Archiv der Kategorie: Feierabend! #24

Schlingensief* und der Alkohol

Gedanken zum Animatographen

Was bitte ist das denn? Ein sich drehender überdimensionierter begehbarer Hühnerstall in schulsaalgroßer Blackbox, geschraubt und genagelt aus Gegenständen, die den Charme der Ab­nutzung ausstrahlen.

Eine pflichtgetreu knarrende Tür, beim Übergang vom eigentlichen Museum in diesen dunkel­kammerartigen Kasten verstärkt den Kinoeffekt. Die Augen geblendet, sticht ein beständig summender Basston hervor. Dieses Summen liegt auf einer Frequenz zwischen unangenehm und gewöhnungsmöglich.

Drinnen ist kaum Platz für zwei Menschen nebeneinander zu gehen, eine hölzerne Drehbühne nimmt fast den ganzen Raum ein. Dessen Ecken werden von altmodischen Wohnzimmersteh­lampen und Bildschirmen geschmückt. Letztere befinden sich auch unter der teils verglasten Decke des Kastens. Und aus jedem erschallen mindestens einmal in fünf Minuten tausendfach widerhallende „Heilrufe“.

Sorgsam von einem Museumswächter beäugt, inspiziert der/die Besucher/in die knapp fünf Meter im Durchschnitt messende, sich langsam um sich selbst kreisende Drehscheibe. Diese trägt eine halboffene, verwinkelt kon­struierte Hütte aus Brettern, alten Fensterrahmen, Plexiglasscheiben, knor­rigen Ästen, Styropor und Bauschaum. Einige niedrige Türchen führen zu vier Zimmerchen mit einer kleinen höher­gelegten Terrasse. Manch einer mag sich beim Betreten dieses mit Hühnerfedern übersäten Raumes an „Alice im Wunder­land“ erinnert fühlen.

Aufsteigen und mitkreisen kann man an fast allen Stellen, vor allem aber durch einen alten Wohn- oder Militärcontainer. Dieser führt auf eine kleine Leinwand zu, worauf sich recht verschwommen einige Szenen abspielen.

Insgesamt wird der Raum, wie auch die begehbare, langsam kreisende Kons­truktion von dem beständigen Summton, den überall eingestreuten Bildschirmen, und dem Stimmengewirr von den überall um einen herum laufenden Kurzfilmen dominiert.

Einer davon ist der „Hitler-Stahlin-Porno“ (tatsächlich so geschrieben), der in Leipzig schon für einigen Wirbel sorgte. Der Porno entpuppt sich als ein kleines in einen Winkel verbanntes Filmchen, in dem die beiden genannten Personen sich mit Hilfe von Sahnetorten und einer unterstützenden Frauenhand Befriedigung zu verschaffen suchen. Nur erotisch ist das dann irgend­wie doch nicht – eher mit­leid­erregend.

Fast könnte es leicht behaglich sein: auf einem der Schulstühle ausharrend ins Halbdunkel blickend, lauschend und schauend, die Füße zwischen weichen Federn, über die Aussage des Ani­mato­graphen sinnierend. Wenn, ja, wenn, mensch nicht ständig von Hitler und Heilrufen auf­geschreckt werden würde, die einen Nachgeschmack von abgestandenem Alkohol hinterlassen.

Und doch funktioniert Schlingensiefs Happening-Kunst auf gewisse Weise. Obwohl m.E. die angebliche dem Besucher auferlegte Interpretationsfreiheit nicht gegeben ist und ich mich auch nicht als Teil dieser Aktionskunst gefühlt habe.

Dennoch animiert Schlingensiefs Ani­mato­graph mit dadaistiuschen Elementen zum Zuhören, Zuschauen Aus- und Innehalten. Alt­bekannte Gegenstände bekommen mit neuen Funktionen andere Gesichter. Und er animiert zu einem explizit politischen Zwiegespräch mit sich selbst. Es geht um das letzte Jahrhundert und um das, was das Mainstreamge­dächtnis im 20. Jahr­hundert geprägt hat. Schade nur, dass sich der von mir wahrgenommene geographische Rahmen nicht über den deutschen Sprachraum hinaus erstreckt. Schade auch, dass es von zwei Diktatoren abgesehen, scheinbar so wenig aus dem letzten Jahrhundert zu verhandeln gibt.

Wer jetzt der Ansicht ist, die Autorin hätte kein Kunstverständnis mag damit richtig liegen. Wer Schlingensief begreifen will muss schon mehr machen als bloß Eindrücke zu sammeln….

Heidi Ho aus L.

Der Animatograph ist im Museum der bildenden Künste Leipzig unentgeltlich zu besichtigen.

* Christoph Schlingensief, umstrittener und gern provozierender Regisseur und Aktionskünstler, wurde am 24. 10. 1960 geboren.

LeserInForum

Die Gedanken sind Brei

Die WM und der Nationalstolz

The party is over, die WM vorbei, die allgegen­wärtigen schwarz-rot-gelben National­lappen bis auf ein paar Über­­reste ver­schwunden, die über­bordende Deutsch­­­­­­­tüme­lei zumindest in ihren sichtbaren Anteilen wieder zurückgegangen. Trotzdem lohnt es sich, nochmal einen Blick zurück zu werfen und den „neuen“ Patriotismus, wie er sich während der WM gezeigt hat, etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

Nationalismus: „Weicher Standortfaktor“

Aufrufe zum Nationalstolz erfreuten sich die letzten Jahre wachsender Beliebtheit. Die unsägliche „Du-bist-Deutschland“-Kampagne und die Patriotismus-Debatte in der sächsischen CDU (siehe FA! #21) sind nur zwei Beispiele der letzten Zeit. Zum Großteil hat das sicher die Funktion eines sozialen Bindemittels. Immer mehr Menschen werden vom gegenwärtigen Wirtschaftssystem als „überflüssig“ aussortiert, an den Rand gedrängt und ihrer Lebensperspektiven beraubt. Das gilt nicht nur für die Erwerbslosen: Für die, die noch einer Arbeit nachgehen, ist diese zunehmend prekär und schlecht bezahlt.

Die heutige Gesellschaftsordnung hat denen, die gezwungen sind, in ihr zu leben, als Ausgleich für ihr widerspruchsloses Mitwirken zusehends weniger zu bieten. Da materiell immer weniger rumkommt beim Mitmachen und Klappehalten, gewinnt der Nationalismus als Form der symbolischen Vergemeinschaftung an Bedeutung. Die Identifikation mit dem „großen Ganzen“ der Nation soll den Einzelnen entschädigen für die Einschränkungen, die diese Nation ihm auferlegt. Die „Du-bist-Deutschland“-Spots zeigen, wie man sich das vorstellt: Von der Putzfrau bis zum Firmenchef, jede(r) soll sich als vollwertiger Teil einer Gemeinschaft fühlen, sich in Zweckoptimismus üben und eifrig anpacken, damit es wieder vorwärts geht mit dem Standort.

Diese Aufforderung, sich mit einem Staat zu identifizieren, in dem man selbst nur austauschbare Manövriermasse ist, scheint vielleicht absurd. Sie funktioniert aber, weil sie sich mit dem Bedürfnis nach Teilhabe trifft. Will heißen: Auch für die, die sich zusehends an den Rand gedrängt sehen, ist es wichtig, sich der eigenen Zugehörigkeit zu versichern – und sei es nur sym­bolisch, indem man eine Deutsch­land­fahne aus dem Fenster hängt.

Die WM als Nationalstolz-Generator

Veranstaltungen wie das diesjährige WM-Spektakel spielen für die emotionale Bindung der Einzelnen an das „große Ganze“ der Nation eine wichtige Rolle. Im Alltag ist dieses recht abstrakt: Das, was an Gemeinsamkeiten da ist (die Sprache, der deutsche Pass), wiegt gegenüber den realen Unterschieden eher gering, das „Ganze“, von dem man da ein Teil sein soll, ist im täglichen Leben nicht zu finden – um so schwerer ist es, eine gefühlsmäßige Beziehung dazu zu entwickeln. Der emotionale Ausnahmezustand während der WM hilft da nach.

Klar kann man das, was die „eigene“ Mannschaft macht, einfach als das sehen, was es ist: Ein paar Leute kicken einen Lederball mehr oder weniger unterhaltsam über ein Stück Rasen und versuchen, damit ein Tor zu treffen. Man kann das als guten Fußball honorieren, den Staat, in dessen Farben die Mannschaft antritt, muss man darum nicht besser finden.

Nur wurde so eine Haltung nicht dem Publikum während der WM von Seiten der Politik und der Medien nahegelegt. Große Anstrengungen wurden (wie zu erwarten) unternommen, um das Ereignis im Sinne der herrschenden Interessen zu interpretieren und zu nutzen, die Identifikation mit der Mannschaft in eine mit der Nation umzumünzen. Die wirtschaftliche und politische Konkurrenz der Nationalstaaten ist dabei das Grundschema, welches auch die Sicht auf das sportliche Ereignis bestimmt. Die Spieler der „eigenen“ Mannschaft agieren also nicht nur als Sportler, sondern dieser Lesart nach auch und vor allem als Repräsentanten der Nation – und so erwartet man von ihnen, auch im Sport die Nation da hinzubringen, wo nach Ansicht aller Nationalisten die eigene Nation hingehört: an die Spitze.

Auch die emotional aufgeladene Atmosphäre in den Massen von Fans auf den public-viewing-Plätzen (im Verbund mit exzessivem Alkoholkonsum) war nicht gerade geeignet für Reflexion und kritische Distanz. Der dort stattfindende staatlich genehmigte Kontrollverlust bot Entlastung vom durch Vereinzelung und ökonomischer Rationalität geprägten Alltag. Geduldet wird das aus gutem Grund, sind doch Ereignisse dieser Art für viele Leute die einzige Gelegenheit, sich mit der eigenen Nationalität rundum einverstanden zu erklären – auch weil (im Gegensatz zum Handeln der politischen Repräsentanten) das, was immer die Spieler da leisten, am Ende keine negativen Folgen für einen selber hat.

