Archiv der Kategorie: Feierabend! #44

Wissenschaft, die Wissen schafft: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Wissenschaftliche Forschung wird gerne – und oftmals auch zurecht – für ihre „Elfenbeinturm“-Perspektive kritisiert. Praxisnähe und Alltagspraktikabi­lität der gewonnenen Erkenntnisse werden nicht selten vermisst, auch fehlender Realitätsbezug wird der Wissenschaft gern vorgeworfen. Glücklicherweise aber halten solcherlei pauschal gefällte Urteile keiner näheren Analyse stand, da Verallgemeinerungen bekannterweise immer fehlerhaft sind. Das im Folgenden vorgestellte sozialwissen­schaft­liche Forschungsprogramm zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) widerlegt die gängige Kritik und bricht bewusst aus dem ihm zugeschriebenen „Elfenbeinturm“ aus. Obgleich die mitt­ler­weile zehn Jahre lang gesammelten Ergebnisse zu GMF noch sehr langsam über den „Rapunzelzopf“ der Forscher­_in­nen in die praktische Welt hinaus gelangen, tragen sie dennoch genügend Zündstoff in sich, um einiges an progressiven Veränderungen anstoßen zu können.

Rund die Hälfte der deutschen und auch europäischen Bevölkerung sind der Ansicht, dass es zu viele Zuwanderer in ihrem Land gäbe (1+2).

Dies ist eines von zahlreichen Ergebnissen der wohl größten und längsten deutschen Panelstudie, in die 2009 auch ausgewählte europäische Länder einbezogen wurden. Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer prägte den (sperrig klingenden) Begriff der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und schuf 2002 zusammen mit Prof. Dr. Andreas Zick ein gleichnamiges sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm am Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Der Begriff selbst bezeichnet die Abwertung von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen „aufgrund von ethnischen, kulturellen oder religiösen Merkmalen, der sexuellen Orientierung, des Geschlechts, einer körperlichen Einschränkung oder aus sozialen Gründen“ (1). GMF wird dabei als Syndrom verstanden, da sich die Vorurteilsstrukturen ähneln und ablehnende Tendenzen meist gegenüber mehreren Gruppen bestehen. Als gemeinsamer Kern des Syndroms wurde die sog. „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ identifiziert, also eine Grundeinstellung, in der die Menschen prinzipiell nicht als gleichwertig angesehen werden. In jährlich stattfindenden telefonischen Befragungen eines repräsentativen Teils der deutschen Bevölkerung (2011 wurden 2000 Menschen befragt) wurden und werden die verschiedenen Einstellungen ermittelt, um Ausmaße, Entwicklungen und Ursachen von Vorurteilen gegenüber bestimmten Menschengruppen analysieren zu können. Die Ergebnisse sind erschreckend und belegen v.a. das, was innerhalb der sog. Linken ohnehin lange vermutet und fortwährend angemahnt wird: Dass menschenfeindliche Einstellungsmuster in der sog. Mitte der Gesellschaft weit verbreitet sind.

Über 50% der europäischen und deutschen Bevölkerung meinten 2009, dass der Islam eine Religion der Intoleranz sei. Rund ein Viertel der 2009 befragten europäischen und 13% der deutschen Bevölkerung (2011) waren zudem der Meinung, dass Juden zu viel Einfluss in ihrem jeweiligen Land hätten.(1+2)

Die verschiedenen untersuchten Einstellungen des GMF-Syndroms wurden 2011 in insgesamt 12 Kategorien unterteilt: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Islamophobie, Eta­blier­ten­vorrechte, Sexismus, Abwertung von Menschen mit Behinderung, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Langzeitarbeitslosen, und speziell auch die Ablehnung von Asylbewerber_innen und Sinti & Roma (3). Bemerkenswert daran ist zudem, dass unter dem GMF-Konzept auch gesellschaftliche Einstellungsmuster gefasst werden, bei denen Abwertungen nicht nur „kulturell“, sondern auch mit „natürlicher“ oder „sozialer“ Überlegenheit begründet werden, wie bspw. bei den feindlichen Einstellungen gegenüber Langzeitarbeitslosen oder den Etabliertenvorrechten. Letzteres hebt auf eine soziale Hierar­chi­sierung bzw. Vorrangstellung von „Alteingesessenen“ ab. Das Konzept ist generell offen für weitere hinzukommende Kategorien, sofern sie sich auch auf eine dahinter stehende „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ beziehen. Die Ergebnisse der GMF-Untersuchungen wurden jährlich bei Suhrkamp unter dem Titel „Deutsche Zustände“ veröffentlicht und reflektiert.

Über die Hälfte der befragten deutschen Bevölkerung 2011 war der Meinung, dass die meisten Langzeitarbeitslosen nicht daran interessiert seien, einen Job zu finden. Über 60% finden es darüber hinaus „empörend, wenn sich die Langzeitarbeitslosen auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen“ (1).

Wie bereits angedeutet, geht es den Wissenschaftler_innen indes nicht nur darum, Ausmaße und Entwicklungen menschenfeindlicher Einstellungen in der Gesamtgesellschaft (in fundierter und nachprüfbarer Weise) öffentlich zu machen und damit zu sensibilisieren. Darüber hinaus liegt ein Schwerpunkt in der Analyse der Ursachen von GMF. Unter der Fragestellung, inwiefern die Veränderungen von GMF mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammenhängen, wurden so bspw. soziale Desintegration und gefühlte Benachteiligung (sog. Relative Deprivation) als Faktoren und Erklärungsansatz ausgemacht. Mit anderen Worten steht der eigene gesellschaftliche Ausschluss in engem Zusammenhang mit der Abwertung anderer gesellschaftlicher Gruppen. Denn – so die naheliegende These – wenn es einem an Anerkennung mangelt, besteht die Tendenz, sich selbst durch die Abwertung anderer wieder aufzuwerten. Dabei wird zwischen drei Aspekten von Desintegration unterschieden, die gemeinsam Einfluss auf die Abwertung bestimmter anderer gesellschaftlicher Gruppen haben: Zum einen die sozio-ökonomische Einbindung, bei der es um den eigenen Status, also die Lebens- und Arbeitsverhältnisse und Konsummöglichkeiten geht, die nicht nur als begrenzt, sondern v.a. auch zukünftig gefährdet wahrgenommen werden.

Zum zweiten ist die politische Einbindung oder negativ der politische Ausschluss – sprich gefühlte Macht- und Einflusslo­sig­keit bei (gesellschafts-)politischen und institutionellen Belangen – ein Faktor sozialer Desintegration. Empirisch betrachtet haben Menschen mit wenig Interesse an politischer Partizipation oftmals auch eher GMF-Einstellungstendenzen (4). Anders ausgedrückt, spiegelt sich die Frustration und Resignation über die eigene Einfluss­lo­sigkeit auf die Politik wohl auch in der der Abwertung von anderen gesellschaftlichen Gruppen wider.

Als dritter Aspekt sozialer Desintegration wird die „personale Dimension“ oder „sozial-emotionale Einbindung“ benannt, bei der es um eigene soziale Netzwerke geht bzw. um eben jene fehlende unterstützende Gemeinschaft, die nicht nur zur Selbstverwirklichung motivieren kann, sondern zudem Orientierung bietet und Sinn stiftet.

Darüber hinaus wurde empirisch auch nachgewiesen, dass fehlender Austausch mit als vermeintlich fremd wahrgenommenen Menschen Ungleichwertigkeitsvorstellungen begünstigt. Des weiteren befördern auch autoritäre Strukturen sowie Flexibilitätszwang und fehlende soziale Normen und Regeln GMF-Einstellungen. Insbesondere bei jenen Menschen, bei denen auch soziale Hierarchien Teil der eigenen Ideologie sind, ist die allgemeine Befürwortung von menschenfeindlichen Aussagen besonders ausgeprägt.

