Archiv der Kategorie: Feierabend! #24

Schlingensief* und der Alkohol

Gedanken zum Animatographen

Was bitte ist das denn? Ein sich drehender überdimensionierter begehbarer Hühnerstall in schulsaalgroßer Blackbox, geschraubt und genagelt aus Gegenständen, die den Charme der Ab­nutzung ausstrahlen.

Eine pflichtgetreu knarrende Tür, beim Übergang vom eigentlichen Museum in diesen dunkel­kammerartigen Kasten verstärkt den Kinoeffekt. Die Augen geblendet, sticht ein beständig summender Basston hervor. Dieses Summen liegt auf einer Frequenz zwischen unangenehm und gewöhnungsmöglich.

Drinnen ist kaum Platz für zwei Menschen nebeneinander zu gehen, eine hölzerne Drehbühne nimmt fast den ganzen Raum ein. Dessen Ecken werden von altmodischen Wohnzimmersteh­lampen und Bildschirmen geschmückt. Letztere befinden sich auch unter der teils verglasten Decke des Kastens. Und aus jedem erschallen mindestens einmal in fünf Minuten tausendfach widerhallende „Heilrufe“.

Sorgsam von einem Museumswächter beäugt, inspiziert der/die Besucher/in die knapp fünf Meter im Durchschnitt messende, sich langsam um sich selbst kreisende Drehscheibe. Diese trägt eine halboffene, verwinkelt kon­struierte Hütte aus Brettern, alten Fensterrahmen, Plexiglasscheiben, knor­rigen Ästen, Styropor und Bauschaum. Einige niedrige Türchen führen zu vier Zimmerchen mit einer kleinen höher­gelegten Terrasse. Manch einer mag sich beim Betreten dieses mit Hühnerfedern übersäten Raumes an „Alice im Wunder­land“ erinnert fühlen.

Aufsteigen und mitkreisen kann man an fast allen Stellen, vor allem aber durch einen alten Wohn- oder Militärcontainer. Dieser führt auf eine kleine Leinwand zu, worauf sich recht verschwommen einige Szenen abspielen.

Insgesamt wird der Raum, wie auch die begehbare, langsam kreisende Kons­truktion von dem beständigen Summton, den überall eingestreuten Bildschirmen, und dem Stimmengewirr von den überall um einen herum laufenden Kurzfilmen dominiert.

Einer davon ist der „Hitler-Stahlin-Porno“ (tatsächlich so geschrieben), der in Leipzig schon für einigen Wirbel sorgte. Der Porno entpuppt sich als ein kleines in einen Winkel verbanntes Filmchen, in dem die beiden genannten Personen sich mit Hilfe von Sahnetorten und einer unterstützenden Frauenhand Befriedigung zu verschaffen suchen. Nur erotisch ist das dann irgend­wie doch nicht – eher mit­leid­erregend.

Fast könnte es leicht behaglich sein: auf einem der Schulstühle ausharrend ins Halbdunkel blickend, lauschend und schauend, die Füße zwischen weichen Federn, über die Aussage des Ani­mato­graphen sinnierend. Wenn, ja, wenn, mensch nicht ständig von Hitler und Heilrufen auf­geschreckt werden würde, die einen Nachgeschmack von abgestandenem Alkohol hinterlassen.

Und doch funktioniert Schlingensiefs Happening-Kunst auf gewisse Weise. Obwohl m.E. die angebliche dem Besucher auferlegte Interpretationsfreiheit nicht gegeben ist und ich mich auch nicht als Teil dieser Aktionskunst gefühlt habe.

Dennoch animiert Schlingensiefs Ani­mato­graph mit dadaistiuschen Elementen zum Zuhören, Zuschauen Aus- und Innehalten. Alt­bekannte Gegenstände bekommen mit neuen Funktionen andere Gesichter. Und er animiert zu einem explizit politischen Zwiegespräch mit sich selbst. Es geht um das letzte Jahrhundert und um das, was das Mainstreamge­dächtnis im 20. Jahr­hundert geprägt hat. Schade nur, dass sich der von mir wahrgenommene geographische Rahmen nicht über den deutschen Sprachraum hinaus erstreckt. Schade auch, dass es von zwei Diktatoren abgesehen, scheinbar so wenig aus dem letzten Jahrhundert zu verhandeln gibt.

Wer jetzt der Ansicht ist, die Autorin hätte kein Kunstverständnis mag damit richtig liegen. Wer Schlingensief begreifen will muss schon mehr machen als bloß Eindrücke zu sammeln….

Heidi Ho aus L.

Der Animatograph ist im Museum der bildenden Künste Leipzig unentgeltlich zu besichtigen.

* Christoph Schlingensief, umstrittener und gern provozierender Regisseur und Aktionskünstler, wurde am 24. 10. 1960 geboren.

LeserInForum

Venezuela und die bolivarianische Revolution

Ein emanzipativer Prozess von unten?

Über die Veränderungen in Venezuela und die ausgerufene bolivarianische Revolution (1) wurde in verschiedensten Medien viel geschrieben und geurteilt. Erneut angeheizt wird die Debatte durch den unhaltbaren Pakt mit dem iranischen Präsidenten Ahmadinejad, der durch seine Ablehnung der US-amerika­nischen Politik, von Hugo Chávez als „Bruder im Kampf gegen die US- Hegemonie“ bezeichnet wird. Damit diskreditiert er nicht nur sich selbst als Politiker, der vorgibt auf der Seite der Unterdrückten zu kämpfen, sondern stellt auch die ohnehin heiß diskutierten politischen Prozesse in Venezuela in Frage. Der vene­zolanische Staat, der Emanzipation und Partizipation der mittellosen Bevölkerung fördern will, unterstützt zeitgleich eine Diktatur im Iran, welche sämtliche emanzipatorischen Bewegungen im eigenen Land unterdrückt und Minderheiten tagtäglich diskriminiert. Bei näherer Betrachtung der Prozesse im Landesinneren ist das nicht der einzige Widerspruch, in dem sich das neue Venezuela und die partizi­pative Demokratie bewegen. Inwiefern kann sie dem formulierten Anspruch der Eigenverantwortung seiner Bürger/innen gerecht werden? Dort ist die Rede vom Sozialismus des 21. Jahrhundert, doch wie wird dieser in der Spannbreite zwischen sozialstaatlichen Maßnahmen, einem kubanischem Sozialismus und einer Selbstorganisation der Bevölkerung definiert?