Und weiter?

Bliebe noch die Frage, was die WM nun tatsächlich gebracht hat. Ein grundlegend neues Verhältnis der deutschen Bevölkerung zur Nation wohl eher nicht. Die Meinung, jetzt endlich hätten die Deutschen zu einem unverkrampften Nationalgefühl und einer „normalen“ Beziehung zum eigenen Land zurückgefunden, ist selbst eine regelmäßig wiederkehrende Behauptung derer, denen der Nationalstolz sowieso nie weit genug gehen kann. Insofern kann man getrost bezweifeln, dass sich bei der WM eine grundsätzlich neue Dimension des Patriotismus gezeigt hätte – obwohl diese sicher dazu beigetragen hat, schon vorhandene nationalistische Stimmungen zu stärken. Ansonsten hat die WM vor allem eins gebracht: enormen Umsatz für die flaggenpro­duzierende Industrie.

justus

Dicke Fische

Vom 6. – 8. Juni 2007 wird sich die politische Elite der wirtschaftlich und militärisch stärksten Staaten zum alljährlichen „Weltwirtschaftsgipfel“ in Heiligendamm treffen, um ihre Sicherheits- und Wirtschaftspolitik aufeinander abzustimmen. Diese Gruppe der Acht (G8) ist ein selbsternanntes Machtzentrum im Netz der transnationaler Institutionen wie WTO, IWF und Weltbank, auf die sie mit ihrer einseitigen Interessenspolitik Druck ausüben. Viele Menschen haben keine Lust mehr, sich von diesen Verwaltern globaler Probleme bevormunden zu lassen und immer lauter wird der Ruf nach Aufklärungsarbeit, Netzwerken, alternativen Inhalten und Infrastrukturen.

Bereits vom 4. bis 13. August diesen Jahres trafen sich ca. 1.000 AktivistInnen auf dem Camp-Inski in der mecklenburgischen Pampa ca. 20 km Luftlinie von Heiligendamm entfernt. Sie sind Teil der globalisierungskritischen Bewegung, die sich bereits in diesem Jahr auf das Gipfeltreffen 2007 verstärkt vorbereitet, in der Hoffnung durch ihren Protest medienwirksam auf die Widersprüche der G8 hinzuweisen und gleichzeitig dauerhafte emanzipatorische Strukturen aufzubauen. Damit stellen sie sich in eine 20jährige Tradition des Widerstands gegen die kapitalistische Globalisierung „von oben“.

Schon 1984 fand der erste Gegengipfel „The Other Economic Summit“ in London statt und ein Jahr später dann auch die ersten Protestaktionen auf den Straßen von Bonn. In den 90ern wurden die Demonstrationen gegen die G8-Gipfel und transnationale Organisationen kontinuierlich größer. Einen wichtigen Höhepunkt erlebten die Proteste dann 1999 in Seattle, US-Staat Washington, als es gelang, dass WTO-Treffen massiv zu stören. Zwei Jahre später in Genua demonstrierten dann bereits Hunderttausende. Überschattet vom Tod Carlo Guiliani‘s ist es der Erfolg der Protestbewegung, dass die G8 seitdem aus den Großstädten verdrängt und sich in abgelegene Gebiete geschützt von einem massiven Hochsicherheitsaufgebot von Polizei und Militär zurückzieht.

Auch 2007 werden Marine und Bundesgrenzschutz (heute: Bundespolizei, s. FA! #23) zum „Schutz“ des G8-Gipfels eingesetzt, zusätzlich wurde bereits beschlossen, dass im Januar mit dem Bau eines 13 km langen und 2,5 m hohen massiven „Antiterroristischen Schutzwalls“ um das 270-Seelen-Dorf Heiligendamm begonnen wird. Wieviel muss mensch sich noch gefallen lassen? Die „Festung Heiligendamm“ wird das Fass zum überlaufen bringen, denn auch heute ist schon klar, dass die G8 keine Probleme lösen kann, sondern selbst Teil des Problems ist.

Was ist die G8?

Der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems (1), die erste große Ölkrise und der Beginn der wirtschaftlichen Globali­sierung Anfang der 70er waren die Vorboten. Regierungsvertreter der USA, F, GB, I, D und Japan sahen es für notwendig an, ein internes Forum zu bilden, in dem sie ihre Wirtschaftspolitiken auf­einander abstimmen können. Somit entstand 1975 die „Gruppe der Sechs“, welche bereits ein Jahr später zur G7 (Kanada) erweitert wurde. Obwohl das 8. Mitglied, Russland, erst seit diesem Jahr gleichberechtigt ist, nimmt es schon seit 1994 an den Gipfeltreffen teil. Die EU gilt sogar inoffiziell als 9. Mitglied (2). Die jährlich hinter verschlossenen Türen stattfindenden Gipfelgespräche, die sich bereits den 80ern auch um außenpolitische Fragen drehen, dauern drei Tagen, und die Entscheidungen zu den diversen Themen werden in Abschlusserklärungen veröffentlicht, die sehr vage gehalten und mit einer Rhetorik der Armutsbekämpfung, Nachhaltigkeit und Menschenrechte versehen sind. Diese verdeutlichen immer mehr die Widersprüchlichkeit der G8 bezüglich Anspruch und Wirklichkeit. Ihre Entscheidungen sind offiziell nicht bindend, doch zeichnen sie bereits zu­künftige Debatten über globale Probleme und wie diese innerhalb transna­tionaler Institutionen wie u.a. IWF, WTO, EU etc. zu lösen sind, vor. Die Definitionsmacht der G8 kann nicht unbeantwortet bleiben. Sie definiert globale Probleme in Bereichen wie: Sicherheit, Migration, Finanzmärkte, Patentrecht, „Krieg gegen den Terror“ etc., wobei die katastrophalen sozialen Folgen ihrer Wirtschafts- und Sicherheitspolitik kaum Beachtung finden. So werden zwar „Entwicklungsländer“ thematisiert, jedoch nicht die Machtverteilung zwischen Nord und Süd, oder sie sprechen über Energiesicherung, nicht aber über die Rücksichtslosigkeit dieser Ressourcenkämpfe. (3)

Eine globalisierungskritische Bewegung

Die Suche nach Alternativen, wenn auch nicht einheitlich und widerspruchslos, hat schon längst begonnen. Auch die Mobilisierung zum Gipfeltreffen 2007 in Heiligendamm umfasst viele unterschiedliche politische Spektren wie Gewerkschaften, Flüchtlingsorganisationen, autonome Antifas, antirassistische Initiativen, UmweltaktivistInnen, NGOs, Anti-AKW-Bewegung u.a. So unterschiedlich ihre Organisations- und Diskussionsform, politischen Positionierung, Selbstverständnis, so schwer ist es auch, den gemeinsamen Protest praktisch und inhaltlich zu koordinieren. Die Heterogenität dieser Bewegung ist gleichzeitig auch ihre Stärke: Sie spiegelt die Diversität menschlicher Be­ziehung­en wider, macht transnationale Diskussion, Vernetzung und Austausch möglich, zeigt Konti­­nuitäten von Netzwerken und Bünd­nissen auf! (4)

Hiermit sei auch die weit verbreitete Annahme korrigiert, Globalisierungs­kritiker­Innen stünden in Gegnerschaft zur Globalisierung. Vielmehr wird eine „Globali­sierung von unten“ angestrebt. Sie sprechen sich nicht für eine globale Bewegungsfreiheit des Kapitals, sondern für die Bewegungsfreiheit von Menschen aus, und für einen überlegten Umgang mit der Natur. Damit sprechen sie vernachlässigte bzw. einseitig dargestellte Themen an, wie die Öko­no­mi­sierung immer weiterer Lebensbereiche, die Lage von Frauen und Kindern speziell in südlichen Ländern, die Folgen weltweiter Finanzströme, Antisemitismus uvm.

Momentan wird explizit ein spektren­übergreifender Nenner gesucht, um gemeinsame Forderungen herauszukristallisieren und Alternativen Gehör zu verschaffen. Bisherige Vorschläge eines gemeinsamen Mottos der G8-Proteste, die sich bewusst einer Negativforderung (z.B. „G8 Abschaffen“) verweigern, sind: „Globale Rechte aneignen“ oder „Globalisierung von unten. Aneignung – Migration – Prekarisierung“. (5) Direkte Einblicke in diese Diskussion sowie allgemein zur Mobilisierung der G8-Proteste bekommt mensch vom 10. – 12. November bei der zweiten Internationalen Aktionskonferenz in Rostock. (6)

Die Durchführung des Gipfels 2007 soll durch kreative Aktionen gestört und globalisierungskritische Positionen stärker in die Öffentlichkeit getragen werden. Ebenso sollen die Möglichkeiten spektrenübergreifender Zusammenarbeit und Lebens-Alternativen aufgezeigt werden. Dabei bleibt es notwendig, sich explizit von rechten Strukturen und Neonazis ab­zu­grenzen, die auch die G8 auf­grund fehlender Legitimität angreifen und wegen ihres nationalen Heimatwahns schon eher als Globalisierunsgegner zu bezeichnen sind.

Das Camp-Inski – Konkreter Widerstand

Das 10tägige Camp (7) war anfangs direkt an der Ostsee geplant. In der Hochsaison einen Campingplatz für mehrere hundert Menschen zu finden, war jedoch unmöglich. Zusätzlich erteilten einige umliegende Gemeinden keine Genehmigung für ein Camp und so wurden ca. 20km von der Ostsee entfernt die Zelte aufgeschlagen. Da für nächstes Jahr in der Gegend um Heiligendamm ein Gegengipfel, Aktionstage, ein oder mehrere Camp(s) und mindestens eine Großdemo geplant sind, war dies schon mal der erste organisatorische Prüfstein. Zusätzlich muss weiterhin an der Außenwirkung der Proteste gearbeitet werden, und das gerade in Meck-Pomm, wo es an politischen alternativen linken Strukturen mangelt.

