Archiv der Kategorie: Feierabend! #53

Editorial FA! #53

Mit dem Zuspätkommen ist das so eine Sache. In Maßen zu spät zu kommen, ist nicht weiter schlimm, sondern gehört fast schon zum guten Ton – „Pünktlichkeit plus“ nannte das der gute Max Goldt mal. Aber übertreiben sollte mensch es nicht. Klar, auch dieser Feierabend! sollte eigentlich viiieeel früher rauskommen, nach drei Monaten, und nicht erst nach sechs… Aber das kennt ihr, werte Leser_innen, ja bereits von uns. Wir sind eben haltlose Anarcho-Schlawiner und -Schlawinerinnen, und jetzt ist ja auch alles wieder gut. Peinlich ist nur, dass sogar der Cee-Ieh-Newsflyer uns diesmal einen Schritt voraus war: In dessen Märzausgabe findet ihr eine Kritik der IG Roboterkommunismus an dem in FA! #52 veröffentlichten Text der ADI, „Warum Degrowth und nicht Klassenkampf?“.

Sollten wir ab jetzt unser Heft vielleicht nicht mehr nach dem Erscheinungsmonat, sondern nach Jahreszeiten benennen? Dann kann die Sonne wieder aufgehen, denn der Frühling kommt. Außerdem bemühen wir uns beim Georg-Schwarz-Straßenfest im Mai um einen Generalablass vom Leipziger Papstbewerber Bruder Ignatius. Wir unterschlagen schon fleißig das Kleingeld aus der Feierabend!-Kasse und hoffen, dass es für unsere Sünden reicht. Ansonsten verbünden wir uns eben mit dem Teufel.

Nee, Blödsinn! Ganz im Ernst wollen wir in Klausur gehen, Strukturen besprechen, wieder arbeitsfähig werden. Dabei könnt ihr uns gern unterstützen – ob als Artikellieferant_in, Redaktionsmitglied oder fliegende_r Feierabend!-Händler_in. (einfach anschreiben unter: feierabendle@riseup.net).

Unsere „Verkaufsstelle des Monats“ ist übrigens die Anarchistische Bibliothek und Archiv Wien. Viel Spaß beim Schmökern!

Eure Feierabend!-Redaktion

Ein Job – 1000 Schlechtigkeiten

Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) muss sich einiges anhören dieser Tage. Dabei gibt er doch beflissen den Mustersparer im Kabinett Tillichs. Ulbig will sich für höhere Weihen profilieren, im Juni OBM von Dresden werden. Inzwischen sind aber sogar „seine“ Polizisten schlecht auf ihn zu sprechen. Weil die Dienste vor allem für Großeinsätze steigen, die Stellen aber munter gekürzt werden, melden sie sich ständig krank, im Schnitt 32 Tage im Jahr – fast doppelt so oft wie der Durchschnittssachse. Jede dritte Beschwerde ist „psychisch bedingt“, klagt die Gewerkschaft GdP.

Das kann selbstverständlich nur eine grobe Schätzung sein, denn schließlich wurde letztes Jahr lächerliche 182 mal Anzeige gegen die Ordnungsmacht wegen Körperverletzung im Amt erstattet. Nur bei fünfen davon kam es überhaupt zu einer Anhörung und auch bei dieser handvoll Fälle konnte oder wollte die Justiz abschließend keine Schuld der beschuldigten, psychisch stabilen und integren Büttel feststellen.Wegen vorgeblicher Personalnot musste im Februar gar ein LEGIDA-Spaziergang untersagt werden. Ulbig reagierte wie gewohnt taktisch auf die patriotischen Abendlandbewahrer und kündigte eine neue Sondereinheit an, die gegen „straffällige Asylbewerber durchgreifen“ soll.

Das brachte Bundesinnenminister de Maiziere unter Zugzwang: auch er kündigte eine neue Antiterrortruppe an – auf dass sich Charlie Hebdo nie wiederhole! Die hochgerüstete und gepanzerte Schnelleingreiftruppen sollen auch für reguläre Einsätze bereitstehen und damit eine imaginierte Lücke zwischen Bereitschaftspolizei und GSG9 schließen. Ob die Superbullen dann Terroristen jagen oder doch wieder nur Fußballfans kontrollieren, muss die Zukunft zeigen. Der Neubau des BND ist indes durch einen Anschlag abgesoffen – dort kontrollierte ein privater Wachdienst.

bonz

Auf sie mit Idyll!

Gutgemeintes gegen LEGIDA

„Leipzig, du stolze Stadt!“ – so titelte die Bild-Zeitung, nachdem am Vortag, dem 12. Januar 2014, die erste LEGIDA-Demonstration über die Bühne gegangen war. Die Punktauswertung schien tatsächlich ziemlich eindeutig zu sein: Während sich auf der einen Seite rund 3000 „patriotische Europäer“ versammelt hatten, stellten sich ihnen etwa 30.000 Gegendemonstrant_innen in den Weg. „Für Toleranz, mit buntem, kreativem und vor allem friedlichem Protest – man kennt das ja. Die offene Gesellschaft wurde vorerst erfolgreich gegen ihre Feinde verteidigt.

Freiheitlich-demokratisches Liedgut

Allerdings wirken die demokratischen Abgrenzungsrituale einigermaßen befremdlich, wenn man ihnen aus der Nähe ausgesetzt ist. So geschah es an diesem Abend auch mir, als ich versuchte, mich eben mal geschmeidig durch die Menge zu schlängeln, die den Waldplatz verstopfte. Stattdessen fand ich mich minutenlang in der Menschenmasse eingekeilt und konnte mich nicht dagegen wehren, als plötzlich Sebastian Krumbiegel die nahegelegene Bühne betrat und ohne Umschweife ein Loblied auf die Toleranz anstimmte (1).

Die persönliche Integrität von Herrn Krumbiegel will ich hier nicht in Frage stellen – der Mann engagiert sich schon seit Dekaden „gegen rechts“, meint es also offensichtlich ernst und ehrlich. Aber trotzdem, und auch obwohl das Lied ziemlich kurz war, schaffte Krumbiegel es doch, erstaunlich viel Unsinn hineinzupacken. Das fing schon bei den ersten beiden Zeilen an: „Kein Mensch hat Lust auf Ärger / kein Mensch ist illegal“. Die erste ist eine Tatsachenfeststellung, die binsenhafter kaum sein könnte – klar, kein Mensch hat Lust auf Ärger. Dass kein Mensch illegal ist, ist dagegen bei weitem nicht so klar. Tatsächlich klassifiziert das demokratische Staatswesen alle naselang Menschen als „illegal“, wenn sie sich unerwünscht auf seinem Territorium aufhalten. In seinem ursprünglichen Kontext dient der Satz „Kein Mensch ist illegal“ auch genau dazu, dies als Tatsache zu benennen und zu skandalisieren – während in der Krumbiegel-Version nur noch die Aussage übrigbleibt: „Alles in Ordnung.“

Aber gut, es ist eh schon schwierig genug, es so hinzukriegen, dass sich am Ende alles reimt – wahrscheinlich wollte der Künstler beim Texten nur auf den Kehrreim hinaus, der da lautete: „Mal so von Mensch zu Mensch / Wir sind doch international.“ Mit „wir“ waren offenbar a) das weltoffene Leipzig, und b) der weltoffene Sebastian Krumbiegel gemeint. So berichtete Krumbiegel im Rest des Songs auch hauptsächlich von seinem Dasein als Tourist, wo er überall schon war (New York, Tokio) oder eben noch nicht war (in Rio, „aber das mach ich auch noch klar“). Gute Absicht hin oder her – es ist schon ziemlich doof oder dreist, sich mit Illegalisierten oder Geflüchteten zu vergleichen, weil man selber auch schon mal im Ausland war. Und auch die LEGIDA-Demonstrant_innen dürften sich kaum von ihrer Abneigung gegen bestimmte Menschengruppen abbringen lassen, nur weil Sebastian Krumbiegel so gern verreist. Im Ausland waren sie sicher auch schon mal – das hält im Zweifelsfall niemanden davon ab, rassistische Vorurteile zu hegen oder auf die eigene Nation stolz zu sein.

Das ficht Herrn Krumbiegel freilich nicht an. In seiner Perspektive „so von Mensch zu Mensch“ tauchen kompliziertere soziale Verhältnisse (wie z.B. das Verhältnis von Mensch und Staat) gar nicht erst auf. Was dann noch an Problemen übrig bleibt, sind letztlich nur Fragen der persönlichen Einstellung, die sich mit etwas gutem Zureden schon behandeln lassen: Seid tolerant, seid nett zueinander. Das klappt zwar nicht, aber darauf kommt es auch nicht an. Letztlich soll das „Courage zeigen“, „Farbe bekennen gegen rechts“ usw. ohnehin nur die eigene Identität bestärken: „Wir“ sind international, also weltoffen und tolerant und gute Demokrat_innen, während die anderen eben engstirnig, intolerant und undemokratisch sind.

Wer ist das Volk?

Mit so einer Identität kann man sich natürlich wohlfühlen. Man könnte sich aber auch fragen, wie denn „die anderen“, in diesem Fall also die LEGIDA-Demonstrant_innen, zu ihren Ansichten kommen. Und bevor man sich daran macht, den Status quo gegen all die unsympathischen „Auswüchse“ zu verteidigen, die er selbst mit schöner Regelmäßigkeit hervorbringt, könnte man sich auch über diesen mal ein paar Gedanken machen. Die „offene Gesellschaft“, das soll­ten wir nicht ver­gessen, ist auch eine Klassengesellschaft, die sich im Alltag (z.B. auf dem Arbeitsamt) nicht immer so nett ausnimmt wie auf lauschigen Demonstrationen für Toleranz.

Dreist gesagt ließe sich ja auch der Rassismus als Klassenfrage bestimmen: Bestimmte Merkmale, wie z.B. die Hautfarbe, werden als Begründung benutzt, um bestimmten Menschengruppen eine bestimmte Position in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zuzuweisen – es ist z.B. kein Zufall, dass Thilo Sarrazin gegen Hartz-IV-Empfänger_innen genauso hetzt wie gegen „Kopftuchmädchen“ und angeblich dumme Einwanderer aus dem arabischen Raum.

So thematisieren die LEGIDA-Demonstrant_innen – zumindest indirekt – immer auch ihre eigene Stellung in der Gesellschaft, wenn sie bestimmte Menschengruppen verteufeln und abwerten. Das Ziel ist es, die Nation und die eigene Position in dieser gegen eine vermeintliche Bedrohung von außen, also Werteverfall, unkontrollierte Einwanderung, islamische „Unterwanderung“ der Gesellschaft etc. pp. zu verteidigen. Wobei die Bewegung in der Tat vor allem für jene attraktiv zu sein scheint, die noch eine Position zu verteidigen haben: An den ersten LEGIDA-Demonstrationen beteiligten sich auffällig viele gut gekleidete Bürgerinnen und Bürger aus der Altersgruppe von vierzig an aufwärts – Menschen „aus der Mitte der Gesellschaft“ (2).