Vor einer genaueren Betrachtung der innenpolitischen Prozesse, um zu unter­suchen, inwiefern die Bevölkerung aktiv die neue Gesellschaft mitgestalten kann und wie diese neue Gesellschaft von der Bevölkerung definiert wird, sollte Eines gesagt sein: Der armen Bevölkerung geht es im Zuge der bolivar­ianischen Revolution wesentlich besser als noch vor fünf Jahren. Wenn wir diesen Fakt aus unserer Kritik ausklammern, gehen wir nicht nur an der Wirklichkeit der mittellosen Bevöl­kerung und an den Schwierigkeiten des statt­findenden Prozesses vorbei, wir stellen uns zudem auf ein theoretisches Fundament, das die Hand­lungs­motivation der Bevölkerung nicht versteht, sie aber belehren will. Deshalb wird hier der Versuch unternommen, unter Beachtung dieser Prämisse, progressive Kritik an bisher unterlassener, falscher oder inkonsequenter Politik in Venezuela zu üben.

Sozialismus des 21. Jahrhundert

Nachdem 2000 die neue Verfassung ratifiziert wurde, rief Chávez den Sozialismus des 21.Jh. in Venezuela aus. Seitdem ist der Terminus in aller Munde und verweist auf Veränderungen im sozialen und ökonomischen Bereich des Landes. Zum einen ist dabei von sogenannten Misiones (2) die Rede, die in den Gebieten Bildung, Gesundheit, Ernährung und Arbeit wesentlich zur Verbesserung der Situation der wirtschaftlich armen Bevölkerung beigetragen haben. So beträgt die Analphabetenquote heute zum Beispiel nur noch 3%. Finanziert werden die Misiones durch die Einnahmen des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA, der vor dem Putsch 2002 Geldumschlagplatz der Oligarchie Venezuelas war und von der Regierung Chávez umstrukturiert wurde. Die zweite Grundlage des Sozialismus des 21. Jahrhundert basiert auf ökonomischen Veränderungen, die Partizipation anregen und Privatisierungstendenzen entgegenwirken sollen und realisiert sich in Betriebskollektivierungen und -verstaat­lichungen sowie der Umverteilung des Landbesitzes. Es gibt kein festgeschriebenes Konzept dieses neuen Sozialismus, vielmehr bezeichnet er ein sich ent­wickeln­des Modell, welches von den Menschen selbst durch ihre Partizipation in den Betrieben, bei den Misiones, in autonomen regionalen Zirkeln (nude´s (3)) und neuen, selbstorganisierten Medien mit Leben gefüllt werden muss.

Die Sozialprogramme allein machen natürlich keine Revolution aus, zumal sie zwar von den Menschen getragen, jedoch vom Staat ins Leben gerufen und finanziert werden. Vielmehr könnte man das ganze auch als radikale sozialstaatliche Maßnahme betrachten, die weder den Kapitalismus direkt angreift, noch seine Wurzeln zerstört. Auch wenn die parallel existierenden alternativen Strukturen den Profit aus privatkapitalistischer Wirt­schafts­weise mindern, so fördern sie vornehmlich auch den Ruf nach einem starken Staat, der für soziale Maßnahmen zu sorgen hat und stärken den Präsidenten Chávez in seinem Amt. Dessen große Popularität erweckt den Eindruck, dass die Bevölkerung keine regierungsunabhängige Politik anstrebt, sondern sich vielmehr auf die Politik von Chávez verlässt, ja sogar blindlings folgt. Dem würde nicht einmal der Präsident selbst widersprechen wollen: „Ich bin weder Marxist, noch glaube ich an die proletarische Revolution. Denn ich sehe in keinem Lande der Welt die Arbeiter den Kampf gegen den Kapitalismus anführen“. (4) Dennoch spielt die Partizipation und Mitbestimmung der Bevölkerung eine entscheidende Rolle darin, ist sozusagen das Aushängeschild für das Neue am Sozialismus des 21.Jahrhundert. Die Beteiligung in den angesprochenen Bereichen ist tatsächlich sehr hoch, die Menschen füllen den bolivarianischen Prozess mit Leben, stehen mit Taten und Ideen dahinter und nutzen die neuen Möglichkeiten. Doch inwiefern emanzipieren sie sich dabei von ihrer Unterdrückung, ohne das Zepter im selben Zuge an einen neuen „Verantwortlichen“, diesmal den Staat abzugeben?

Partizipation, Selbstorganisation und Autonomie?