Leider fand nur eine Anwohnerin den Weg auf ein Podium, wo sie ihren Unmut an der Bewegung äußerte. Sie traf den Nagel auf den Kopf, als sie sich als „Außenstehende“ und das Camp als ein eingeschworenes „Geklüngel“ bezeichnete, welches nicht das Anliegen habe, ernsthaft nach außen zu wirken. Es zeigte sich, dass inhaltliche Debatten nicht nur innerhalb der Protestbewegung ablaufen dürfen, sondern auch darüber hinaus vermittelt werden müssen. Damit wären auch die Medien gezwungen, mehr über Inhalte der Proteste zu berichten als nur spektakuläre Bilder zu zeigen.

Auf dem internationalen Mobilisierungscamp-Inski sollte der „symbolische und praktische Bruch mit dem Machtanspruch der G8“ geprobt werden. Unterschiedliche kreative Aktionsformen (Clownerie (8), Samba-Band, Stelzenlauf, Door Knocking) wurden auf dem Camp geplant und u.a. in Wismar, Rostock, Bad Doberan und Heiligendamm demonstriert.

Im Gegensatz zu der öffentlichkeitswirksamen, kraftvollen Demonstration gegen Abschiebung in Rostock, erwies sich die Badespass-Aktion in Heiligendamm als weniger amüsant. An diesem Tag hatte sich fast das ganze Camp auf den Weg nach Heiligendamm gemacht: zum Besichtigen des Nobelhotels Kempinski, wo die G8 2007 untergebracht sein wird, sowie für kleinere Aktionen rund um den Gipfel. Die „Molli“, ein privater, traditioneller Zug und Touristenattraktion, war die einzige Möglichkeit von Bad Doberan nach Heiligendamm zu gelangen, wenn man keine 7 km laufen wollte oder keinen Platz in einem Auto bekommen hatte. Ca. 100 CamperInnen legte den Molli-Verkehr kurzzeitig lahm, als sie sich weigerten zu zahlen. Kurz vor Heiligendamm wurde die Molli dann von mehreren Polizei- und SEK-Einheiten gestoppt und umstellt. Die CamperInnen wurden des Schwarzfahrens bezichtigte und aufgefordert auszusteigen, damit Personalien aufgenommen und Strafverfahren eröffnet werden können. Als der Schaffner daran erinnert wurde, den Camper­Innen erlaubt zu haben, kostenlos mitzufahren, griff die Staatsgewalt zum Erpressungsversuch: entweder Anzeige oder Ticket lösen.

Auf dem Rückweg zum Camp lief es nicht so glimpflich ab. Als sich ca. 80 Camper­Innen in einer Regionalbahn drängten, tauchte Polizei und SEK wieder auf, diesmal weniger diskussionsbereit. Ohne Warnung oder Begründung versuchten sie mittels Schlagstöcken und Pfefferspray in den Zug zu gelangen. Dabei wurde ein Camper verhaftet und mehrere Panikanfälle ausgelöst.

Mit Konfrontationen mit der Staatsgewalt, sowie allgemein mit „Demokultur“ wurde sich dann auch während des Camps auseinandergesetzt. In einem Workshop tauschten ca. 60 AktivistInnen ihre Erfahrungen aus. Schon so früh wie möglich sollten Gruppen entstehen und sich über persönliche Stärken, Schwächen, Durchhaltevermögen, Angstgrenze etc. auszutauschen, damit Vertrauen und Zuverlässigkeit entstehen kann. Solidarität im Kleinen eben.

Dies war nur eine der ca. 150 Veranstaltungen und Workshops auf dem Camp-Inski. Inhaltliche Auseinandersetzungen fanden zu Themen wie Befreiungskämpfen in Lateinamerika, Gentechnik und Landwirtschaft, Hierarchien, Sexismus, Globale Rechte uvm. statt. Speziell eine Debatte erhitzte die Gemüter des gesamten Camps: die kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten. Eine sich als anti-imperialistisch verstehende Gruppe stieß mit der Forderung: „Stoppt den mörderischen Angriffskrieg Israels gegen den Libanon. Gerechtigkeit für Palästina“ auf viel Empörung. Nachdem ihr Transpi eines Nachts im Dixi gelandet war, brach die große Aufregung aus. Die besagte Gruppe verurteilte das gesamte Camp und erwartete Entschuldigungen. Die Tat an sich („fremdes“ Transpi ohne Worte abnehmen und wegschmeissen) sollte daraufhin getrennt vom Inhalt des Transpis diskutiert werden. Ein Tag später hing ein neues Transpi mit oben genanntem Inhalt, aber diesmal begleitet von einem Weiteren mit der Aufschrift „Stoppt den antisemitischen Irrsinn von Hamas, Hisbollah. Existenzrecht für Israel“. Auch wenn später noch diverse Workshops u.a. zum Libanon und „Antisemitismus in der Linken“ stattfanden, wurde es offensichtlich, dass zum Thema Naher Osten noch viele Debatten innerhalb der globali­sierungs­kritischen Bewegung nötig sind.

Insgesamt gesehen war das Camp-Inski aber ein riesiger Erfolg. Der Ausblick auf eine realistische Möglichkeit, die G8-Proteste nächstes Jahr öffentlichkeitswirksam, mit reflektierten Inhalten und hunderttausendfacher Beteiligung durchzuführen, war überwältigend. Der G8-Gipfel 2007 bietet nur eine Möglichkeit gegen einen Globalisierungsprozess zu demonstrieren, welcher ein ignorantes Herrschaftssystem repräsentiert, das im Namen vom profitorientierten Wirtschaftswachstum, den Wohlstand und das Glück dieser Welt nur für die „1.Klasse“ reservieren will. Auch wenn in den westlichen Nationen im Gegensatz zu südlichen Ländern, die alltägliche Gewalt nicht unmittelbar erfahren wird, sind auch die Menschen z.B. in der EU oder USA von den fatalen Folgen eines kapitalistischen und politisch globalen Systems tagtäglich betroffen. Es gilt kritisch zu denken, Konti­nuitäten aufzubauen, sich solidarisch zu verhalten und laut NEIN zu sagen zu einer Politik der Angst und arroganten Machtinszenierung.

droff

(1) Ein Währungssystem mit festen Wechselkursen auf Dollarbasis, das1973 zusammenbrach. Es wurde auf der Bretton-Woods-Konferenz 1944 beschlossen, wo auch Weltbank und IWF gegründet wurden.
(2) Heute treffen sich einmal im Jahr die politischen Eliten (Regierungsvertreter und Minister) der heute acht wirtschaftlich stärksten Nationalstaaten, sowie der Präsident der Europäischen Kommission und der Präsident des Europäischen Rates zu den Gipfeltreffen.
(3) weiterhin: „G8-Gipfel: so what?!“, Broschüre zum Diskussionsforum G8 beim Buko-29-Kongress, Mai 2006 in Berlin: www.buko.info
(4) Infogruppe: www.gipfelsoli.org, Interventionistische Linke: www.g8-2007.de, dissent! Gruppe: dissentnetzwerk.org. Siehe auch FA! #7: „Proteste gegen den G8-Gipfel“, FA! #23: „29. Buko-Kongress und G8“.
(5) weiterführend: „Einblicke in das Innenleben einer Mobilisierung“: www.gipfelsoli.org/Heiligendamm.html
(6) www.heiligendamm2007.de
(7) www.camp06.org
(8) www.clownarmy.org

Ihre Papiere bitte!

Schon mal Gedanken um den Pass gemacht? Nein, oder nur kurz vor einer geplanten Urlaubsreise? Glückwunsch, dann zählst Du zu dem privilegierten Drittel der Menschheit, das relativ frei über seinen Aufenthaltsort bestimmen kann.

Immer wieder liest und hört mensch in den Nachrichten von Menschen, die alles daran setzen, um aus anderen Teilen der Welt in die Europäische Union oder auch in die USA zu gelangen. Ebenso von jenen, die abgeschoben oder im Rahmen von Le­galisierungs­kampagnen Papiere erhalten. (1) Allerdings sind deren Zahlen gegenüber den Abschiebungen verschwindend gering: So sollen 2006 in Frankreich 6.000 undokumentierte Einwanderer Papiere erhalten und 25.000 abgeschoben werden.

So verschieden wie diese Menschen sind auch ihre Ziele und Beweggründe dafür, ihr zukünftiges Leben an das Gelingen dieser oftmals gefährlichen Reise zu knüpfen. Jährlich ertrinken mehrere Hundert Menschen bei dem Versuch, auf dem Seeweg von Nordafrika nach Europa zu kommen und allein 2004 wurden in der Wüste von Arizona über 200 Menschen tot aufgefunden. Was sie alle teilen, sind ungewisse politische, ökonomische und soziale Zukunftsaussichten und dass sie keine Papiere vorweisen können, die ihnen eine amtlich registrierte und komfortablere Einreise erlauben würden.

Jedoch ist nicht jeder Pass auch gleichzeitig ein „Türöffner”: Wurde er vom „falschen” Staat ausgestellt, kann es nützlicher sein, ihn bei der Einreise in die Europäische Union offiziell nicht zu besitzen, um so zumindest einen vorläufigen Aufenthaltstitel zu erhalten. Woran es den meisten MigranntInnen mangelt, ist also weniger ein Pass an sich, sondern ein Papier, das z.B. die Bewegungsfreiheit innerhalb der EU erlaubt.

Wenn die Söhne, Töchter, Väter und Mütter in ihrer Heimat aufbrechen, hat oft die ganze Familie zusammengelegt, um die Reisenden mit finanziellen Mitteln für den Neuanfang auszustatten. Im Gegenzug hoffen die Zurückbleibenden, dass es ihren Verwandten gelingt, das Ziel der Reise zu erreichen und dort eine Existenz aufzubauen, um ihre Familie zu unterstützen. Doch nicht nur diese sichern so ihr Überleben, sondern auch die Staaten, in die diese privaten Finanzströme fließen, machen Kasse. (2) Im Zielland angekommen, gelten diese Menschen dann als „Illegale”, Asylbewerber oder auch „Wirtschafts­flücht­linge”. In der BRD leben derzeit unter 85,5 Millionen Menschen circa 500.000-1,5 Millionen ohne Aufenthaltspapiere, in den USA gibt es bei einer Bevölkerung von 300 Millionen circa 20 Millionen „un­do­­ku­mentierte Einwanderer”. (3)

Was ist eigentlich ein Pass?