Das sorgte in den letzten Monaten für viel Verwirrung, weil sich eben auch die Gegner_innen von PEGIDA/LEGIDA als „Mitte der Gesellschaft“ fühlten und in Szene setzten. So gestaltete sich die ganze „Debatte“ hübsch spiegelbildlich. Zum Beispiel bezeichnete Justizminister Heiko Maas die PEGIDA-Demonstrant_innen als „Schande für Deutschland“ (3), was bei diesen wiederum für helle Empörung sorgte – den Vorwurf, sie seien nicht ordentlich nationalistisch, wollten sie nicht auf sich sitzen lassen. Politiker_innen und sonstige Prominente wiesen darauf hin, dass eine geregelte Einfuhr von „nützlichen“ Ausländern doch gut für den Standort sei (4) – während die PEGIDA-Demonstrant_innen schlicht abstritten, dass „die Ausländer“ irgendwelche besonderen Fähigkeiten mitbrächten, so wie ein älterer Demonstrant in Dresden es beispielhaft formulierte: „Das sind alles junge Kerle … Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass das hochqualifizierte Fachkräfte sind!“ (5)

Und letztlich passt auch Sebastian Krumbiegel in dieses Szenario hinein: Während er ein imaginäres Deutschland verteidigt, wo „kein Mensch illegal“ ist und es auch sonst keine nennenswerten Probleme gibt, wollen die PEGIDA-Demonstrant_innen ein starkes, souveränes Deutschland, wo es nicht zu viele Ausländer, aber dafür schöne „christliche“ Weihnachtsmärkte gibt, wo erzgebirgische Holzschnitzkunst und sonstige Folklore gepflegt wird und alle fleißig den „Faust“ oder die „Buddenbrooks“ lesen. Die Bedrohung kommt in beiden Fällen von außen – von islamischen Barbarenhorden oder von einigen Ewiggestrigen, die es immer noch nicht gelernt haben, zu allen Menschen nett zu sein.Man muss den Vergleich natürlich nicht überstrapazieren. Wenn man Lust hat, kann man auch darüber streiten, welche Vorstellung von Deutschland man nun sympathischer findet – imaginär sind sie alle beide.

justus

(1) www.youtube.com/watch?v=bZZx0EPnBOA

(2) so mein subjektiver Eindruck, der von einer Studie der TU Dresden bestätigt wird: vgl. http://tu-dresden.de/aktuelles/newsarchiv/2015/1/pegida_pk

(3) www.spiegel.de/politik/deutschland/pegida-heiko-maas-nennt-proteste-schande-fuer-deutschland-a-1008452.html

(4) z.B. in der Bild-Zeitung: www.bild.de/politik/inland/pegida/promis-sagen-nein-zu-pegida-39208948.bild.html

(5) zu finden hier www.youtube.com/watch?v=Bl0KPaLPL7g ab Minute 8:30.

 

Was gibt´s Neues in Altwest?

In alter Zeit, als das Wünschen noch half… Da wurde Leipzig noch in einem Atemzug mit Detroit genannt, gab es Symposien, Ausstellungen, Wettbewerbe zum Thema „schrumpfende Stadt“ allüberall. Das ist keine zehn Jahre her, doch inzwischen ist der neue Kampfbegriff „Gentrifizierung“ an seine Stelle getreten. Seitdem ist dieser Topos, der lokal mit dem Begriff #hypezig einigermaßen treffend umrissen ist, ein Dauerbrenner in den Medien. Diese überschlagen sich im Wochenrhythmus mit den neuesten sensationsheischenden Beiträgen zum Thema Boomtown Leipzig. Nur selten jedoch werden die Akteure der Verdrängung benannt. Wie beispielsweise die Stadtverwaltung: „Leipzig hat ein ganz klares räumliches Leitbild: die kompakte Stadt, die Stadt der kurzen Wege. Der Zuwachs wird also in der inneren Stadt fokussiert“, so Jochen Lunebach, Leiter des Stadtplanungsamtes. „…hier gibt es noch ausreichend Flächenpotentiale, um die notwendigen Wohnungen und Einrichtungen unterbringen zu können – auch bei einem anhaltend starken Zuzug.“ (1)

Der ist in der Tat beträchtlich: inzwischen zählt Leipzig wieder 551.871 Einwohner (2) – so viel wie zuletzt vor 30 Jahren.

Leipziger Häuserkampf – Rennen um Ruinen

Die Zeichen stehen auf Sturm: Wurde in den ersten 20 Jahre nach der Wende meist nur über Abwanderung und Verfall geklagt, so schossen in den letzten fünf Jahren die Kräne und Baugerüste wie Pilze aus dem Boden. Leipzig ist mittlerweile die am schnellsten wachsende Stadt des Landes, hat die Einwohnerzahl aus der Wendezeit schon überschritten. „Wohnen wird in dieser Zeit zur zentralen sozialen Frage“ (3) mahnte kürzlich die frisch gewählte Landtagsabgeordnete Juliane Nagel, wobei wir ihr gerne zustimmen. Noch sind es nur Einzelfälle, in denen es zu schikanöser Verdrängung der Altmieter kommt, das gibt auch das Netzwerk „Stadt für Alle“ zu, doch der Druck steigt spürbar an. Dass diese Entwicklung punktuell sehr unterschiedlich abläuft, lässt sich gut anhand der Karten auf www.einundleipzig.de erkennen. Besonders schnell wächst aktuell neben Wahren und den zentrumsnahen Stadtteilen im Osten vor allem Leipzigs wilder Westen, nach Schleußig und Plagwitz sind derzeit Lindenau und Leutzsch an der Reihe. (4) Der Oberbürgermeister höchstselbst, der sich seinen letzten Wahlkampf im Wesentlichen von Bauunternehmen hat sponsorn lassen (5), äußerte unlängst die Ansicht, dass Lindenau in naher Zukunft „DER Stadtteil Leipzigs“ (6) werde. Vergaß aber zu erwähnen, welche unangenehmen Folgen das für Alteingesessene und Zugezogene hat, wie etwa der enorme Mangel an Kita- und Schulkapazitäten, um nur die offensichtlichsten Versäumnisse der Verwaltung zu benennen.

Mit am lautesten wird derzeit in der Angerstraße gebaut, wegen der Anbindung an die kleine Luppe und weil das bürokratische Hickhack am Lindenauer Hafen so manchen Investor verschreckt hat. Größtes Bauvorhaben ist die Umwertung einer verfallenen Holzleimfabrik in eine luxuriöse Eigentums-Wohnanlage namens „Pelzmanufaktur“, wo es 35 m²-Wohnungen für rund 80.000 Euro zu erstehen gab (6), oder eine Vierzimmerwohnung (139 m²) für 390.000 Euro. Gab, wohlgemerkt, denn schon kurz nach Baubeginn waren alle Wohneinheiten verkauft. Die Preise mögen läppisch wirken im Vergleich mit anderen deutschen Großstädten, doch für Lindenauer Verhältnisse ist das astronomisch. Es wäre dumm zu glauben, dass der rasante Zuzug (8) ohne Folgen für die Alteingesessenen bleibt, doch sind die von den Apologeten der Gentrifizierung befürchteten Verdrängungseffekte bislang nicht eingetreten: Der Lindenauer Markt ist noch immer ein Tummelplatz der Abgehängten, Abgelegten und Aufgegebenen.

Das änderte sich auch nicht, als vor zehn Jahren die ersten Wächterhäuser auf den Plan traten, zogen sie doch vor allem kreative Menschen mit geringem Einkommen an. Allerdings verschafften sie dem Kiez das Image als hip, rough, edgy, etc. – mit dem Effekt, dass plötzlich die New York Times und ungezählte andere Medien (9) berichteten, wie cool es hier doch sei. Daraufhin dauerte es naturgemäß nicht lange und Immobilienspekulanten erkannten ihre Chance und das Potenzial des Kiezes. Wie man heute weiß, dienten die Hauswächter als flexibel und günstig anzuwerbende Pioniere (bereits damals warnte der Feierabend! vor dem zu kurz gedachten Konzept, beginnend mit Ausgabe #29).

Licht und Schatten

Dass die Mietpreise vergleichsweise langsam steigen, liegt vorrangig daran, dass es noch genügend Brachflächen und seit den Wendewirren leerstehende Häuser gibt, die erst noch Stück für Stück in Rendite abwerfende Investments umgemünzt werden können. Nicht einmal die räumliche Nähe der Kleinmesse und des Zentralstadions, deren Veranstaltungen lärmendes Publikum magisch anzieht (und einen Verkehrskollaps herbeiführt), kann diesen Prozess bedeutend bremsen. Im Gegenteil – die gewieften Marketingstrategen der Immobilienmakler versuchen selbst aus diesem Makel Profit zu schlagen. Unter dem postironischen Label „Kiez mal rein!“ werden selbst Penthouses, von denen man zur einen Seite Kleinmesse und Rote-Brause-Tummelplatz im Blick hat und zur anderen das Parkdeck von Kaufland, für fast geschenkte 399.000 Euro angeboten (10). Und vom Fleck weg gekauft. Gewiss, dieser Zustand ist auch zu nicht unerheblichen Teilen durch die desaströse Situation auf dem Finanzmarkt verursacht: Wo Sparkonten, -briefe, Anleihen und Renten kaum oder gar Minuszinsen abwerfen, erscheint „das Investment“ in Immobilien langfristig lohnender zu sein. Ist es in gewissen Lagen sicher auch, doch treiben solche Überlegungen die Blasenbildung nur weiter an. Nicht von ungefähr erinnert dieses Verhältnis an die Lebensmittelspekulationen an der Börse, wo Mangel und Leid noch vermehrt werden durch den Antrieb, möglichst viel Profit aus einem Grundbedürfnis zu pressen.

Ein wenig fühlt mensch sich an das kleine gallische Dorf aus dem Comic erinnert, welches von römischen Heerlagern umgeben ist, betrachtet man vor diesem Hintergrund das Squat Lindenow. Seit mittlerweile zweieinhalb Jahren leben, arbeiten und feiern hier junge Menschen abseits vom Verwertungszwang und der Profitlogik der Miethaie nebenan. Grund genug für den Feierabend!, sich das Treiben einmal zu beschauen und die Besetzer_innen mit naiven Fragen zu löchern wie im folgenden Interview. „Dreckig bleiben“ nennt uns einer der Initiatoren des Projektes die Vision für Gegenwart und Zukunft. Mir sei das Pathos verziehen, doch es ist diesen hundefreundlichen Dosenbierafficionados zu wünschen, dass sich ihr Haus in diesem feindlichen Umfeld lange halten kann. Eben weil sie ihren Kiez abwerten und damit erhalten helfen. Und weil sie ein Experimentierfeld bieten, um Antworten auf Fragen zu finden, die vom Bündnis „Stadt für alle“ ebenso wie im Film „Verdrängung hat viele Gesichter“ (11) aufgezeigt werden.

Syndikat als einziger Ausweg?

