Anarchismus und bewaffneter Kampf in Italien
Als um die Jahreswende mehrere Briefpakete mit der Sprengkraft von Tischfeuerwerken in den Poststellen verschiedener EU-Institutionen eingehen, ist die Verbindung mit zwei brennenden Mülltonnen und einem präparierten Brief an die Privatadresse Romano Prodis schnell hergestellt. In der allgemeinen Presse werden die Konstrukte der italienischen Behörden kritiklos übernommen. Italienische AnarchistInnen sollen hinter der Briefserie stecken, organisiert, aber schwer zu kriegen, flexibel und dezentral. Die Regierung Berlusconi scheut sich nicht, Verbindungslinien von
el Qaida bis zu
attac, von den alten und neuen
Roten Brigaden bis zu
Europposition zu ziehen, um die europäische Öffentlichkeit auf die Gefährlichkeit der AnarchistInnen, insbesondere der italienischen und sardinischen, einzuschwören.
Und allen schlottern die Knie. Kaum eine/r fragt, was eigentlich das Interesse der Berlusconi-Regierung an einer derartigen Kampagne ist, wenige wagen den Blick in die italienische Geschichte – ich meine, was ist nicht alles allein in Bologna passiert! Nö, da latscht die Journaille lieber dpa-Meldungen aus, kommentiert die Phrasen der italienischen Politiker im Stile eines mode-moderierenden Sportreporters und ist dabei nicht mal in der Lage, die einfachsten Fakten zusammenzutragen. Aber auch in der kritischen und emanzipatorischen Presse werden weithin nur die eigenen Vorurteile bestärkt, alte Verschwörungstheorien gepflegt und letztlich kaum eine inhaltliche Auseinandersetzung geführt. Da redet mensch vom Wiederaufleben der „Strategie der Spannung“ und den „bleiernen Jahren“ (s. unten). Als wenn Tischfeuerwerke mit Bombenanschlägen, Morde mit Ermittlungen zu verwechseln wären. Unbestritten, die italienische Regierung nutzt die Vorfälle, wo sie nur kann, ideologisch, politisch, strategisch. Ist deshalb alles fingiert? Vielleicht sind wirklich nur die brennenden Mülltonnen das Werk der bekennenden FAI. Auf dem zweiten Schreiben, das sich zeitlich nur noch auf das Briefpaket für Prodi beziehen läßt, ist ja nicht mal die Stellungnahme der ausführenden Gruppe (in Schablonenschrift s. Kasten) zu finden und damit fehlt der einzige direkte Bezug zu der Aktion. Ich glaube dennoch, die schriftliche Bekennung ist echt, wegen dem lokalen Bezug zu Bologna, dem spezifischen Milieu, der taktischen Wahl von Ziel und Mitteln, der Art und inhaltlichen Tiefe des Bekennungsschreibens, der historischen Kontinuitäten im bewaffneten Kampf Italiens und auch wegen der absichtlichen Abkürzungsverwechslung mit der „offiziellen“ Anarchistischen Föderation Italien (FAI.), die das angefügte PS ironisch entschuldigt (alle mit Kürzel erwähnten Gruppierungen sind auf S. 22 näher erläutert).