Allgemein gesprochen, ist er ein von einem Staat ausgestelltes Dokument, welches dem Träger beim Verlassen eines bestimmten Herrschaftsgebietes zu sicherer Passage und Aufenthalt verhelfen soll. Im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte entwickelte er sich zunehmend auch zum Identitätsdokument, welches die Authentizität des Trägers gegenüber anderen Regierungen bestätigt. (4)

Im Unterschied zum Personalausweis, der vorrangig der Identifikation innerhalb eines Staates dient, erfüllte der Reisepass außerdem immer auch die Funktion der Bewegungskontrolle. Im Zuge der Ents­tehung von staatlichen Zusammenschlüssen wie der EU, kam dem Personalausweis innerhalb dieses Territoriums auch noch die Funktion als Reisedokument zu.

Seine Bedeutung erhält der Pass dadurch, dass der Staat, genauer dessen Verwaltungsapparat – schon aus Selbsterhaltungsgründen – auf die Zuteilung von “dokumentarischen Identitäten” und damit auf die Erfassung „seiner” Bevölkerung angewiesen ist. Nur mittels eines Instrumentes der Bevölkerungs- und Bewegungskontrolle, wie dem der Passausstellung. kann einigermaßen nachvollzogen werden, wer wo Staatsbürger ist und sich entsprechend bewegen darf oder eben auch nicht.

Über dieses Dokument wird jedem Individuum – seit der Entstehung der modernen Nationalstaaten – eine bestimmte Nationalität und Identität zugeteilt. Außerdem bescheinigt der ausstellende Staat somit, einen Staatsbürger bei dessen Ausweisung aus einem anderen Staat wieder aufzunehmen. Weiter gefasst, geht es um den gesteuerten Ausschluss und die Überwachung von (un)erwünschten Personen, sowie die Registrierung und Nutz­bar­machung von menschlichen „Ressourcen“.

Der Reisepass ist als Instrument der Identitäts- und Bewegungskontrolle ein Mittel staatlicher Politik, welches an der Schnittstelle zwischen dem National­staatskonzept, internationaler Politik (Passunionen wie das Schengener Abkommen) und ökonomischen Interessen (Zollunionen und transnationale Bewegung von Arbeitskräften) operiert.

Die Geschichte dieses Papiers ist auch die Geschichte seiner Transformation und Anpassung an die jeweiligen Bedürfnisse und Interessen derer, die über die Art und Weise seiner Anwendung bestimm(t)en. Zu diesen zählen neben staatlichen Stellen auch Passfälscher, Schleuser sowie Arbeitgeber, die “Illegale” zu Hungerlöhnen schuften lassen.

Dies war nicht immer so: Im Mittelalter gliederten sich die europäischen Gesellschaften nach Ständen, Räumen und Aufgabengebieten. Bedeutender als die geographische Zugehörigkeit war der Stand, dem man angehörte. Der Staat war nur einer von mehreren Akteuren, die das Leben strukturierten.

Die vormoderne Geschichte des Passes lässt sich in groben Strichen von vermuteten Registrierungssystemen im Alten Ägypten über Kontrollsysteme im Römischen Reich bis zum englischen König William I., der im 11. Jahrhundert alle Ein- und Ausreisen seiner Untertanen mittels eines Festungssystems an der Küste kontrollierte, nachzeichnen.

Im Kontrast dazu beansprucht der moderne Staat die Loyalität der Bevölkerung auf seinem Territorium vor allen anderen Akteuren (bspw. Kirchen, gewerkschaftlichen Vereinigungen, usw.). Im Gegenzug bietet er den BewohnerInnen des Territoriums seinen Schutz an. Dieses Versprechen findet sich schon in der älteren Form des Passes als Passierschein, dessen Träger bereits das staatliche Gewaltmonopol zu akzeptieren hatten. Seit der Französischen Revolution 1798 und der Entstehung der modernen Nationalstaaten schließlich, wird er außer als Reiseerlaubnis auch als Identitäts- und vor allem National­itäts­nachweis genutzt.

Der moderne Pass, wie er im Zuge der Nationalstaatsentwicklung entstand, ist für den Staat und die Regierung Voraussetzung für die Bewegungs- und Bevölkerungskontrolle

Die Geschichte des Passes veranschaulicht damit eine doppelte Kontinuität: Gemeint ist zum einen die Entwicklung des Passes vom Passierschein zum Identitäts- und Bewegungskontrollinstrument. Ebenso aber auch die Kontinuität des Passes als Steuerungsinstrument, welches den jeweiligen sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnissen angepasst wird, dessen grundlegende Prinzipien jedoch konstant bleiben.

Worum es sich beim Pass – wie bei anderen staatlichen Kontrollmechanismen auch – schließlich handelt, ist das Zusammenspiel von staatlicher Logik und der gegenwärtigen Form des Kapitalismus, der auf globalen Austausch ausgerichtet ist.

Die Rede ist hier nicht von einem prinzipell neuen Phänomen innerhalb der menschlichen Bewegung und Wanderung, sondern von einer Verschiebung und Umordnung der Faktoren und Umstände, die Politik und Wirtschaft dazu veranlassen, die legitime Bewegung der Menschen einzuschränken oder offiziell zuzulassen.

Im Ersten, als auch während des Zweiten Weltkrieges, gewann der Besitz oder Nichtbesitz einer nationalen Zugehörigkeitsbescheinigung auf die Lebenschancen eines Individuums massiv an Einfluss. Reisende, ob sie nun freiwillig unterwegs waren oder auf der Flucht, waren von staatlich ausgestellten Dokumenten abhängig, die ihnen eine nationale Identität zuschrieben.

Spätestens am Ende des 20. Jahrhunderts wurde angesichts der sogenannten „Asyl-oder Einwanderungsproblematik” klar, dass in einer sich globalisierenden Welt Migration anders als durch das Beschneiden der legalen Einwanderungsmög­lichkeiten reguliert werden muss, da dies lediglich zu einem Anstieg der illegalen Einreise führt. Ein Grund dafür liegt darin, dass die Motivation zur Emigration aus den ärmeren Weltgegenden in die industrialisierten Staaten in den letzten Dekaden beständig zugenommen hat, während die Immigrationsanreize in den in­dustrialisierten und „entwickelteren Staaten” konjunkturellen Schwankungen unterliegen. Trotz des Wissens um diesen Umstand haben in den letzten Jahren faktische Einwanderungsländer wie Frankreich, die USA oder die BRD ihre Einwanderungsrestriktionen verschärft. (5)

Und trotz aller Versuche, Menschen zu identifizieren und bestimmten Kategorien zuzuordnen, ist dieses Projekt im Sinne der Nationalstaaten bisher zwar vorangeschritten, hat aber – aus Sicht der Regierungen – zu keinem befriedigendem Abschluss gefunden. Schlußendlich erfüllt der Pass seine Funktion nur, wenn sowohl die Bediensteten der staatlichen Verwaltungs- und Kontrollapparate als auch die zu registrierenden Subjekte, die vorgeschriebenen Prozeduren und Verhaltensweisen akzeptieren und umsetzen.

Man kann also die Politik der Passvergabe oder Passverweigerung und damit die gegenwärtige Einwanderungspolitik der Industriestaaten als eine “beschränkte Glo­balisierung” beschreiben. Auf der einen Seite werden der Warenverkehr und die Finanzströme internationalisiert während die Bewegung von Menschen über Staatsgrenzen hinweg immer schärferen Restriktionen unterworfen wird.

Der Pass bewegt sich damit im Spannungsfeld von wirtschaftlicher bzw. staatlicher Migrationspolitik und dem menschlichen Einfallsreichtum, die aufgestellten – und durchaus realen – Hindernisse zu umgehen oder zu überwinden.

hannah

Zum Weiterlesen:
www.clandestino-illegal.de, www.picum.org (Internationales Netzwerk für “illegale Migranten), Atlas der Globalisierung 2006.
(1) So legalisierte Italien 1999 150.000 Statuslose und im Jahr darauf weitere 40.000, unter der Bedingung, dass diese eine dauerhafte Beschäftigung und Unterkunft vorweisen konnten. Ähnliche Amnestien gab es auch in Spanien, Frankreich und Belgien.
(2) Zwischen 1999 und 2005 stieg der Wert der Überweisungen von Migranten in ihre Heimatländer von 70 auf 230 Milliarden Dollar. In Bangladesch beträgt der von Migranten bestrittene Anteil am staatlichen Devisenaufkommen 30 Prozent. und in Mexiko sind diese Einnahmen nach den Ölexporten die zweitwichtigste Devisenquelle. Atlas der Globalisierung.
(3) www.auslaender-statistik.de/illegal.htm, www.illegalaliens.us
(4) “Pass: von der zuständigen Behörde für jemand, der eine Reise zu unternehmen beabsichtigt, ausgefertigte, die Persönlichkeit des Reisenden feststellende, zu diesem Ende mit dessen Personalbeschreibung und seiner Namensunterschrift versehene, gewöhnlich auch Ziel und Zweck der Reise angebende Urkunde, durch welche der Reisende sich über seine Person sowie die Unbedenklichkeit seines Reisens auszuweisen vermag und auf Grund derer er eintretendenfalls auch den Schutz derjenigen Behörden, durch deren Gebiete er reist, in Anspruch nehmen kann.” Brockhaus Konversationslexikon, 14. vollst. neubearb. Auflage, 12. Bd., Leipzig, Brockhaus 1908.
(5) Z.B. in der BRD durch die Verfassungsänderung 1993 und damit der Streichung des allgemeinen Asylanspruchs (ehem. Artikel 16 GG), in Frankreich mit dem Loi Pasqua und dem Loi Debré.