Auf Unterstützung der Stadtverwaltung sollte hingegen niemand hoffen. Denn die Personen mit Entscheidungsbefugnissen im Rathaus bewerten ganz offensichtlich die Erhaltung der Altbausubstanz höher als Partikularinteressen. So schön die Sanierung denkmalgeschützter Gebäude auch ist, doch selbst auf Brachen angesiedelte selbstverwaltete Projekte und Wagenplätze durften noch immer nicht dem Status der Duldung entwachsen. Ein beredtes Zeugnis, wohin die Entwicklung gehen soll, zeigt die Verbreitung von sogenannten „Stadthäusern“ auf Freiflächen. Auch die perfide Instrumentalisierung von Bürgerpartizipation und von keinerlei Sachkenntnis zeugende Statements wie dieses (aus dem Arbeitsprogramm des OBM für 2020): „Leipzig wächst! Die Einwohnerzahlen steigen, seit 2010 um rund 10.000 Menschen jährlich. […] Leipzig braucht dieses Wachstum dringend, um seinen Bürgerinnen und Bürgern Lebensqualität dauerhaft bieten und als Stadt auf eigenen Füßen stehen zu können.“ (12) Wie viele Einwohner Leipzig denn haben muss, um eigenständig sein und die Lebensqualität halten zu können, behält der Bürgermeister aus naheliegenden Gründen für sich.

Der unübertreffliche Max Goldt – sonst nicht als Befürworter von Umverteilung bekannt – sprach schon im Sommer 1992 deutlich aus, woher die ganze Chose rührt:

Es gibt nämlich gar keine Wohnungsnot, sondern nur zu viele Zahnärzte, Innenarchitekten und Zeitungsredakteure, die ganz allein in riesigen Altbauwohnungen wohnen…“ (13). Einen begrüßenswerten Ansatz haben darum auch die Menschen hinter der Aktion „Willkommen im Kiez“, die Asylbewerberinnen dezentral in WG-Zimmern und Mietwohnungen in Lindenau und Plagwitz untergebracht sehen wollen (14). Höchstwahrscheinlich ist die Schnittmenge zwischen denen, die solcherlei fordern und jenen, die riesige Altbauwohnungen für sich beanspruchen, gleich null.

bonz

(1) www.mdr.de/sachsen/leipzig/leipzig-platzt100_zc-20d3192e_zs-423b0bc6.html

(2) www.leipzig.de/news/news/einwohner-entwicklung-uebertrifft-selbst-optimistischste-prognosen/

(3) www.weltnest.de/Blog/577/was-fr-einen-oberbrgermeister-wrden-sie-sich-fr-leipzig-wnschen

(4) Im Osten der Stadt ist die Entwicklung mancherorts ähnlich dynamisch, doch in kleinerem Maßstab, die Verdrängungseffekte werden des erheblich größen Leerstands wegen noch etwas länger auf sich warten lassen.

(5) LVZ vom 19.03.2014

(6) www.bild.de/regional/leipzig/burkhard-jung/leipzigs-ob-jung-mag-hypzig-nicht-37168814.bild.html

(7) dima-immobilien.de

(8) Von 2008 bis 2013 hat Lindenau 665 Einwohner hinzugewonnen, ein Zuwachs von 25,9%. Quelle: www.leipzig.de/fileadmin/mediendatenbank/leipzig-de/Stadt/02.6_Dez6_Stadtentwicklung_Bau/61_ Stadtplanungsamt/Stadtentwicklung/Monitoring/Monitoting_Wohnen/Monitoringbericht_2013_14_web.pdf?L=0

(9) www.hypezig.tumblr.com

(10) dima-immobilien.de/immobilie-Henricistra%DFe+15%2B04177+Leipzig%2BLindenau/vk-henri-allgemein

(11) berlingentrification.wordpress.com

(10) www.leipzig.de/buergerservice-und-verwaltung/stadtverwaltung/oberbuergermeister/arbeitsprogramm-leipzig-2020/?eID=dam_frontend_push&docID=28519

(13) Titanic!-Kolumne vom Juli 1992

(14) www.willkommenimkiez.de/

Interview: Squat Lindenow

Feierabend!: Wie habt ihr zusammengefunden und wie definiert ihr euch als Gruppe?

Squat Lindenow: Als wir hier angefangen haben, waren wir zu dritt. Über gemeinsame Freundschaften haben wir uns vergrößert, inzwischen sind wir neun. Als Gruppe haben wir keine festgelegte Ausrichtung, uns eint die politische Gesinnung.

FA!: Was war der Anlass, gerade dieses Haus in der Angerstraße zu besetzen?

SL: Wir waren unabhängig voneinander auf der Suche nach einem geeigneten Haus. Dieses Haus stand leer, hat einen Garten und ist stadtnah. Außerdem gefällt uns, dass es architektonisch heraussticht. Eines Tages stand die Eigentümerin plötzlich vor uns und hat ein sehr nettes Gespräch mit uns geführt. Sie duldet uns hier, weil wir die Bausubstanz erhalten. Das Haus stand 16 Jahre lang leer, darum ist vor allem das Dach in einem schlechten Zustand. Die einzige Bedingung ist, dass potenzielle Kaufinteressenten auch hereingelassen werden. Das war bisher viermal der Fall, jedoch machen wir denen klar, dass das Haus nur mit uns darin zu kaufen ist. Einmal waren auch Leute vom HausHalten e.V. da.

FA!: Was stört euch denn am Wächterhaus-Konzept von „Haushalten e.V.“?

SL: Wir haben deren Vertreter als scheinheilig erlebt, denn sie geben vor, für günstigen Wohnraum zu sorgen. Dabei kooperieren sie eng mit der Stadt und sind mitschuldig, dass der Westen und der Osten der Stadt momentan so aufgewertet werden. Wir fordern unser Wohnrecht ein und finden, für Besetzung ist jetzt genau die richtige Zeit.

FA!: Wollt ihr nicht letzten Endes selber einen legalen Status? Oder seht ihr euch auch nur als Zwischen-Nutzer?

SL: Wir brauchen keinen Vertrag! Wir wollen auch keine Miete zahlen! Wir fühlen uns auch so sicher. Wohnen ist ein Grundrecht, wieso viel Miete zahlen? Was wäre die Stadt ohne Menschen? Wir fänden es wünschenswert, wenn wir Akzeptanz finden und dieses Projekt so weiterentwickeln können. Schön wäre, wenn andere Leute angeregt werden, über die offensichtlichen Alternativen nachzudenken und sich selbst nicht so sehr einengen und eingrenzen lassen.

FA!: Welche Angebote habt ihr an den Start gebracht, was ist noch in Arbeit?

SL: Wir kochen jeden Dienstag Abend VoKü, am Freitag bieten wir auch eine Fahrradwerkstatt an. Zu diesen Zeiten kann auch der Umsonstladen genutzt werden. Wir sind jederzeit für Außenstehende offen, Auswärtige können hier pennen. Andere Angebote sind in Vorbereitung, jedoch noch nicht spruchreif.

FA!: Wie reagieren die Anwohner, Stadt und Polizei auf euch?

SL: Die Nachbarn bringen uns öfter mal Einrichtungsgegenstände vorbei, die sie nicht mehr brauchen und plaudern auch gerne mit uns, wenn wir zum Gassi gehen draußen sind. Dahingehend können wir uns also nicht beschweren. Die Polizei und die Stadt sind bislang friedlich geblieben, doch generell werden wir als Gefahrenquelle eingeschätzt. Das hat beispielsweise zur Folge, dass bei Demos im Stadtteil eine Wanne direkt gegenüber vom Haus geparkt wird. Lediglich das Ordnungsamt macht Stress und sitzt der Eigentümerin im Nacken. Die haben vor Monaten mal gemeckert, als sie den verstärkten Zaun bemerkt haben, aber seitdem ist nichts mehr gekommen. Wir sind schon aus eigenem Vorteil daran interessiert, nicht zuviel Stress zu haben.

FA!: Wie wichtig waren die Erfahrungen aus dem geräumten Hausbesetzungsprojekt in der Naumburger Straße vor zwei Jahren?

SL: Es hat uns viel Erfahrung gebracht im Umgang mit der Polizei. Jetzt wissen wir, was auf uns zukommen kann und sind besser vorbereitet für den Fall der Räumung.

FA!: Ihr strebt seit kurzem auch in die Öffentlichkeit, wollt ihr nur Werbung für eure Partys machen oder geht es euch auch um eine andere Botschaft?

SL: Wir finden es natürlich schön, wenn viele Menschen zu unserer wöchentlichen VoKü kommen oder zu Partys. Aber nach zwei Jahren Arbeit am Haus wollen wir auch mal „ausstrahlen“ und zeigen, dass man nicht gleich ein Haus kaufen muss, sondern es auch anders geht.

FA!: Wie stehen die Chancen für baldige weitere Hausbesetzungen in Leipzig?

SL: Aus unserer Sicht gut, wir sind auch schon eifrig dabei, Metastasen zu bilden und unser Wissen weiterzugeben. Wir unterstützen gerne jegliche Besetzer, die es ernst meinen. Einige Häuser sind in Arbeit, andere in Vorbereitung, aber genauer wollen wir zum jetzigen Zeitpunkt natürlich nicht darauf eingehen.

Interview: bonz

Die Leipziger LebensmittelretterInnen stellen sich vor

Samstag 16:45 Uhr. Treffpunkt am Seiteneingang eines Wochenmarktes in Leipzig. Eine kleine Gruppe überwiegend jüngerer Menschen trifft sich hier, um Lebensmittel zu retten. Deutschlandweit werden jährlich bis zu elf Millionen Tonnen weggeworfen, ein Großteil davon bereits vor dem Verkauf.

Für die FoodsaverInnen geht es darum, dieser Verschwendung etwas entgegen­zusetzen und denjenigen, die das in Wirtschaft und Politik zu verantworten haben, die Gefolgschaft zu verweigern. Wer weggeworfene Lebensmittel rettet und sich darüber versorgt, muss schließlich kein Geld mehr dafür aufwenden. Auch der ökologische Gedanke spielt eine Rolle – wie kann es sein, dass wir Lebensmittel rund um den Globus transportieren, um sie dann direkt in die Tonne zu werfen? Und das, während immer noch ein Fünftel der Weltbevölkerung Hunger leidet und die Ressourcen schwinden?! Manche LebensmittelretterInnen ernähren sich vegan oder vegetarisch und sind über die Ablehnung industrieller Tierhaltung zum Lebensmittelretten gekommen. Es gibt viele gute Gründe, zum/zur FoodsaverIn zu werden – einig sind sich die Aktivist­Innen vor allem darin, dass es besser ist, für eine enkeltaugliche Gesellschaft etwas Konkretes zu tun, als nur darüber zu reden. Das Verwerten und Teilen anstelle des Wegwerfens und Konsumierens ist dabei aus Sicht der FoodsaverInnen eine grundlegende Notwendigkeit.

Für mich ist heute der erste Einsatz. Der Leipziger Wochenmarkt ist aber auch für meine MitstreiterInnen neues Terrain. Zunächst geht es darum, kooperative Händler zu finden. In Zweiergrüppchen werden die Stände abgegrast. So schreite auch ich zielstrebig zu einem Obst- und Gemüsehändler und spreche ihn freundlich, aber selbstbewusst an, um ihm das Konzept zu erklären. Kein leichtes Unterfangen im geschäftigen Treiben, denn der Mann hat keine Zeit.