Im Zuge der Entwicklung einer neuen Verfassung wurde 1999 die partizipative Demokratie eingeläutet. Überall in Venezuela entstanden Zirkel von Menschen verschiedener Schichten, die gemeinsam ihre Forderungen und Wünsche dis­kutierten und einbrachten. In sieben Volksabstimmungen wurde dann die Verfassung im Jahr 2000 verabschiedet. Für viele Menschen ist sie Ausdruck ihrer Stimme, sie wissen, dass sie sich darauf berufen können, wenn es um die Verteidigung ihrer Rechte und Mitbestimmung geht. Zudem war sie der erste Schritt der neuen Regierung, die Mündigkeit und Teilnahme der Bevölkerung an der Entwicklung in Venezuela zu fördern. Wer aber glaubt, nun könnten die Menschen autonom ihre Rechte wahrnehmen, der hat die Rechnung ohne die staatliche Regulationshand ge­macht:

In der Verfassung fest­ge­schrie­ben ist bspw. die Be­strebung zur Kollektivierung von Betrieben, ein Wort bei denen un­dogmatisch linke Herzen höher schlagen und mensch den Duft von Autonomie der Arbeiter/innen und Selbstorga­nisation zu schnuppern glaubt. Tatsächlich werden Betriebe auch kollektiviert, allerdings handelt es sich dabei bisher weder um Schlüsselindustrien, wie das staatliche Erdölunternehmen PDVSA, noch um völlig unabhängige, neue Strukturen, die erkämpft werden. Vielmehr sind es brachliegende, ehemalige Betriebe, die kollektiviert werden, oder aber Unternehmen, die sonst Konkurs anmelden würden. Die Besitzverhältnisse werden dann zwischen Belegschaft, Unternehmensleitung und Staat anteilig der Neuinvestitionen zur Wiederaufnahme der Produktion ausgehandelt. Investiert der Staat viel Kapital, dann gehört ihm auch mehr vom Betrieb. Zwar vergrößert sich die Mitbestimmung in den Betrieben, Arbeitsbedingungen werden besser und das hat auch positive Auswirkungen auf die Arbeiter/innen anderer, privatkapitalistisch betriebener Unternehmen. Beispiele für besetzte Betriebe und vollständige Autonomie der Lohnabhängigen gibt es bisher allerdings kaum, zumindest nicht dokumentiert. Dass die Regierung Chávez ihre Bevölkerung dahingehend nicht frei agieren lässt, wird bisher eher fadenscheinig mit der Gefahr „von außen“, sprich kapitalistischen Interessen innerhalb und außerhalb Venezuelas begründet, die den gesamten bolivar­ianischen Prozess gefährden könnten.

Ähnlich wie die Kollektivierung wird auch die Landumverteilung „von oben“ gesteuert und bisher alles andere als radikal umgesetzt. Laut Verfassung steht den Familien für Ackerbau und Viehzucht Landbesitz zu; gibt es nun Familien oder Kollektive, die von diesem Recht Gebrauch machen möchten, dann werden ihnen vom Staat Flächen zugeteilt. Meist handelt es sich dabei aber um Gebiete, die dem Staat selbst gehören oder aber nachweislich brachliegende Ländereien von Großgrundbesitzern sind, die über viele Jahre nicht bewirtschaftet wurden. Landbesetzungen, wie sie von der MST (5) aus Brasilien bekannt sind und die auf die unhaltbare Situation aufmerksam machen, indem sie radikal enteignen, bleiben bisher aus. Denn: Vater Staat regelt das schon.

Wirklich unabhängig agieren bisher nicht einmal die neu gegründeten Gewerkschaften, denn die verschiedenen Gruppierungen und Strömungen ähneln eher einem zerstrittenen Haufen als einer Union. Nachdem die alten Gewerkschaften abdanken mussten, weil sie vor und während des Putsches die Oligarchie unterstützten, wird sich nun um Einfluss und Kompetenzen innerhalb der Neuen gestritten. In puncto Mitbestimmung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen haben sie bisher jedenfalls nichts erreicht. Was an Arbeitskonditionen verbessert wurde, ist gesetzlich durch die Regierung Chávez veranlasst. Innerhalb der venezolanischen Bevölkerung wird dementsprechend auch wenig über autonomes gewerkschaftliches Handeln nachgedacht, denn durch den Staat ist das nun scheinbar überflüssig geworden.

Doch gibt es auch Beispiele „wirklicher“ Selbst­organisation in Venezuela, die nicht staatlich kontrolliert oder reguliert wird, dennoch gewollt ist. Ein Beispiel dafür sind die regionalen Medien, die finanziell und ideologisch vom Staat unabhängig arbeiten und bei denen immer mehr Menschen aller Schichten für die Leute in ihren Barrios senden und berichten. Das nötige Handwerkszeug dafür eignen sie sich gegenseitig an – gesendet wird, was selbst interessiert.

Auch durch die entstehenden regionalen Zirkel (nude – Netzwerke) verschafft sich die Bevölkerung Gehör. Autonome, unabhängige Gruppen gründen sich, die politisch, kulturell oder bautechnisch Veränderungen in ihrem Umfeld anstreben. Wenn gewollt, dann kann bei bestimmten Projekten finanzielle Unterstützung vom Staat eingefordert werden, muss aber nicht.

Reiseziel: Unbekannt

Es scheint nun so, als können die Venezolaner/innen zwar am Prozess partizipieren; autonomes und selbstorganisiertes Handeln wird ihnen allerdings nur dann zugesprochen, wenn es für den Staat keine Gefahr darstellt und dessen Einfluss gestärkt bleibt. Es stellt sich hier schnell die Frage, ob es überhaupt ein staatliches Interesse an linker Kritik gibt: Innerhalb Venezuelas gibt es nur eine kleine Gruppe Anarchist/innen, die sich vornehmlich um die Zeitung liberario (6) sammelt und oftmals von den Chavistas (7) stark kritisiert wird, weil ihre Kritik der Opposition in die Hände spielen würde. Auch ist der Glaube an die Notwendigkeit einer starken Führerfigur ebenso weit verbreitet, wie die Forderung nach einem starken Sozialstaat, der die Belange der Bevölkerung regeln soll. Die Gefahr, die Macht in den Händen Weniger birgt, wird dabei gerne übersehen, solange man dem Präsidenten vertraut. Einzig auf ihn zu bauen, ist jedoch gefährlich, obgleich im Fall von Venezuela die eingeleiteten innenpolitischen Maßnahmen bisher vertrauenserweckend wirken. Der Bevölkerung Venezuelas bietet sich dennoch die Möglichkeit diese positiven Veränderungen zu nutzen, um dann einen Schritt weiter zu gehen. Denn das Handwerkszeug für eine autonome und eigenverantwortlich handelnde Bevölkerung erhalten sie gerade: Ernährung, Bildung und Organisationsmöglichkeiten auf regionaler, betrieblicher und medialer Ebene bieten den Rahmen für ein großes Potential. Von den Menschen dort genutzt, stellen sie eine Waffe gegen all diejenigen Bestrebungen dar, welche die venezolanische Bevölkerung wieder unmündig machen wollen. Wenn diese Waffe nun genutzt wird, eigen­ver­ant­wortlich und unabhängig von Chávez für eine Verbesserung der Lebensbedingungen zu kämpfen, dann ist das ein Schritt Richtung emanzipativer Gesellschaft. Daran scheidet sich auch der Weg, des Sozialismus im 21.Jahrhundert. Die Frage ist, inwiefern die Menschen in Venezuela bereit sind die gestellten Weichen zu nutzen.