„Die große Masse ahnt natürlich nichts von den Diskussionen, welche in unserem Lager geführt werden. Da sie keine andere Ansicht vernimmt als die Verleumdungen der Tagespresse ist sie auch der Ansicht, der Anarchismus sei nichts anderes als Mord und Bomben, Anarchisten seien eine Art von blutrünstigen Tieren, die von nichts als Mord und Zerstörung träumen.“ (1)
Errico Malatesta (1918)
Zweifel indes hege ich ebenfalls gegenüber der europäischen Dimension der ganzen Aktion. Der Zusammenhang mit den Briefpaketen an die EU-Institutionen ist weder zeitlich noch durch das BekennerInnenschreiben gedeckt. Mittel und Zielwahl sind anders. Niemand bekennt sich, weiterhin. Alles beruht auf den spärlichen Aussagen der italienischen Ermittlungsbehörden und verantwortlichen Minister, die außer der gleichen Bauweise der Pakete und dem Aufgabeort Bologna, außer der Behauptung von unbekannten personellen Verbindungen zu verschiedenen europakritischen Gruppen eigentlich nichts in der Hand haben. Wenn mensch dann noch bedenkt, daß die Briefpaketeserie schon ein günstiger Anlaß war, eine lang geplante europäische Antiterrorrunde unter italienischem Vorsitz durchzuführen, prompt die anarchistische Bewegung auf die Agenda zu setzen2 und dann eine Sondereinheit unter italienischer Führung zu bilden, die sich mit allgemeinen Ermittlungen gegen die anarchistische Bewegung in ganz Europa richtet. Das riecht förmlich nach einer politischen Strategie der italienischen Regierung und ihrer Helfershelfer, schmeckt zumindest mach einer Taktik, um dieses Gremium zu dominieren. Und ehrlich gesagt, wäre das auch keine historische Neuheit.
„Wir konnten uns die Freude nicht vorenthalten, aktiv Kritik an dem ausgehenden italienischen Präsidentschaftssemester auszuüben …“
*FAI
Aber auch ohne die Reichweite der Aktion und eventuelle Einflußnahmen genau bestimmen zu können, erscheint es mir als richtig und wichtig, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Bekennungsschreiben zu wagen, dessen zweiter Teil einen „offenen Brief an die anarchistische und antiautoritäre Bewegung“ enthält. Eine Auseinandersetzung, die auch lohnt, weil sie Fragen der Organisierung, mit der nach dem bewaffneten und militanten Kampf, die anarchistische Idee der Revolution mit historischen wie aktuellen Taktiken zur Erreichung derselben verbindet. Ein Anfang liegt hier vor. Der spezifisch italienische Hintergrund mußte aus Platzmangel leider größtenteils in die Kästchen wandern, wie auch die zwei historischen Exkurse.
FAI. – Operation Santa Claus
So hat das bekennende Bündnis aus mehreren Gruppen den ersten Teil ihres Schreibens überschrieben. Titel der „ersten Kampfkampagne der Informellen Anarchistischen Föderation“ (alle folg. Zitate aus eben dem). Gegen wen sich diese Kampagne richtet, wird nach einer kurzen Analyse der Verhältnisse innerhalb der Europäischen Union deutlich. Ihre Konsolidierung (Verfassungsvertrag) bedeute den Ausbau von Herrschaft und Macht, durch intensivierte Repression nach Innen (Sicherheitspolitik) wie Außen (Migrationspolitik). Eine weitere Stärkung der Zentralgewalten mit neuen Praktiken der Ausbeutung und Unterdrückung anstelle der Zersetzung derselben (vgl. auch Feierabend! #10 S. 17 bzw. in diesem Heft S. 1/8). Als taktische Ziele jenes Kampfes gelten deshalb die verschiedenen Polizeien, das europäische Heer, das Haftsystem und die Bürokraten und PolitikerInnen, die diesen Institutionen das Überleben sichern. Eine Zielwahl, die sicher auch eng mit den historischen Erfahrungen der Gruppen insbesondere der spanischen wie italienischen C5 verknüpft ist. Dann erklären die BekennerInnen, daß die Aktionen in Technik, Zeit und Modalität so ausgerichtet sind, daß sie das „zu Schaden kommen“ Unschuldiger möglichst ausschließen. Sie betonen ihre Entschlossenheit, weiter gegen die „.Herrschaft des Menschen über den Menschen und des Menschen über die Natur“ zu kämpfen, und enden mit der vorsichtigen Hoffnung, daß die „destruktive/konstruktive Spannung für eine bessere Welt“ auf den Straßen wächst. Angefügt ist – zumindest im ersten Brief an die Tageszeitung La Repubblica – ein kurzer Teil in Schablonenschrift, offenbar von der direkt ausführenden Gruppe handwerkliche Genossenschaft für Feuer und Ähnliches, die hierin Romano Prodi und seiner Familie ziemlich niveaulos droht, sich auf einige tote, anarchistische Aktivisten in Italien (allesamt durch Polizeigewalt Getötete) bezieht und letztlich Anarchie und FAI. hochleben läßt.