Statt meinen Vortrag anzuhören, zeigt er auf Türme aus Holzkisten, die am Rand und hinter seinem Stand stehen. Mandarinen, To­ma­ten, Gur­ken, Kohlrabi und Weintrauben in Mengen, für die meine Fahrradtaschen kaum ausreichen dürften. Manche ein wenig matschig, andere mit Schimmel – Sortierung ist nötig. Und die Bereitschaft, sich dabei die Hände schmutzig zu machen.

Die Idee, Lebensmittel in größeren Mengen vor dem Müll zu retten, geht auf den Film Taste the Waste” des Regisseurs Valentin Turn zurück, der 2011 in die deutschen Kinos kam und einige Aufmerksamkeit erregte. Was zuvor nur in privatem Rahmen erprobt wurde, wenn Einzelne zum Containern” aufbrachen, bekommt seither durch die FoodsaverInnen eine professionelle Dimension.

Auch das Buch Leben ohne Geld” des Konsumverweigeres Raphael Fellmer hat das Problem in die Öffentlichkeit gebracht. Die zunächst parallel existierenden Internet-Plattformen www.lebenmittelsretten.de und www.foodsharing.de wurden kürzlich zusammengeführt, um die unterschiedlichen Ansätze – überschüssige Lebensmittel teilen auf der einen, Kooperationen mit Händlern auf der anderen Seite – zusammenzuführen. Inzwischen läuft die Sache bundesweit, in Österreich und der Schweiz erfolgreich. Insgesamt wurden so bis heute über 1000 Tonnen Lebensmittel gerettet. Sie werden untereinander nach Bedarf aufgeteilt, die Überschüsse werden verschenkt oder in sogenannten Fairteilern – öffentlich zugänglichen Verteilungsstellen – eingestellt. In Leipzig wird neuerdings auch die Volxküche in der Libelle (www.libelle-leipzig.de) beliefert.

Die Leipziger Gruppe der FoodsaverInnen besteht seit Oktober 2013 und hat derzeit etwa 50 aktive Mitglieder, die dennoch oft nicht ausreichen, um die Kooperationen mit den Händlern immer sicher abzudecken.

Da Zuverlässigkeit und Regelmäßigkeit Voraussetzung sind, um neue Kooperationen abzuschließen und diese dann dauerhaft zu halten, freuen sich die netten Leipziger LebensmittelretterInnen über jeden Neuzugang, der dann dank des persönlichen Einsatzes Einzelner und durch die Onlineplattform (www.foodsharing.de) in das FoodsaverInnen-Leben mitsamt seinen Regeln eingeführt wird.

Meine Fahrradtaschen sind bis zum Rand gefüllt. Der Händler schüttelt schmunzelnd mit dem Kopf und rät mir, nächstes Mal mindestens mit einem Anhänger zu kommen. Nicht immer funktioniert es so einfach. Bei vielen HändlerInnen muss noch Überzeugungsarbeit geleistet werden. Es gibt also noch viel zu tun. Packen wir’s an!

Rico Kranz

„Versagen mit System“

Ein Interview mit dem Forum für kritische Rechtsextremismusforschung

Vom 23. Februar bis 13. März 2015 war die Ausstellung „Versagen mit System – Geschichte und Wirken des Verfassungsschutzes“ in Leipzig zu sehen. Wir haben mit dem Forum für kritische Rechtsextremismusforschung gesprochen, von dem diese Ausstellung erarbeitet wurde.

FA!: Könnt ihr euch kurz vorstellen? Wer seid ihr und womit befasst ihr euch?

FKR: Wir sind eine Gruppe von Nachwuchswissenschaftler_innen und Menschen, die in der politischen Bildungsarbeit tätig sind. Wir haben uns als studentische Initiative 2005 nach dem Einzug der NPD in den sächsischen Landtag zusammengefunden, weil wir das Gefühl hatten, dass die Forschung zu Themen wie Rassismus, Neue Rechte und Neonazismus an den sächsischen Hochschulen nicht die Aufmerksamkeit erhielt, die es angesichts der politischen Lage verdient hätte.

Über die Beschäftigung mit dem Thema „Rechtsextremismus“ und auch den kritischen Implikationen dieser Kategorie, haben wir uns auch näher angeschaut, wie Gesellschaft und Politik vermeintliche „Extremisten“ identifizieren und von der demokratischen Teilhabe ausschließen. Von dort ist der Weg zur Beobachtung des Verfassungsschutzes und seiner Aktivitäten nicht mehr weit.

FA!: Dazu gibt es ja derzeit in Leipzig die Ausstellung „Versagen mit System“. Was war eure Motivation dabei?

FKR: Der NSU-Skandal hat seit November 2011 das völlige Versagen des Inlandsgeheimdienstes, der ja eigentlich ein Frühwarnsystem für die Demokratie in Deutschland sein will, offenbart. Doch trotz der schrecklichen Verstrickungen von V-Leuten in den Skandal, dem Unvermögen des Dienstes das rechte Terrornetzwerk zu enttarnen und der Behinderung der Aufklärung durch Öffentlichkeit und Justiz, scheint es, als würden die VS-Ämter gestärkt aus der Affäre hervorgehen.

Gleichzeitig ging der VS in den letzten Jahren verstärkt gegen linke Strukturen vor, die in den jährlichen Berichten unter Extremismusverdacht und damit ins politische Abseits gestellt wurden. Viele Initiativen und Einzelpersonen mussten sich vor Gericht erstreiten, nicht mehr vom VS heimlich beobachtet und öffentlich diffamiert zu werden.

Als wir Ende des Jahres 2012 auf eine Podiumsdiskussion eingeladen wurden, auf der der sächsische VS-Präsident seine Ideen von Einsätzen seiner Behörde in der politischen Bildungsarbeit erläutern wollte, hatten wir das Gefühl, dass wir ein Zeichen setzen wollen, dass auch außerhalb akademischer Diskurse wahrgenommen wird. Ein Geheimdienst hat in der politischen Bildungsarbeit nichts zu suchen. Damit war die Idee für eine Ausstellung geboren.

FA!: Und was erfährt man in der Ausstellung?

FKR: Die Ausstellung beleuchtet auf 20 Tafeln in sechs thematischen Abschnitten die Ursachen und Hintergründe für Versagen des Verfassungsschutzes, nicht nur im Fall NSU. Wir zeigen anhand einer Vielzahl weiterer Skandalfälle, die bis in die 1950er Jahre zurückreichen, dass der deutsche Inlandsgeheimdienst für die Demokratie sehr viel Schaden angerichtet hat. Zusätzlich zur Entstehungsgeschichte erläutern wir die problematischen Aspekte an der Verquickung von Geheimdienst und politischer Bildungsarbeit und dem V-Leute-System.

FA!: Die Ausstellung ist in Leipzig ja nur noch bis zum 13. März zu sehen. Wie geht es jetzt damit weiter?

FKR: Die Ausstellung ist als Wanderausstellung konzipiert. Sie war vor Leipzig bereits in Hamburg und Berlin zu sehen. Als nächstes stehen Orte in Sachsen-Anhalt, Bielefeld und Lüneburg auf dem Plan.

Wir werden im Laufe des Jahres auch noch mehr Begleitmaterial zur Ausstellung erarbeiten. Das kann dann auch auf unserer Webseite zur Ausstellung herunter geladen werden: vs-ausstellung.tumblr.com

FA!: Danke für das Interview.

Mindestlohn: Gutes Gewissen für nur 8,50 Euro die Stunde

Seit Anfang dieses Jahres gilt in Deutschland der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn von 8,50€ pro Stunde. Für die Regierungsparteien CDU und SPD ist das Mindestlohngesetz (MiLoG) ein Ausdruck „unsere[r] Wertschätzung der Arbeit und derer, die sie leisten“ (Peter Weiß, CDU) (1) und ein Weg zur gerechten Entlohnung derselben (Andrea Nahles, SPD) (2). Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sieht im Mindestlohn ein Mittel, um Lohn- und Altersarmut zu verhindern, würdige Arbeitsbedingungen zu schaffen, sowie Gerechtigkeit und Gleichberechtigung zu fördern (3). Doch wie sieht es in der Wirklichkeit der Arbeitnehmer_innen aus?

Rechnungen der Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW) zufolge stellt der Mindestlohn keine ausreichende Grundlage zur Sicherung des Lebensunterhaltes dar; der Gang zur Agentur für Arbeit jedenfalls werde durch ihn nicht verhindert (4). Außerdem ermöglicht auch ein Lohn von 8,50€ pro Stunde weder eine langfristige Lebens- bzw. Zukunftsplanung, noch bietet er den vom DGB hochgehaltenen Schutz vor Altersarmut.

Ausnahmen

Hinzu kommen die zahlreichen Ausnahmen, die den „flächendeckenden“ Mindestlohn schon vor seiner Einführung eher zum einem Flickenteppich gemacht haben. So sind folgende Menschen und Arbeitsverhältnisse vom Mindestlohn (vorübergehend) ausgenommen:

– Zeitungszusteller_innen (Sie werden bis 2018 stufenweise an den Mindestlohn angepasst.)

– Menschen unter 18 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung

– Auszubildende

– freiwillige und Pflichtpraktika im Rahmen von Ausbildung/Studium, die weniger als drei Monate dauern

– Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung (zumindest bis 2016; dann soll diese Ausnahme geprüft werden)

– 1€-Jobs, denn hierbei handele es sich nur um eine „Aufwandsentschädigung“

– bis Ende 2016 laufende Tarifverträge, in denen Löhne unterhalb des Mindestlohns vereinbart sind

– freie Mitarbeiter_innen (Selbstständige)

– Werkverträge

– Häftlinge

– nicht genau geklärt ist der Status von Bereitschafts- und Rufbereitschaftsdiensten (ausgenommen Pflegearbeit, wo der Mindestlohn auch bei diesen Diensten gilt!)

Die Länge dieser Liste spricht für sich!

Unter Minijobs versteht man Arbeitsverhältnisse, in denen die Arbeiternehmer_innen monatlich nicht mehr als 450€ verdienen. Auch für sie gilt der Mindestlohn, d.h. die monatliche Arbeitsstundenzahl muss entsprechend angepasst werden. Wichtig für Minijobbende ist die arbeitgeberseitige Aufzeichnungspflicht, die seit dem 01.01.2015 gilt: Demzufolge müssen Arbeitergeber_innen Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeiten erfassen.

Umgehung des Mindestlohns

Gerade so, als würden die zahlreichen Ausnahmen den Mindestlohn nicht schon genug aushöhlen, ist das Internet voll mit Tipps und Tricks von „Expert_innen“ und Rechtsanwält_innen (!) an Arbeitgeber_innen, wie man den Mindestlohn legal umgehen kann (5).