Mehr als 60% der Befragten in acht europäischen Ländern sind der Meinung, „dass Frauen ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ernster nehmen“ sollten. Fast ein Drittel dieser meinen zudem, dass es eine „natürliche Hierarchie zwischen Schwarzen und Weißen“ gäbe. (2)

Im europäischen Vergleich von 2009 wurde übrigens festgestellt, dass in den Niederlanden die geringsten GMF-Tendenzen zu beobachten sind, während in Polen und Ungarn die Vorurteilsstrukturen am ausgeprägtesten sind. Insgesamt wurden repräsentativ Menschen aus Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, Portugal sowie den benannten Ländern befragt. Deutschland liegt im internationalen Vergleich insgesamt – trotz mitunter großer Unterschiede was die (In-)Toleranz einzelner Gruppen betrifft – eher im Mittelfeld.

54% der Deutschen stimmten 2011 der Aussage „Wer irgendwo neu ist, sollte sich erst mal mit Weniger zufrieden geben“ zu (1).

Diese Aussage, die in der deutschen Studie unter „Etabliertenvorrecht“ kategorisiert und analysiert wird und wie eine altbekannte Stammtischparole klingt, wird wahrscheinlich auch gegen das GMF-Konzept als solches eingewandt – nämlich dann, wenn es um Schlussfolgerungen aus der „neuen“ GMF-Forschung gehen soll. Oder warum findet die Veröffentlichung derartiger alarmierender Ergebnisse über Feindseligkeiten in der Gesamtgesellschaft so wenig Beachtung in der Politik?

Mit dem Forschungsprogramm wurden drei große Ziele verfolgt (5). Zum einen sollte für die in der Mitte der Gesellschaft vorhandenen Ungleichwertigkeitsvorstellungen sensibilisiert werden. Die umfangreichen – hier nur exemplarisch herausgegriffenen – Ergebnisse sollen erinnern und zum präventiven und ggf. intervenierenden Handeln anregen, um derlei Haltung nicht zum Normalzustand werden zu lassen. Doch statt angesichts der Ergebnisse tatsächlich massiv in integrative Programme und andere Präventionsmaßnah­men zu investieren, bei denen v.a. junge Menschen ein gleichwertiges Miteinander erleben und schätzen lernen, wird lieber dem Verfassungsschutz und der Polizei vertraut, die sich erst dann melden, wenn die Ideologie soweit gefestigt ist, dass sie zu menschenfeindlichen Handlungen geführt hat.

Zum zweiten nahm das Forschungsprogramm v.a. gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick, um deren Einfluss auf GMF zu untersuchen. Die dahingehend aufbereiteten Ergebnisse rund um soziale Desintegration bieten jede Menge Anregungen für Veränderungen im politischen System und im Bereich der sozialen Sicherung. Daraus könnten sogar Forderungen abgeleitet werden, die nicht nur den Parlamentarismus als solchen ins Schwanken bringen, sondern auch das allgemeine kapitalistische Leistungsprinzip samt sozialer Vereinsamung kritisieren und diesem einen Selbstermächtigungsprozess entgegensetzen. Allerdings lassen sich auch realpolitische Verbesserungen mit dem GMF-Konzept in der Rückhand diskutieren, die mit stärkeren sozialen Leistungen und Netzwerken beginnen, einen Bogen zu mehr direkter Demokratie schlagen und beim bedingungslosen Grundeinkommen ihren Höhepunkt feiern könnten.

Zum dritten soll mit der Forschung zu GMF auch auf die Bedeutung generalisierender Ideologien, wie die der sozialen Hierarchisierung, hingewiesen werden. Das kritische Hinterfragen von Einstellungen und der dahinter liegenden Ideologie ist nicht nur eine fortwährende gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sondern könnte auch gegen staatlich gesteuerte institutionalisierte Diskriminierung gewendet werden. Denn wenn bspw. erwachsene Flüchtlinge und Asylbewerber_innen gesetzlich geregelte Leistungen erhalten, die insge­samt 225 € nicht überschreiten (inklusiver aller Sachleistungen) und einer Residenzpflicht unterworfen sind, dann findet eine eklatante Ungleichbehandlung und soziale Hierarchisierung gegenüber den anderen in Deutschland lebenden Menschen statt, die zumindest Anspruch auf ein (mager bemessenes) Existenzminimum haben und Bewegungsfreiheit besitzen. Auch die Abschiebung von Flüchtlingen (hauptsächlich Roma) nach Serbien während des winterbeding­ten „Ausnahmezustandes“ Mitte Februar, ist für die dort größtenteils unerwünschte Bevölkerungsgruppe mitunter lebensgefährlich und zeugt von einer dahinter stehenden Ideologie, die dieser Menschengruppe keinen großen bzw. gleichrangigen Wert beimisst (6).

Schlussendlich ist durch die GMF-Forschung auch ein theoretisch fundiertes und empirisch geprüftes Konzept entstanden, das durchaus Potential hat, die Probleme, die sonst gemeinhin unter Rückgriff auf das Extremismusmodell erklärt werden, begrifflich und inhaltlich aus einer neuen Perspektive zu erfassen. Das GMF-Konzept setzt an den dahinter stehenden Werten an, die sich von tendenziellen Un­gleich­wer­tig­keits­vorstellungen zum gefestigten ideologischen Weltbild – wie bei Neonazis – wandeln können. Damit macht es Feindlichkeiten schon in ihrer „Keimzelle“ sichtbar – nicht erst wenn der Rechtsbruch erfolgt. Das rückt nicht nur Vorurteile aus der „Mitte der Gesellschaft“ in den Fokus, sondern eröffnet auch eine Reihe an Handlungsstrategien und Möglichkeiten der Übertragung in die Praxis. Als eine „echte Alternative“ zum Extremis­mus­mo­dell kann GMF laut Kausch/Wiedemann zwar nicht in Stellung gebracht werden, weil der Begriff keine Unterscheidung zwischen Alltagsdiskriminie­rungen und organisiertem Neonazismus zulässt und keine gesellschaftlichen Machtverhältnisse bei der Bewertung von Ungleichwertigkeit eine Rolle spielen (7). Zudem bleibt ein quantitativ-empirischer Ansatz immer beschränkt in seinen Möglichkeiten komplexe Zusammenhänge und Ursachen zu erklären und müsste theoretisch und interdisziplinär weiter unterfüttert werden. Eine Weiterentwicklung des GMF-Konzeptes könnte diese und weitere Defizite durchaus beheben, andererseits ist es auch müßig, darüber zu diskutieren, da seitens der Politik der Wille fehlt, sich vom Extremismusmodell zu lösen. Natürlich ist es politisch praktikabler und bequemer, die „Freiheitlich Demokratische Grundordnung“ (FDGO) zum Maß zu nehmen und all jene als extremistisch zu brandmarken, die gegen sie verstoßen (siehe FA! #39 & 41).

Gerade diese Verengung auf die FDGO ist wohl einer der Hauptgründe, warum das GMF-Forschungsprogramm auch im Gesamten ein sozialwissenschaftliches Randthema bleiben wird. Mit dem GMF-Konzept wird der Finger in die Wunde gelegt und gesellschaftliche Einstellungsmuster der Ungleichwertigkeit werden problematisiert. Damit begibt sich die wissenschaftliche Forschung weg vom Elfenbeinturm in ein gesellschaftlich relevantes und politisch kontrovers besetztes Feld. Wen wundert es dann, wenn es auch Bestrebungen gibt, diesen „Elfenbeinturm“ weiter abzuriegeln und den „Rapunzelverdächtigen Haarwuchs“ der For­scher­_in­nen zu begrenzen?!