Ein Anzeichen für Emanzipation und selbstbestimmtes Denken wäre z.B. ein „Nein“ der Venezolaner/innen zur Kumpanei zwischen den Präsidenten Chávez und Ahmadinejad, die sich derzeitig nach dem Motto: „die Feinde meines Feindes sind meine Freunde“ verbrüdern. Denn die Politik, die im Iran betrieben wird, ist unvereinbar mit den Prinzipien einer befreiten Gesellschaft, so wie sie Venezuela für sich und andere Unterdrückte fordert. Dass dies bisher nicht geschah, liegt sicherlich auch an den Informationen, die der Bevölkerung medial verabreicht werden. Hier hat mensch die Wahl zwischen oppositionell (private Sender mit Hetzkampagnen gegen die Regierung), staatlich oder regional (autonom). Ein venezolanischer Freund und überzeugter Chavist meinte einmal, dass der bereits begonnene 4. Weltkrieg ein Medialer sei, der die Menschen je nach kapitalistischen Interessen manipuliert. Dementsprechend achtsam sollten er und seine Genoss/innen dann aber auch gegenüber den „vertrauenswürdigen“ und scheinbar „interessenlosen“ staatlichen Medien sein …

momo

(1) Der Name bolivarianische Revolution lässt sich auf den Nationalhelden Simón Bolívar zurückführen, der im 19.Jahrhundert in verschiedenen Ländern Lateinamerikas mehrere Befreiungskriege gegen die spanische Kolonialherrschaft führte und gewann. Er steht in Venezuela für Antiim­perialismus, progressive Sozialvorstellungen und ein vereintes Lateinamerika.
(2) misiones: Sozialprogramme, die zum einen Hunger und Armut lindern (barrio dentro: kostenlose medizinische Hilfe von kubanischen Ärzten in unmittelbarer Nähe, mercal: staatliche Märkte, die Lebensmittel bedeutend billiger anbieten als Supermärkte) und zum anderen Bildung von Alpha­betisierung bis Universitätsabschluss für jede/n zugänglich machen (mision robinson, rivas, sucre). Private Unis, Ärzte, Supermärkte existieren jedoch weiterhin parallel zu den neuen, alternativen Strukturen.
(3) nude: „Núcleos de Desarollo Endógeno“ – selbstorganisierte, lokale Netzwerke zur nachhaltigen Entwicklung.
(4) zitiert in Wildcat 72, „Umstrittene Spielräume“.
(5) MST: „Movimiento Sem Tierra“ – Landlosenbewegung in Brasilien.
(6) siehe auch: jungle world Nr.30, 26.07.2006 „Das ist unser Geld“.
(7) Anhänger/innen der Regierung von Chávez werden meist als Chavistas bezeichnet.

Geschichte Venezuelas innenpolitisch ab 1958:

+++1958: Beginn der Demokratie. Die zwei größten Parteien AD und COPEI teilen sich für Jahrzehnte die Macht +++ 1980er Jahre: stetiges sinken des Ölpreises, Korruption und fehlende Strategien manifestieren die wirtschaftliche Krise, die auf die Unterschichten abgewälzt wird. Soziale Bewegungen werden von Regierungsseite zunehmend unterdrückt +++ 1989: Caracazo – Aufstände und Plünderungen für mehrere Wochen in Caracas. In gewaltsamen Niederschlagungen seitens der Polizei, sterben ca. 1000-1500 Menschen. Beginn der bolivarianischen Bewegung, einer neuen Opposition von unten +++ 1992: gescheiterter militärischer Putschversuch, dessen Anführer Hugo Chávez Frías die Verantwortung dafür übernimmt und so zur Symbolfigur des Widerstandes wird +++ 1998: Chávez gewinnt überraschend mit 56,5% der Stimmen die Präsidentschaftswahlen +++ 1999/2000: Erarbeitung einer neuen Verfassung mit deren Verabschiedung der Beginn der bolivarianischen Revolution ausgerufen wird +++ 2001: Erste Sozialmaßnahmen (misiones): Bildungs- und Agrarreform +++ 2002: Putschversuch seitens der Opposition, weil das staatliche Erdölunternehmen PDVSA umstrukturiert werden soll. Der Putsch scheitert durch massive Initiative von Bevölkerung (Unterschicht) und Militär. +++ 2002/2003: Ein weiterer Umsturzversuch misslingt +++ 2003: Umstrukturierung des Erdölkonzerns und Ausweitung der misiones +++ 2004: Ein von der Opposition organisiertes Referendum bestätigt Chávez mit 58% der Stimmen im Amt+++