HIT ME WITH MUSIC

Homophobie (1) und Reggae als Exportschlager

Die emanzipatorischen, zum Teil anarchistisch libertären Züge, die die Rasta-Bewegung dank ihrer Mischung – heute heißt es Hybridität – auszeichnet, insofern es ihr um die Umsetzung ihrer antihierarchischen Ziele im Hier & Jetzt geht, werden durch den Sexismus konterkariert.“

(J.P. Kastner: Der Mythos von Reggae als schwarzer Kultur der Befreiung, testcard Nr. 12: Linke Mythen)

Die ständigen verbalen Diskriminierungen Homosexueller durch viele Reggae-MusikerInnen sowie Bemühungen um Zensur bzw. Auftrittsverbote dieser durch Lesben- und Schwulenverbände sind die Frontpositionen eines komplizierten Konfliktes entlang kultureller Linien, dessen Analyse dem Geschehen entsprechend nur vorläufig und unvollständig sein kann. Jamaikanische Verhältnisse und ihre Sprache werden nur am Rande beleuchtet (S.13). Es geht v. a. um „Entspannungsmusik“ – bzw. das Konsumieren dieser hier.

Ich mag Reggae nicht

Damit das gleich klar ist: in jedem Leipziger Club, in dem hin und wieder Reggae-Partys stattfinden, lief schon homophobe Musik, von der Gießer bis zur Tille, auch im Eiskeller und auf der Wiese. Diverse Soundbwoys und -gyals (gemeint sind die lokalen Reggae-Crews) antworten auf diesbezügliche Nachfragen, dass sie dieser Debatte überdrüssig geworden seien (2), können aber wenigstens noch zugeben, dass Homophobie Blödsinn ist. Ein beachtlicher Teil bekennt allerdings, dass sie „Schwule nicht gerade mögen“. Persönliche Unsympathie­bekundungen aufgrund sexueller Vorlieben anderer sind zwar nicht gerade politisch korrekt, aber – für mich – gerade so noch akzeptierbar. Wenn dann jedoch diese Ressentiments öffentlich verbreitet werden – wenn etwa bei einer Tanzveran­staltung bewusst und wiederholt solche Lieder gespielt werden, in denen es gegen Schwule und Lesben geht (3) – so hat das nichts mehr mit persönlichen Vorlieben zu tun, sondern ist ganz klar eine politisch relevante und zu bekämpfende Tatsache. Aufgeregt wird sich darüber, zumindest „in der Dancehall“, jedoch so gut wie nie. Woran liegt das? In Italien z.B. werden homophobe Inhalte bei Konzerten und Partys oft mit Buh-Rufen quittiert, auch in den USA und Großbritannien gibt es mehr „teilnehmenden Widerstand“. Zum einen können oder wollen die meisten Leute einfach die Texte nicht verstehen, z.B. Wörter wie batty-boy und chichi-man, die abfällig für Schwule verwendet werden (4). Mangelnde Courage bzw. Politisierung, aber auch andere Prioritäten bei der Party oder gar Zustimmung können auch Gründe sein.

Oh Nein!

Auf der anderen Seite führt die inhaltliche Auseinandersetzung (5) für so manche emanzipations-motivierte Linke zu einer Ablehnung der Subkultur Reggae. Der massive Sexismus z.B. hängt jedoch nicht zuletzt eng mit der Kulturindustrie zusammen: Shabba Ranks musizierte jahrzehntelang „cultural“, bevor er mit laxer „slackness“ (im Kasten erläutert) 1992 den Grammy gewann. Lady Saw, eine auf sexistische Art feministische (Geht das?) „Königin des Dancehall“, muss sich hingegen heute noch rechtfertigen, warum sie z. B. auch mal einen sauberen Schrittgriff hinlegt; ohne wäre sie wiederum nur halb so erfolgreich. Der Kultur­wissenschaftler Stuart Hall spricht von einer „sexuellen Ökonomie“, die außerdem ethnische Verhältnis­mäßigkeiten untermauere. Potenzgehabe kommt in der Musik genuaso vor, wie harmonische Harmlosig­keiten und düstere Härtefälle – jeder Hit ein Hit und nichts weiter.

Zweiter Brennpunkt ist die Kritik an Babylon, die meist ziemlich kurz und bündig in widerständig-feurigen Zeilen geäußert wird. Das System Babylon steht in der Rasta-Philosophie sowohl für den biblisch-historischen Ort der menschlichen Selbstüber­schätzung (Turmbau zu Babel), als auch für Imperialismus, Kapitalismus und prekäre Lebensrealitäten insgesamt. „Verkürzte Verschwörungstheorien!“ heißt dann, aus völlig anderen Verhältnissen kommend, die Diagnose, wo MusikerInnen ohne analytischen Anspruch über ihre Geschichte, ihren Glauben und ihr unprivile­giertes Leben erzählen.

Und: Genauso wenig, wie mensch erwarten kann, dass diese sich in ihren Inhalten kulturindustriell an unsere KonsumentInnen­ansprüche anpassen, lässt sich die verbreitete „Illusion einer Eins-zu-Eins-Aneignung von jamaikanischer Musik und Kultur“ (6) aufrecht erhalten. Für die kulturelle Kommu­nikation sollte aber zumindest eine Erinnerung überall immer wieder wach gerufen werden: Vor 60 Jahren sind hier u. a. Homosexuelle (und im Mittelalter „Hexen“) tatsächlich verbrannt worden.

Ich liebe es

Was positiv rüberkommt: bei fugenartigem, spielerischen Kontrastreichtum kann mensch seine Hörgewohn­heiten entspannen, irie (glücklich) werden, sogar in Trance oder revolutionäre (6) Stimmung kommen – auch wenn das politisch nicht verständlich ist, kann es gut sein. Die DJs, die zumindest versuchen, homophobe Musik heraus zuselektierenden, sind dabei natürlich vorzuziehen, doch leider auch rar. MusikerInnen ohne jamaikanische Nationalität und Homophobie gibt es dagegen recht viele, nur werden die selten gespielt, wegen der Authentizität. Und ohne hier so zu tun, als ob im ach so aufgeklärten Deutschland der bessere, weil politisch korrekte Reggae produziert würde, erheben sich sehr wohl kritische Stimmen: „Wer Chi-Chi-Man spielt, bekennt sich zur Schwulen­feind­lichkeit oder verabschiedet sich von jedem politischen Anspruch.“ So Oliver Schrader von Silly Walks Movement in einer Diskusion des Riddim-Magazin. Im Internet­auftritt der Berliner Band Culcha Candela heißt es: „Es gibt Interessan­teres und Wichtigeres im Leben, als die Menschen permanent mit seiner Penisgröße, seinem Hoden­­gewicht und einer schein­­bar ange­bo­renen Homo­phobie zu unter­halten“. Viele junge Dance­hall-Musiker­Innen haben explizite politische Ambitionen (z.B. Mono und Ni­ki­­ta­­man). Der süd­deut­sche Rag­ga­bund wendet sich eben­falls konkret an die eigene Szene: „Batty Man Tunes sind Hass-Propaganda!“

Realise it!

Eine andere Frage betrifft z.T. durch­gesetzte Zensurforderungen bzw. Auf­tritts­verbote z.B. durch den deutschen Lesben- und Schwulenverband oder die britischen Outrage. Was hat das mit Emanzipation zu tun? Wiederum muss mensch nicht nur der Geschichte wegen Vorsicht üben, kultu­relle Güter verbannen zu wollen. Ist Bob Marleys „I shot the Sheriff“ schon Anstiftung zu „unspezifischem Mord“? Mehr als positions­verhär­tende Verbote würde doch die gute alte direkte Aktion helfen. Ob „überaffirma­tive Partyinfiltration“ (7), lautstarke Un­muts­­bekun­dungen, spielerische Bloß­stellungen – das Publikum muss nicht nur in Jamaika die Partyhoheit haben, denn die ohnehin sehr dynamische Musik wird ja für die Leute gemacht und „live“ verhandelt. (Übel nur, wenn mir, wie einst in der Distillery, auf meinen mit Hilfe der Zeichensprache geäußerten Unmut von dem Leipziger Iggla über das Mikro ge­an­t­wortet wird, dass auch alle Lesben (8) brennen sol­len.) „Culture jamming“ nennen manche die subversive Verän­derung kulturell festgelegter Codes; manchmal wird z.B. die homophobe Aus­sage mit anderen Geräuschen überspielt oder sogar eine neue kreiert. Auch Partys mit Reggae-Soundsystems und Queer-DJ´s sind denkbar. Ich möchte jeden­falls irgendwann nicht mehr alleine frei auf der Tanzfläche sein. Wenn nicht alle tanzen können, ist es auch nicht meine Emanzipation!

clara

Buchtipps:
Volker Barsch: Rastafari: Von Babylon nach Afrika, 2003.
Stuart Hall: Rassismus&kulturelle Iden­tität, Hamburg 1994.
(1) Homophobie bezeichnet eine soziale, gegen Ho­­­mo­sexuelle gerichtete Aversion bzw. Feindseligkeit.
(2) Z.B. durch die gescheiterten Diskusionen im Cee Ieh 2001.
(3) Sog.“Batty-Boy-Runden“. Auch Aufforderungen zur Abstimmung per Hand gegen Schwule, wie sie auf jamaikanischen Dances oft praktiziert werden, habe ich hier schon erlebt (und unherzlich gelacht, weil diese zwanghaften Unter­hal­tungs­­versuche sowieso fast niemand mehr versteht).
(4) Batty boy meint im jamaikanischen Englisch (dem Patois) wörtlich einen sich beugenden Typen. Chi chi heißt ebenfalls „Termite“ und wird auch gegen „böse“Menschen verwendet.
(5) z.B. Daniel Kulla: Die Hure muss brennen, Cee Ieh 10/06 oder Radio Island Nr.8.
(6) Siehe z.B. Titus Engelschall: Babylon by bus, Neuroticker 8/06.
(7+8) Olaf Karnik: Homophobie hier – Der dritte Weg, Riddim 06/04.
(9) Auch ohne betroffen zu sein was dagegen haben zukönnen, das kennt er hierbei wohl nicht.