Auch für uns ist es von Vorteil, einen Blick auf diese Taktiken zu werfen, denn nicht alle von ihnen sind legal und nicht eine einzige von ihnen sollte unbeantwortet bleiben! Die folgende Liste bietet nur eine Auswahl:

– unbezahlte Überstunden bzw. Vor- und Nachbereitungstätigkeiten (die natürlich eigentlich bezahlt werden müssen);

– (Schein-)Werkverträge oder (Schein-)Selbstständigkeit (hierbei ist es wichtig zu wissen, dass eine Umwandlung eines vorherigen festen Arbeitsverhältnisses in eine Selbstständigkeit oder einen Werkvertrag nicht erlaubt ist);

– Beschäftigung von Praktikant_innen (auch hier ist eine Umwandlung nicht erlaubt);

– vermehrte Bereitschaftsdienste;

– Senkung der Arbeitszeit, die natürlich in den allermeisten Fällen mit einer Verdichtung der Arbeitsleistung verbunden ist (hier bedarf es der ausdrücklichen Zustimmung der Arbeitnehmer_in);

– Anrechnung der Trinkgeldes (dies ist nicht zulässig, da es sich beim Trinkgeld um eine Schenkung(!) des Gastes an den/die Arbeitnehmer_in handelt);

– Verzichtserklärung des/der Arbeitnehmer_in – egal ob unterschrieben oder nicht, diese Verzichtserklärung ist ungültig! Der Mindestlohn ist unabdingbar und der/die Arbeitgeber_in hat die Differenz ebenso wie die sozialversicherungspflichtigen Abgaben nachzuzahlen!

Generell gilt, dass der/die Arbeitnehmer_in die Differenz zwischen gezahltem Lohn und Mindestlohn einklagen kann. Zusätzlich dazu und den Nachzahlungen der sozialversicherungspflichtigen Abgaben drohen bei Verstößen gegen den Mindestlohn Bußgelder von bis zu 500.000€.

Kritik am Mindestlohn

Wir halten es für äußerst wichtig, keine (versuchte) Unterwanderung des Mindestlohnes unbeantwortet zu lassen und legen jedem und jeder von euch ans Herz, für eure Rechte und euren Lohn einzustehen. Nichtsdestotrotz sehen wir den Mindestlohn weder als Allheilmittel, noch als überhaupt ein ausreichendes Mittel, um signifikante Verbesserungen zu erreichen.

Immer wieder wird die Kritik am Mindestlohngesetz laut, dass viele Punkte schon im Gesetzestext so undeutlich formuliert sind, dass sie einer Unterwanderung Tür und Tor öffnen. Hinzu kommen voraussichtlich mangelhafte Kontrollen seiner Umsetzung. Weiterhin ist es ohne Weiteres vorstellbar, dass aufgrund der generellen Abhängigkeitsverhältnisse der Arbeitnehmer_innen von den Arbeitgeber_innen, die häufig durch die Angst vor Verlust des Arbeitsplatzes und mangelnder Alternativen noch verstärkt werden, Verstöße gegen das MiLoG nicht kommuniziert und der zustehende (Mindest-)Lohn nicht eingefordert wird.

Auch an der prinzipiellen Ausbeutung in kapitalistischen Verhältnissen wird das Mindestlohngesetz wenig ändern – weder für diejenigen, die ihn tatsächlich bekommen, noch überhaupt für die zahlreichen gesetzlichen Ausnahmen oder diejenigen, die um ihn geprellt werden, obwohl er ihnen zusteht.

Wir teilen die Auffassung der Genoss_innen der IWW und der Freien ArbeiterInnen-Union, dass der Mindestlohn weder eine ausreichende (geschweige denn zufriedenstellende) Grundlage des Lebensunterhaltes darstellt, noch einen Ausweg aus prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen bietet. Vor allem bedeutet er kein Ende der Ausbeutung! Und die zahlreichen Tricks, um ihn zu umgehen, zeigen, dass wir auch mit erlassenem Mindestlohngesetz für jede einzelne Verbesserung werden kämpfen müssen!

ASJ Leipzig

 

Wenn ihr weitere Fragen zum Mindestlohn an eurem Arbeitsplatz habt, ihr Umgehungstaktiken oder andere Missstände festgestellt habt und/oder für eure Rechte einstehen wollt, schreibt uns an:

leipzig@minijob.cc

Besucht uns im Internet: http://minijob.cc/

oder zu unserer Beratungs­stunde:

jeden 2. und 4. Donnerstag im Monat

19 Uhr, Libelle,

Kolonnadenstr. 19

 

(1) www.welt.de/politik/deutschland/article126480260/Bundesregierung-setzt-den-Mindestlohn-um.html

(2) www.tagesspiegel.de/politik/kompromiss-beim-mindestlohn-nahles-vier-millionen-werden-profitieren/9704414.html

(3) vgl. www.mindestlohn.de/hintergrund/argumente/

(4) www.wobblies.de/2014/12/27/850-euro-mindestlohn-hartz-iv-ist-gewiss/#more-2755

(5) www.etl-rechtsanwaelte.de/stichworte/arbeitsrecht/strategien-zur-umgehung-des-mindestlohngesetzes

www.owlaw.de/internationales-handelsrecht/3201-mindestlohn-umgehen-strategien-die-ab-2015-funktionieren/

Kein Gott, kein Herr

Für einen nicht-religiösen Anarchismus

Sicher, Anarchismus ist ein Nischenthema, und „christlicher Anarchismus“ noch viel mehr – eine Nische in der Nische sozusagen. Das Folgende dürfte also für Außenstehende ein wenig wie eine Auseinandersetzung zwischen „judäischer Volksfront“ und „Volksfront von Judäa“ anmuten. Aber in Zeiten, wo wir einerseits von selbsternannten Verteidiger_innen des christlichen Abendlandes genervt werden und andererseits islamistische Attentäter wegen „blasphemischer“ Karikaturen Mordanschläge begehen, ist es nicht verkehrt, sich ein paar Gedanken zum Thema Religion zu machen. Und manche Debatten müssen eben auch mal etwas länger geführt werden. Das ist allemal besser, als sie gleich in einem großen Bottich aus Toleranz und Pluralismus zu ersäufen.

Gerade, wenn über Religion diskutiert wird – wie in der Feierabend!-Redaktion beim Thema „christlicher Anarchismus“ (vgl. FA! #51 und #52) –, kommen häufig solche Forderungen nach Toleranz dabei heraus: „Man muss doch über alles reden können, oder?“ Gegen wechselseitige Verständigung ist natürlich nichts einzuwenden, allerdings führen solche „Man muss doch…“-Aussagen meist zielgenau dahin, dass gar nicht mehr geredet wird. Vielmehr wird vom ursprünglichen Thema auf eine Meta-Ebene abgewichen: Statt sich über das diskutierte Thema zu verständigen, verständigt man sich dann darüber, dass man sich ja über alles verständigen kann. Vor lauter Toleranz wird die Debatte beendet, bevor sie begonnen hat.

Wie gesagt, gerade wenn es um Religion geht, passiert das öfter. Über „Gott“ lässt sich eben nicht sinnvoll debattieren, weil dieser – unabhängig davon, ob er nun existiert oder nicht – jedenfalls nicht als Fakt existiert, der sich überprüfen ließe und zwischenmenschlicher Verständigung zugänglich wäre. Aus genau diesem Grund versacken Debatten über Religion so leicht in wohlmeinendem Relativismus, nach dem Motto: Weil wir alle die „letzte Wahrheit“ ohnehin nicht kennen, sollten wir tolerant sein und z.B. religiösen Überzeugungen nicht allzu vehement widersprechen. Wobei das Argument hinkt, denn der Anspruch, sinnvolle Aussagen über irgendeine „letzte“ oder „absolute Wahrheit“ machen zu können, wird ja ziemlich einseitig, eben von Seiten der Religion, erhoben. Und wenn tatsächlich „wir alle“ die letzte Wahrheit nicht kennen, ist klar, welche Seite falsch liegt – nämlich die, die etwas anderes behauptet.

Demgegenüber werde ich im Folgenden versuchen, möglichst einseitig zu argumentieren – da ich nur eine einzelne Person bin, kann ich ohnehin nicht „pluralistisch“ sein. Ich bemühe mich dabei, meinen Standpunkt möglichst schlüssig und präzise darzulegen, damit alle anderen mich möglichst präzise kritisieren können, wenn sie das für nötig halten.

Christlicher Anarchismus – gibt’s das überhaupt?

Ich will an dieser Stelle die allgemeinen Vorüberlegungen beenden und mich dem eigentlichen Thema zuwenden. Eine naheliegende Frage zuerst: Wenn der Anarchismus tatsächlich „eine politische Haltung jenseits von jedem Dogmatismus“ ist, wie verträgt er sich dann mit Religion, die ja auf Dogmen, also Glaubenssätze, nicht verzichten kann? Überhaupt nicht, könnte man sagen. Wobei das Argument natürlich schwach ist: Dass man „jenseits von jedem Dogmatismus“ stünde, behaupten so ziemlich alle politischen Vereine von sich – auch die CDU ist total „undogmatisch“ und „fern von jeder Ideologie“.

Ich will die Frage also etwas anders akzentuieren: Wenn der Anarchismus vor allem ein politische Haltung ist, kann es dann so etwas wie einen religiösen Anarchismus überhaupt geben? Oder nochmal anders gefragt, denn der Gedanke ist sicher nicht unmittelbar eingängig: Gehen die beiden Elemente, die da in dem Begriffspaar des „christlichen Anarchismus“ scheinbar flüssig und widerspruchsfrei aneinander gekoppelt werden, wirklich so sauber inein­ander über, wie es die Sprache suggeriert? Und wenn nicht: Wie stellt sich die Beziehung von Christentum und Anarchismus dann dar, in welchem Verhältnis stehen diese beiden Elemente zueinander?

Polemisch ließe sich sagen: Es gibt natürlich Christ_innen, die in politischer Hinsicht eine anarchistische Position vertreten (und diese eben christlich „begründen“). Das ergibt dann anarchistische Christ_innen, aber noch lange keinen „christlichen Anarchismus“. Die Verbindung ist eben ziemlich einseitig: Auch für religiöse Menschen ist es unvermeidbar, dass sie sich irgendwie zur Welt und zur sie umgebenden Gesellschaft verhalten, also eine politische Position einnehmen, die dann unter Umständen anarchistisch ist. Nur gibt es umgekehrt keinen Grund, eine politische Position wie den Anarchismus religiös zu begründen – außer, mensch ist eben zufällig religiös.

Ich will das anhand eines Beispiels erläutern, dass immer wieder gern bemüht wird, um aus der Bibel heraus eine antikapitalistische Haltung zu „begründen“ – ich meine das bekannte Zitat: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein reicher Mann ins Himmelreich kommt.“ Das läuft zunächst mal auf ein reines Autoritätsargument hinaus: Seht hier, auch Jesus hat gesagt, dass Reichtum schlecht ist! – wobei dann der Name „Jesus“ als Begründung für die Sinnhaftigkeit der Aussage „Reichtum ist schlecht“ herhalten soll. Bei der CSU mag das ja als Argument durchgehen. Anarchist_innen sollten solchen Quatsch lieber unterlassen, weil es eben auch generell Quatsch ist: Die Aussage muss schon für sich selbst sinnvoll und schlüssig begründet sein, sonst hilft auch Jesus nicht weiter. Das gilt bei anderen Autoritäten natürlich genauso. Eine Behauptung von Kropotkin, Marx oder dem Dalai Lama ist auch nur eine Behauptung.