Editorial FA! #24

…großstadtflair kommt in diesen tagen kaum auf. die meisten redaxlerInnen entfleuchten in entferntere gefilde und die verbliebenen changierten zwischen der option, zu lernen oder als unverwüstliche geburtshelfer der schmalen #24 in die annalen des FA! einzugehen. der im letzten heft angekündigte schwerpunkt emanzipation läßt sich eher zwischen den zeilen lesen als in den überschriften, weil unser aller zeitgeschehen und die anzunehmende schreibfaulheit unserer leserschaft so schwer berechenbar sind.

letztlich mussten auch wir uns endlich eingestehen, dass das leben selbst die spannendsten geschichten schreibt und vorsätze sich im wind der zeit bewegen, weswegen es keinen vorabschwerpunkt gibt. und dennoch haben wir das diesmal ausdauernde sommerloch überlebt und hoffen auf frischen herbstwind um unsere verstopften nasen. für einen blick in den globalen raum gibts neben einem artikel zu „g8“ auch noch ne schmucke beilage „für die menschheit“ vom ya-basta-netz. der alltägliche kampf bleibt hart, weil emanzipation nunmal kein freizeitpark ist, aber herzlich, weil nun doch ein weiteres mal „die propaganda getan“ worden ist – viel spass beim lesen und sonstigen taten wünscht

eure Feierabend!redax.

Protest wohin?

Nicht ohne Grund ist das Hakenkreuz in Deutschland ein „verfassungswidriges Symbol“. Daher sollte mensch auch seine Ablehnung gegen das Logo von unheilvollem Gedankengut, welches eine menschenverachtende Weltanschauung und millionenfachen Mord verursachte, zur Schau tragen dürfen. Am 3.Oktober, als der Hamburger Chefnazi Worch seine „Kameraden“ vom Leipziger Hbf bis zum Ostplatz führte, war dies aber nicht mehr möglich. Was war passiert?

Die rund 200 FaschistInnen profitierten v.a. vom geringeren Widerstand der Bevölkerung vor Ort und massivem Polizeischutz. Bis 2012 sind die Aufmärsche schon beantragt, es gilt, Methoden zu entwickeln, damit sie in Zukunft nicht mehr vorwärts kommen. Am bequemsten wäre es, viel mehr Menschen zu gewaltlosen Sitzblockaden zu bewegen, die aufgrund ihrer Masse nicht geräumt werden. Steinewerfen und Barrikadenbau erhöhen zwar das Drohpotential, spielen aber auch der Argumentation der Nazis in die Hände. Jedoch sind sie eine gerade noch verständliche Reaktion auf die Aggression der Staatsgewalt, die die existentiellen Rechte der Antifaschisten mit Füßen tritt.

Als ob das nicht genug wäre, argumentiert auch die Legislative, das durchgestrichene Hakenkreuz müsse verschwinden, denn „es besteht die Gefahr der Gewöhnung“ ( Wolfgang Küllmer, Richter Landgericht Stuttgart). Soll das Symbol als Relikt des Hitlerregimes im Museum verrotten, während sich die BürgerInnen an zwei Nazi­aufmärsche pro Jahr gewöhnen sollen?

bonz

Kommentar

Ein frühes Ostereiersuchen – BUKO 30

Ende September fand das erste bundes­weite Vorbereitungstreffen des BUKO 30 statt, der Ostern´07 in Leipzig sein wird, erstmals in Ostdeutschland und knapp zwei Monate vorm G8-Gipfel in Heiligen­damm. Die „Bundeskoordination Internati­onalis­mus“ mit ca. 130 vernetzten Gruppen gibt es seit knapp 30 Jahren. Nach dem letzten Kongress im Frühjahr in Berlin (FA!#23 berichtete) hat sich ein kleiner Kreis in Leipzig gebildet, der zusammen mit den weiterhin in­­te­­res­sierten BerlinerInnen, der Hambur­ger Geschäftsstelle und weiteren Aktivist­Innen aus ganz Deutschland den 30. Kongress vorbereiten will.

Zunächst wurden inhaltliche und strukturelle Wunsch­vorstellungen zusammengetragen: Landwirtschaft, Energie­sicherheit, Migration, Antimilitarismus, (Frei-) Räume, Prekarisierung und Privati­sie­rung könnten eine Rolle spielen, wie auch die „Querschnittsthemen“ Feminismus und Gender (wozu bereits eine Gruppe besteht), sowie die verschiedenen politischen Anschluss­fähigkeiten, der Widerstand im weitesten Sinn und natürlich der allgegen­wärtige Bezug zur Agenda des G8-Gipfels. Methodisch soll es (auch in der Vorbereitung) statt zuvieler akademischer Konsumsituationen mehr hin zu hierarchiefernen Veranstal­tungs­strukturen und zum Austausch anwendungsorientierten Erfahrungs­wissens gehen.

Erste Arbeitsgruppen haben sich zu den Themen Widerstand, Krieg, Feminismus und Privatisierung gebildet. Neben einem „open space“ gibt es konkrete Workshop-Ideen zu Aktions­training und vor allem lokalen Zielen, denn eins ist klar: Leipzig soll mitgenom­men werden. Regionale Probleme, wie der Ausbau des Flughafens für die NATO, vielleicht aber auch Auseinandersetzungen in der „Linken“, wie die verschiedenen Positionen zu bestimmten Kriegen oder Diskurse um Antiamerikanismus, könnten ange­gan­gen werden.