momo

(1) „Deutsche Zustände“. GMF-Langzeituntersuchung, Zusammenfassung: www.uni-bielefeld.de/ikg/Handout_Fassung_Montag_1212.pdf
(2) „Europäische Zustände“2009, Zusammenfassung: www.ag-friedensforschung.de/themen/Rassismus/studie.pdf
(3) Mit der Kategorie „Roma und Sinti“ wird auf Antiziganismus rekurriert (und an anderer Stelle auch so benannt). Obgleich die Bezeichnung „Sinti und Roma“ unzureichend ist, da wesentlich mehr Gruppen von Zigeuner_innen bestehen, die sich nicht darunter subsumieren lassen, ist diese Kategorisierung mit Blick auf den Wortlaut in der empirischen Studie erklärbar. Denn, analog zum Alltagsgebrauch, werden Roma&Sinti stellvertetend bzw. synonym zum NS-belasteten Zigeuner-Begriff verwendet.
(4) www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/GMF/SozialeDesintegration.html
(5) www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/GMF/GesZiele.html
(6) www.proasyl.de/de/news/detail/news/abschiebungen_nach_serbien_trotz_kaelte_notstand/
(7) Kausch und Wiedemann analysieren in ihrem Beitrag „Zwischen ‘Neonazismus’ und ‘Ideologien der Ungleichwertigkeit’.“ in: „Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells“ (Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.) 2011) u.a. die Tauglichkeit von GMF als begriffliche Alternative zum Extremismusbegriff. Die fehlende Integration gesellschaftlicher Machtverhältnisse wird dabei u.a. als GMF-Defizit kritisiert. Damit ist gemeint, dass bspw. die Diskriminierung von Asylbewerber_innen von der Mehrheitsgesellschaft den gleichen Stellenwert bekommt, wie bspw. die „Deutschenfeindlichkeit“ einer türkischen Minderheit hier.

Theorie & Praxis

Krise – da war doch was?

Alle reden von der Krise. Über fünf Millionen Einträge gibt es dazu im Internet, der Washington Post zufolge sprach Obama seit 2009 in seinen Reden ganze 330 Mal von der Krise und täglich gibt es neue Krisenmeldungen. Doch womit haben wir es zu tun, wenn das mittlerweile inflationär verwendete K-Wort fällt?

Ein Blick über den Tellerrand zeigt, die Krise ist nicht neu und lässt sich nicht auf eine Finanz- oder Wirtschaftskrise reduzieren. Angesichts der politischen Entwicklungen in der Eurozone handelt es sich ebenso um eine Legitimationskrise – Papandreou lässt grüßen – wie gleichzeitig auch um eine globale Klima-, Energie- und Ressourcenkrise. Kurz: Es sind multiple Krisen, die sich gegenseitig bedingen und verstärken. Während der zähe Ver­handlungskampf um die Höhe der so genannten Rettungsschirme oder das zulässige Maß der Staatsverschuldung die aktuelle Berichterstattung dominieren, und Proteste gegen die aufgezwungenen Sparhaushalte nur am Rande erwähnt werden, steht die verschärfte ökologische Krise im medialen Schatten. Zu Unrecht, denn sowohl die soziale, als auch die ökologische Krise sind eng mit der Wirtschafts- und Finanzkrise verzahnt. Schließlich basiert der kapitalistische Produktionsprozess nicht nur auf der Ausbeutung von Arbeitskraft und auf billigen fossilen Energieträgern, sondern auch auf der fortschreitenden Privatisierung gesellschaftlicher Prozesse und der Inwertsetzung bisher unangetasteter Elemente der Natur.

Vor allem letzteres produziert besonders im Globalen Süden massive sozial-ökologische Verwerfungen. Beispielsweise spekulieren Investment-Fonds auf Nahrungs­mittelpreise, treiben damit die Getreidepreise derart in die Höhe, dass Länder den Import von Lebensmitteln nicht mehr bezahlen können und in Folge die lokale Bevölkerung hungert. Ähnlich verhält es sich beim Land Grabbing, der weltweiten Aneignung von Land durch Konzerne und Staaten, oder beim Abbau natürlicher Ressourcen für boomende grüne Wirtschaftszweige. Doch auch im Globalen Norden sind Menschen, die wenig Rentabilität versprechen, von ökonomischer Ausgren­zung betroffen. Allein in Deutschland beläuft sich die Zahl der Haushalte, die auf Grund unbezahlter Rechnungen zeitweise von der Energieversorgung abgeschnitten sind, auf 800.000.

Die propagierten Lösungen für die aktuellen Krisen und Krisenerschei­nun­gen des Kapitalismus bewegen sich dennoch innerhalb des bestehenden Systems, unterliegen marktkon­for­men Sachzwängen und ignorieren das bestehende Machtgefälle. Die Folge dieser herr­schafts­förmigen Bearbeitung? Die scheinbare Lösung eines Problems verschärft lediglich ein anderes: Der Agro-Sprit verspricht der Klimakrise beizukommen, während jedoch für den Anbau nicht nur große Flächen des Amazonas abgeholzt werden, sondern auch gleich ganze Bevölkerungsgruppen dem neuen Exportschlager weichen müssen. Vergleichbares gilt in Bezug auf Elektroautos: Anstelle das Konzept des Individualverkehrs und damit die Aspekte des Lebensstil im Globalen Norden in Frage zu stellen, werden neue Jobs im „green business” bejubelt, während stillschweigend der Lithium-Abbau unter fragwürdigen Arbeits­be­din­gungen und mit ökologischen Katastrophen voranschreitet. Ob und wenn ja, wer in Bolivien von diesem Boom profitiert, bleibt außen vor.

Die hegemoniale Rezeptur zur Krisenbewältigung liest sich ähnlich wie ein Kochrezept von Jamie Oliver: Ein bisschen grüne Technologien hier, ein wenig erneuerbare Energien da, großzügiges Beimischen von gekürzten Staatsausgaben, je nach Bedarf eine Messerspitze gesetzliche Richtlinien oder Privatisierungen. Dann alles den Grundzutaten Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und hohe Renditen beimischen, kurz umrühren, und fertig ist der Einheitsbrei, der uns je nach Gusto als „Green New Deal“ oder „Green Economy“ serviert wird. Wie jedoch auf die multiplen Krisen zu reagieren ist, um die nötigen, tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen zu erreichen, muss noch (weiter) ausbuchstabiert werden.

Klar ist: Die derzeit an Griechenland durchexerzierten neoliberalen Krisenmaßnahmen sind weder neu, noch wirksam. Vielmehr erinnern sie an die Strukturanpassungsmaßnahmen mit deren Hilfe bei­spielsweise Subsahara-Afrika in den 1980er Jahren aus der Schul­denkrise kommen sollte. Doch die gekürzten Staatsausgaben, massiven Privatisierungen und kompetitive Wechselkurse etc. haben nicht zu einer Verbesserung der Lebenssituation der Menschen vor Ort beigetragen, ganz im Gegenteil. Der enge Fokus auf technologische und marktbasierte Lösungen hat nicht nur eine entpolitisierende Wirkung, sondern führt letztlich dazu, dass sich im globalen Machtgefüge nichts ändern muss. Mit herrschaftsförmigen Analysen der Krise und den gängigen „Bewältigungsstrategien“ ist also wenig gewonnen, aber viel verloren.

Aus emanzipatorischer Perspektive ist es dennoch wichtig, zu sehen, dass die aktuellen Krisen nicht per se in einen drohenden Weltuntergang münden müssen. Krisen eröffnen immer auch die Chance für grundlegendes Umdenken. Diese Möglichkeit wollen wir auf dem BUKO Kongress 2012 nutzen, um gemeinsam zu diskutieren, uns zu vernetzen und den Handlungsraum zu erweitern.

(die lokale Vorbereitungsgruppe des BUKO34-Kongress)

Theorie & Praxis

Pro & Contra: Schick ich mein Kind auf eine staatliche Schule?