„Unsere Mittel sind diejenigen, die uns die Umstände gestatten und aufzwingen. Gewiss möchten wir niemandem ein Haar krümmen; wir möchten gern alle Tränen trocknen, ohne eine vergießen zu lassen. Doch andrerseits müssen wir in dieser Welt, wie sie ist, kämpfen, wenn wir nicht unfruchtbare Träumer bleiben wollen.“ (4)
Errico Malatesta
Die Aktion (Kampagne), ob sie sich nun auf die zwei Mülltonnen für sich oder/und auf den präparierten Brief an Prodi beschränkt oder doch alle Briefpakete an die EU-Institutionen mit umfasst, ist sicher in der Tradition des bewaffneten Kampfes der außerparlamentarischen Strömungen in Italien zu sehen, eine Nähe, die das Schreiben auch an verschiedenen Stellen suggeriert. Nichtsdestotrotz läßt der Text die Wahl der Mittel prinzipiell offen, und nicht unberechtigt ist die Frage, inwieweit brennende Abfalltonnen und verschicktes Tischfeuerwerk überhaupt zum bewaffneten Kampf zu zählen wären. Auch wenn Analyse, Kritik und auch Ziel- und Mittelwahl durchaus anarchistischen Idealen folgen, zeigt doch gerade die Ermangelung solidarischer Bekundungen innerhalb und außerhalb von Italien, die tendenzielle Isolation der involvierten Gruppen und ihrer „Kampfkampagne“. Der Rechtfertigung über die Freiheit jedes/R Einzelnen, seiner/ihrer Empörung gegen Herrschaft, Ausbeutung und Diskriminierung im Hier und Jetzt Ausdruck zu verleihen, stehen dabei die Einvernahme durch die staatlichen Behörden (die darauf nur gewartet haben!) und die jetzt einsetzende Repression gegen die anarchistische Bewegung in ganz Europa entgegen. Mildernd bleibt da nur: Niemand kam bis jetzt ernstlich zu Schaden.
Wer wir sind. – FAI.
Nur ein dummer Bubenstreich, verübt von einer handvoll Leuten, die einmal zu oft in der Geschichte des italienischen Widerstandes geblättert haben? Nein. Gerade der zweite Teil des Schreibens, der „offene Brief an die anarchistische und antiautoritäre Bewegung“, zeugt von einer tiefen inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Fragen der Organisierung in idealistischer und historischer Dimension und kann so gesehen als kurze Programmatik verstanden werden. Während unter den Schlagwörtern ‚Föderation‘ und ‚Anarchistisch‘ weitestgehend Gemeinplätze der historisch anarchistischen Diskussion berührt werden – die freie Assoziation von Gruppen und Individuen in horizontalen Strukturen zum Zwecke der Auflösung von Staat und Kapital, die Wirksamkeit der „direkten Aktion“ und ihrer „Propaganda durch die Tat“ – bereitet doch gerade der informelle Charakter dieser Art der Organisation – ja auch im Bündnisnamen FAI. Ausschlaggebend – einige Kopfschmerzen. Informell – weil nicht demokratisch, ohne Delegierte, Komitees oder Plena samt ihren Organen, um das Entstehen von charismatischen WortführerInnen zu vermeiden. Informell – weil gestützt auf eine weitestgehend anonym geführte Debatte allein durch die Propaganda der Tat (+Bekennung und evtl. Kampagnenaufrufe). Informell – weil die Erfahrungen der Roten Brigaden gezeigt haben, wie angreifbar eine Organisationsform ist, die mit festen Strukturen aus dem Untergrund heraus agiert (Reguläre/ Irreguläre KämpferInnen). Informell – um der staatlichen Repression besser ausweichen zu können.