Organisatorisch wird es jedenfalls aller­hand zu tun geben: Veranstaltungsräume, Schlafplätze, Technik, Verpflegung, Übersetzung, Öffentlichkeitsarbeit, Notfälle aller Art – erfahrungs­gemäß wollen 500 bis 1500 Leute in diesen vier Tagen umsorgt sein. Inhaltliche und infrastrukturelle Hilfe bzw. Mitgestaltung ist nötig und willkommen. Das nächste große Treffen ist vom 3. bis 5.11., Kontakt: buko-leipzig@listi.jpberlin.de

clara

Ein Antifa-Infoticker

Der 3.10. ist Geschichte, Probleme mit Rechtsex­trem­istInnen gibts weiterhin zu Hauf:

… in Leipzig

Kürzlich ist es vor dem „Wild Turkey“ – einer Kneipe am Wiede­bach­platz – zu Bedrohungen gekom­men. Hintergrund waren Beschwerden über die drinnen abgespielte rechtsextreme Musik. Der Inhaber des „Wild Turkey“ reagierte verständ­nis­los, aggressiv und ließ keinen Zweifel daran, dass ihn die menschen­verachtenden Texte nicht stören. In Lindenau wurden Anfang Oktober zwei Punker von Nazis bedroht und verfolgt, bis sie sich in eine inzwischen geschlossene Schreib­werk­statt flüchten konnten, die selbst vorher schon schlechte Erfah­rungen mit dem Nazi­treff­punkt in der Gutsmuth­strasse sammeln musste.

… anderswo

Am 16.9. demonstrierten 200 Nazis unter dem Deckmantel einer ver­meint­lichen Antikapi­talis­mus­kampagne in Plauen und Hof. Am selben Tag gründete sich in Sachsen-Anhalt eine NPD-Frauenorganisation.

Ebenfalls um die 200 Nasen liefen in Göp­pingen am 23.9., in Nordhausen am 7.10. und am 14.10. in Hamburg, während in Nürnberg um die 100 NPD-Anhänger­Innen demon­strier­ten.

… und darüber hinaus

Durch die traurigen Wahl­ergebnisse in MeckPomm können die Nazis nicht nur im nächsten Jahr nun mit großen infra­struk­­turellen „Verbes­ser­ungen“ rechnen, wenn sie etwa gegen „die Globalisierung“ und „den Kapitalismus“ auf dem G8-Gipfel in Heiligen­damm protestieren möch­ten. Dem Unmut gegen diese Heuche­leien kann auch schon davor Luft gemacht werden: Am 28.10. will Christian Worch zum dritten mal in diesem Jahr durch Göttingen oder Celle ziehen. Mehr Unter­stützung ist wahr­schein­lich aber in Bitter­feld gefragt, wo am selben Tag eine Nazidemo angemeldet ist. Zum Schluss was Gutes: Das in Jena oft angekün­digte „Fest der Völker“, eine Konzert­veran­staltung mit europäischen Nazi-Bands, die jährlich stattfinden soll, wird voraussichtlich schon im zweiten Jahr nicht über die Bühne gehen.

„You got to rock, you got to roll!“

rabe

Erfolg ohne Nachhaltigkeit?

Kameras in Foyers, Fluren, in den Außen­be­reich­en der Universität, den kommen­den Fahrradtiefgaragen am Augustusplatz, Büros oder Mensen. Keine Kameras in Hörsälen und Seminarräumen. Vorerst, aber die Kabelschächte dafür werden vorbereitet. Das ist der Stand im Sommer 2006. So richtig verstehen kann ich bei dem Zwischenstand nicht, was es von der AntiKa-AG des StuRa zu feiern gab. Sicher, die Podiumsdiskussion im Frühjahr schuf eine breite Medienöffentlichkeit und das Rechtsgutachten von Prof. Degenhart versaute der Universitätsleitung, ins­besondere dem Universitätskanzler die ungehemmte Überwachung überall. Ein Zwischenerfolg, doch mehr auch nicht. Es wird neue Versuche geben, einen Rechts­weg zu finden – das wissen alle, die den Ehrgeiz des Kanzlers kennen. Und ebenso wenig wird der amtliche Datenschutz­beauftragte der Uni dies aufhalten können. Der Jubel der AntiKa vermittelt ein schein­bares Sicher­heits­gefühl und ein „Wenn wir wollen, können wir es stop­pen“­-Denken, das so nicht stimmt. Schon jetzt spielten der Zufall und die Unter­stützung verschiedener Stellen in den Erfolg mit hinein. Bereits in einem Semester kann dieser Anfangserfolg das Papier nicht mehr wert sein, wenn erst eine neue Rahmenordnung zur Video­überwachung geschaffen ist. Die Kabel und Bohrlöcher für Hörsaalkameras bleiben ja weiterhin vorhanden und projektiert. Und auf dem Weg hinein bin ich schon jetzt mehrfach gefilmt worden.

RiRo

Theater gegen Überwachung

Mit einer Aktion am Connewitzer Kreuz hat die Leipziger Kamera-Initiative gegen Überwachung am 21. 9.06 den zweiten Teil ihrer Kampagne „10 Jahre sind genug!“ eingeläutet. Inspiration dazu kam von den New York City Surveillance Camera Players, einer amerikanischen Aktivistengruppe, die kleine Theaterstücke vor Überwachungskameras aufführt (www.notbored.org). Vor der Polizeikamera am Connewitzer Kreuz kamen zwei Stücke zur Aufführung: „Alles klar, Herr Kommissar“ als Adaption eines Stücks der New Yorker, bei dem die Akteure mit beschrifteten Pappschildern offensiv auf die eigene Harmlosigkeit aufmerksam machen („Ich gehe nur spazieren“ usw.). Bei „Was guckst du?“, einer Eigenkreation der Leipziger Kamera, wurden Fragen an die überwachenden Beamten gerichtet. Die Polizei hielt sich zurück, zwar fuhren zwei- oder dreimal Streifenwagen vorbei, ein weiteres Eingreifen hielt man offensichtlich für unnötig. Die Haltung der Passanten reichten von begeisterter Zustimmung über stilles Amüsement bis hin zu blanker Verständnislosigkeit, die positiven Reaktionen überwogen aber deutlich. So wurde nach rund anderthalb Stunden die Aktion zufrieden beendet – weitere werden in nächster Zeit folgen. Infos unter www.leipzigerkamera.twoday.net

justus

Arbeitsgruppe AntiKa

Im Interview

FA!: Ihr habt im letzten Semester eine Kampagne gegen die Überwachungs­pläne der Universität im Rahmen des Neubaus gestartet. Mit welchen For­derungen seid ihr angetreten?

