_in­nen folgten zwar nur ca. 300 dem Aufruf, diese allerdings konnten sich am reibungslosen Ablauf ihrer Veranstaltung ergötzen. Denn das riesige, ca. 1000 Leute umfassende Polizeiaufgebot – verbunden mit großflächigen Absperrungen, massiven Platzverweisen und Kontrollen, Verboten von räumlich nahen Gegenkundgebungen sowie dem Einkesseln der angemeldeten zivilgesellschaftlichen Protestveranstaltung – verhinderte den direkten antifaschistischen Widerstand, der ohnehin geringen Anzahl von ca. 600 Aktivist_innen. So blieb es bei vereinzelten Störungsversuchen derjenigen, die nicht im Kessel saßen und Gelegenheit bekamen während des Aufmarsches durch die Neustädter Plattenbauten näher an die Faschos heran zu kommen. Insgesamt war der Tag für die Antifaschist_innen eine Pleite – Nazis und Polizei hingegen klopfen sich auf die Schultern.

Während die Nazi-Demo drei Wochen zuvor in Leipzig vor allem durch die repressive Polizeitaktik aufgelöst werden konnte (siehe S. 1, 5), führten die Repressionen gegen Linke gerichtet in Halle zum Durchmarsch der Rechten. Zwar gab es vom zivilgesellschaftlichen Bündnis Bestrebungen (u.a. mittels hochkarätiger Poli­tikpräsenz durch den sachsen-an­haltinischen Innenminister Hövelmann) eine gute Verhandlungsbasis zur Polizei aufzubauen, dennoch passierte Gegenteiliges. Schlussfolgernd wurde wieder deutlich, dass mensch weder der Polizei vertrauen sollte, noch dass ein Grund zum Feiern bestünde, wenn diese doch mal einen Aufmarsch maßgeblich (mit-)verhindert.

(momo)

übelst schlecht versteckt

the upsetter im Interview

Ein Abend in der Stadt. Im Auftrag der Neugier finden sich Frau Sch. und Frau Sch. im herbstlich-kalten Schleußig wieder. Die Mis­sion: Aufklärung des Leipziger Blätterwaldes. Der Interview­ter­min mit Matti vom „Society-Magazine“ the upsetter hat kurzfristig noch ge­klappt. Es ist mollig gemütlich im Hin­ter­zimmer des Schlechten Ver­stecks, der „Hauptzentrale“ des upsetters wie sich herausstellt. Die Ver­hörlampe wabert in der Ecke. Die Stunden verfliegen, während das generalstabsmäßig geplante Interview immer mehr ins freie Gespräch driftet. Mit je­dem Zug neigt sich das Bier. Abschweifend wer­den die Frager zu Befragten. Langsam aber zielstrebig füllt sich der Aschenbecher von drei Seiten. Sie sprechen über das Schreiben an der Front des künstlerischen Journalismus, über das Leben im All­ge­mei­nen und die Zukunft kleiner Druckerzeugnisse im Speziellen.

Die Nacht ist nicht allein zum schlafen da und das gesprochene will in das geschriebene Wort übersetzt werden. Doch auf zwei Seiten Feierabend! muss ein Inhalt passen, der auch 10 Seiten einnehmen könnte. Was muss rein, was kann raus? Sollen wir die zeitliche Abfolge beibehalten? Wo liegen thematische Schwerpunkte? Wie übersetzt man Worte, die ihre Bedeutung nicht aus dem Inhalt, sondern aus dem Hauch ihrer Äußerung beziehen? Wir wissen es auch nicht so genau. Aber eins ist sicher: Zeitung wird gemacht! Es geht voran!

Wie bist du auf den Namen the upsetter gekommen?

In Granada – immer noch meine Lieb­lings­stadt – da gibt es einen Club, der heißt the upsetter. Das ist ein Flamenco-Club, wo sonst nicht viel los ist, außer dass Spanier Bier und Wein trinken. Aber manchmal gibt es halt Flamenco-Konzerte und ich war auf einem dabei, wo El Nino, der Godfather of Flamenco gesungen hat. Ein ganz alter Mann, so 70 Jahre, der saß da mit einem Stock auf seinem Stuhl und hat übelst Flamenco gesungen total leidenschaftlich. Irgendwie war das ein Erlebnis, das mich berührt hat und dann hab ich gedacht, meine Zeitung soll der upsetter heißen. Weil, wenn man jemanden upsettet, dann regt man ihn auf oder berührt ihn. Dann hab ich aber herausgefunden, dass ich das niemals schützen kann, weil es den upsetter schon gibt – als Zeitung sogar. Das ist ein Reggae Magazine. Kennt ihr Lee „Scratch“ Perry? Der hat dieses Wort „the upsetter“ eigentlich geprägt. Es gibt sogar einen Song und auch einen Film die so heißen. Furchtbar!

Im aktuellen upsetter stellen unterschiedliche Autoren diverse Kneipen in Linde­nau vor und erzählen dabei recht gruselige Geschichten. Meinst du, dass diese Bilder allgemein dem von Lindenau entsprechen oder dass du damit einigen Menschen aus dem Herzen sprichst?

Ich denke schon. Viele Leute tragen mir sogar noch mehr Geschichten zu. Naja, es ist schon sehr klischeehaft aber ich hab einfach nur wiedergegeben, was mir die Leute erzählt haben. Ich habe in der letzten Ausgabe auch versucht, einen neutralen Beobachtungspunkt einzunehmen, obwohl ich natürlich die Ironie nicht verheimlichen kann. Aber was da drin steht über diese Kneipen in Lin­denau, das wurde mir genau so erzählt. Ich hab mich kurz als jemand geoutet, der interessiert ist am kulturellen Lindenauer Leben und die ganzen Klischees und Vorurteile und Geschichten wurden mir so unglaublich bestätigt. Ich habe nichts dazu erfunden und ich glaube schon, dass ich vielen Leuten aus dem Herzen spreche.

Aber praktisch gehen die Autoren schon direkt in die Kneipen?

Ja natürlich. Aber langsam wird es auch langweilig Kneipenrecherchen zu machen. Man geht halt nur hin, um irgendwelche Anekdoten aufzusaugen und wartet nur darauf, dass irgendein Scheiß passiert. In manchen Kneipen passiert dann aber genau das Gegenteil, wie zum Beispiel in „Die 20“ auf der Industriestraße. Ich hab auch gedacht nur Säufer anzutreffen aber letztlich waren es sehr nette und angenehme Leute. Die haben mich rumgeführt durch die Kneipe und die ganze Geschichte erzählt. Und auch im „Lady Luck“ bin ich mit der Kneiperin sehr gut ins Gespräch gekommen. Seitdem grüßt sie sich mich immer.