„Nur die globale Revolution, nach anarchistischen Prinzipien, kann garantieren, dass Terrorismus auf den Platz verwiesen wird, der ihm innerhalb der menschlichen Zivilisation zukommt – in den Abfalleimer der autoritären Ideen.“ (4)
Falls der revolutionär anarchistische Ansatz geteilt wird, kann prinzipiell jede Gruppe oder Einzelperson unter Wahrung der Anonymität zur FAI. gehören, indem sie durch Aktionen „revolutionäre Solidarität“ übt mit Inhaftierten oder von staatlicher Willkür Betroffenen bzw. „revolutionäre Kampagnen“ startet, die nach dem Vorbild des vorliegenden Textes und der dazugehörigen Aktionen gestaltet sind. Kritik innerhalb der FAI. könne sich ebenfalls über „Aktionen/Communiqués konkretisieren“. Ganz nebenbei werden „Informationsinstrumente der Bewegung“ erwähnt, die ebenfalls an der Verbreitung von Theorie und Kritik mitwirkten. Informelle Gegenseitigkeit? Die Kulturfrage bleibt unbeantwortet.
Auch wenn ich viele organisatorische Bedenken der BekennerInnen der FAI. teile, ziehe ich doch den direkten Kontakt, das Gespräch, dem anonymen vor. Auch liegt mir, wie der sich distanzierenden Anarchistischen Förderation Italiens, der Transparenzgedanke näher als der der Informalität, jeder Repression zum Trotz. Und schließlich respektiere ich zwar die historische Dimension der bewaffneten Kämpfe in Italien, wie die prekäre Situation von politischen AktivistInnen speziell der italienischen, wage aber dennoch die Frage, ob nicht die ein oder andere Diskussion, so mancher kritische Gedanke, dazu beigetragen hätte, eine Aktion zu konzipieren, die in ihrer Art und schließlich auch in ihrer Zielwahl nicht so kläglich ausgefallen wäre, wie die „Operation Santa Claus“. Dabei müßte zuförderst geklärt werden, ob der bewaffnete Widerstand zum jetzigen Zeitpunkt und überhaupt ein Mittel darstellt, die Bevölkerungen für den Kampf gegen die kapitalistischen Verhältnisse, für anarchistische Ideen und die Möglichkeit einer anderen Vergesellschaftung zu gewinnen. Sowohl durch die Propaganda der Tat als auch durch direkte Aktionen kann heute subversiv viel erreicht werden, wenn sie klug gesetzt und vermittelbar sind. Waffen und Konfrontationen dagegen, bleiben den Beweis ihrer dauerhaften Wirksamkeit in der Geschichte des weltweiten Kampfes gegen Staat und Kapital bis heute schuldig.
clov
*Die Übersetzung des BekennerInnenSchreibens unter: www.de.indymedia. org/2004/01/71608. shtml
Dementi der FAI unter: www.de.indymedia.org/2004/01/72208. shtml
Zu den alten und neuen Roten Brigaden: www.geocities.com/aufbaulist/Zeitung/Artikel_26/Nachrichten.htm oder antifa.unihannover.tripod.com/rote_Brigaden.html
Zur P2-Loge und Gladio: zoom.mediaweb.at/zoom_4596/italien.html
Zur parlamentarischen Geschichte Italiens ab 1989: www.uni-duisburg.de/AL/BASTA/b1-96-5.htm
Zur Strategie der Spannung: www. malmoe.org/artikel/top/494
(1) aus Errico Malatesta, „Anarchismus und Gewalt“ (1918), Edition Anares, 1987, www.Anares.org
(2) die gerade in Italien so manche Regierung unter Druck setzte, durch Militanz und ihren Rückhalt in der Bevölkerung
(3) zit. n. Hector Zoccoli, „Die Anarchie“, Kramer, Berlin 1976
(4) Anarchistisches Kollektiv „Slobodna Krajina“ (Banjaluka-Bosnia and Herzegovina) ab_useyu@yahoo.co.uk
(5) Max Nettlau, „Geschichte der Anarchie“, Bd. 3, Impuls Verl.