Zweitens: Mal angenommen, dass die Aussage faktisch richtig sei und der liebe Gott tatsächlich ein moralisches Vorurteil gegen reiche Leute hegt – hat das dann für unsere diesseitige, menschliche Existenz irgendeine Bedeutung? Die Frage, ob Bill Gates oder Josef Ackermann in den Himmel kommen, stellt sich ja ohnehin erst, wenn sie tot sind, und da hat sich das Problem ihres Reichtums bereits erledigt. Es mag vielleicht einer ominösen göttlichen „Gerechtigkeit“ dienlich sein, wenn Gates und Ackermann zu ewiger Verdammnis verurteilt würden. Aus menschlicher Sicht macht es keinen Unterschied – der Herrgott könnte sich dieses sinnlose Nachtreten also auch sparen.

Aber wir bewegen uns hier im Bereich der Spekulation, und eine solche spekulative Letztbegründung braucht es gar nicht, um den Kapitalismus kritisieren zu können. Die naheliegendste, nicht religiöse, sondern politische Begründung reicht vollkommen aus: Kapitalismus ist schlecht, weil er auf uns schlechte Auswirkungen hat, weil er uns das Leben in der Welt unnötig schwer macht. Weil er uns von den materiellen Gütern ausschließt, die wir zum Leben brauchen bzw. sie uns nur gegen Bezahlung zugänglich macht. Weil er uns zu sinnloser Arbeit zwingt, uns wertvolle Zeit und Kraft raubt usw. Wenn wir unter den Verhältnissen leiden, dann brauchen wir keine übergeordnete moralische Instanz, die uns ein „Recht“ darauf verleiht, diesen Zustand als unangenehm zu empfinden.

Die Frage nach „dem Wesen“

Für einen Anarchismus, der sich in Prinzipienerklärungen und moralischen Postulaten erschöpft, mag natürlich auch die Bibel eine brauchbare Fundgrube bieten. Die Frage ist aber, ob das irgendeinen Erkenntnisgewinn bringt. So mag, wie Sebastian Kalicha schreibt (1), „in den Evangelien eine ablehnende Grundhaltung gegen materiellen Reichtum, gegen Reiche an sich und die Ungerechtigkeit, die dies hervorbringt“ vorherrschen – über den Kapitalismus ist damit noch nichts gesagt, den gab es vor 2000 Jahren auch noch gar nicht.

Und wie kommt mensch denn überhaupt dazu, die Bibel „kapitalismuskritisch“ oder „anarchistisch“ zu interpretieren? Muss mensch dafür nicht vorab schon ein wenig Kapitalismus- und Staatskritik geübt haben? Die Bibel lässt sich ja offensichtlich ganz verschieden interpretieren, wenn sowohl „christliche Anarchist_innen“ als auch solche konservativen bis faschistoiden Vereine wie Opus Dei oder die Pius-Bruderschaft, sowohl Pazifist_innen als auch George W. Bush jeweils passende „Begründungen“ daraus ziehen können. Natürlich kann man sich jeweils die Rosinen aus dem Text herauspicken, also die Bibelstellen, welche die eigenen Überzeugungen zu unterstützen scheinen – aber welche Textstellen das sind, hängt allemal von den eigenen Überzeugungen ab.

Wir berühren hier die heikle Frage nach dem „Wesen“ des Christentums, mit der offenbar auch viele Anarchist_innen so ihre Schwierigkeiten haben. So z.B. in der Sonderausgabe der Direkten Aktion, die dem Schwerpunktthema „Religion“ gewidmet war. In einer Art Einleitungstext schrieb dort ein DA-Autor: „Es stellt sich aus progressiver Warte also die Frage, ob Religion wirklich etwas per se Schlechtes ist. Sicher: würde man diese Frage anhand von ultraorthodoxen FundamentalistInnen beantworten, so wäre die Antwort ziemlich eindeutig. Doch ist das wirklich ein beispielhafter Ausdruck von Religion oder nur ein Zerrbild oder ein Spiegel der Gesellschaft? Es ist nicht nur schwer, ein so komplexes Thema einzufangen und zu beurteilen, es ist schier unmöglich. Die vielen Verknüpfungen mit linker Geschichte machen die Suche nach dem Wesen der Religion nicht einfacher und eine Positionierung dazu erst recht nicht. Religion ist autoritär und befreiend, offen und verschlossen. Neben dem individuellen Glauben sind die Werte entscheidend, die transportiert werden, und die die Religion zu mehr werden lassen als rituelles Beten.“ (2)

Dazu wäre Einiges zu bemerken. Zunächst mal kritisiert Religionskritik nicht einzelne religiöse Menschen (auch wenn diese das anders empfinden mögen, sofern sie die Religion als Teil ihrer „Identität“ begreifen). Die Sache ist auch gar nicht so kompliziert: In konservativen Milieus herrscht sicher auch eine konservative, rigide Vorstellung von Religion vor. Demgegenüber haben sympathischere Menschen dann auch sympathischere Vorstellungen von Gott oder von der Religion – das spricht dann für die jeweiligen Menschen, aber nicht für Gott oder die Religion.

Zweitens ist die Frage nach „dem Wesen der Religion“ falsch gestellt – „das Christentum als solches“ ist eine Abstraktion, die sich in der Realität genauso wenig auffinden lässt wie z.B. „das Säugetier schlechthin“. Damit will ich natürlich Christ_innen nicht ihre Menschlichkeit absprechen. Ich wähle nur ein absichtlich banales Beispiel, um die verschiedenen logischen Ebenen zu unterscheiden, die der Autor im oben zitierten Text recht umstandslos durcheinanderwirft. In der Realität lassen sich natürlich haufenweise Säugetiere finden (Hunde, Katzen, Schabrackentapire usw.), aber „das Säugetier“ ist nur die abstrakte Oberkategorie, unter die alle diese Tiere sortiert werden, weil sie bestimmte Merkmale miteinander teilen. In ähnlicher Weise ist auch „das Christentum“, „der Islam“ nur eine Abstraktion, eine Oberkategorie, die aufgrund bestimmter gemeinsamer Merkmale (Glaubenssätze, Rituale usw.) gebildet wird. „Das Christentum“ wird sich real nicht finden lassen, sondern immer nur „dieses Christentum“, das Christentum in bestimmten, historisch und sozial geformten Ausprägungen.

In diesem Sinne ist es dann auch unsinnig zu sagen, der Islamismus habe mit „dem Islam“ nichts zu tun, oder umgekehrt: der Islam als solcher sei gewalttätig. Der Islam „als solcher“ ist weder gewalttätig noch friedfertig – nur die Gläubigen verhalten sich, je nachdem, gewalttätig oder friedfertig. Eine abstrakte Kategorie ist als solche gar nicht in der Lage, sich irgendwie zu „verhalten“.

An diesen ersten logischen Fehler schließt sich unmittelbar ein zweiter an, nämlich der, Christ_innen immer nur als solche zu betrachten, als ob sie eben nur Christ_innen wären und nicht auch z.B. Lohnarbeiter_innen in einer Fabrik, Teil einer Familie, alleinerziehend, jung oder alt, arm, reich, oder was es eben sonst noch an Merkmalen geben kann. Auch wenn wir die Religion grundsätzlich als Irrtum betrachten (wie gesagt, ich bemühe mich, möglichst einseitig zu argumentieren), wäre immer noch zu fragen, welche Rolle dieser Irrtum für die einzelnen Menschen spielt. Ein „christlicher“ Unternehmer und ein „christlicher“ Lohnarbeiter haben vielleicht bestimmte Glaubenssätze gemeinsam, so wie sie auch ganz allgemein das Menschsein gemeinsam haben. Für die Frage, wie sie sich z.B. bei einem Streik positionieren, spielt das keine Rolle – es sagt nichts über „das Wesen des Christentums“, wenn ein christlicher Lohnarbeiter streikt.

Ein langer Umweg und ein kurzes Fazit

Auch der Autor des oben zitierten Artikels verfällt, obwohl er der Religion eher kritisch gegenüber steht, letztlich dem gleichen Irrtum wie die Gläubigen selbst: Diese neigen natürlich dazu, so ziemlich alle ihre Handlungen religiös zu begründen. Das heißt aber nicht notwendig, dass sie tatsächlich aus religiösen Gründen handeln.

Wobei die religiöse Letztbegründung im besten Falle überhaupt nichts begründet – so wie im folgenden Zitat, das einem Artikel in der Graswurzelrevolution (3) entnommen ist: Der Verfasser lehnt dabei als „christlicher Anarchist“ zunächst mal die Anschauung ab, Gott sei eine übergeordnete, fremde Autorität. Nach seinen Worten ist Gott „kein fremdes Subjekt, das mich von außen bestimmen will“, vielmehr wolle er „das Gute für seine Schöpfung“: „Das ist ein Kriterium, an dem sich nach christlichem Selbstverständnis alles menschliche Verhalten und alle denkbaren staatlichen, kirchlichen, religiösen und sonstige Vorschriften messen lassen müssen. Und dies lässt die Frage inhaltlich offen, was das Gute für die Schöpfung – nämlich für mich, die anderen Menschen und die Natur – sei. Und dass diese Frage offen bleibt, ist gut so, ermöglicht doch genau das die Freiheit, sich immer wieder neu der Wirklichkeit zu stellen und so immer wieder neu sein Verhalten zu bestimmen. Diese Freiheit ist zutiefst antiideologisch und antihierarchisch.“

Da haben wir wieder etwas gelernt: Christ_innen sind also für „das Gute“. Das haben sie allerdings mit dem gesamten Rest der Menschheit gemeinsam, wenn man mal von der verschwindend kleinen Minderheit der orthodoxen Satanisten absieht. Wobei dem Autor das Gute selbst offenbar noch nicht gut genug erscheint. Jedenfalls braucht er noch eine zusätzliche Rechtfertigung dafür, dass er das Gute für gut hält – nämlich „Gott“. Weil dieser „das Gute für seine Schöpfung“ will, findet auch der Verfasser das Gute gut. Nach dieser komplizierten ideologischen Übung können wir dann „zutiefst unideologisch“ selber schauen, was gut für uns ist.

Viel Erkenntnisgewinn kommt bei dem ganzen Vorgang also nicht heraus: Der Autor endet mit großem Umweg an genau dem Punkt, wo man anfangen könnte, eine sinnvolle Debatte zu führen – zum Beispiel darüber, was für uns gut ist und warum es gut ist, was für politische Ziele sich daraus ableiten und welche Möglichkeiten wir haben, um diese zu erreichen. „Gott“ hilft uns in dieser Beziehung nicht weiter, und in diesem Sinne ist auch ein „christlicher Anarchismus“ schlicht überflüssig.

justus

 

(1) zitiert nach Sebastian Kalicha (Hg.), “Christlicher Anarchismus – Facetten einer libertären Strömung”, Verlag Graswurzelrevolution, Münster 2014, S. 33.

(2) https://www.direkteaktion.org/218/bad-religion

(3) zitiert nach Sebastian Kalicha, “Christlicher Anarchismus”, a.A.o., S. 80.

Weder Opfer noch fehlgeleitete Genossen!