Die Nr. 9 wird mit einem Zitat von Hunter S. Thompson eingeführt: „Wenn die Verhältnisse irre werden, werden Irre zu Profis“…

Ja, er war schon eine große Inspirationsquelle für mich. Man kann diesen Gonzo-Journalismus nicht nachahmen und eigentlich war er auch ein ziemliches Arschloch. Ich habe mal seine Biografie gelesen, den immer verehrt. Weil er einfach so wild war und sich nichts von niemanden sagen lassen hat. Dann hab ich darüber gelesen, dass er seine Frau geschlagen hat und da war es vorbei. Er hat mich aber sehr zu diesem Stil hingeführt. Meine eigentliche Inspiration war aber die „Vice“. Das ist so `nen kostenloses Hoch­glanz­magazin, finanziert sich nur über Werbung und ist in Klamottenläden zu finden. Und die schreiben so richtig derbe Scheiße. Die sind politisch dermaßen inkorrekt, dass es zum Himmel stinkt. Das ist aber irgend­wie lustig. Es hat mich so gefläscht, dass ich gedacht habe, das muss ich auch machen. In den ersten Ausgaben wollte ich so vulgär wie möglich schreiben, um die Leute so richtig zu schockieren und aufzuregen, auch wenn sie mich mit Scheiße be­schmeißen, dann ist das genau, was ich will.

Was wir in the upsetter gelesen haben, hat uns eher erheitert und unseren Sinn für Ironie und Sarkasmus völlig getroffen, gar nicht so vulgär.

Ja, ich bin von dem Credo irgendwie abgekommen, weil meine größte Kritikerin mich vor die Frage gestellt hat, was es mir bringt, jemandem sinnlos ins Maul zu hauen. Und es bringt dir überhaupt nichts. Es gab irgendwann so eine Zeit, als der upsetter populär war. Die Leute haben mich bedrängt, „Wann kommt denn der Neue raus?“ Die haben sich nur darüber amüsiert, wenn ich andere Leute beleidigt habe. Sie wollten möglichst schlimme Geschichten über schlimme Leute, die scheiße sind. Ja und davon bin ich halt abgekommen, denn das hat dann nichts mehr mit Kunst zu tun.

Welchen Anspruch hast du?

Der Raum der Kunst wird weiter. Es war irgendwie zu wenig, nur den Ansprüchen gerecht zu werden, die die Leute, denen es gefällt, so haben. Ich möchte mehr Texte drin haben, die literarisch sind. Auch Freunde von mir haben aufgrund des upsetters eine Zeitung angefangen. „Frau Kristel“ heißt die. Die haben wirklich nur Texte geschrieben, die künstlerischen Anspruch haben, die deine Seele berühren und Gedichte usw. Das war ein totaler Erfolg und hatte übelst Resonanz. Da hab ich mir gedacht: Ich schreibe gerne und ich schreibe für mein Herz. Ich will nicht sagen das und das, wo, wann, wer, was – das wäre halt Journalismus und nicht Kunst – sondern, dass man sich an den Worten erfreuen kann, dass es einen berührt … dass man sagt: Das ist wunderschön geschrieben, das gefällt mir. Ich will dass der Journalismus künstlerisch ist.

Im upsetter ist die Ich-Perspektive sehr stark. Das wäre eine literarische Komponente an den Texten. Der Gegenstand, die Recherche ist dann vielleicht das journalistische? Könnte man das so sagen?

Ja, z.B. der Günter Wallraff. Das ist auch so einer. Ist das jetzt Journalismus? Oder ist das jetzt Kunst? Was ist das? Ist das Prosa? Es ist halt in der Wirklichkeit verankert, also es ist passiert aber trotzdem ist es künstlerisch abgebildet. So was in der Art will ich machen.

Aber vielleicht stehe ich gar nicht so einsam da? Was es jetzt gibt, das sind so blogs, twitter, facebook und myface und was weiß ich. Was ich mich aller­dings frage, vielleicht muss man ja jetzt wieder konservativ werden, damit das überhaupt noch cool ist, weil ja jeder Wichser seine Meinung irgendwo hinschmiert.

Apropos Internet. Haben so kleine Papiermagazine wie Feierabend!, the upsetter oder Frau Kristel denn noch eine Chance auf eine aktive Leserschaft?

Doch, doch, auf jeden Fall! Es ist immer so, wenn Dinge populär werden, werden sie langweilig. Also wenn irgendwas vom Mainstream ausgebeutet wird, dann gibt es immer diese reaktionäre Bewegung, die sich dann auf was anderes besinnt und was anderes will. Z.B. dein Kommilitone, wo hinten auf´m Pullover Abi 2008 steht, der erzählt dir dann was von facebook und diesem ganzen Mist. Und wenn das dann alle machen und alle machen bei twitter mit und alle haben eine myspace-Seite und alle haben so eine digitale Selbstbeweihräucherung, dann willst du was anderes haben, was dich da raus holt. Es ist auch noch nicht soweit, dass jeder seinen Minilaptop in der Straßenbahn auf´m Schoß hat.

Und vielleicht ist es auch genau dieses Format. Man kann es in der Hand halten, kann es riechen, man kann es anfassen und das ist was völlig anderes. Ich könnte natürlich, wenn ich so drauf wäre, wenn ich mal gerade Zeit habe von meine world-of-warcraft abzulassen und dann schreibe ich in meinen Blog, was ich so erlebt habe und wo ich war und das ich da mit dem gesoffen habe. Aber so ne Zeitung zu machen ist was völlig anderes, weil es halt materiell-physisch da steht. So ´ne kleinen Dinger sind total wichtig. Die Leute freuen sich darüber. Es ist wie so ein Kleinod.

Wie geht ihr mit Texten um? Gibt es Stationen, die ein Text durchlaufen muss, bis er im Heft landet?