Für politisch interessierte Eltern ist die Entscheidung über die Schulform des Nachwuchses sicher keine leichte. Denn diese hat nicht nur ganz individuell etwas damit zu tun, was mensch sich bei Themen wie Freundschaften, Umfeld, Lernerfahrungen, zukünftige Perspektiven und die Vorbereitung auf die sog. „reale Welt“ für das Kind verspricht, sondern ist auch eine kollektiv-politische Frage. Denn welche Chancen haben noch die Kinder staatlicher Schulen, wenn sich alle engagierten Eltern (sofern es die geografische Lage und der Geldbeutel zulässt) auf Privatschulen wie bspw. Freie Schulen zurückziehen? Aber muss deshalb das eigene Kind zum Märtyrer werden? Wäre es das überhaupt? Diesen und weiterführenden Fragen widmen sich im Folgenden unsere Pro&Contra-Kontra­hent_in­nen:

PRO:

Spätestens mit dem Infobrief zur Schulanmeldung wurde mir klar, dass nun eine neue Epoche beginnen wird, unser Sohn wird bald ein Schulkind sein. Aber dann stand da: Einzugsgebiet Ernst-Pinkert-Schule, Martinstraße. Ich hatte von dieser Schule schon gehört, ihr schlechter Ruf eilte ihr bereits meilenweit voraus. So ging ich mit gemischten Gefühlen auf Argu­mentsuche und schaute mir die Schule mal an.

Nach eingehender Recherche und meinen bislang gesammelten Erfahrungen habe ich mich gegen den Besuch einer staatlich anerkannten Ersatzschule (Freie Schule) und für die Martinstraße entschieden, und zwar aus folgenden Gründen: Freie Schulen haben ein bestimmtes Klientel. Selbst wenn freie Schulen nicht teuer sein müssen, erfolgt dennoch eine Art soziale Segregation. Die Eltern entscheiden sich bewusst für eine freie Schule und nehmen den Mehraufwand von Zeit (Suche, Anmeldung) und Kosten in Kauf. In der Regel gehen Kinder aus sozial schwächeren, ‘bildungsfernen’ Schichten seltener auf freie Schulen. Dies fördert die Spaltung der Gesellschaft.

Doch soll mein Kind nur auf eine staatliche Grundschule gehen, um meine gesellschaftliche Idealvorstellung zu befriedigen? Nein, denn der Besuch einer freien Schule in Leipzig bedeutet nicht gleichzeitig eine bessere Lernatmosphäre.

Freie Schulen werben z.B. mit kleinen Klassen, Freiarbeit und Kreativitätsentfaltung, teilweise mit altersdurch­mischtem Stammgruppen­unterricht. Schaut man allerdings genauer hin, so schneiden staatliche Grundschulen diesbezüglich nicht unbedingt schlechter ab.

Die durchschnittliche Klassenstärke liegt in Sachsen bei 19,6 Kindern. Freie Schulen haben ähnliche, u.U. sogar größere Klassen, da sie meist, trotz großer Nachfrage, einspännig laufen (z.B. Waldorfschule). Damit fällt das Kriterium der Klassenstärke bei der Entscheidung, ob freie Schule oder nicht, für mich weg.

Freiarbeit und Kreativitätsentfaltung spielen auch mittlerweile in staatlichen Schulen eine große Rolle. Ein wichtiges Argument für die Wahl einer freien Schule wäre für mich tatsächlich ein klassenübergreifender Unterricht, der Stammgrup­pen­unterricht. Al­ters­gemischter Unterricht ist eine große Herausforderung für alle Teilnehmer und eine tolle Möglichkeit zum Wissenserwerb. Thüringen (z.B. Jena-Plan-Schulen) hat gezeigt, dass dieses Konzept durch­aus auch staatlich konfiguriert werden kann.

Die freie Schulszene bietet für mich in Leipzig diesbezüglich keine echte Alternative. In unserer Stadt gibt es al­ler­dings nur genau zwei Ersatzschulen, die einen Stamm­gruppen­unterricht anbieten. Die Grundschule des evangelischen Schulzentrums unterrichtet die erste und zweite Klasse gemeinsam. In der kleinen Grundschule Auguste lernen sogar insgesamt 47 Kinder der Klassen 1-4 gemeinschaftlich.

Ein weiteres Kriterium für den Besuch einer staatlichen Schule ist die Motivation bzw. Qualifikation der Lehrkräfte, denn ich behaupte, dass die Qualifikation der Lehrer an staatlichen Schulen oftmals besser ist als an staatlich anerkannten Ersatzschulen. Für viele frisch examierte Anwärter ist eine Stelle an einer freien Schule nur zweite Wahl. Stellen an staatlichen Schulen sind rar und heißbegehrt. Lehrer an freien Schulen erhalten nur 80% des staatlichen Lehrertarifs. Ich kann mir schon vorstellen, dass sich das auf die Motivation der jeweiligen Lehrkraft auswirken kann. Dies führt u.a. dazu, dass freie Schulen häufiger von Lehrerwechsel betroffen sind als staatliche Einrichtungen.

Nun, nach diesen ganzen Überlegungen wird mein Sohn auf die Martinschule gehen, ich werde mich aktiv am Elternrat beteiligen und versuchen den Schulalltag mit anderen gemeinsam mitzugestalten. Nach wie vor finde ich altersgemischten Stammgruppenunterricht gut, und ich bin durchaus der Überzeugung, dass auch in Sachsen ein derartig alternatives Schulkonzept staatlich realisiert werden könnte.

molly

# Soziale Segregation verhindern

# Qualifikation der Lehrer_innen ist gesichert

# Motivation der Lehrkräfte höher durch tarifliche Löhne

# Auch Stammgruppenunterricht und kleine Klassenstärke ist organisierbar

CONTRA:

Anweisungen, Abfragen, Lob, Tadel, Drohungen, Strafmaßnahmen, Beurteilungen, Beschimpfungen – ca. 90 % einer Schulstunde in einer dauernden Endlosschleife… Während diverser Praktika und Hospitationen im Leipziger Grundschullehramts­ studium hatte ich mehr und mehr das Gefühl, per Zeitmaschine in die schönsten wilhelminischen Jahre abzutauchen – wenn sich die Klassenzimmertür hinter den versammelten Kindern schloss und die Reglementierungen, Zurechtweisungen und sonstigen Monologe der Lehrkraft wieder losgingen. Ein paar Jahre Unterricht dieser Sorte hatten sich erkennbar bei den Kindern ausgewirkt: Unterwürfigkeit gegenüber den Lehrerinnen, Unehrlichkeit in Bezug auf Regeln und latente Mobbing-Atmosphäre gegenüber Schwächeren herrschten vor. Genau die Stimmung also, die auch das Arbeitsleben so vieler Erwachsener prägt, hier wurde sie in ihrer Entstehung sichtbar – der Unterwerfung der Subjekte quasi.

Nachdem ich ähnliche Beobachtungen von autoritärem und langweiligem Unterricht an immer mehr Schulen gemacht hatte, beschloss ich das Berufsziel „Lehrer“ zu streichen. ReferendarInnen und junge LehrerInnen können zwar immer wieder versuchen das System Regelschule zu reformieren, erwartet wird in der Praxis aber ihre lückenlose Anpassung. Die reformorientierten Ansätze im Lehramtsstudium werden nämlich größtenteils im praktischen Teil der Ausbildung fallen gelassen. Sprüche wie: „Jetzt vergessen Sie mal was Sie im Studium gelernt haben!“ kennen wohl die meisten jungen Päda­gogInnen. Und mensch passt sich dann eben doch an.

Die Zusammenfassung von Otto Herz, an deutschen Regelschulen würden Kinder des 21. von Lehrkräften des 20. in einem System des 19. Jahrhunderts unterrichtet, ist also naheliegend. In diesen Schulen wird allzu oft die kollektive Resignation des Kollegiums während des Unterrichts auf die sonst so lebendigen Kinder übertragen, bis diese, kurz gesagt, der Mehr­heits­gesellschaft angepasst sind.

Es wäre sicher ungerecht, der Regelschule jede Reformierbarkeit abzusprechen. Viele engagierte LehrerInnen arbeiten teils seit Jahrzehnten daran und es wurden und werden durchaus Fortschritte erzielt. Leider werden diese Ansätze oft verwässert – so bedeutet „Freiarbeit“ meist nur noch, dass Arbeitsblätter „frei“ ausgefüllt werden dürfen, bis alle Kinder dieselben Blätter bearbeitet haben – oder können durch simple Ge­gen­re­for­men wie­der aufgehoben wer­den. Ein Beispiel für ein solches roll-back ist die Einführung des ADH-Syndroms (1): Kinder die sich ungenügend dem Frontalunterricht fügen, sind dann eben krank. Kein Wunder dass ein solches Modell in den altmodischsten Schulen am eifrigsten zur Rettung und Modernisierung althergebrachter Diszi­plinierungspraxis aufgegriffen wird. (2)

Wenn ich also nicht 20 Jahre warten will, bis die sächsische Regelschule vielleicht mal erträglich geworden ist, weil ich jetzt ein Kind im schulpflichtigen Alter habe, bleibt nur eine alternative, freie bzw. demokratische Schule übrig.