Kasten: Notizen zu Leben und Musik auf Jamaika

„Sodomie“ (gemeint sind vom heterosexuellen Geschlechtsakt abweichende Praktiken) ist seit 1864 gesetzlich verboten.

Sklaverei, Kolonialherrschaft und christliche Missionierung sind auch die frühen, die heutige (korrupte und weiterhin ausbeuterische) Politik und Manipulation aktuelle Ursachen für die hohe Armut und Kriminalität: 1000 Morde pro Jahr bei 2,6 Mio. EinwohnerInnen, davon seit ´97 600 durch Polizisten und 30 an Homosexuellen; 20% leben unter der Armuts­grenze; 2,5 Mio. TouristInnen jährlich.

Den Entwürdigungen von oben wird kulturell das positive Bild des einfachen und starken schwarzen Mannes gegenübergestellt, das sich bis zum bad man, dem Helden des Ghettos, steigern kann.

Aids breitet sich zunehmend aus, nicht zuletzt, weil die Bevölkerung glaubt, es sei eine „Schwulenkrankheit“.

Die zu zwei Dritteln christliche Gesellschaft Jamaikas legt die Bibel (als mitunter einziges Buch im Haushalt) in bester missionarischer Tradition sehr konservativ aus, Homosexualität (oft auch Masturbation und Oralverkehr) wird dabei, wie u. a. auch in vielen christlichen Gesellschaften Afrikas, als Sünde angesehen. Auch der Anfang des 20. Jh. entstandene Rastafari-Glauben, dessen Sprachrohr seit den 70ern Reggae-Musik ist, propagiert Homophobie.

Verkürzt gesagt war Reggae zu Beginn mit spirituellen und politischen Botschaften erfüllt („roots“), in den 80ern wurde ein grober, vulgärer Stil („slackness“) populär und seit den 90ern gibt es wieder mehr Inhalte, z.T. bewußt, z.T. dogmatisch.

Traditionell treten bei einem Dance oft mindestens zwei Soundsystems auf (das sind jeweils mind. ein selecta (der die Platten auflegt, hier heißt er DJ) und ein deejay (der sprechend und singend das Publikum animiert, hier MC)) die sich dann gegenseitig beleidigen, was wie im Hip Hop eine unterhaltende und eine Wettbewerbsfunktion erfüllt. Der deejay sucht meist einen Konsens, um das Publikum auf seine Seite zu ziehen, und dieser besteht nun mal leider u.a. in einer abstrakten Homophobie (laut einer Studie 96% der Bevölkerung). Das unterlegene Soundsystem in so einem theatralisch inszenierten „clash“ ist dann gestorben, d.h. es muss seine nicht mitreißenden Platten und Sprüche einpacken. „Töten“ und „Sterben“ sind also gängige sprachliche Metaphern, wie das „Verbrennen“ von „Bösem“. Der homophobe Musiker Shabba Ranks drückte es einmal so aus: „It´s a lyrical gun for the people to have fun!“ (in etwa: Es sind lyrische Waffen, für die Leute zum Lachen.) Vulgäre Ausdrücke werden als Gefahr aus der „Unterschicht“ im übrigen z.T. gesetzlich bestraft, was PolitikerInnen jedoch nicht von der Instrumentalisierung homophober Songs abhält. Eins noch: Auch wenn es im Text z.B. um Liebe oder Freiheit geht, lässt es sich nicht 1:1 übersetzen!

unter Kultur

Venezuela und die bolivarianische Revolution

Ein emanzipativer Prozess von unten?

Über die Veränderungen in Venezuela und die ausgerufene bolivarianische Revolution (1) wurde in verschiedensten Medien viel geschrieben und geurteilt. Erneut angeheizt wird die Debatte durch den unhaltbaren Pakt mit dem iranischen Präsidenten Ahmadinejad, der durch seine Ablehnung der US-amerika­nischen Politik, von Hugo Chávez als „Bruder im Kampf gegen die US- Hegemonie“ bezeichnet wird. Damit diskreditiert er nicht nur sich selbst als Politiker, der vorgibt auf der Seite der Unterdrückten zu kämpfen, sondern stellt auch die ohnehin heiß diskutierten politischen Prozesse in Venezuela in Frage. Der vene­zolanische Staat, der Emanzipation und Partizipation der mittellosen Bevölkerung fördern will, unterstützt zeitgleich eine Diktatur im Iran, welche sämtliche emanzipatorischen Bewegungen im eigenen Land unterdrückt und Minderheiten tagtäglich diskriminiert. Bei näherer Betrachtung der Prozesse im Landesinneren ist das nicht der einzige Widerspruch, in dem sich das neue Venezuela und die partizi­pative Demokratie bewegen. Inwiefern kann sie dem formulierten Anspruch der Eigenverantwortung seiner Bürger/innen gerecht werden? Dort ist die Rede vom Sozialismus des 21. Jahrhundert, doch wie wird dieser in der Spannbreite zwischen sozialstaatlichen Maßnahmen, einem kubanischem Sozialismus und einer Selbstorganisation der Bevölkerung definiert?

Vor einer genaueren Betrachtung der innenpolitischen Prozesse, um zu unter­suchen, inwiefern die Bevölkerung aktiv die neue Gesellschaft mitgestalten kann und wie diese neue Gesellschaft von der Bevölkerung definiert wird, sollte Eines gesagt sein: Der armen Bevölkerung geht es im Zuge der bolivar­ianischen Revolution wesentlich besser als noch vor fünf Jahren. Wenn wir diesen Fakt aus unserer Kritik ausklammern, gehen wir nicht nur an der Wirklichkeit der mittellosen Bevöl­kerung und an den Schwierigkeiten des statt­findenden Prozesses vorbei, wir stellen uns zudem auf ein theoretisches Fundament, das die Hand­lungs­motivation der Bevölkerung nicht versteht, sie aber belehren will. Deshalb wird hier der Versuch unternommen, unter Beachtung dieser Prämisse, progressive Kritik an bisher unterlassener, falscher oder inkonsequenter Politik in Venezuela zu üben.

Sozialismus des 21. Jahrhundert

Nachdem 2000 die neue Verfassung ratifiziert wurde, rief Chávez den Sozialismus des 21.Jh. in Venezuela aus. Seitdem ist der Terminus in aller Munde und verweist auf Veränderungen im sozialen und ökonomischen Bereich des Landes. Zum einen ist dabei von sogenannten Misiones (2) die Rede, die in den Gebieten Bildung, Gesundheit, Ernährung und Arbeit wesentlich zur Verbesserung der Situation der wirtschaftlich armen Bevölkerung beigetragen haben. So beträgt die Analphabetenquote heute zum Beispiel nur noch 3%. Finanziert werden die Misiones durch die Einnahmen des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA, der vor dem Putsch 2002 Geldumschlagplatz der Oligarchie Venezuelas war und von der Regierung Chávez umstrukturiert wurde. Die zweite Grundlage des Sozialismus des 21. Jahrhundert basiert auf ökonomischen Veränderungen, die Partizipation anregen und Privatisierungstendenzen entgegenwirken sollen und realisiert sich in Betriebskollektivierungen und -verstaat­lichungen sowie der Umverteilung des Landbesitzes. Es gibt kein festgeschriebenes Konzept dieses neuen Sozialismus, vielmehr bezeichnet er ein sich ent­wickeln­des Modell, welches von den Menschen selbst durch ihre Partizipation in den Betrieben, bei den Misiones, in autonomen regionalen Zirkeln (nude´s (3)) und neuen, selbstorganisierten Medien mit Leben gefüllt werden muss.

Die Sozialprogramme allein machen natürlich keine Revolution aus, zumal sie zwar von den Menschen getragen, jedoch vom Staat ins Leben gerufen und finanziert werden. Vielmehr könnte man das ganze auch als radikale sozialstaatliche Maßnahme betrachten, die weder den Kapitalismus direkt angreift, noch seine Wurzeln zerstört. Auch wenn die parallel existierenden alternativen Strukturen den Profit aus privatkapitalistischer Wirt­schafts­weise mindern, so fördern sie vornehmlich auch den Ruf nach einem starken Staat, der für soziale Maßnahmen zu sorgen hat und stärken den Präsidenten Chávez in seinem Amt. Dessen große Popularität erweckt den Eindruck, dass die Bevölkerung keine regierungsunabhängige Politik anstrebt, sondern sich vielmehr auf die Politik von Chávez verlässt, ja sogar blindlings folgt. Dem würde nicht einmal der Präsident selbst widersprechen wollen: „Ich bin weder Marxist, noch glaube ich an die proletarische Revolution. Denn ich sehe in keinem Lande der Welt die Arbeiter den Kampf gegen den Kapitalismus anführen“. (4) Dennoch spielt die Partizipation und Mitbestimmung der Bevölkerung eine entscheidende Rolle darin, ist sozusagen das Aushängeschild für das Neue am Sozialismus des 21.Jahrhundert. Die Beteiligung in den angesprochenen Bereichen ist tatsächlich sehr hoch, die Menschen füllen den bolivarianischen Prozess mit Leben, stehen mit Taten und Ideen dahinter und nutzen die neuen Möglichkeiten. Doch inwiefern emanzipieren sie sich dabei von ihrer Unterdrückung, ohne das Zepter im selben Zuge an einen neuen „Verantwortlichen“, diesmal den Staat abzugeben?

Partizipation, Selbstorganisation und Autonomie?