Ich geb ja die Zeitung raus und entscheide, ob ich den Text gut finde oder er ästhetisch und inhaltlich zum Himmel stinkt. Ich bin ja im Gegensatz zu euch relativ unpolitisch. Deswegen muss ich da nicht irgendwelche Zensurmaßnahmen ergreifen. Ich muss eigentlich nur drauf gucken, schreibt er es so, dass der Leser das kapiert. Vielleicht ändere ich ein Wort und rufe an, ob das okay ist, aber dann geht der Text so raus. Bei den Texten über die Kneipen gibt es schon eine übelste Arbeitsphase, wo die dann 30 Mal unter die Lupe genommen werden. Dann wird daran rumgefeilt aber das ist es dann eigentlich auch.

Wie finanzierst du the upsetter eigentlich und wie hoch ist die Auflage?

Ich verkaufe ihn mittlerweile für 1,50, was ich sehr schade finde, denn eigentlich müsste er kostenlos sein.

Mittlerweile produziere ich mindestens 80 Stück und bei Nachfrage halt mehr. Es funktioniert auf Vertrauensbasis. Ich drucke das aus, stell das da hin, schreib 1,50 dran und wer es gibt, der gibt´s und wer nicht, der halt nicht. Aber mittlerweile ist es so, dass ich bei Null rauskomme. Ich finanziere das auf jeden Fall selber und durch die Werbung für das Schlechte Versteck und den Waldfrieden. Und Werbung mach ich nur für Leute, wo ich persönlich dahinter stehe. Ich werde z.B. niemals eine Sparkassenwerbung machen, nur weil ich dafür Geld kriege. Ich mache Werbung aber nur so un­ka­pi­ta­lis­tische Sachen. Also wenn jetzt Coca-Cola käme und sagt, ich gebe dir tausend Euro und tausend Euro und ein Tomatenfisch, würde ich sagen, fick dich.

In der aktuellen Ausgabe gibt es einen Text, wo der Situationist Guy Debord zitiert wird. Gibt es innerhalb der Redaktion direkte Bezüge oder ist das eher zufällig?

Das ist total beabsichtigt und total wichtig, speziell für diese Ausgabe, weil es um Lindenau geht und den Platz den man sucht zum Leben.

Die Zollschuppenstraße etwa ist ein sehr hoffnungsvolles Hausprojekt. Die Autorin dieses Textes hat das Projekt Zollschuppenstraße maßgeblich mit aufgebaut, und Guy sagt: „Das Leben geht auf die Architektur über“, also: Das schöne Leben hat auch schöne Schauplätze. Die Zollschuppenstraße war ein Projekt für Jugendliche, die in diesem heruntergekommenem Haus ihre Träume verwirklichen konnten. Sie haben sich das gebaut, was sie halt haben wollten. Das finde ich total wichtig, weil es auch für mich immer wichtiger wird, wo ich wohne. Ich möchte nicht mein ganzes leben in Lindenau wohnen, wo an jeder Ecke Drogen verkauft werden. Es ist leider so.

Wieviel Zigaretten oder Promille brauchst du, um ‘nen upsetter zu produzieren?

(lacht) Geile Frage. Ähm? Warte mal. Das ist jetzt wichtig, weil es wird ja gedruckt. Also wenn ich einen Text schreibe, so einen Kneipentext, dann rauch ich mindes­tens ne Schachtel Zigaretten und trinke mindestens 3 Bier. Nein, nicht wirklich. Es ist nicht so, dass ich Rauschmittel brauche, um zu schreiben. Aber ich könnte mir nicht vorstellen, im Nichtraucherbereich auf meiner Schreibmaschine rumzuhacken

Du schreibst auf Schreibmaschine? Was für ‘ne Marke?

Erika. Meine liebste Erika, die liebe ich über alles…Wisst ihr eigentlich, dass ich mit der 10. Ausgabe aufhören wollte? Ich wollte noch eine machen und dann eigentlich was anderes machen. Ich wollte schon immer einen Roman schreiben.

Du wolltest also von Anfang an nur 10 Ausgaben rausbringen?

Nein, nein, jetzt erst. Es ist halt jedes Mal so ein Stress. Das alles selber zu layouten. Und dann hast du gesagt, das kommt dann und dann raus und dann kommt es doch nicht raus. Dann vertraust du auf jemanden der einen Text abliefern wollte und der liefert den nicht ab. Und dann fehlen die Seiten. Das war so furchtbar. Dann hab ich gedacht, ich mach noch die eine und dann reicht´s.

Wie sieht also die Zukunft aus?

Also, wenn ich euch das jetzt sage, muss das auch klappen. Am 5. Dezember hat das Schlechtes Versteck 5 Jahre Jubiläum. Wir wollten eigentlich zumachen und saufen gehen. Aber nun wird es eine riesige Party geben mit gleichzeitigem Release des 10. upsetters.

Es gibt auch Auslandsrecherchen, z.B. Hamburger oder Berliner Kneipen, aber konkrete Pläne gibt´s noch nicht. Der künstlerische Aspekt wird auf alle Fälle mehr Raum einnehmen. Ich will ironisch und zynisch bleiben aber auch Leute erreichen, die was wollen von der Literatur. Aber ich will the upsetter nicht aufgeben. Da hängt doch mein Herz dran!

Danke für das Interview.

Kein Ding und so.

p.s. Wir grüßen David und Phil, die dieses Interview erst ermöglicht haben und danken unvergesslich Matti für seine Offenheit.

p.p.s. Auch drei Jahre alter polnischer Wodka schmeckt leichter als gedacht.

Ziviler Ungehorsam als politische Praxis

Im Zusammenhang mit Neonaziaufmärschen, Gipfelprotesten oder Atommülltransporten kommen immer wieder Praxen zivilen Ungehorsams zum Zuge. Auch in Leipzig wurde der Aufmarsch von „Nationalen Sozialisten“ am 17.10. auf diese Weise verhindert (siehe S. 5). Damit wurde an die erfolgreiche Praxis der Vergangenheit angeknüpft. Immer wieder kam es in Leipzig zu breiten Sitzblockaden, einer beliebten Form zivilen Ungehorsams, gegen die regelmäßigen Aufmärsche des Neonazis Christian Worch. Nachdem die Polizei anfangs rabiat gegen diese spontanen und gewaltfreien Aktionsformen vorging, veränderte sich die Einsatzstrategie der staatlichen Repressionsorgane aufgrund von Interventionen auf politischer Ebene und der Entschlossenheit einer wachsenden Zahl von Protestierenden. Die Blockade einiger weniger Aufmärsche konnte so gelingen.