Über den Gebrauch „soziologischer“ Erklärungen im militanten Milieu

[Der folgende Artikel erschien zuerst auf der französischen Webseite www.mondialisme.org (1), die als gemeinsame Plattform von verschiedenen libertären Zeitschriften genutzt wird. Hoffentlich ist es auch für unsere Leser_innen interessant, welche Debatten unter französischen Anarchist_innen nach den Anschlägen in Paris geführt werden. Zu bemerken ist hier, dass sich der französische Kontext in einigen wichtigen Punkten vom deutschen unterscheidet. So ist die hier vertretene Position sicher nicht repräsentativ für die libertäre Bewegung in Frankreich. Das betrifft vor allem die Kritik an linkem Antisemitismus und Antizionismus. Wobei mondialisme.org nichts mit dem antideutschen Irrationalismus zu tun haben, und sich auch nicht als freischaffende Geostrategen an irgendwelche Staatsmächte ranschmeißen – das hier sind eben working-class-Anarchist_innen, keine übereifrigen Antifa-Kids oder frustrierte ehemalige K-Grüppler…

Manche Seitenhiebe auf „Globalisierungskritik“, „post-koloniale Theorien“ usw. mögen ein wenig platt wirken oder müssten jedenfalls weiter erläutert werden – sie beziehen sich aber auf ältere Texte, die auf mondialisme.org erschienen sind, wo diese Themen ausführlicher behandelt wurden. Die (relativ umfänglichen) Original-Fußnoten haben wir entfernt und durch eigene ersetzt – wo sich Zusatzinformationen ohne Probleme in den Text einfügen ließen, haben wir das getan (erkennbar an den eckigen Klammern).

Eine letzte Anmerkung vorab noch zum hier benutzten Begriff des „religiösen Faschismus“, da dieser leicht allerlei Missverständnisse und Kurzschlüsse hervorrufen kann. Dies ist auch dem Autor selbst bewusst, der in einer Fußnote dazu Folgendes erklärt:

„Der Ausdruck ‚religiöser Totalitarismus’ ist unbefriedigend, und ich nutze ihn nur in Ermangelung eines ausgefeilteren Konzepts. Der Begriff des ‚religiösen Faschismus’ ist ebenso wenig adäquat – allem voran deswegen, weil er zuerst von den neokonservativen Vorkämpfern der Theorie eines ‚clash of civilizations’ in der Debatte verwendet wurde. Ebenso, weil auch jene Linken, die diesen Begriff benutzen (etwa die iranische und irakische kommunistische Arbeiterpartei, oder neuerdings einige Anarchist_innen), ihn einerseits niemals präzise definiert haben und andererseits davon auszugehen scheinen, dass die islamische Religion weitaus gefährlicher als andere Religionen sei – wobei alle Religionen gleichermaßen abzulehnen sind.“

Auch hier wird der Begriff des religiösen „Faschismus“ bzw. „Totalitarismus“ vor allem polemisch benutzt – es handelt sich natürlich auch um einen polemischen Text. Als solcher taugt er hoffentlich als Denkanstoß und vielleicht zur Eröffnung weiterführender Debatten. – die FA!-Red.]

In einer Kolumne, die kürzlich in der Zeitung Le Monde erschien, verglich [der Politikwissenschaftler] Olivier Roy die Revolten der extremen Linken, die in den 70er Jahren den bewaffneten Kampf praktizierten, mit den europäischen Djihadisten des 21. Jahrhunderts. Wenn dieser Vergleich rein pädagogische Zwecke hat, kann man ihm sicher zustimmen … unter der Bedingung, dass zugleich betont wird, wo die Grenzen dieses Vergleichs liegen.

Angesichts der derzeitigen anti-muslimischen Paranoia kann es nützlich sein, den Europäer_innen in Erinnerung zu rufen, dass auch sie selbst, in gewissen Momenten der Geschichte, sich für hochgespannte politische Anliegen begeistern konnten, auch in der Weise, dass sie sich dafür bewaffneten und bereit waren, ihr Leben für ihr Ideal zu opfern. Dabei muss aber bemerkt werden, dass weder die „antifaschistischen“ Ideale der 30er Jahre, beim Kampf gegen Franco, noch die „anti-imperialistischen“ oder „anti-kapitalistischen“ Ideale der 1970er den Tod oder die Zerstörung glorifizierten. Stattdessen

– waren sie mit marxistischen Ideologien verbunden, die zumindest eine einigermaßen rationale Grundlage hatten und in jedem Fall Gegenstand unzähliger Debatten waren, die in voller Freiheit geführt wurden;

– sie forderten weder den Menschenhandel mit Frauen noch die Versklavung ihrer Gegner_innen, weder die Tötung von Kindern noch die Ausrottung dieser oder jener Ethnie als Mittel, der eigenen Sache zum Sieg zu verhelfen;

– sie töteten nicht unterschiedslos alle Zivilist_innen, die ihnen in die Hände fielen;

– sie nahmen die Soldaten des gegnerischen Lagers oder (vermeintliche) Repräsentanten der kapitalistischen Klasse zum Ziel;

– und last but not least bezogen sich die antikapitalistischen Bewegungen auf egalitäre Ideen der Gleichheit zwischen den Menschen, den Völkern, zwischen Männern und Frauen, im Gegensatz zu den faschistischen oder autoritären Bewegungen des letzten Jahrhunderts oder zu den heutigen Islamisten.

Diese Punkte bezeichnen meines Erachtens die fundamentalen Unterschiede und zeigen, wo die Grenzen des von Roy gezogenen Vergleichs liegen. Dennoch finden sich unter jenen Linken und Radikalen, die sich vom Neostalinismus oder der gängigen „Globalisierungskritik“ haben verdummen lassen, auch Leute, die bereit sind, sich mit den heutigen Djihadisten zu „identifizieren“ oder deren Taten verständnisvoll gegenüberstehen. Als Beispiel zitiere ich im Folgenden zwei bezeichnende Stellen aus einer Korrespondenz, die ich mit einer Sympathisantin der radikalen Linken führte. Zu Beginn unserer Diskussion schrieb diese mir: „Wenn diese Frau als Tochter einer armen ‚migrantischen‘ Familie aufgewachsen wäre, isoliert in einem der Banlieues von Paris, stigmatisiert und diskriminiert von der französischen Republik, die ihre Herkunft und ihre Existenz nicht wahrnimmt, von den Männern unterdrückt… dann wäre sie wahrscheinlich auch zur Terroristin geworden.“

Amédy Coulibaly, der an den Morden in dem koscheren Supermarkt in Vincennes beteiligt war, arbeitete für einen amerikanischen multinationalen Konzern [für Coca Cola – d. Red.], war weder arbeitslos noch besonders arm, sondern verdiente ungefähr 2000 bis 2200 Euro monatlich, während von seinen neun Schwestern – Frauen und Migrantinnen, also zweifach diskriminiert – keine einen ähnlichen sozialen Aufstieg schaffte oder sich zur „Djihadistin“ entwickelte.

Erstaunlicherweise fragt sich offenbar niemand , warum etwa die Nachkommen der aus Afrika in die Vereinigten Staaten verschleppten Sklav_innen nicht zu „Terroristen“ geworden sind, sondern stattdessen alle möglichen anderen Mittel ergriffen haben, um gegen die weiße/kapitalistische Unterdrückung zu kämpfen – von der bewaffneten Selbstverteidigung, der Gründung eigener Organisationen und Gewerkschaften bis hin zum gewaltfreien Widerstand. Es ist also offensichtlich, dass es keinen Automatismus gibt, der von der unterdrückten Lage etwa der Sklav_innen und ihrer Nachkommen unvermeidlich zum „Terrorismus“ führt – was die eiligen Soziolog_innen freilich nicht weiter irritiert.

[…] Es ließe sich hinzufügen, dass die soziale Lage derer, die sich selbst als Muslime verstehen, vielfältiger ist, als man glauben könnte. Einer Untersuchung der CEVIPOF (2) zufolge, die im Jahr 2003 durchgeführt wurde, gehören 30% den sog. „intermediären Berufen“ an (Vorarbeiter, Grundschullehrer_innen, Krankenpfleger_innen, Sozialarbeiter_innen usw.), arbeiten im Handel, in handwerklichen Berufen oder der höheren Verwaltung. Diese Angaben widersprechen den Vereinfachungen derer, die die von Merah, Nemmouche, Coulibaly und den Kouachi-Brüdern begangenen Taten mehr oder weniger zu entschuldigen oder zu begründen versuchen, indem sie den Großteil der „Muslime“ als Opfer unerträglicher sozialer und ökonomischer Diskriminierungen darstellen, durch welche sie von der kapitalistischen Gesellschaft geradezu in die Arme der Djihadisten getrieben würden. Auch jene 66% (von denen, die nicht arbeitlos sind), die Arbeiter_innen und Angestellte sind, üben sich nicht täglich in der Handhabung von Kalashnikovs, bevor sie zur Arbeit gehen. Die „Muslime“ (im kulturellen oder religiösen Sinne) sind vollkommen in der Lage zu reflektieren und politische Entscheidungen zu treffen.

Als ich meine Gesprächspartnerin darauf aufmerksam machte, dass sich solche „Opfer des Kapitalismus und des Staats“ nicht nur unter Frauen „ausländischer“ oder migrantischer Herkunft finden ließen, sondern dass es diese auch haufenweise im „eingeborenen“ Proletariat gäbe – bei den italienischen Faschisten, den deutschen Nazis ebenso wie bei den ostdeutschen Neonazis von heute oder der Wählerschaft der Front National – erhielt ich eine Antwort, die gleichermaßen überraschend war, heutzutage aber ziemlich gängig ist: „Ich denke, man kann beide nicht vergleichen – Terroristen, die eine migrantische Herkunft haben und deswegen seit ihrer Geburt diskriminiert wurden, und Leute, die sich vielleicht zu Faschisten entwickeln, weil sie durch die Krise deklassiert worden sind. Der Ausgangspunkt ist einfach nicht vergleichbar. Du weißt genau, dass der soziale Status von migrantischen und ‚einheimischen‘ Arbeiter_innen nie der gleiche war, seit Entstehung des französischen Nationalstaats und seit der Kolonisierung. Diese ‚armen weißen Faschos‘ waren niemals DIE ANDEREN in ihrem eigenen Land, nicht unbedingt, was ihre wirtschaftliche, aber jedenfalls, was ihre soziale Lage angeht.“

DIE ANDEREN, das große Wort ist gesagt. Dieses Wort, das seit Jahrzehnten Verwirrung stiftet – meist zum Nachteil antirassistischer Bemühungen. Vor allem, wenn es eine selbstgenügsame Ideologie der Sorte „Schau, wie offen ich den Fremden gegenüberstehe!“ unterstützt, wie sie bei Salon-Antirassist_innen weit verbreitet ist, den Stadtteil-Vereinen, die von der Politik mit Hinblick auf die nächsten Wahlen gesponsert werden, besserwisserischen Politiker_innen usw..

Das mag im Rahmen einer therapeutischen Behandlung nützlich sein, oder in einer psychologischen Selbsthilfegruppe. Aber es lässt sich nur schwer in politische Begriffe übersetzen. Wenn man dies versucht, landet man nur bei einem kommunalen oder staatlichen Multikulturalismus, der bekanntlich zur Bildung von allerlei Gemeinschaften führt, die sich jede für sich gegen „die Anderen“ abschotten, aber zugleich eine Rhetorik aufrecht erhalten, die zwar mit ihrer Praxis wenig zu tun hat, aber eben nötig ist, damit weiter Subventionen fließen – zur Förderung des „Zusammenlebens“.