Im Zuge der Entwicklung einer neuen Verfassung wurde 1999 die partizipative Demokratie eingeläutet. Überall in Venezuela entstanden Zirkel von Menschen verschiedener Schichten, die gemeinsam ihre Forderungen und Wünsche dis­kutierten und einbrachten. In sieben Volksabstimmungen wurde dann die Verfassung im Jahr 2000 verabschiedet. Für viele Menschen ist sie Ausdruck ihrer Stimme, sie wissen, dass sie sich darauf berufen können, wenn es um die Verteidigung ihrer Rechte und Mitbestimmung geht. Zudem war sie der erste Schritt der neuen Regierung, die Mündigkeit und Teilnahme der Bevölkerung an der Entwicklung in Venezuela zu fördern. Wer aber glaubt, nun könnten die Menschen autonom ihre Rechte wahrnehmen, der hat die Rechnung ohne die staatliche Regulationshand ge­macht:

In der Verfassung fest­ge­schrie­ben ist bspw. die Be­strebung zur Kollektivierung von Betrieben, ein Wort bei denen un­dogmatisch linke Herzen höher schlagen und mensch den Duft von Autonomie der Arbeiter/innen und Selbstorga­nisation zu schnuppern glaubt. Tatsächlich werden Betriebe auch kollektiviert, allerdings handelt es sich dabei bisher weder um Schlüsselindustrien, wie das staatliche Erdölunternehmen PDVSA, noch um völlig unabhängige, neue Strukturen, die erkämpft werden. Vielmehr sind es brachliegende, ehemalige Betriebe, die kollektiviert werden, oder aber Unternehmen, die sonst Konkurs anmelden würden. Die Besitzverhältnisse werden dann zwischen Belegschaft, Unternehmensleitung und Staat anteilig der Neuinvestitionen zur Wiederaufnahme der Produktion ausgehandelt. Investiert der Staat viel Kapital, dann gehört ihm auch mehr vom Betrieb. Zwar vergrößert sich die Mitbestimmung in den Betrieben, Arbeitsbedingungen werden besser und das hat auch positive Auswirkungen auf die Arbeiter/innen anderer, privatkapitalistisch betriebener Unternehmen. Beispiele für besetzte Betriebe und vollständige Autonomie der Lohnabhängigen gibt es bisher allerdings kaum, zumindest nicht dokumentiert. Dass die Regierung Chávez ihre Bevölkerung dahingehend nicht frei agieren lässt, wird bisher eher fadenscheinig mit der Gefahr „von außen“, sprich kapitalistischen Interessen innerhalb und außerhalb Venezuelas begründet, die den gesamten bolivar­ianischen Prozess gefährden könnten.

Ähnlich wie die Kollektivierung wird auch die Landumverteilung „von oben“ gesteuert und bisher alles andere als radikal umgesetzt. Laut Verfassung steht den Familien für Ackerbau und Viehzucht Landbesitz zu; gibt es nun Familien oder Kollektive, die von diesem Recht Gebrauch machen möchten, dann werden ihnen vom Staat Flächen zugeteilt. Meist handelt es sich dabei aber um Gebiete, die dem Staat selbst gehören oder aber nachweislich brachliegende Ländereien von Großgrundbesitzern sind, die über viele Jahre nicht bewirtschaftet wurden. Landbesetzungen, wie sie von der MST (5) aus Brasilien bekannt sind und die auf die unhaltbare Situation aufmerksam machen, indem sie radikal enteignen, bleiben bisher aus. Denn: Vater Staat regelt das schon.

Wirklich unabhängig agieren bisher nicht einmal die neu gegründeten Gewerkschaften, denn die verschiedenen Gruppierungen und Strömungen ähneln eher einem zerstrittenen Haufen als einer Union. Nachdem die alten Gewerkschaften abdanken mussten, weil sie vor und während des Putsches die Oligarchie unterstützten, wird sich nun um Einfluss und Kompetenzen innerhalb der Neuen gestritten. In puncto Mitbestimmung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen haben sie bisher jedenfalls nichts erreicht. Was an Arbeitskonditionen verbessert wurde, ist gesetzlich durch die Regierung Chávez veranlasst. Innerhalb der venezolanischen Bevölkerung wird dementsprechend auch wenig über autonomes gewerkschaftliches Handeln nachgedacht, denn durch den Staat ist das nun scheinbar überflüssig geworden.

Doch gibt es auch Beispiele „wirklicher“ Selbst­organisation in Venezuela, die nicht staatlich kontrolliert oder reguliert wird, dennoch gewollt ist. Ein Beispiel dafür sind die regionalen Medien, die finanziell und ideologisch vom Staat unabhängig arbeiten und bei denen immer mehr Menschen aller Schichten für die Leute in ihren Barrios senden und berichten. Das nötige Handwerkszeug dafür eignen sie sich gegenseitig an – gesendet wird, was selbst interessiert.

Auch durch die entstehenden regionalen Zirkel (nude – Netzwerke) verschafft sich die Bevölkerung Gehör. Autonome, unabhängige Gruppen gründen sich, die politisch, kulturell oder bautechnisch Veränderungen in ihrem Umfeld anstreben. Wenn gewollt, dann kann bei bestimmten Projekten finanzielle Unterstützung vom Staat eingefordert werden, muss aber nicht.

Reiseziel: Unbekannt

Es scheint nun so, als können die Venezolaner/innen zwar am Prozess partizipieren; autonomes und selbstorganisiertes Handeln wird ihnen allerdings nur dann zugesprochen, wenn es für den Staat keine Gefahr darstellt und dessen Einfluss gestärkt bleibt. Es stellt sich hier schnell die Frage, ob es überhaupt ein staatliches Interesse an linker Kritik gibt: Innerhalb Venezuelas gibt es nur eine kleine Gruppe Anarchist/innen, die sich vornehmlich um die Zeitung liberario (6) sammelt und oftmals von den Chavistas (7) stark kritisiert wird, weil ihre Kritik der Opposition in die Hände spielen würde. Auch ist der Glaube an die Notwendigkeit einer starken Führerfigur ebenso weit verbreitet, wie die Forderung nach einem starken Sozialstaat, der die Belange der Bevölkerung regeln soll. Die Gefahr, die Macht in den Händen Weniger birgt, wird dabei gerne übersehen, solange man dem Präsidenten vertraut. Einzig auf ihn zu bauen, ist jedoch gefährlich, obgleich im Fall von Venezuela die eingeleiteten innenpolitischen Maßnahmen bisher vertrauenserweckend wirken. Der Bevölkerung Venezuelas bietet sich dennoch die Möglichkeit diese positiven Veränderungen zu nutzen, um dann einen Schritt weiter zu gehen. Denn das Handwerkszeug für eine autonome und eigenverantwortlich handelnde Bevölkerung erhalten sie gerade: Ernährung, Bildung und Organisationsmöglichkeiten auf regionaler, betrieblicher und medialer Ebene bieten den Rahmen für ein großes Potential. Von den Menschen dort genutzt, stellen sie eine Waffe gegen all diejenigen Bestrebungen dar, welche die venezolanische Bevölkerung wieder unmündig machen wollen. Wenn diese Waffe nun genutzt wird, eigen­ver­ant­wortlich und unabhängig von Chávez für eine Verbesserung der Lebensbedingungen zu kämpfen, dann ist das ein Schritt Richtung emanzipativer Gesellschaft. Daran scheidet sich auch der Weg, des Sozialismus im 21.Jahrhundert. Die Frage ist, inwiefern die Menschen in Venezuela bereit sind die gestellten Weichen zu nutzen.

Ein Anzeichen für Emanzipation und selbstbestimmtes Denken wäre z.B. ein „Nein“ der Venezolaner/innen zur Kumpanei zwischen den Präsidenten Chávez und Ahmadinejad, die sich derzeitig nach dem Motto: „die Feinde meines Feindes sind meine Freunde“ verbrüdern. Denn die Politik, die im Iran betrieben wird, ist unvereinbar mit den Prinzipien einer befreiten Gesellschaft, so wie sie Venezuela für sich und andere Unterdrückte fordert. Dass dies bisher nicht geschah, liegt sicherlich auch an den Informationen, die der Bevölkerung medial verabreicht werden. Hier hat mensch die Wahl zwischen oppositionell (private Sender mit Hetzkampagnen gegen die Regierung), staatlich oder regional (autonom). Ein venezolanischer Freund und überzeugter Chavist meinte einmal, dass der bereits begonnene 4. Weltkrieg ein Medialer sei, der die Menschen je nach kapitalistischen Interessen manipuliert. Dementsprechend achtsam sollten er und seine Genoss/innen dann aber auch gegenüber den „vertrauenswürdigen“ und scheinbar „interessenlosen“ staatlichen Medien sein …

momo

(1) Der Name bolivarianische Revolution lässt sich auf den Nationalhelden Simón Bolívar zurückführen, der im 19.Jahrhundert in verschiedenen Ländern Lateinamerikas mehrere Befreiungskriege gegen die spanische Kolonialherrschaft führte und gewann. Er steht in Venezuela für Antiim­perialismus, progressive Sozialvorstellungen und ein vereintes Lateinamerika.
(2) misiones: Sozialprogramme, die zum einen Hunger und Armut lindern (barrio dentro: kostenlose medizinische Hilfe von kubanischen Ärzten in unmittelbarer Nähe, mercal: staatliche Märkte, die Lebensmittel bedeutend billiger anbieten als Supermärkte) und zum anderen Bildung von Alpha­betisierung bis Universitätsabschluss für jede/n zugänglich machen (mision robinson, rivas, sucre). Private Unis, Ärzte, Supermärkte existieren jedoch weiterhin parallel zu den neuen, alternativen Strukturen.
(3) nude: „Núcleos de Desarollo Endógeno“ – selbstorganisierte, lokale Netzwerke zur nachhaltigen Entwicklung.
(4) zitiert in Wildcat 72, „Umstrittene Spielräume“.
(5) MST: „Movimiento Sem Tierra“ – Landlosenbewegung in Brasilien.
(6) siehe auch: jungle world Nr.30, 26.07.2006 „Das ist unser Geld“.
(7) Anhänger/innen der Regierung von Chávez werden meist als Chavistas bezeichnet.