Basisdemokratie versus Systemüberwindung

Ziviler Ungehorsam meint bewusste Regelverstöße zur Beseitigung einer gefühlten Unrechtssituation. Wenn bei­spielsweise das Versammlungsrecht im Umfeld von geschlossenen Tagungen von führenden PolitikerInnen ausgehöhlt wird oder Nazis das Versammlungsrecht in Anspruch nehmen, dann müssen die Grenzen der Legalität überschritten werden, um die eigene Meinung wirkungsvoll kundzutun.

Ziviler Ungehorsam gilt als legitimes Mittel, weil er im Kern auf den Schutz der Menschenwürde zielt, den Recht und Gesetz qua Neutralität nicht gewährleisten können bzw. wollen – im Falle von Neonazidemos eben die Wahrung des Versammlungsrechtes für legale politische Gruppen/Parteien. Die bewusste Störung von angemeldeten Demonstrationen wird damit zur Gesetzesverletzung. Nichts desto trotz verfolgt die Praxis des zivilen Ungehorsams die Durchsetzung von Bürger- und Menschenrechten innerhalb der bestehenden Ordnung und explizit nicht die Ablösung einer bestehenden Herr­schaftsstruktur. Dies gilt auch für offensiven zivilen Ungehorsam, wie die Weigerung sich erniedrigenden Gesetzen zu unterwerfen (z.B. das kollektive Widersetzen gegen US-amerikanische Rassengesetze in den 1950er Jahren, der Boykott der Volkszählung in den 1980er Jahren oder das kollektive Schwarz-Fahren in Bus und Bahn). Systemimmanent Veränderungen anzustreben, ohne das System im Kern anzutasten, markiert die Differenz zwischen zivilem Ungehorsam und Widerstand. Widerstand befindet sich in der Regel außerhalb der gesetzten Ordnung und beschreibt aktive Bestrebungen und Verweigerung gegen Herrschaftsakteure oder -strukturen. Die Gewaltfrage ist zudem eine Demarkationslinie zwischen zivilem Ungehorsam, der eher zum Repertoire von sich als gewaltfrei verstehenden Bewegungen gehört, und Widerstand.

Die fein-säuberliche Trennung erodiert nicht nur durch die Definitionshoheit des Staates (so kann eine entschlossene Blockade, die auch nach Räumungsaufforderungen der Polizei nicht aufgelöst wird, mit dem Vorwurf des Landfriedensbruchs belegt werden). Das Widerstandsrecht im Grundgesetz (Artikel 20 Absatz 4) garantiert zudem jedem und jeder StaatsbürgerIn das Recht gegen jedermann Widerstand zu leisten, der die im Grundgesetz verankerte freiheitliche demokratische Grundordnung außer Kraft setzt. Dieses Recht ließe sich durchaus auch gegen Nazis und deren demokratiefeind­liche, menschenverachtende Ideologien und Aktionen in Anspruch nehmen.

Auch in politischen Zusammenhängen wird konstatiert, dass die Trennlinien verwirren. So geht mit der Praxis zivilen Ungehorsams nicht selten eine grundsätzliche Kritik des kapitalistischen oder rassistischen Normalzustandes einher. Ist das Plündern von Supermärkten zum Zwecke der Vergesellschaftung von Lebensmitteln ziviler Ungehorsam oder ein fundamentaler Angriff gegen das Privateigentum? Setzen sich Ärzte, die Illegalisierte unentgeltlich behandeln, nicht bewusst und gezielt Gesetzen entgegen?

Ziviler Ungehorsam in der Praxis

Blockaden, wie sie in Leipzig schon öfter zum Zuge kamen, sind die wohl geläufigste Form zivilen Ungehorsams. Sie gehören zur Praxis von friedenspolitischen Bewegungen (Blockaden von Militärstützpunkten, militärisch genutzten Flughäfen etc), antifaschistischen Akteuren oder UmweltaktivistInnen (Blockade von Kohlekraftwerken, Atommülltrans­por­ten). Sitzblockaden bieten – schon wegen ihres wahrgenommen passiven Charakters – eine breit anschlussfähige Form des zivilen Ungehorsams. Sitzblockaden können dabei durchaus auch auf Ordnungs­hüterInnen eine hemmende Wirkung haben. Wer räumt schon gerne friedlich dasitzende Menschen?

Verfassungsrechtlich gilt eine Blockade als Versammlung nach Artikel 8 des Grundgesetzes. Natürlich können solche Versammlungen im Vorhinein oder während ihres Stattfindens verboten werden. Wer sich nichts desto trotz beteiligt, praktiziert zivilen Ungehorsam und begeht eine Ordnungswidrigkeit (Nichtentfernen von einer verbotenen Versammlung, § 29 Versammlungsgesetz).

Bis 1995 galten Sitzblockaden strafrechtlich als Nötigung nach § 240 StGb (d.h. einem anderen durch die Anwendung von Gewalt oder durch Drohung ein diesem widerstrebendes Verhalten aufzuzwingen), also als psychische Gewaltausübung. Das so genannte Sitzblockade-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes 1995 beendete diese Auslegung. Demnach können Sitzblockaden zwar psychisch gewaltvoll wirken, die Gewaltwirkung muss allerdings nicht im Kalkül der Blockierenden liegen. Die Ausweitung des Gewaltbegriffes auf psychische Wirkungsweisen sei ausufernd und nicht zulässig. Die reine physische Anwesenheit, beispielsweise das Sitzen vor einem Kasernentor, stellt in diesem Sinne noch keine Gewalt dar. Viele Verfahren wurden infolge des Urteils wieder aufgenommen und die Strafkosten zurückerstattet.

Der Bundesgerichtshof höhlte die Argumentation des Bundesverfassungsgerichtes im selben Jahr allerdings wieder aus. Wenn eine Sitzblockade zum Anhalten von Fahrzeugen führt, wäre demnach zwar nicht der oder die Fahrer des ersten Fahrzeugs Nötigungsopfer, allerdings die der nachfolgenden Fahrzeuge. Während auf den oder die FahrerIn des ersten Fahrzeuges nur psychische Gewalt wirke, seien die der folgenden körperlichem Zwang ausgesetzt.

Auch im Jahr 2001 beschäftigte sich das Bundesverfassungsgericht mit Blockaden. Laut Beschluss könnten Blockaden als Nötigung geahndet werden, wenn sie „über die durch ihre körperliche Anwesenheit verursachte psychische Einwirkung hinaus eine physische Barriere errichten“. Das bedeutet, dass eine Sitzblockade verbunden mit Anketten, Einhaken oder aktivem Widerstand gegen das Wegtragen als Nötigung entsprechend § 240 StGb betrachtet werden kann.