Diese Schulen sind bestimmt keine paradiesischen Inseln und laborieren seit eh und je an diversen Problemen, wie zum Beispiel Leistungsnachweisen. Es scheint nicht leicht zu sein, den Bildungserfolg von Kindern objektiv zu messen, wenn keine Lehrplaninhalte anhand von benoteten Tests abgefragt werden können. Die Vorteile äußern sich eher subjektiv:

Dadurch, dass die Kinder keinem fremden System unterworfen werden, sondern Räume, Inhalte, Zeitplan und Methoden selber beeinflussen können, werden andere Kompetenzen erlernt – nicht Anpassung, sondern Selbstwirksamkeit, nicht Konkurrenz sondern Kooperation, nicht Befehls­ ausübung sondern Mitbestimmung. Diese Unterschiede sind nicht deshalb so drastisch, weil in freien und demokratischen Schulen die besseren Leh­rerInnen oder Kinder wären, sondern weil ihre Struktur auf Partizipation, Offenheit und Freiwilligkeit ausgelegt ist und sich damit den Bedürfnissen der Menschen anpasst.

Zwar wird freien Schulen oft vorgeworfen, einer gewissen bildungsaffinen Schicht eine Wohl­fühleinrichtung zu bieten und alle anderen in der Regelschule allein zu lassen. Aber was soll daran elitär sein, wenn ich meinem Kind jahrelangen autoritären Unterricht ersparen will? Die Perspektive einer demokratischen Schule ist es ja gerade, offenen Unterricht exemplarisch vorzuleben und damit langfristig auch die Reform der Regelschule zu beeinflussen.

Um diese Entwicklung voranzubringen und gleichzeitig eine allgemeine Bildungsgerechtigkeit herzustellen wäre es natürlich wichtig, Schulen in freier Trägerschaft den staatlichen Schulen rechtlich und finanziell gleichzustellen. Dadurch gäbe es keine „alternativen“ oder „Regelschulen“ mehr, sondern alle Eltern und Kinder hätten die freie Wahl der Bildungseinrichtung. Bis es soweit ist, müssen sich Leute wie ich eben gegen die Mehrheitsgesellschaft entscheiden.

soja

(1) Aufmerksamkeits-Defizits-Hyperakti­vitäts-Syndrom. Mit Aufmerksamkeits-Defizit ist aber nicht gemeint, dass die Kinder zu wenig Aufmerksamkeit bekämen, sondern aufbringen würden.
(2) Die so abgestempelten Kinder können dann wieder speziell „integriert“, sprich diszipliniert, werden. So kann sich der Unterricht „integrativ“ und die Schule „Integrationsschule“ nennen, aber das ist wieder eine andere Geschichte…

# Förderung von Haltungen der Unterwürfigkeit, Unehrlichkeit und Ungleichwertigkeit

# Als Lehrkraft wenig Gestaltungsfreiheit beim Unterricht

# Freie Schulen setzen auf Partizipation, Offenheit und Freiwilligkeit

# Alternative Schulen zeigen Reformmöglichkeiten für staatliche auf

Wirtschaftswunder und Papiertiger

Immobilienkrise und Protest in China

Schon in unserer #42 haben wir über Arbeiter_innen-Unruhen und die wirtschaftliche Lage in China berichtet. Mittlerweile ist es Zeit für ein Update. Was die Unruhen angeht, stellen z.B. die Vorgänge in der südchinesischen Hafenstadt Wukan eine neue Qualität dar. Immerhin haben hier die Partei und die Sicherheitskräfte über Wochen hinweg gänzlich die Kontrolle über die Lage verloren – mehr dazu weiter unten.

Aber auch die Immobilienblase scheint schneller zu platzen, als wir es vermutet hätten. So fielen die Immobilienpreise für Peking allein im November 2011 um 35%. Auch in Shanghai sahen Immo­bi­lien­firmen sich gezwungen, die Preise für Eigentumswohnungen um bis zu ein Drittel zu reduzieren (1).

Abstürzende Neubauten

In einigen Städten, z.B. Ordo und When­zou, ist die Immobilien- in eine ausgewachsene Kreditkrise übergegangen, mit allem was dazugehört – ruinierte Geschäftsleute, die sich aus Verzweiflung von Häuserdächern stürzen, inklusive. In Shanghai sammelten sich aufgebrachte Käu­fer­_innen, die kurz zuvor noch Appartements zu höheren Preisen erworben hatten, vor den Firmenzentralen, um Rückzahlungen zu verlangen – mancherorts gingen sie zu handfester Randale über, zertrümmerten Fensterscheiben und verwüsteten Innenräume.

Das chinesische Radio berichtete, dass etwa die Hälfte der Maklerfirmen in der im Süden des Landes gelegenen Stadt Shenzhen die Türen schließen mussten. Der Umsatz der Stahlindustrie (der zu einem Gutteil aus der Produktion von Stahlkonstruktionen für den Häuserbau herrührt) sank zwischen Juni und Dezember um 15%. Etwa 100 von verschiedenen Kommunen angesetzte Landverstei­gerungen endeten ohne Verkäufe. Die von der Stadt Peking erzielten Einkünfte aus Landverkäufen san­­ken im letzten Jahr um 15%.

Damit befinden sich die Kommunen in der Klemme: Denn der Verkauf von staatlichem Grund und Boden ist ihre wich­tigste Einnahmequelle. Wenn diese wegfällt, ist unklar, ob sie die Kredite zurückzahlen können, die zur Finanzierung großzügiger Infrastruktur-Projekte aufgenommen wurden. Die Immobilienblase bedroht also auch die Grundlagen des bisherigen rasanten Wachstums, das im letzten Jahrzehnt jährlich 8 bis 10% des BIP betrug.

Denn dieses konnte seit Beginn der weltweiten Krise 2007 nur noch durch staatliche Konjunkturmaßnahmen und Kredite aufrechterhalten werden. So investierten staatliche Stellen und Firmen in den Bau von Flughäfen und die großzügige Ausweitung des Autobahn- und Schienennetzes (2). Gleichzeitig floss ein großer Teil der Kredite in den Immobiliensektor, verschuldete Regionalbehörden verkauften im großen Stile Land an staatliche Unternehmen.

Die Gelder wurden also nur zwischen verschiedenen staatlichen Instanzen umgeschichtet. Der wichtigste (und wohl auch einzige) Effekt dabei war, dass die Preise in die Höhe getrieben wurden – wobei auf die großflächige Ansiedlung ausländischer Firmen und ein damit verbundenes Anwachsen der Arbeitsbevölkerung in den Städten spekuliert wurde. Aus dieser Erwartung heraus wurden auf dem Immo­bilienmarkt riesige Überkapazitäten aufgebaut – so wird die Zahl der leer stehenden Eigentumswohnungen derzeit auf bis zu 65 Millionen geschätzt (die Gewerbeimmobilien sind dabei noch gar nicht mitgezählt). Das milliardenschwere Konjunk­turpaket trug also beträchtlich dazu bei, die schon vorher bestehende Immobilienblase noch mehr aufzublähen.

Und auch auf das jetzige Absacken der Immobilienpreise reagierte die Zentralregierung, indem sie die Banken anwies, den bedrängten Schuldner_innen mit Notkrediten auszuhelfen. Ein weiteres unkontrolliertes Fallen der Preise konnte damit vorerst verhindert werden. Aber auch die Regierung befindet sich in der Klemme: Uneingeschränkte Kreditvergabe dürfte die bestehende Blase nur weiter vergrößern, während diese ohne Kredite endgültig platzen würde.