Was geschah? Chronik der Ereignisse:
SON 21.12.2003
Zwei Mülltonnen in der Nähe von Romano Prodis Familienhaus in Bologna gehen in Flammen auf.
DIE 23.12.2003
In der örtlichen Redaktion der Tageszeitung La Repubblica geht mit Poststempel CMP 21/12/2003 ein zweiteiliges BekennerInnenschreiben der FAI – Informelle anarchistische Föderation ein.
SAM 27.12.2003
Ein präparierter Brief geht in den Händen des EU-Kommissionspräsidenten Romano Prodi mit einer Stichflamme in die Luft. Der auf Verdacht vorsichtige Prodi kann das an seine Frau adressierte Buchpaket noch rechtzeitig von sich schleudern. Leicht Verletzte: ein Möbelstück und ein Teppich.
SON 28.12.2003
Die FAI – Italienische Anarchistische Föderation dementiert jeden Zusammenhang mit dem BekennerInnen-Schreiben und den Briefen.
MON 29.12.2003
Mit Poststempel Bologna CMP 22/12/2003 trifft ein weiteres Schreiben der Informellen anarchistischen Föderation ein. Diesmal bei der mailändischen Redaktion der Tageszeitung Libero. Das Gleiche wie in Bologna, bloß ein Zusatz in Schablonenschrift fehlt. Ein entzündliches Briefpaket wird in der Poststelle der EZB abgefangen. Adressat: Jean-Claude Trichet, Präsident der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. Niemand wurde verletzt.
In einer Einrichtung von Europol in Den Haag wird ein Brief entschärft. Adressat hier: Jürgen Storbeck, Chef der Polizeibehörde Europol. Verletzte: Niemand.
DIE 30.12.2003
Die EU-Agentur für grenzüberschreitende Kriminalität Eurojust in Den Haag erhält ebenfalls ein Briefpaket. Experten können es entschärfen, bevor es seine stichflammenartige Wirkung entfaltet.
MON 05.01.2004
Im Abstand weniger Stunden gehen zwei präparierte Briefe in Flammen auf. Einmal im Brüsseler Büro des deutschen EU-Parlamentariers Hans-Gert Pöttering (Europäische Volkspartei [EVP]) und zum anderen im Büro des britischen EU-Parlamentariers Gary Titley (Sozialdemokratische Partei Europa [SPE]) in Manchester. Verletzt wurde dabei niemand.
Ein drittes Briefpaket, das an den konservativen spanischen Abgeordneten Jose Ignacio Salafranca adressiert war, wurde im Europaparlament rechtzeitig abgefangen. Keine Verletzten. Am selben Tag treffen sich in Rom mehrere Anti-Terrorexperten aus europäischen Ländern. Die bereits seit längerem geplanten Runde steht unter der Leitung des italienischen Polizeichefs Gianni De Gennaro. Sie beschließen die Einrichtung einer „Sondereinheit zur Aufklärung anarchistisch aufständischer Gewalt“. Diese soll innerhalb von zwei Monaten das Phänomen untersuchen und die Ermittlungsergebnisse der verschiedenen Länder zusammenbringen. Geleitet wird die Ermittlungsgruppe vom Chef der italienischen Antiterroreinheit, Gianni Luperini.