Das Blockieren von Naziaufmärschen hat nicht selten zum Erfolg geführt. Mal mit politischer Schirmherrschaft, mal durch die Wirkungsmacht vieler aktivierter Menschen konnten ganz konkrete Aufmärsche von Nazis auf diese Art und Weise verhindert werden. Auch die Gipfel politischer Eliten oder Atommülltransporte wurden schon des Öfteren wirksam gestört, wenn auch nicht verhindert. Blockaden können den kapitalistischen Normalbetrieb temporär beeinträchtigen. Sie sind darüber hinaus symbolische Demonstrationen von Gegenmacht. Durch ihre öffentliche Propagierung und flankierende Debatten um die Notwendigkeit von Regelver­letzungen, um zu einem bestimmten Ziel zu kommen, unterscheiden sie sich grundlegend von den typischen klandestinen Aktionen linker Kleinst­gruppen. Das ist ihre Stärke. Ihr subversiver Charakter kann allerdings durch die Nähe zur Staatsmacht unterhöhlt werden. Sowohl am 17.10. in Leipzig als auch bei entsprechenden Blockade-Aktionen gegen das Fest der Völker in Thüringen verhandelten die jeweiligen Bündnisse mit der Polizei. Hier müssen die Trennlinien scharf bleiben und der Charakter des Ungehorsams gewahrt werden.

Rote Hilfe Leipzig

angeführte Paragraphen:

Grundgesetz Artikel 8:

(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.

(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.

Strafgesetzbuch 240. Nötigung

(1) Wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe, in besonders schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren, bestraft.

Versammlungsgesetz 29

(1) Ordnungswidrig handelt, wer

1. an einer Versammlung oder einem Aufzug teilnimmt, deren Durchführung durch vollziehbares Verbot untersagt ist,

2. sich trotz Auflösung einer öffentlichen Versammlung oder eines Aufzuges durch die zuständige Behörde nicht unverzüglich entfernt,…

(2) Die Ordnungswidrigkeit kann in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 bis 5 mit einer Geldbuße bis tausend Deutsche Mark … geahndet werden.

Wissenswerte rechtliche Infos für Blockierende:

Wie erwähnt sind Blockaden grundsätzlich durch das Grundgesetz – Artikel 5 Meinungsfreiheit und Artikel 8 Versammlungsfreiheit – gedeckt. Im Falle des Verbots kann die Polizei die Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Beendigung der Versammlung androhen. Rechtsfolgen bei Nichtbeachtung polizeilicher Anordnungen sowie die möglicherweise zum Einsatz kommenden Zwangsmittel müssen von der Polizei genannt werden. Dies geschieht in der Regel durch Räumungsaufforderungen, die wie am 17.10.2009 in Leipzig geschehen, auch lautstärkebedingt überhört werden können.

Kommt es zur Räumung von Blockaden nimmt die Polizei erfahrungsgemäß keine Rücksicht auf Alter und Zustand der Sitz-Blockierenden. Jede und jeder, der/ die sich für die Blockade-Form entscheidet, sollte mit sich und der eigenen Bezugsgruppe abwägen, wie weit er/sie gehen möchte, ein Ausstieg aus der Blockade muss immer möglich sein. Der körperliche Zugriff durch die Polizei bedeutet eine nicht zu unterschätzende psychische Belastung. Der Räumung einer Blockade können Platzverweise und im äußersten Fall auch Ingewahrsamnahmen folgen.

TeilnehmerInnen einer Sitzblockade müssen mit einem Bußgeld von 25 bis 50 Euro rechnen. Es handelt sich, wie erwähnt, um eine Ordnungswidrigkeit, nicht aber um eine Straftat. Grundsätzlich sollten alle, die in irgendeiner Weise nach einer Aktion zivilen Ungehorsams mit Geldbußen wegen Ordnungswidrigkeit oder mit Strafbefehlen wegen Nötigung überzogen werden, Widerspruch gegen jede dieser Maßnahmen einlegen. Unmittelbar nach der Aktion sollte unbedingt ein Gedächtnisprotokoll angefertigt werden, das Angaben über Zeit, Verlauf, ggf. Informationen zur Polizeieinheit (Dienstnummer, KFZ-Kennzeichen) und Zeugen enthält.

Empfehlenswert ist in jedem Fall, sich gemeinsam mit Bezugsgruppe oder anderen vertrauten Zusammenhängen über Eindrücke, Ängste und Erlebnisse auszutauschen, zum Einen zur Verarbeitung, zum Anderen, um Fehler oder auch Positives herauszuarbeiten und diese Erkenntnisse in die Vorbereitung kommender Aktionen einfließen zu lassen.

Für Rechtshilfe oder Unterstützung bei der Deckung von Kosten sollten Bündnisse oder Soli-Gruppen angesprochen werden. (Rote Hilfe: leipzig@rote-hilfe.de oder Ermittlungsausschuss: ea-leipzig@gmx.de)

www.leipzig-nimmt-platz.de

www.aktionsnetzwerk.de

kreativerstrassenprotest.twoday.net

Leserbrief zum Thema Schwabenhass

Oh nein!

Jetzt macht sich die antideutsch-kommunistische Angewohnheit konkrete Ak­tions­möglichkeiten durch abstrakte Forderungen zu ersetzen auch schon in libertären Zeitungen breit: Kapitalismus abschaffen statt Yuppies raus!

Natürlich ist Antisuevismus nicht in Ordnung, schließlich sitzen einige Schwaben auch als treibende Kraft in radikalen Plena und sind ganz vorne, wenn es auf der Straße rund geht (und auch ich bin Schwabe und lebe immer noch im Land der reichen Spießer)! Aber mithilfe des Kapitalismus jedes Verhalten entschuldigen und jede Möglichkeit, die innere Expansion des Kapitalismus aufzuhalten (eben die Aufwertung der Stadtviertel), für nicht-emanzipatorisch zu erklären, finde ich typisch (theorie-)kommunistisch oder fast schon katholisch: Hier ist eh alles schlecht und kann gar nicht verbessert werden, schön wird´s erst nach dem jüngsten Gericht (Revolution) im Himmel (Kommunismus).