Denselben Katalog an soziologischen Erklärungsmustern – „Elend und sozialer Abstieg, Ghettoisierung, struktureller Rassismus, kulturelle Unterdrückung, individuelle und kollektive Stigmatisierung und Demütigung“ usw. – findet man in einem Artikel von Julien Salingue (3), einem Aktivisten der NPA [Nouveau Parti anticapitaliste, eine trotzkistische Partei – Anm. d.Red].

Unser Aktivist fährt folgendermaßen fort: „Die Faktoren, die dazu führten, dass die Kouachi-Brüder und Amedy Coulibaly sich radikalisierten, sind nicht nur in Frankreichs Außenpolitik zu suchen, sondern ebenso (und vor allem) in seiner Innenpolitik. Man könnte sich für einmal mit der ‚elenden Kindheit der Kouachi-Brüder‘ befassen oder – nicht ohne Hintergedanken – erwähnen, dass der beste Freund von Coulibaly 2000 bei einem Raubüberfall von einem Wachmann erschossen wurde. Oder dass derselbe Coulibaly sich 2010 dadurch bemerkbar machte, dass er die Haftbedingungen im Gefängnis Fleury-Mérogis kritisierte. In anderen Worten: Man könnte behaupten, ohne etwas entschuldigen zu wollen, dass es sich bei diesen Anschlägen um sehr französische Anschläge handelt – einen (wenn auch schrecklich verzerrten) Ausdruck eines gewalttätigen Ressentiments gegen ein Gesellschaftsmodell, das nur eine Maschine zur Produktion von Stigmatisierungen und Ungleichheiten ist.“

Es ist bezeichnend, dass Julien Salingue hier die Worte „schrecklich verzerrt“ [im Original. „horriblement déformée“] verwendet. Es handelt sich dabei um einen Ausdruck, der von Trotzkisten immer benutzt wird, um die Diktaturen des real nicht-existierenden Sozialismus´ zu bezeichnen. Für sie sind diese totalitären, der Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter_innen dienenden Systeme letztlich „degenerierte Arbeiterstaaten“, die nur irgendwie „bürokratisch deformiert“ wurden. In irgendeiner Weise bleibt darin also etwas Positives erhalten – sie sind ein entfernter, „verzerrter“ Nachhall der Oktoberrevolution. Aber so wie es absolut nichts Positives, nichts „Arbeiterhaftes“, nichts Sozialistisches an diesen stalinistischen Staaten gab, gibt es ebenso nichts Positives an dem genannten „gewalttätigen Ressentiment“ […] Dieses ist, wenn es ein reines Ressentiment bleibt, ebenso die Grundlage aller Faschismen und Diktaturen.

Die Zitate zeigen, wie verheerend sich post-koloniale und anti-rassistischen Theorien, die sich nur auf „rein menschliche“ Anteilnahme stützen und von jeder Klassenfrage abgelöst sind, bei linken Aktivist_innen – vor allem aus dem intellektuellen Mittelschichts-Milieu – auswirken können.

Statt die Verwandtschaft zwischen verschiedenen Formen von Faschismus aufzuzeigen (hier insbesondere religiös begründete „Faschismen“ oder „Totalitarismen“), bringen diese reaktionären Theorien bestimmte linksradikale, auch libertäre Aktivist_innen dazu, sich „soziologische“ Erklärungen zurechtzulegen, die sie ausschließlich für „Migranten“ (deren Familien mitunter schon seit drei oder vier Generationen in Frankreich leben) vorbehalten, von denen sie aber „franko-französische“ Proletarier ausschließen, die etwa die Front National wählen oder noch klarere Sympathien für den Faschismus hegen.

Trotzdem sollte man nicht vergessen, dass der Faschismus sich nicht nur in Europa verbreitet hat. Auch die nationalen Bewegungen des „globalen Südens“ – von Indien, über Ägypten und Palästina bis hin zum Irak – waren vom italienischen Faschismus und vom deutschen Nationalsozialismus fasziniert. Dies beschränkte sich nicht nur darauf, taktische Bündnisse mit dem Dritten Reich abzuschließen, um die eigene nationale Unabhängigkeit voranzubringen.

Es ist sicher schwierig, den heutigen internationalen, inner- und außereuropäischen Djidahismus mit den Faschisten und Nazis der 30er Jahre zu vergleichen. Aber diese Formen von Faschismus – oder vielleicht besser: diese verschiedenen totalitären Ideologien – lassen sich vergleichen, wozu es freilich noch längerer Studien und Analysen bedarf (solche wurden bislang leider nur von konservativen Historikern im angelsächsischen Sprachraum durchgeführt, die der Theorie vom „Kampf der Kulturen“ folgen).

Dass die bloße Möglichkeit eines solchen Vergleichs von meiner Gesprächspartnerin so hartnäckig bestritten wurde, zeigt einerseits, welch unguten Einfluss „post-koloniale“ Theorien auf die radikale Linke haben, und andererseits, wie schrecklich diese Linke den heutigen global verbreiteten Antisemitismus unterschätzt. Es besteht keinerlei Zusammenhang zwischen den Diskriminierungen, denen Menschen maghrebinischer oder afrikanischer Herkunft in Europa ausgesetzt sind, und der Handlungsweise z.B. von Mohamed Merah, der eine jüdische Schule betrat und kaltblütig drei jüdische Kinder tötete; oder von Amédy Coulibaly, der die Kund_innen eines koscheren Supermarkts erschoss; oder von Mehdi Nemmouche, der Besucher_innen des jüdischen Museums in Brüssel ermordete.

Jene Linken und Anarchist_innen, die „soziologische“ Erklärungen bemühen, um diese Morde zu erklären, die in den letzten Jahren an jüdischen Menschen in Europa begangen wurden, gehen damit völlig in die Irre – man kann den heutigen Antisemitismus in Frankreich und anderswo nicht mit abstrakten, zeitlosen Erörterungen über den Kolonialismus oder den Rassismus erklären. Vor allem nicht in einem Staat, der [unter dem Vichy-Regime – Anm. d. Red.] die Vernichtung von 70.000 Jüdinnen und Juden zuließ und deren Kinder in Internierungslager der französischen Polizei verfrachtete.

Es ist zudem bezeichnend, dass Julien Salingue einen ganzen Absatz in seinem Text darauf verwendet, die sog. „Islamophobie“ (10) anzuprangern, und zugleich die „Morde von Vincennes“ nur in einen Satz erwähnt. Als hätten diese Morde nicht in einem jüdischen Supermarkt stattgefunden, sondern eben nur irgendwo „in Vincennes“, einem Ort ohne weitere besondere Eigenschaften – und als ob er nicht in der Lage wäre, sich mit dem Antisemitismus ebenso auseinanderzusetzen, wie mit der heute herrschenden anti-muslimischen Paranoia! Diese Ignoranz ist in der radikalen Linken und bei „anti-zionistischen“ Anarchist_innen weit verbreitet. So ist auch nicht besonders überraschend, dass Julien Salingue den djihadistischen Antisemitismus nicht zur Kenntnis nehmen will, ebenso wenig wie die religiösen und politischen Wurzeln, die dieser in der arabisch-muslimischen Welt hat.

In seinem Weltbild und in dem von vielen der heutigen postmodern und akademisch geprägten Linken, stellt sich die „Islamophobie“ als unabtrennbarer Bestandteil der kapitalistischen, westlichen, neo-kolonialen Weltordnung dar, wogegen der Antisemitismus nur ein überholtes und letztlich zweitrangiges Vorurteil sei – ein „scheußliches Gift“, wie Salingue sagt, das aber sich aber fast schon verflüchtigt hat und nur noch von Israel, diesem „Brückenkopf des US-Imperialismus“ in manipulativer Absicht ausgenutzt wird. Ignoriert wird, dass auch der Antisemitismus eine mindestens ebenso „strukturelle“ Bedeutung hatte und immer noch hat, sowohl für die kapitalistischen westlichen Gesellschaften als auch die (laut Eigenbezeichnung) „sozialistischen“ Staaten des Ostblocks – und darüber hinaus auch in der Linken seit anderthalb Jahrhunderten gepflegt wurde und wird (11). Die Ju­den „auszu­merzen“ war ein al­ter Wunschtraum nicht nur des christ­lichen Abend­lands. Dieser wur­de En­de des 19. Jahr­hun­derts von der fran­zösischen und deut­schen Rech­ten wieder aufgegriffen, von den Nationalsozialisten im 20. Jahrhundert, und schließlich, Anfang der 1930er Jahre, auch von bestimmten islamisch geprägten nationalen Befreiungsbewegungen übernommen. Dass es wichtige Unterschiede zwischen diesen reaktionären/totalitären Bewegungen und ihren jeweiligen Ideologien gibt, darf uns freilich nicht blind machen für die offenkundigen Ähnlichkeiten. Die Vertreter_innen des politischen Islams – mindestens in seinen nationalistischen oder djihadistischen Ausprägungen –, welche Attentate auf Jüdinnen und Juden verüben, setzen eifrig fort, was der europäische Faschismus begonnen hat. Sie sind keine „Opfer von Staat und Kapital“, jedenfalls nicht mehr, als irgendein beliebiger Faschist proletarischer Herkunft es ist, welcher – als Anhänger der Chrysi Avgi, der Casa Pound oder der Front National (4) – seine Ideen in die Tat umsetzt, indem er migrantische Arbeiter_innen oder linke Aktivist_innen ermordet.

Einen Unterschied gibt es allerdings: Wenn europäische Faschisten zum Beispiel Arbeiter_innen arabischer, kabylischer, afrikanischer oder pakistanischer Herkunft töten, würden linke Aktivist_innen nicht auf die Idee kommen, soziologische Erklärungen zu bemühen, um „Verständnis“ für solche Morde zu fördern. Ich sehe keinen Grund, solche politischen Morde, seien sie antisemitisch oder nicht, mit zweierlei Maß zu messen, nur weil sie in einem Fall von Menschen begangen wurden, deren Eltern oder Großeltern aus dem „globalen Süden“ stammten. Ein „Faschist“ oder ein Vorkämpfer des religiösen Totalitarismus bleibt ein politischer Gegner, egal, was seine Herkunft ist oder welchen Diskriminierungen er ausgesetzt war.

Y.C., Ni patrie ni frontières, 25. 01. 2015

(1) www.mondialisme.org/spip.php?article2236

(2) Centre de recherches politiques de Sciences Po, dt. etwa Zentrum für politische Studien der Politikwissenschaften. 1960 gegründet mit Sitz in Paris.

(3) vgl. resisteralairdutemps.blogspot.fr/2015/01/tueries-charlie-hebdo-et-porte-de.html

(4) Chrysi Avgi: Goldene Morgenröte, griechische faschistische Partei. Casa Pound: italienisches Neonazi-Netzwerk. Der Name bezieht sich auf ein Haus, das 2003 in Rom von Faschisten besetzt wurde und seither als Hauptquartier dient.