Exkurs: Direkte Aktion
„Aber der Kongress betrachtet es als die Aufgabe der Anarchisten in
den Organisationen das revolutionäre Element zu bilden und nur
jene Arten von ‚direkter Aktion‘ zu propagieren und zu unterstützen
(Streik, Boykott, Sabotage etc.), die in sich selbst einen
revolutionären Charakter im Sinne der sozialen Umgestaltung
tragen.“
Internationaler anarchistischer Kongreß in Amsterdam,
25.-31. August 1907
Diese taktische Bezeichnung ist innerhalb des revolutionären Syndikalismus bzw. Anarcho-Syndikalismus entstanden, der um die Jahrhundertwende durch das verstärkte politische Interesse und den wachsenden Organisierungsgrad der ArbeiterInnenbewegung vermehrt anarchistische Ideen in die Fabriken tragen konnte. Alle wesentlichen Elemente der „Propaganda durch die Tat“ kehren mit der „direkten Aktion“ wieder. Allerdings wurde heftig über das Ziel solcher Aktionen diskutiert, die sich in ihrer Reichweite auf einen einzelnen Arbeitskampf beschränkten. Wie revolutionär oder reformistisch konnten sie sein? Schließlich gab es unter den AnarchistInnen auch einige Skepsis darüber, inwieweit sich die anarcho-syndikalistische Bewegung vom Marxismus, den Gewerkschaften abheben könnte; nicht den Kampf einer Klasse zu führen, ihr gar zur Diktatur zu verhelfen.
„Die Anarchisten betrachten die syndikalistische Bewegung und
den Generalstreik als mächtige Kampfmittel, aber nicht als Ersatz
der sozialen Revolution.“ Ebenda.
Die Spannungen zwischen Anarchismus und Syndikalismus haben viele Früchte getragen. Direkte Aktion – heißt seinen Arbeitsplatz als einen ausgezeichneten Raum politischer Aktion wahrzunehmen, heißt die unmittelbare, individuelle oder kollektive Intervention gegen Herrschaft, Ausbeutung und Diskriminierung an dem Ort, wo sie ursächlich beginnt, und mit dem Ziel jene Machtformen von Menschen über Menschen für immer zu beseitigen.
Propaganda durch die Tat…
„Die italienische Förderation glaubt, daß die insurrektionelle [aufständische] Tat, die dazu bestimmt ist durch die Tat die sozialistischen Prinzipien zu verkünden, das allerwirksamste Propagandamittel ist, und das einzige, das ohne die Massen zu korrumpieren oder zu betrügen, bis zu den allertiefsten sozialen Schichten eindringen und die lebendigen Kräfte der Menschheit für den Kampf gewinnen kann, der von der Internationale geführt wird.“ (5)
Die ital. Delegierten Carlo Cafiero und Errico Malatesta auf einem internationalen Kongreß im Oktober 1876.
…bezeichnet eine spezifische Taktik der anarchistischen Bewegung, die insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jh. heftig diskutiert wurde. Sie zielt darauf ab, anarchistischen Ideen, der Aufklärung über die Verhältnisse und ihre Angreifbarkeit, der anarchistischen Gesellschaftlichkeit den Weg zu den Menschen zu bahnen. Und zwar nicht nur in Wort und Schrift, sondern durch die direkte Tat. Gemäß dem Ideal der Handlungsautonomie jedes/r Einzelnen und der Freiheit von Jedem, sich auch im Hier und Jetzt zur Wehr zu setzen, anstatt das individuelle oder kollektive Bedürfnis nach Revolte auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu vertrösten. In der konventionellen Geschichte ist diese Taktik leider nur im bewaffneten Kampf aufgefallen (Attentate gegen Monarchie u. Polizei/Militär), während die ethische Dimension der tätigen Teilhabe am Anderen, der Versuch Freiräume zu erobern und zu schützen, die Selbstorganisierung und handgreifliche Solidarität, die wesentlich stärkeren Facetten „der Tat“ waren. Der Beschluß der IAA (Internationale ArbeiterInnen Assoziation) 1881 in London – er fußt auf den Erfahrungen der zurückliegenden Jahre unter dem allgemeinen Eindruck des Erstarkens der ArbeiterInnenbewegung und der zunehmenden Repression durch die Behörden – bringt die taktische Diskussion zu einem vorläufigen Ende:
„In Erwägung, daß die IAA. es für notwendig erkannt hat, der mündlichen und schriftlichen Propaganda die Propaganda durch die Tat anzuschließen, in fernerer Erwägung, daß die Zeit eines allgemeinen Ausbruchs nicht fern ist und daß die revolutionären Elemente aller Länder berufen sein werden all ihre Aktionskraft zu entfalten, spricht der Kongreß den Wunsch aus, daß die sich der IAA. anschließenden Organisationen folgende Vorschläge beachten: Es ist von strikter Notwendigkeit, alle Anstrengungen zu machen, durch Taten die revolutionäre Idee und den Geist der Empörung in dem Teil der Volksmassen zu propagieren, der sich noch abseits von der Bewegung befindet und Illusionen über die Legalität und die Wirksamkeit der legalen Mittel hegt.“ (5)
Exkurs: Strategie der Spannung…
„Die Rechten stellen sich selbst in den Dienst des Staatsapparates, in dem sie eine Strategie unterstützen, die man als Strategie der Spannung bezeichnet. Dreißig Jahre lang bis in die achtziger Jahre wurde die Bevölkerung absichtlich in Unruhe und Angst vor einem Ausnahmezustand gehalten. Bis sie bereit war, einen Teil ihrer persönlichen Rechte im Austausch für größere Sicherheit aufzugeben, für die alltägliche Sicherheit, die Straße entlang zu gehen, mit der Bahn oder dem Flugzeug zu reisen, in eine Bank zu gehen. Die Menschen in diese Haltung zu zwingen, das ist die Logik, die hinter den Verbrechen steckt. Und da der Staat dahinter steht, der sich nicht selbst belasten wird, werden diese Verbrechen unaufgeklärt bleiben.“
Vincenzo Vinciguerra, wegen der Morde von Peteano 1972 zu lebenslanger Haft verurteilter Neofaschist und Gladiator.
…bezeichnet eine Taktik, die in den Siebzigern von faschistischen und neofaschistischen Zellen (MSI u.a.) im Umfeld der Gladio-Strukturen, unter Mithilfe von CIA und Federführung von P2- Mitgliedern gegen die historisch starke Linke in Italien forciert wurde. Die PCI konnte absehbar nicht mehr an einer Regierungsteilnahme gehindert werden. Ein klarer „Bündnisfall“. Der bewaffnete Kampf der Roten Brigaden wurde instrumentalisiert, wie entfacht, um die AkivistInnen von der Bevölkerung zu trennen und das allgemeine Sicherheitsbedürfnis zu erhöhen. In Italien brechen die „bleiernen Jahre“ an:
…
28. Mai 1974, Brescia, Piazza della Loggia. Während einer antifaschistischen Demonstration der Gewerkschaft explodiert eine Bombe, die 9 Tote und 90 Verletzte fordert …
4. August 1974, „Italicus“-Express. Die Explosion einer Bombe in einem Schnellzug auf der Strecke Florenz-Bologna tötet 12 Fahrgäste und verletzt 48 …
2. August 1980, Bologna, Bahnhof. Eine Bombe tötet 85 Menschen und verletzt 200 weitere …
Faschisten und Geheimdienst sind fast immer verwickelt. Gleichzeitig startet eine ungeahnte Repressionswelle gegen die linke und außerparlamentarische Bewegung und ihre Strukturen. Hunderttausende wandern hinter Gitter, während die katastrophalen Ermittlungen und Prozesse gegen die Attentäter und ihre Helfershelfer fast immer mit Freisprüchen enden. Ein Gruselkapitel der italienischen Staatsgeschichte. Zu dessen Alt-Mimen gehört auch, mensch höre und staune, der Silvio …
Nachbarn