Was bewirkt denn die Parole „Kapitalismus abschaffen!“? Nichts. Selbst wenn zwei Drittel der Bevölkerung sie vertreten, kann noch nichts Konkretes daraus abgeleitet werden, weil sie nichts Konkretes aussagt (zumindest für Hardliner-Antideutsche oder ähnliche Hardliner-Kommunisten): weder Sozialstaat noch selbstverwaltete Betriebe haben für sie etwas damit zu tun.

Da verstehe ich gut, wenn Autonome nicht däumchendrehend nach dem Kommunismus rufen, sondern einen Anfang machen, indem sie die Aufwertung ihrer Viertel bekämpfen, wozu Yuppies vertreiben nunmal ein Mittel sein kann. Ob das dann antikapitalistisch sein kann, sich dessen Expansion in den Weg zu stellen, ist eine längere Diskussion. Meiner Meinung nach schon, wenn nicht da stehengeblieben wird, sondern die entstehende Selbstorganisation der Viertelbewohner (die hier mit den Autonomen ein gemeinsames Interesse haben) nicht verebbt oder stehen bleibt.

Für mich unterscheidet sich an der Frage, ob wir einem utopischen Anarchismus anhängen, den wir erreichen indem wir alle (auch Yuppies) überzeugt haben, dass der Kapitalismus doof ist, oder einem klassenkämpferischen Anarchismus, wo wir gemeinsam mit betroffenen (ärmeren) Bürgern praktische Kämpfe führen!

Kommunistisch-anarchistische Grüße aus dem Schwobaländle.

Servus zurück!

Und danke erstmal, dass du dir die Mühe gemacht hast, uns zu schreiben. Das sind ja eine ganze Menge Fragen, die du da aufwirfst… „Konkrete Handlungsmög­lichkeiten“ sind ja schön und gut, aber gibt es nicht noch andere Optionen außer „Yuppies vertreiben“ und „däumchendrehend nach dem Kommunismus rufen“? Muss man das Falsche tun, weil nichts tun auch falsch wäre? Müssen Autonome immer das tun, was Autonome der Bild zufolge halt so tun (sich vermummen und krass-militante Aktionen starten)? Definiert sich die Radikalität einer Aktion danach, ob mensch dabei eine Hasskappe braucht oder nicht?

Und können nicht auch Antideutsche manchmal recht haben? Manche „antideutsch-kommunistische Angewohnheiten“ sind ja nicht verkehrt, z.B. Marx lesen… Muss man sich nicht wenigs­tens halbwegs darüber im Klaren sein, worin das Problem besteht, um wirksam dagegen vorgehen zu können? Was ist falsch an dem Hinweis, dass die einzelnen Kapita­list_innen in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang stehen und erst durch diesen zu Kapita­list_innen werden? Das zeichnet einen gesellschaftlichen Zusammenhang nun mal aus, dass er zwar von Menschen produziert wird, aber eben nicht von einzelnen, sondern von vielen Menschen, die mit­einander interagieren. Hat Kapitalismus nicht auch was mit Besitzverhält­nissen zu tun, und sind nicht eher die das eigentliche Problem?

Und muss mensch ir­gendwem eine persönliche Schuld zuschieben, um die herrschenden Ver­hält­nisse Scheiße zu fin­den und etwas dagegen zu tun? Ist es moralisch verwerflich, Geld zu haben und ger­ne in Berlin-Kreuzberg wohnen zu wollen? Und sind die „Yuppies“ wirk­lich die Haupt­schul­­digen an der Gen­tri­fi­zie­rung, oder gibt es da noch andere Akteure? Verhindert es nicht viel­leicht gerade eine wirkungsvolle, radikale Politik, wenn mensch sich bloß den Gegner raussucht, der am meisten ins Auge sticht und am einfachsten zu treffen ist? Und werden dadurch, dass bestimmte Kapita­list_innen als „böse“ gebrandmarkt werden, nicht im Gegenzug alle anderen als „bessere“ Kapitalist_innen hingestellt und damit entschuldigt? Fragen über Fragen, die ich hier leider auch nicht beantworten kann… Es dürfte immerhin sinnvoll sein, mal drüber nachzudenken.

Klassenkämpferisch-anarchistische Grüße zurück!

justus

 

P.S.: Wenn der Schwaben-Artikel (wie du richtig bemerkt hast) im Stil an antideutsche Flugblätter angelehnt war, dann liegt das daran, dass der Text eben auch eine Parodie auf solche Flugblätter war.

Alles nur ein Spiel?!

Über das umstrittene Amateurtheaterstück ULTRAS

Im Thalia-Theater Halle plaudern die „Ultras“ aus dem Nähkästchen. 10 nette Typen zaubern da einen unterhaltsamen Theaterabend auf die Bretter, in dem sie beschreiben wie die bösen Polizisten sie verprügeln, wie sie Transparente für ihren Lieblingsverein den Halleschen Fuß­ballclub (HFC) gestalten und wie sie am Marathon für krebskranke Kinder teilnehmen. Das ganze ist so gut inszeniert, so witzig, spritzig umgesetzt, dass ich beinahe im Programmheft übersehe, dass die Figuren auf der Theaterbühne und ihre Schauspieler die selben Namen tragen. Ich will gerade aufstehen und mich der standing ovation nach der 5. Vorstellung anschließen – habe nur eben kurz das Programmheft überflogen, da wird dieser unterhaltsame, flache Abend plötzlich verwirrend emotional. Ich ahne plötzlich warum das muskulöse Vater-Sohn-Gespann neben mir meine lauten Lacher über die Selbstironie der Hooligans mit so giftigen Blicken bedacht hatte – weil es gar keine Selbstironie in dem Stück gab. Mein Gewissen löst die erste unangenehme Emotion des Theaterabends aus. Ich fühle mich manipuliert von diesen Kumpels auf der Bühne, die so gut spielten, noch dazu in einem soziokulturellen Projekt, wo ich sonst ängstliche Amateure erwarte. Sie hatten nicht gespielt.

Knappe anderthalb Stunden Theater beschreiben den Alltag und die Geschichten einer Gruppe von „Halle-Ultras“, lose an den zeitlichen Rahmen von drei Fußballbegegnungen des HFC mit anderen Teams gekoppelt. Auf der Drehbühne steht eine Fankurve, die sich rotierend in eine Wand mit Dönerbude verwandeln kann. Den Text für dieses Projekt schrieb Dirk Laucke, ein junger anerkannter Dramatiker mit einer Vorliebe für konfliktträchtige, aktuelle, soziale Themen. Das Geld für das Projekt lieferte die Bundeskulturstiftung mit 67.000 Euro.