Der Aufstand von Wukan

Die Krise könnte aber auch die sozialen Konflikte im Land verstärken. Einen möglichen Vorgeschmack boten im Dezember die Unruhen in der südchinesischen Hafenstadt Wukan. Anlass war dabei der geplante Verkauf von Gemeindeland an ein Bauunternehmen. Die Stadtverwaltung hatte seit Mitte der 90er Jahre immer wieder solche Verkäufe getätigt, obwohl das Land mehr oder weniger öffentliches Eigentum ist. Denn wer vom staatlichen Haushaltsregister der Landbevölkerung zugerechnet wird, hat damit automatisch ein auf 30 Jahre beschränktes Nutzungsrecht für ein Stück Ackerland.

Die Landverkäufe waren dabei lange Zeit kein großes Problem. Weil die rund 20.000 Einwohner_innen der Stadt vorrangig vom Fischfang lebten, wurden die rechtlichen Ansprüche auf Land nicht geltend gemacht. Im Zuge der weltweiten Wirtschaftskrise sind die Einkünfte aus der Fischerei aber bedroht – das Ackerland gewinnt also als zusätzliche Einkommensquelle an Bedeutung.

Der Protest begann am 21. September 2011, zunächst friedlich. Aber nachdem drei Protestierende bei einer Demonstration vor der örtlichen Zentrale der KP festgenommen worden waren, belagerten am Folgetag mehrere hundert Menschen das Polizeirevier und verlangten die Freilassung der Verhafteten.

Nachdem die Unruhen sich auch mit massiver Polizeigewalt nicht unter Kontrolle bringen ließen, lenkten die Behörden scheinbar ein: Die Protestierenden sollten eine 13köpfige Delegation wählen, um Verhandlungen einzuleiten. Was wie ein Entgegenkommen aussah, diente aus Sicht der Obrigkeit aber wohl nur dazu, die vermeintlichen „Rädelsführer“ der Unruhen ausfindig zu machen. Diese Vermutung liegt angesichts der weiteren Entwicklung nahe: So wurden Anfang Dezember fünf der Delegierten von zivil gekleideten Polizisten aus einem Straßenrestaurant entführt.

Der nächste Schlag folgte zwei Tage später: Etwa tausend bewaffnete Polizisten rückten auf die Stadt zu. Die Ein­wohner_innen reagierten, indem sie die Zufahrtstraßen mit Barrikaden versperrten. Nach zweistündigem Schlagabtausch zog sich die Polizei zurück.

Am darauf folgenden Tag kam die Nachricht, dass einer der Entführten, der 43jährige Xue Jinbo, im Polizeigewahrsam einem Herzinfarkt erlegen sei. Entgegen dieser offiziellen Verlautbarung war der Delegierte aber in der Haft offenbar gefoltert und wahrscheinlich ermordet worden. Der Sohn des Opfers, dem die Leiche gezeigt worden war, berichtete, diese hätte deutliche Zeichen von Misshandlungen aufgewiesen. Diese Nachricht löste neuen Aufruhr aus. Die aufgebrachte Menge stürmte Verwaltungsgebäude, der örtliche Parteisekretär, der die Stadt seit 30 Jahren regiert hatte, wurde in die Flucht getrieben.

In den folgenden Wochen beschränkte sich die Polizei darauf, die Zufahrtsstraßen zu blockieren, die Lieferung von Lebensmitteln zu unterbinden und die Ein­woh­ner_innen am Verlassen der Stadt zu hindern. Auch die Fischereiflotte von Wukan wurde im Hafen festgehalten. So sollte einerseits Druck auf die Protestierenden ausgeübt, andererseits eine Ausweitung des Protests auf die umliegenden Ortschaften verhindert werden. Eine lückenlose Blockade gelang aber nicht: Bewohner_innen der Nachbarorte brachten Reis und andere Nahrungsmittel in die Stadt. Die Einwohnerschaft von Wukan organisierte sich derweil selbst. So wurde ein neues Stadtkomitee gewählt und für den Kontakt nach außen ein Pressebüro eingerichtet. Eine öffentliche Gesundheitsversorgung wurde organisiert, ebenso ein nächtlicher Streifendienst, um für Sicherheit zu sorgen.

Einige Zeit blieb unklar, wie die Zentralregierung sich positionieren würde. Letztlich schreckte sie aber davor zurück, den Aufstand mit allen Mitteln niederzuschlagen – wohl aus Angst vor einer möglichen Ausweitung der Unruhen innerhalb Chinas und öffentlicher Aufmerksamkeit im Ausland. Der verantwortliche Parteisekretär wurde seines Amtes enthoben.

Das ist in solchen Fällen nicht ungewöhnlich und entspricht einem teils vermeintlichen, teils realen Interessengegensatz von Zentral- und Lokalregierung: Einerseits wälzt die Zentralregierung die Verantwortung für unpopuläre Repressionsmaß­nahmen auf die Lokalregierungen ab. Denn solange sich Proteste nur gegen „korrupte“ lokale Eliten richten, lassen sie sich kontrollieren und stellen keine Gefahr für die politische Ordnung im Gesamten dar. Andererseits hat die Staatsführung, im Gegensatz zu den lokalen Behörden, auch tatsächlich ein Interesse an der Eindämmung der Korruption.

Der Posten des Parteisekretärs wurde nun mit einem Repräsentanten des Protestkomitees besetzt. Ein deutliches Zeichen dafür, wie großes Interesse die Staatsführung an der Befriedung des Konflikts hat. Die Lokalbehörden haben derweil angekündigt, bereits veräußertes Land zurückzukaufen. Verhaftete Demons­tran­t­_innen wurden freigelassen und eine offizielle Untersuchung zum Tod von Xue Jinbo in Aussicht gestellt.

Damit ist zumindest in Wukan wieder Ruhe eingekehrt. Allerdings wird es für die Regierung zunehmend schwierig, die Kontrolle aufrecht zu erhalten. Die Zahl der landesweiten Unruhen wächst seit Jahren beständig. So wird geschätzt, dass es im letzten Jahr ungefähr 180.000 ‚Massenzwischenfälle’ gab. Die nun drohende Wirtschaftskrise könnte zusätzlich dazu beitragen, dass die sozialen Verhältnisse auch in China in Bewegung geraten – mit möglicherweise weltweiten Auswirkungen.

justus

(1) www.foreignaffairs.com/articles/136963/patrick-chovanec/chinas-real-estate-bubble-may-have-just-popped
(2) vgl. Wildcat #85, Herbst 2009, „Alle Hoffnungen richten sich auf China“
(3) www.telegraph.co.uk/news/worldnews/asia/china/8954315/Inside-Wukan-the-Chinese-village-that-fought-back.html

Nachbarn

outside the box #3: „Gebären“

Zum dritten Mal erschien nunmehr die outside the box – Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik, die seit ihrer ersten Ausgabe im November 2009 versucht, linke, feministische Kritik präsenter zu machen. Sie hat den Anspruch feministische Gesellschaftskritik aus den Fußnoten linker Werke in den Mittelpunkt des Gesprächs zu rücken und den entsprechenden Themen ein Forum zu bieten.

Nachdem sich die letzten beiden Nummern mit Emanzipation bzw. Form beschäftigten, geht es dieses Mal um ein Thema das wie kaum ein anderes mit Natürlichkeit und Fremdzuschreibungen verbunden ist: Gebären.

Während viele andere (queer-)feministische Magazine lockerflockig daher kommen, nicht schwer im Magen liegen und sich durchaus auf dem Klo schmökern lassen, würde die outside als Klolektüre Hämorriden begünstigen. Kürzere und leichtere Texte gibt es auch, die meisten längeren Texte haben es aber in sich und wollen sowohl gründlich als auch gern mehrfach gelesen werden. Die Unterscheidung längerer Theorietexte von eher praktisch orientierten Textformen schlägt sich auch im Layout nieder, die Differenz fällt schon beim Durchblättern der Ausgabe auf. Interviewteil, lebensnahe Texte und Theoriebeiträge haben verschiedene Schriftarten und -größen. Die outside the box kommt gut gepolstert daher: 103 Din-A4-Seiten, dazu noch eine Einlage in A3.