VdAK: Unsere weitreichendste Forderung ist, die Uni zu einem überwachungsfreien Raum zu machen. Diesem Ziel wollten wir im Rahmen unserer Mittel möglichst nahe kommen.

FA! Wie nah seid ihr denn diesem Ziel gekommen?

VdAK: Naja, der größte Skandal war für uns, dass auch die Hörsäle überwacht werden sollten, daher haben wir das als Auf­­­hänger für die Kampagne „SMASH SURVEIL­LANCE“ genutzt. Und in diesem Punkt haben wir tatsächlich Erfolg gehabt.

FA!: Die Pläne der Unileitung waren ja nun schon ausgemachte Sache. Wie habt ihr es geschafft, sie davon abzubringen?

VdAK: Erst einmal haben wir Öffentlichkeits­arbeit in Form von Infoständen, einer Podiumsdiskussion, Unterschrif­ten sammeln und Pressemit­­teilung­en gemacht. So wichtig das auch war, hat den Ausschlag für die Änderung der Pläne ein Rechtsgutachten von Prof. Degenhardt gegeben (der ironischerweise auch maß­geb­­lich an der Klage gegen die Studien­gebührenfreiheit beteiligt war), das ohne die studentische Initiative wohl aber nicht zu Stande gekommen wäre. Fakt ist, dass Hörsaalkameras dem Grundrecht von Freiheit der Lehre und Forschung derart widersprechen, dass sie juristisch im Prinzip nicht durchsetzbar sind.

FA!: Wie hat die Unileitung auf eure Aktionen reagiert?

VdAK: Zunächst hat sich die Uni­leitung in Person von Kanz­ler Frank Nolden auf unserer Podiumsveranstaltung am 24.04.06 in der Mo­ritz­bastei für die Hörsaalkameras ausgespro­chen, mit den großartigen Argumenten, man müsse Diebstähle verhindern und kontrollieren können, ob das Licht aus sei. Das kam sowohl bei den Anwesenden als auch in der Presse eher schlecht an. Auch der Datenschutz­beauftragte Thomas Braatz, der uns anfänglich nicht einmal In­formationen zu den Plänen geben wollte, hat uns schließ­lich ernst genommen und mit uns zusammen gearbeitet. Mitte des Semesters hat das Studentenwerk die Webcam-Pläne für die Mensen auf unseren Druck hin zurückgenommen. Schließlich erhielt die Unileitung das besagte Rechtsgutachten, hatte an­scheinend wenig Lust auf weitere Aus­einander­setzungen und hat in der Frage der Hörsaalkameras eingelenkt. Das Rektorat sprach dann von einem „Kommunikationsproblem“, was so nicht stimmt, da die Installationspläne zu Beginn der Kampagne „SMASH SURVEIL­LANCE“ bereits beschlossene Sache waren.

FA!: Wie haben die Studierenden darauf reagiert, wieviel Unterstützung habt ihr da erfahren?

VdAK: Es gab erst mal viel Sympathie und Interesse, wir haben einige hundert Unterschriften gesammelt. Konkrete Unterstützung gab es dagegen nur von einer handvoll Studierender. Für eine Kampagne dieser Art reichen ein paar motivierte Leute aber auch aus, man muss eben taktisch arbeiten. Insgesamt hat sich gezeigt, dass erfolg­reiche Basisorganisation nötig und möglich ist, um Vorhaben, die unseren Interessen entgegenstehen, zu verhindern. Nebenbei hat es auch allen sehr viel Spaß gemacht, inklusive der großartigen „Victory Party“ auf dem Baustellencampus.

FA!: Wie soll es denn im nächsten Semester weitergehen. Habt ihr schon Ideen?

VdAK: Solange es Kameras gibt,braucht es eine AntiKa! Wer also Interesse hat mit­zu­machen: www.uni-leipzig.de/-antika

wanst

Arme Hilfssheriffs

Was würden wir bloß tun, wenn wir die Stadtverwaltung und das Arbeitsamt nicht hätten … die denken sich für uns, die Bür­gerInnen dieser Stadt, immer wieder was neues aus, damit es uns besser geht. Anfang Mai hoben die Stadtoberen ein neues Projekt aus der Taufe, um nicht nur die horrende Arbeitslosigkeit, sondern auch das Unsicherheitsgefühl in der Messestadt zu senken: den „Bürgerdienst LE“.

Das klingt erstmal ein bisschen nach Zivildienst, Dienst an der Gemeinschaft. Doch das täuscht. Es handelt sich – aus Perspektive der Macher – um einen Dienst für „den Bürger“, und „den Touristen“. In dunkelblauen Jacken mit dem schmucken Aufdruck „spazieren“ insgesamt 496 ehemals junge und/oder Langzeit-Erwerbslose in Zweier-Teams durch die Stadt, als Ansprechpartner für Fragen, die man sich auf der Straße so stellt: Was is’ das denn für’n Haus? Wie komme ich nach Stötteritz? Wie lange ist die Straße noch gesperrt und wo geht die Umleitung lang? Wie teuer wird eigentlich der City-Tunnel? Wann ist das nächste Feuerwerk auf der Festwiese?