Zwölf echte Ultrafans erspielen rasant und selbstbewusst skizzenhafte Situationen mit kurzen, pointierten Dialogen. Dazwischen moderieren sie die Übergänge an, improvisieren mit den abendlichen Gegebenheiten und verstehen es gekonnt, die Zuschauer in ihren Geheimpakt hinein zu ziehen, eine einmalige Insider-story. Dass da Amateure auf der Bühne stehen, versuchen sie nicht zu vertuschen. Der Slang ist heimatlich im Klang und ordinär in der Wortwahl. Das psychologische Mit­einander nach Stanislawski brauchen sie nicht, sie erzählen einfach nur aus ihrem Leben. Der Eine ist ARGE-Mitarbeiter, ein Anderer schafft auf dem Bau, für die Beschreibung des Seelenlebens reichen wenige Vokabeln. Trotzdem ist es kraftvoll und archaisch wenn die neun HFC-Fans es schaffen die Zuschauer des Thalia-Theaters zur Teilnahme an einer ihrer Choreographien zu bewegen. Hier wird die Begeisterung für den Sport spürbar, aber auch der schmale Grat zur Massenhysterie der jeder Grund recht ist.

Die Idee für das Projekt hatte Intendantin Annegret Hahn. Sie wollte einen kulturellen Beitrag zur präventiven Arbeit der Stadt Halle gegen die immer wiederkehrenden gewalttätigen Auseinandersetzungen der HFC-Fans leisten. Sie fragte Dirk Laucke, der sich dann gemeinsam mit Projektleiterin Kathrin Westphal in den HFC-Block begab und zu recherchieren begann. Zu Beginn seiner Arbeit saß er mit seinen Spielern im Fan-Bus. Jetzt haben diese sich von ihm distanziert und werfen ihm vor, er habe sie mit seinem zugespitztem Text in die rechte Ecke gedrängt. Gleich zu Beginn des Stückes stimmt ein „Sportjournalist“ die Zuschauer auf diese Arbeitsweise ein, indem er sie darauf vorbereitet, dass sämtliches Material des Stücks in der Realität gesammelt wurde – hier wird „dokumentarisches Theater“ gespielt. Sowohl im Publikumsgespräch als auch in der 3sat Kulturzeit und dem bereits umfangreichen Web-Diskurs wiederholen und verteidigen die Macher ihr Werk, dessen Ziel von Anfang an nur gewesen sei, das Leben der HFC-Fans auf die Bühne zu holen, einfach so.

An dieser Stelle lohnen sich zwei Fragen: „Was macht dieses Theaterstück?“, und „Was macht es nicht?“

Das Theaterstück gibt neun HFC-Fans die Gelegenheit ihre Sicht auf die Randale, die Pressereaktion, auf ihren Fan-Alltag und ihre Liebe zum HFC kund zu tun. Auf der Bühne geschieht das vor allem auf der Textebene, die Sachverhalte werden be­sprochen, auch die kritischen Themen wie Antisemitismus, Gewaltbereitschaft und Rechtsextremismus. Dafür wurde als An­ta­gonist ebenjener Sportjournalist ein­ge­setzt. Das Stück bringt uns diese Typen näher, so nah dass sie für einen wie mich, der keine Vorkenntnisse über die Ultraszene hat, zu Sympathieträgern werden, deren Freud und Leid ich auf der Bühne teile.

Das Theaterstück unternimmt hingegen nicht den Versuch einer Aufarbeitung. Die HFC-Fans bereuen nichts, sie rechtfertigen und verharmlosen nur. Die Macher haben ihren Spielern während des Prozesses keinen psychodramatischen Rollenwechsel zugemutet. Keiner der HFC-Fans musste in die Rolle eines querschnittsgelähmten Familienvaters schlüpfen, der versehentlich zwischen die Stadionfronten geraten ist. Das Stück meidet angst- und haßerfüllte Situationen, als seien Emotionen nicht der Treibstoff des Theaters sondern giftiger Nebel. Die kritischen Themen bleiben dadurch fein auf der rationalen Ebene, mehr noch, sie werden im Gegenteil durch den Sprachwitz der kecken Schauspieler sogar noch mit positiven Emotionen aufgeladen. Das Stück bietet darum nicht den leisesten Ansatz einer Katharsis – einer Reinigung. Weder in den Spielern, noch in den Zuschauern.

Ein wirkliches Signal für einen Aufbruch zu mehr Toleranz hätte stattdessen eine bewusste Fiktionalisierung von Figuren und Story, ein Rollentausch mit Opfern, die reale Erfahrung von negativen Gefühlen auf der Bühne sein können. Wenn die Zuschauer merken, die da oben auf der Bühne haben sich da echt was zugemutet, die erweitern ihren Horizont.

Die Bühne kann mehr als nur Realität widerspiegeln, sie kann ihr etwas hinzufügen. Moreno, der Erfinder des Psychodramas nannte das den „Surplus-Effekt“.

So aber bleibt mir die peinliche Scham, die ich auch beim Lesen von Nabokovs „Lolita“ verspürte, wo ich mit einem Pädophilen mitfiebere: Wie kann mir Einer symphatisch sein, der „Juden-Jena“ brüllt und sich damit verteidigt, dass alles was im Stadion gebrüllt wird, per Definition unpolitisch und nur bloße Provokation sei. Bin ich jetzt schief gewickelt, weil ich dem Typ Menschlichkeit zugestehe, nachdem ich ihn 90 Minuten auf der Bühne kennen gelernt habe?

Und dem muskulösen Vater-Sohn-Duo bleibt die berauschende Bestätigung, dass ihre „Ultras“ sogar zur Schauspielerei taugen. Das Publikum ist tief gespalten. Die einen distanzieren sich, zu ihnen gehört die Bürgermeisterin der Stadt Halle, die von der Intendantin forderte, das Stück müsse entweder geändert oder abgesetzt werden. Zu ihnen gehört auch die Bundeskulturstiftung, der plötzlich leid tut, dass ihr Geld diesmal keinen Preis gewinnt. Die anderen verteidigen das Stück. Stimmen aus dem Webforum und diversen Kritiken klingen so: „Künstler sollten die ungeschminkte Wahrheit zeigen.“, „Künstler brauchen nicht zu moralisieren.“, „Das Theater braucht mündige Zuschauer, die sich bewusst mit dem Stoff auseinander setzen.“, „Dank dem Thalia-Theater wird der Diskurs um den HFC nun öffentlich geführt und die Täter aus der Fankurve sitzen in den samtenen Sesseln während der Publikumsdiskussion und können nicht weg!“

Die Frage ob die HFC-Ultras nun rechtsradikal, antisemitisch, ausländerfeindlich und chauvinistisch sind, kann das Stück nicht glaubwürdig verneinen. Die Macher fügen der Wiederholung von bereits Erlebtem nichts Neues hinzu.