Quer durch das Heft schlängelt sich der Interviewteil, der mich von allen Beiträgen am meisten ansprach. In vier Blöcken tauschen sich vier Personen über die Gebärensaspekte „Geburt/Schmerz“, „Aufklärung/Natursehnsucht“, ein „solidarisches Umfeld“ und „Anforderungen an Mütter, Väter und Andere“ aus. Drei der Personen haben selbst Kinder geboren, die vierte möchte nie selbst Kinder gebären und scheiterte mit dem Versuch als dritte Bezugsperson für ein Kind von Freund_innen da zu sein. Aus vielfältigen Perspektiven sprechen die vier auch Themen an, die sich sonst weder in den üblichen Schwangerschaftsratgebern finden lassen, noch Eingang in gängige feministische Texte finden: z.B. das Gefühl, als Frau versagt zu haben, weil das Kind per Kaiserschnitt geboren wurde und nicht ganz „natürlich“. Die scheinbar undenkbare Situation, als Mutter direkt nach der Geburt nicht sofort vor Mutterliebe zu vergehen, sondern sich erst einmal an das neue Wesen gewöhnen zu müssen und paternalistisches Verhalten aus dem Freund_innenkreis sind nur ein paar der Themen, die bewusst machen, wie viel über Schwangerschaft noch nicht gesagt wurde. Ich hätte gerne noch viele, viele Seiten mehr von diesem nachdenklich machenden Gespräch gelesen. Leider reichte der Platz im Heft nicht aus, um noch mehr Interview abzudrucken, was die Herausgeberinnen mit einer Liste an Themen kommentieren, die sie gerne noch angesprochen hätten, wie beispielsweise Sexualität und Schwangerschaft und die Entfremdung vom eigenen Körper.

Das Verhältnis zum eigenen Körper ist in zwei biografischen Texten präsent, in denen die Autor_innen darüber sprechen, wie sie ihre Abtreibungen empfanden, wie behördliche Fristen, ihre Selbstbestimmung über den eigenen Körper einschränkten und mangelnde ärztliche Begleitung sie verletzte. In diesen Beiträgen wird ein Thema präsent, das bei den „Betroffenen“ oft die Sehnsucht nach Gedankenaustausch weckt, in dieser Gesellschaft jedoch tabuisiert ist, weshalb viele mit ihren Gefühlen auf sich allein gestellt waren.

Die Außensicht auf das Gebären (lassen) ist das Thema zweier von Vätern verfasster Texte. Beide berichten vom Aufeinanderprallen alternativer Lebens- und Erziehungsmodelle und normalisierender Außenwelt. Es wird thematisiert wie schnell sich Unzufriedenheit breit macht und die Beziehung ebenso wie den eigenen Alltag bedroht, wenn mensch den ganzen Tag nur von Lohnarbeit und/oder Kind umgeben ist und keine Zeit mehr für die eigenen Interessen und Bedürfnisse hat.

Ein dritter Text aus männlicher Perspektive behandelt das Unaussprechliche – „die männliche Angst“. Die Angst, die eintreten kann, wenn der_die Sex­part­ner_in schwanger geworden ist/sein könnte – und man selbst ab dem Zeitpunkt die Entscheidung, wie es weiter geht, allein der potentiell schwangeren Person überlassen und das Ergebnis akzeptieren muss. Dieser Beitrag ist ein Hybrid, inhaltlich eher theoretisch teilt er das Layout und den leicht verständlichen Inhalt mit den anderen „Praxistexten“.

Die theorielastigeren Beiträge unterscheiden sich inhaltlich stark von­einander, den größten gemeinsamen Nenner weisen vier Artikel auf, die sich allesamt mit historischen Persönlichkeiten bzw. Persönlichkeitsmythen beschäftigen, die stets in identitären Spannungsfeldern standen. Die mexikanische La Malinche, die deutsche Bettina von Arnim und der polnische Mythos der Matka Polka. Die vierte im Bunde ist Maria Theotokos, Maria die Gottesgebärende, deren bild­licher Inszenierung auf den Grund gegangen wird.

Schnell wird deutlich, dass „Gebären“ von vielen Autor_innen durchaus sehr weit gefasst wurde, nicht immer geht es um das Zur-Welt-Bringen von Kindern, auch die Schöpfung von Ideen und die Produktion nationaler Identität wird behandelt.

Nah am körperlichen Thema sind beis­pielsweise noch die Kulturgeschichte der Gebärmutter und der Beitrag über das Wiener Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch.

Wie es sich für eine linke, sich kritisch-antideutsch verortende Zeitschrift gehört gibt es natürlich auch Texte mit NS-Bezug: Es werden die Geburtenpolitik im Nationalsozialismus – und deren heutige Interpretation behandelt und das Modell der „neuen Frau“ reflektiert, das nach und nach nationalsozialistisch geprägt und schließlich bedeutungslos wurde.

Wesentlich abstrakter kommt z.B. ein Text mit dem Titel „‘Nicht ohne Sträuben.‘ Libido und Fortpflanzungsfunktionen“ daher, der das Problem der Zuweisung von Frauen zur Natur sowie Männer zur Kultur mit Psychoanalyse zu widerlegen versucht, dabei jedoch auf reichlich krude Theorien Freuds zurückgreift.

Das Thema des Hefts erweckt bei manchen Texten den Eindruck eines Alibis, wenn ein Bezug zum Themenkomplex „Gebären“ kaum noch zu erkennen ist und der entsprechende Text an eine Haus- oder Abschlussarbeit erinnert, die sich in die Ausgabe geschlichen hat.

Mitunter liegt die Vermutung nahe, der_die ein_e oder andere Autor_in versuchte durch verklausulierte Formulierungen, übermäßigen Fachwortegebrauch und unzählige Referenzen über inhaltliche Schwächen hinwegzutäuschen bzw. einen besonders kompetenten Eindruck zu erzeugen. Zwar ist Stil Geschmackssache, doch leider besteht bei elitärem Sprachgebrauch die Gefahr, einen Teil der Le­ser_inn­enschaft auszuschließen.

Leichter verdaulich ist die Photostrecke, in der verschiedene Marienbilder – ohne Kind – nachgestellt wurden und auch die liebevollen Illustrationen, die sich quer durch das Heft ziehen, sollen nicht verschwiegen werden. Schade, dass es dieses Mal keinen Comic gibt, dafür liegt der Ausgabe als Geschenk ein Din A3 großer Extrabogen bei, der vom Layout her zur zweiten outside the box passt und zwei Texte beinhaltet.

Genau in der Mitte des Magazins findet sich das Editorial, das mit seiner ungewöhnlichen Lage wohl das queerste Element in dieser Ausgabe ist. Auch wenn sich die Redaktion in Interviews teilweise queer verortete und für eine ganzheitliche Sichtweise auf feministische Themen eintreten möchte, empfinde ich in #3 queere Perspektiven als unterrepräsentiert.

Die einzige Position zu nicht-monogamen Beziehungsformen findet sich im Interviewteil, in einem der „Vätertexte“ wird das Thema queer kurz touchiert.

Nachdem im Jahr 2008 der schwangere Transmann Thomas Beatie die Presse in Aufruhr versetzte und im Erscheinungsjahr der neuen outside das Bundesverfassungsgericht die Zwangssterilisierung von Trans*personen als Voraussetzung für die Personenstandsänderung abschaffte, habe ich beim Thema „Gebären“ mehr erwartet.