Endlich, mit großen Schritten bewegt sich Leipzig auf die Dienstleistungsgesellschaft zu! Da macht es auch nichts, dass die Umsetzung mit einem alten Instrument – der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme – und alten Partnern – dem Kommunalen Eigenbetrieb Engelsdorf (KEE) – bewerkstelligt wird: das heißt Befristung auf ein Jahr, danach kein Anspruch auf ALG I, aber immerhin 1.100 bis 1.300 Euro in der Tasche. Keine Lösung ist auch eine Lösung, wenn sie das Problem verschiebt.

Polizei des 21. Jahrhunderts?

Diejenigen, die sich da freiwillig zum Bür­gerdienst meldeten, sind nun in „Teams“ zu zwei Leuten auf acht Routen unter­wegs, um dem unwissenden, aber interessieren Mitmenschen eine Hilfe zu sein. Sie sind sogar rund um die Uhr unterwegs, in klassischen Acht-Stunden-Schichten … doch halt: warum das? Ein wichtiges Aufgabenfeld haben wir noch vergessen: Die professionellen Spazier­gängerIn­nen (drei Wochen Weiterbildung!) rücken nämlich nicht nur Informationen heraus, wenn man sie fragt. Sie sind auch Kontrollgänger und leiten, freilich ungefragt, Informationen weiter. „Sie sollen möglichst alles registrieren, was irgendwo im Argen liegt, von Polizei oder Ordnungsamt aber nicht bewältigt wird: Autoeinbrüche, Hundehaufen*, aufgebrochene Türen, schwarz endgelagerte Autos, umgeworfene Grabsteine, demolierte Bushäuschen oder Rempeleien, die auszuarten drohen. Quasi über Nacht bekam die Stadt damit ein flächen­deckendes System an allgegenwärtigen Augen, Nasen und Ohren.“ („Südkurier“, 1.9.06) … Handgreiflichkeiten bleiben weiterhin der Polizei vorbehalten, und wirklich „flächen­deckend“ ist wohl nur ein Blockwartsystem (1 Haus, 1 Spitzel). Dennoch kein Grund zur Beruhigung: Mit dem Bürgerdienst LE wurde Anfang dieses Jahres unter dem Deckmantel eines „Arbeits­markt­projekts“ die Kontrollkapazität der Polizeidirektion Leipzig (1.600 Schergen) um mindestens 25 Prozent ausgeweitet!

„Service und Sicherheit“

Und der Tanz geht weiter: Aufgrund der „guten Erfahrungen“ mit 290 Bürgerdienstlern als Bus- und Bahn-Begleit­personal während der WM, wird die LVB Mitte November ein Pilotprojekt starten, dass dank Verkehrsminister Wolle schon bundesweite Aufmerksamkeit erlangte. Bis Mai 2006 sollen ins­gesamt 300 Erwerbslose freiwillig bei den Verkehrsbetrieben anheuern, um (getreu dem Motto des Bürgerdien­stes) ÖPNV-Verkehrsbera­tung zu leisten, älteren Fahr­gästen zur Hand zu gehen und vor allem Sicherheit zu gewährleisten. „Aktiv Office“** wird getragen vom LVB-Tochterunternehmen LAB und begründet wie die Ein-Euro-Jobs kein Arbeitsverhältnis im eigentlichen Sinne. Die Testphase soll drei Jahre dauern, dann sollen 30 Prozent der Leute in Festanstellung übernommen werden – irgend­wie muss man die Leute bei dem lächerlichen Gehalt von weniger als 150 Euro (+ ALG2) ja bei der Stange halten, und solange solche windigen Verheißungen noch ziehen, warum nicht?! Handfester ist da schon die LVB-Monatskarte, die’s dazu gibt, so dass die Leute nach Feierabend nicht nach Hause laufen müssen. Die Kosten für diese „Vergünstigung“ lassen sich jedoch aus der Portokasse bezahlen, und die ist gut gefüllt: Die jährlichen Kosten belaufen sich nach Angaben der ARGE Leipzig auf knapp 865.000 Euro; die reinen „Lohnkosten“ abgezogen, verbleiben bei den LVB/LAB monatlich 27.000 Euro – nach offiziellen Angaben für Verwaltungs- und Materialaufwendungen. Ein „Klebe-Effekt“ der anderen Art. Damit sind Erwerbslose nicht nur effektiver und flexibler, sondern wohl auch billiger als Videokameras.

Das Schlimmste ist aber wohl nicht, dass die jugendliche Wut sich weniger in der Tram entfalten kann, sie wird andere Wege finden, oder dass damit Personal­einspa­run­gen in den LVB-Werkstätten in den Bereich des Möglichen kommen (gegen Entlassungen kann man kämpfen) – das Schlimmste ist sicherlich die neue Masche von Amts wegen, dass sich die Erwerbslosen freiwillig melden sollen, die einer „sinnvollen Beschäftigung“ nachzugehen wünschen. Dabei scheint von vornherein schon klar, dass es sinnvoll ist, an vor­derster Front, als Menschenmaterial, für einen Hungerlohn, den eigenen Kopf hinzuhalten zum Schutz fremden Eigentums und sich vom gesellschaftlichen Reichtum selbst ausschließen – finanziell stehen sie dann in etwa so gut da wie die Bediensteten der zahlreichen Sicherheitsservices.

Unwillkürlich kommt mir in diesem Zusammenhang ein Vers aus Mühsam’s Internationale-Übersetzung in den Sinn, eine einfache Antwort, die sich schwer umsetzen lässt: „Mag der Reiche selber Diebe greifen,/Mag er selber Kerker baun!/Laßt uns die eig’nen Äxte schleifen./Das Eisen glüht, jetzt laßt’s uns hau’n!“

A.E.

*) siehe FA! #13 zur Polizeiverordnung vom 2004;
**) Anscheinend sitzen in der PR-Abteilung auch nur unbezahlte PraktikantInnen, es lebe die Sabotage! Oder versteht eine/r der Feierabend!-LeserIn­nen den Namen des Projekts???