(M S)

Spielen erlaubt!

KIWEST Bau- und Aktivspielplatz Leipzig e.V.

Stellen wir uns vor, wir sind in diesem spannenden Alter zwischen 6 und 13. Wir haben Energie und dauernd Lust alles Mögliche zu entdecken und auszuprobieren. Die Hälfte unserer Zeit müssen wir leider in der Schule rumsitzen und langweilige Sachen aufschreiben und auswendig lernen, aber das ist eine andere Geschichte. Jetzt ist Nachmittag und wir haben frei, Zeit also… aber wohin gehen wir eigentlich? Auf den Spielplatz wo die Jugendlichen rumhängen und die Kleinkinder im Sandkasten sitzen? Spielen auf der Brachfläche? Wurde gerade eingezäunt. Sportverein oder Musikschule? Schon wieder Leistung für Erwachsene erbringen, kostenpflichtig sogar. Auf dem Bürgersteig hin- und herlatschen? Play­station? Fernsehen?

Wenn für Kinder Welt und Sozialisation so aussehen, ist es höchste Zeit für einen Bau- und Aktivspielplatz! Hier ist alles ganz anders als in der leistungsorientierten Schulwelt oder der kommerzorien­tierten Medienwelt. Ein Bau- und Aktivspielplatz ist ein (pädagogisch betreuter) Freiraum, wo Kinder selbstbestimmt spielen, basteln, bauen, gärtnern, Tiere umsorgen, kochen, backen, diskutieren, chillen und nebenbei lernen können, was das Zeug hält. Ausgegangen wird dabei vom Ansatz der demokratischen Bildung, dass das Interesse des Kindes an Eigenverantwortung und kreativer Entfaltung auch das einer demokratischen Gesellschaft sein sollte. Das klingt utopisch, ist aber an vielen Orten Realität: So gibt es etwa in Dresden acht Jugendfarmen (Schwerpunkt Tierhaltung) und Aktivspielplätze, in Stuttgart 22, in Berlin 53 und in Leipzig Einen.

Daher gründeten wir im Januar 2008 den KIWEST Bau- und Aktivspielplatz Leipzig e.V. (was soviel heißen sollte wie Kinderwerkstatt aber besser klang). Unser Ziel ist es seitdem, einen Bau- und Ak­tiv­spielplatz im strukturschwachen Leip­ziger Stadtteil Plagwitz aufzubauen und die Lokalpolitik davon zu überzeugen, dass solch ein Angebot, wie in anderen Kommunen auch, finanziert werden muss. Einige Finanzierungsmöglichkeiten entpuppten sich zwar als Seifenblasen, aber immerhin liegt dem Jugendhilfeausschuss in Zusammenarbeit mit dem RAA Leipzig (Regionale Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie) nun ein Antrag auf kommunale Förderung vor, über den Ende des Jahres abgestimmt wird.

Seit dem 1.10.2009 haben wir das Gelände auf der Klingenstraße 10 in Plagwitz von der LWB gepachtet. Hier läuft bis zum Beginn der kommunalen Förderung ein ehrenamtliches Vorläuferprojekt. Nach der langwierigen Vor­­arbeit, einer Informa­tions­ver­an­stal­tung, Infoständen, einer Unterschriftensammlung, dem Ausbau eines Bauwagens, Verhandlungen mit dem Jugendamt, dem Amt für Stadtent­wicklung und der LWB kann es also endlich losgehen!

Seitdem ist jeden Samstag von 10 bis 17 Uhr euer freier, pädagogisch betreuter Bauspielplatz im Leipziger Westen geöffnet. Momentan bieten wir hauptsächlich Holzbau an. Es soll nach und nach um Lehm- und Weidenbau, Garten, Werkstätten und zwei niedliche Kaninchen ergänzt werden. Kleinere Kinder können gerne kommen, sollten aber ihre Eltern mitbringen. Gebastelt wird natürlich bei jedem Wetter, draußen oder im warmen Bauwagen bei Tee und Keksen.

(jo)

Arbeitgeber aller Länder, vereinigt euch!

Die Wahl ist vorüber, der Koalitionsvertrag steht. In einem sind FDP und CDU sich einig: „Leistung muss sich wieder lohnen“, besonders die Leistung der hart arbeitenden Unterneh­mer_innen. Alle anderen sollen den Gürtel enger schnallen für den Standort Deutschland. Die geplante Steuersenkung von jährlich etwa 14 Milliarden Euro muss ja auch finanziert werden.

Wie der Arsch auf den Eimer passt da das Jammern des früheren Berliner Finanzsenators Sarrazin darüber, „dass 40 Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden“. Sarrazins Forderung: “Wir müssen in der Familienpolitik völlig umstellen: Weg von Geldleistungen, vor allem bei der Unterschicht.” Damit wiederholt Sarrazin nur, was der englische Ökonom Thomas Malthus schon vor 200 Jahren behauptete: Der Kapitalismus ist kein Problem, die Armen vermehren sich halt nur wie die Karnickel.

Auch Peter Sloterdijk (neben Habermas der populärste deutsche Philosophendarsteller) nutzte die Chance, sich als freischaffender Ideologielieferant zu profilieren. In einem FAZ-Artikel kommt Sloterdijk nach diversen Kreuz- und Querden­kereien zu einem überraschenden Fazit: Das jetzige System sei gar kein Kapitalismus, sondern ein steuerstaatlicher „Semi-Sozialismus“, die Produktiven drohten heute von den Unproduktiven, die Unternehmer von der Unterschicht ausgebeutet zu werden. Von welchem Elfenbeinturm aus Sloterdijk diese drohenden Zeichen der Zeit gesichtet hat, bleibt sein Geheimnis. Im Feuilleton wird er dafür trotzdem als wacker gegen die linke Meinungsdiktatur streitender Freidenker bejubelt. Eben jene, die sonst gern verkünden, der Klassenkampf sei Schnee von gestern, rufen damit zum Klassenkampf von oben auf. Da hilft nur Klassenkampf von unten.

(justus)