Geschichte Venezuelas innenpolitisch ab 1958:

+++1958: Beginn der Demokratie. Die zwei größten Parteien AD und COPEI teilen sich für Jahrzehnte die Macht +++ 1980er Jahre: stetiges sinken des Ölpreises, Korruption und fehlende Strategien manifestieren die wirtschaftliche Krise, die auf die Unterschichten abgewälzt wird. Soziale Bewegungen werden von Regierungsseite zunehmend unterdrückt +++ 1989: Caracazo – Aufstände und Plünderungen für mehrere Wochen in Caracas. In gewaltsamen Niederschlagungen seitens der Polizei, sterben ca. 1000-1500 Menschen. Beginn der bolivarianischen Bewegung, einer neuen Opposition von unten +++ 1992: gescheiterter militärischer Putschversuch, dessen Anführer Hugo Chávez Frías die Verantwortung dafür übernimmt und so zur Symbolfigur des Widerstandes wird +++ 1998: Chávez gewinnt überraschend mit 56,5% der Stimmen die Präsidentschaftswahlen +++ 1999/2000: Erarbeitung einer neuen Verfassung mit deren Verabschiedung der Beginn der bolivarianischen Revolution ausgerufen wird +++ 2001: Erste Sozialmaßnahmen (misiones): Bildungs- und Agrarreform +++ 2002: Putschversuch seitens der Opposition, weil das staatliche Erdölunternehmen PDVSA umstrukturiert werden soll. Der Putsch scheitert durch massive Initiative von Bevölkerung (Unterschicht) und Militär. +++ 2002/2003: Ein weiterer Umsturzversuch misslingt +++ 2003: Umstrukturierung des Erdölkonzerns und Ausweitung der misiones +++ 2004: Ein von der Opposition organisiertes Referendum bestätigt Chávez mit 58% der Stimmen im Amt+++

Editorial FA! #24

…großstadtflair kommt in diesen tagen kaum auf. die meisten redaxlerInnen entfleuchten in entferntere gefilde und die verbliebenen changierten zwischen der option, zu lernen oder als unverwüstliche geburtshelfer der schmalen #24 in die annalen des FA! einzugehen. der im letzten heft angekündigte schwerpunkt emanzipation läßt sich eher zwischen den zeilen lesen als in den überschriften, weil unser aller zeitgeschehen und die anzunehmende schreibfaulheit unserer leserschaft so schwer berechenbar sind.

letztlich mussten auch wir uns endlich eingestehen, dass das leben selbst die spannendsten geschichten schreibt und vorsätze sich im wind der zeit bewegen, weswegen es keinen vorabschwerpunkt gibt. und dennoch haben wir das diesmal ausdauernde sommerloch überlebt und hoffen auf frischen herbstwind um unsere verstopften nasen. für einen blick in den globalen raum gibts neben einem artikel zu „g8“ auch noch ne schmucke beilage „für die menschheit“ vom ya-basta-netz. der alltägliche kampf bleibt hart, weil emanzipation nunmal kein freizeitpark ist, aber herzlich, weil nun doch ein weiteres mal „die propaganda getan“ worden ist – viel spass beim lesen und sonstigen taten wünscht

eure Feierabend!redax.

Protest wohin?

Nicht ohne Grund ist das Hakenkreuz in Deutschland ein „verfassungswidriges Symbol“. Daher sollte mensch auch seine Ablehnung gegen das Logo von unheilvollem Gedankengut, welches eine menschenverachtende Weltanschauung und millionenfachen Mord verursachte, zur Schau tragen dürfen. Am 3.Oktober, als der Hamburger Chefnazi Worch seine „Kameraden“ vom Leipziger Hbf bis zum Ostplatz führte, war dies aber nicht mehr möglich. Was war passiert?

Die rund 200 FaschistInnen profitierten v.a. vom geringeren Widerstand der Bevölkerung vor Ort und massivem Polizeischutz. Bis 2012 sind die Aufmärsche schon beantragt, es gilt, Methoden zu entwickeln, damit sie in Zukunft nicht mehr vorwärts kommen. Am bequemsten wäre es, viel mehr Menschen zu gewaltlosen Sitzblockaden zu bewegen, die aufgrund ihrer Masse nicht geräumt werden. Steinewerfen und Barrikadenbau erhöhen zwar das Drohpotential, spielen aber auch der Argumentation der Nazis in die Hände. Jedoch sind sie eine gerade noch verständliche Reaktion auf die Aggression der Staatsgewalt, die die existentiellen Rechte der Antifaschisten mit Füßen tritt.

Als ob das nicht genug wäre, argumentiert auch die Legislative, das durchgestrichene Hakenkreuz müsse verschwinden, denn „es besteht die Gefahr der Gewöhnung“ ( Wolfgang Küllmer, Richter Landgericht Stuttgart). Soll das Symbol als Relikt des Hitlerregimes im Museum verrotten, während sich die BürgerInnen an zwei Nazi­aufmärsche pro Jahr gewöhnen sollen?

bonz

Kommentar

Ein frühes Ostereiersuchen – BUKO 30

Ende September fand das erste bundes­weite Vorbereitungstreffen des BUKO 30 statt, der Ostern´07 in Leipzig sein wird, erstmals in Ostdeutschland und knapp zwei Monate vorm G8-Gipfel in Heiligen­damm. Die „Bundeskoordination Internati­onalis­mus“ mit ca. 130 vernetzten Gruppen gibt es seit knapp 30 Jahren. Nach dem letzten Kongress im Frühjahr in Berlin (FA!#23 berichtete) hat sich ein kleiner Kreis in Leipzig gebildet, der zusammen mit den weiterhin in­­te­­res­sierten BerlinerInnen, der Hambur­ger Geschäftsstelle und weiteren Aktivist­Innen aus ganz Deutschland den 30. Kongress vorbereiten will.

Zunächst wurden inhaltliche und strukturelle Wunsch­vorstellungen zusammengetragen: Landwirtschaft, Energie­sicherheit, Migration, Antimilitarismus, (Frei-) Räume, Prekarisierung und Privati­sie­rung könnten eine Rolle spielen, wie auch die „Querschnittsthemen“ Feminismus und Gender (wozu bereits eine Gruppe besteht), sowie die verschiedenen politischen Anschluss­fähigkeiten, der Widerstand im weitesten Sinn und natürlich der allgegen­wärtige Bezug zur Agenda des G8-Gipfels. Methodisch soll es (auch in der Vorbereitung) statt zuvieler akademischer Konsumsituationen mehr hin zu hierarchiefernen Veranstal­tungs­strukturen und zum Austausch anwendungsorientierten Erfahrungs­wissens gehen.

Erste Arbeitsgruppen haben sich zu den Themen Widerstand, Krieg, Feminismus und Privatisierung gebildet. Neben einem „open space“ gibt es konkrete Workshop-Ideen zu Aktions­training und vor allem lokalen Zielen, denn eins ist klar: Leipzig soll mitgenom­men werden. Regionale Probleme, wie der Ausbau des Flughafens für die NATO, vielleicht aber auch Auseinandersetzungen in der „Linken“, wie die verschiedenen Positionen zu bestimmten Kriegen oder Diskurse um Antiamerikanismus, könnten ange­gan­gen werden.

Organisatorisch wird es jedenfalls aller­hand zu tun geben: Veranstaltungsräume, Schlafplätze, Technik, Verpflegung, Übersetzung, Öffentlichkeitsarbeit, Notfälle aller Art – erfahrungs­gemäß wollen 500 bis 1500 Leute in diesen vier Tagen umsorgt sein. Inhaltliche und infrastrukturelle Hilfe bzw. Mitgestaltung ist nötig und willkommen. Das nächste große Treffen ist vom 3. bis 5.11., Kontakt: buko-leipzig@listi.jpberlin.de

clara

Ein Antifa-Infoticker

Der 3.10. ist Geschichte, Probleme mit Rechtsex­trem­istInnen gibts weiterhin zu Hauf:

… in Leipzig

Kürzlich ist es vor dem „Wild Turkey“ – einer Kneipe am Wiede­bach­platz – zu Bedrohungen gekom­men. Hintergrund waren Beschwerden über die drinnen abgespielte rechtsextreme Musik. Der Inhaber des „Wild Turkey“ reagierte verständ­nis­los, aggressiv und ließ keinen Zweifel daran, dass ihn die menschen­verachtenden Texte nicht stören. In Lindenau wurden Anfang Oktober zwei Punker von Nazis bedroht und verfolgt, bis sie sich in eine inzwischen geschlossene Schreib­werk­statt flüchten konnten, die selbst vorher schon schlechte Erfah­rungen mit dem Nazi­treff­punkt in der Gutsmuth­strasse sammeln musste.

… anderswo

Am 16.9. demonstrierten 200 Nazis unter dem Deckmantel einer ver­meint­lichen Antikapi­talis­mus­kampagne in Plauen und Hof. Am selben Tag gründete sich in Sachsen-Anhalt eine NPD-Frauenorganisation.

Ebenfalls um die 200 Nasen liefen in Göp­pingen am 23.9., in Nordhausen am 7.10. und am 14.10. in Hamburg, während in Nürnberg um die 100 NPD-Anhänger­Innen demon­strier­ten.

… und darüber hinaus

Durch die traurigen Wahl­ergebnisse in MeckPomm können die Nazis nicht nur im nächsten Jahr nun mit großen infra­struk­­turellen „Verbes­ser­ungen“ rechnen, wenn sie etwa gegen „die Globalisierung“ und „den Kapitalismus“ auf dem G8-Gipfel in Heiligen­damm protestieren möch­ten. Dem Unmut gegen diese Heuche­leien kann auch schon davor Luft gemacht werden: Am 28.10. will Christian Worch zum dritten mal in diesem Jahr durch Göttingen oder Celle ziehen. Mehr Unter­stützung ist wahr­schein­lich aber in Bitter­feld gefragt, wo am selben Tag eine Nazidemo angemeldet ist. Zum Schluss was Gutes: Das in Jena oft angekün­digte „Fest der Völker“, eine Konzert­veran­staltung mit europäischen Nazi-Bands, die jährlich stattfinden soll, wird voraussichtlich schon im zweiten Jahr nicht über die Bühne gehen.

„You got to rock, you got to roll!“

rabe