Zugegeben, im call for papers, der der dritten outside voraus ging, wurde zumindest die Schwangerschaft von Trans*personen erwähnt – in die Texte hat das Thema jedoch keinen Eingang gefunden. Es gibt auch tatsächlich nur einen einzigen Beitrag (und das Editorial), in dem das Gender_Gap verwendet wird und damit einen Hinweis darauf, dass zumindest in einem Text nicht-binärgeschlechtlichen Identitäten mitgedacht wurden. Explizit genannt werden sie in keinem Beitrag. Wenn von schwangeren Personen die Rede ist, sind allein Cisfrauen (1) gemeint, den väterlichen Part übernehmen stets Männer. Es scheint, als sei die outside the box der Natürlichkeit auf den Leim gegangen, die sie doch mit dieser Ausgabe in Frage stellen wollte.

Alles in allem kann ich die outside the box sehr empfehlen, da sie mit ihrem Mix aus niederschwelligen und schwerer zugänglichen Texten für fast alle Leser_innen interessante Aspekte zu bieten hat. Für 4,50 Euro hat mensch eine Menge Lesestoff (103+2² Seiten) – und wer gar nicht damit warm werden kann hat immer noch ein schickes, frühlingsgrünes Mitbringsel aus Leipzig für die Bekannten im tristen Restdeutschland.

Website mit Bezugsmöglichkeiten: outside.blogsport.de

gundel

(1) „Cis“ ist das Pendant zu „trans*“ und meint Personen, bei denen das nach der Geburt zugewiesene Geschlecht mit dem gelebten und gefühlten Geschlecht übereinstimmt.

Rezension

Kosmoproletarische Solidarität

Weniger wie eine Zeitschrift, sondern vielmehr wie ein kleines Büchlein von 200 Seiten – so kommt der frisch erschienene Kosmoprolet #3 daher. Das lässt viel Inhalt erwarten. Und den bekommt der oder die geneigte Leser_in auch.

2007 erstmals erschienen, sieht sich der Kosmoprolet dem libertären Strang der marxistischen Theoriebildung verpflichtet, steht also in einer groben Traditionslinie von den Rätekommu­nist_innen der 20er Jahre bis hin zum italienischen Operaismus. Das ist nur zu begrüßen. Schließ­lich laufen in diesem Teil des linksradikalen Spektrums derzeit wohl die interessantesten Debatten ab.

Aber genug des höflichen Vorgeplänkels, kommen wir lieber zum Inhalt. Die Ausgabe wird von einem ziemlich langen Editorial eröffnet, dass sich der weltweiten Krise und den Perspektiven widmet, die diese für eine revolutionäre Praxis eröffnet. Das Fazit des Textes bleibt ambivalent, aber alles andere wäre auch naiv oder grob fahrlässig.

Es folgen Texte zum Arabischen Frühling, zur „Agrarfrage“ und zur Kritik der Gewerkschaften. Allesamt informativ, gut und klar geschrieben und solide argumentiert, doch zumindest mir wird hier wenig Neues gesagt. Aber das ist durchaus in Ordnung. Bei der Kritik geht´s schließlich nicht darum, irgendwelche Originalitätspreise zu gewinnen, und solange sich die Verhältnisse nicht grundlegend ändern, kommt man auch bei der Analyse nicht um Wiederholungen herum.

Spezieller ist da schon die Kritik der französischen Gruppe Théorie Commu­niste (TC) an den in Kosmoprolet #1 veröffentlichten „25 Thesen zur Klassengesellschaft“. Dieser Text ist einigermaßen schwierig, in einem dichten Theoriejargon geschrieben, der durch­aus schmissig wirkt, aber inhaltlich einige Fragezeichen hinterlässt.

Ist mensch zunächst noch geneigt, diese Unklarheiten der mangelhaften Übersetzung zuzuschreiben, macht die nachfolgende Gegenkritik die Sache schon beträchtlich klarer. Dort wird zu Recht bemängelt, dass Théorie Commu­niste keinen Begriff von ‚Natur’ hätten, und somit jeden Hinweis auf ‚Naturnotwendigkeiten’ nur als Ausdruck mangelnder Radikalität verstehen könnten. TC könnten ‚Arbeit’ nur als gesellschaftliches Verhältnis denken und verfielen so in den Glauben, dass mit der Arbeit im engeren Sinne (der erzwungenen Verausgabung menschlicher Arbeitskraft) zugleich auch die Arbeit im weiteren Sinne (als menschlicher Stoffwechsel mit der Natur) verschwinden würde. Das aber sei bestenfalls blauäugig, erwidern die Gegen­kriti­ker_innen:

Diese Position ist nur das Spiegelbild der erzbür­ger­lichen Ideologie, aus den unvermeidbaren Unannehmlichkeiten des Lebens die Unvermeidbarkeit von Herrschaft und Zwang abzuleiten. Die frei assoziierten Individuen werden lästige Notwendigkeiten zu regeln habe; wie sie das tun werden, wissen wir auch nicht, sind aber zuversichtlich, dass die Commune nicht an der Frage scheitern wird, wer morgen das Klo putzt.“ Ein schönes Zitat – den Rest möge bitte jede_r selber lesen…

Im nachfolgenden Text „Der Existenzialismus als Zerfallsprodukt revolutionärer Theorie“ kriegt dann das Unsichtbare Komitee und dessen Pamphlet „Der kommende Aufstand“ sein verdientes Fett ab. Wie wenig das Unsichtbare Komitee bei aller verbalen Radikalität in der Lage ist, die Verhältnisse auf den Begriff zu bringen, zeigt beispielhaft das folgende Zitat. So meint das Komitee:

Heute hängt Arbeiten weniger mit der ökonomischen Notwendigkeit, Waren zu produzieren, zusammen, als mit der politischen Notwendigkeit, Produzenten und Verbraucher zu produzieren, die Ordnung der Arbeit mit allen Mitteln zu retten.“ Man habe eben „bis heute keine bessere Disziplinie­rungs­methode als die Lohnarbeit gefunden“.

Die Arbeit dient also nicht der Produktion von Tauschwert, sondern nur der Disziplinierung – es geht nicht um ein Ausbeutungs-, sondern um ein reines Unterdrückungsverhältnis. Damit entfällt auch die Erkenntnis, dass die Lohnabhängigen mit ihrer Arbeit das Verhältnis (re)produzieren, das sie zur Arbeit zwingt – dass es das Produkt ihrer eigenen vergangenen Arbeit ist, das ihnen als ‚Kapital’ vergegenständlicht gegenübertritt. Vielmehr stehen sich in der Sicht des Unsichtbaren Komitees nun zwei voneinander unabhängige Parteien von ‚Unterdrückern’ und ‚Unterdrückten’ gegenüber. Die Revolution lässt sich somit nur noch als quasi-militärische Konfrontation denken, die Perspektive verengt sich „auf ein zukunftsloses Gerangel mit dem Staat und den ihm angeschlossenen Apparaten um die Dominanz auf dem Territorium.“

Der letzte Text, „Proletarische Bewegung und Produktivkraftentwicklung“ von Raasan Samuel Loewe, stammt schon von 1995. Eine genauere Erörterung ist schwierig, dafür taucht der Artikel zu tief in die Feinheiten marxistischer Theoriebildung ein. Der mit dem Neuabdruck verbundene Anspruch, den einmal erreichten Stand der Debatte zu dokumentieren, wird immerhin eingelöst. So kritisiert Loewe zunächst einmal treffend die verkürzte Auffassung der Sozialdemokratie und Bolschewiki, welche die Produktivkräfte platt mit den Produktionsmitteln identifizierten. Dies hatte dann auch gravierende Auswirkungen auf die politische Perspektive: Während Marx die Maschinerie als Mittel kapitalistischer Herrschaft noch durchaus kritisch untersuchte, begriffen die Bolschewiki die Fabriken (ähnlich wie den Staat) nur noch als nützliches Werkzeug, das einfach zu übernehmen und zu nutzen sei.

Aber auch die Gegenposition wird von Loewe ausführlich kritisiert, am Beispiel der ‚Produktivkraftkritiker’ Rainer Tram­pert und Thomas Ebermann (diese waren damals bei der Ökologischen Linken, einem Spaltprodukt der Grünen aktiv und könnten heute noch durch ihre Lesetouren und regelmäßigen Auftritte im Conne Island bekannt sein). Während Ebermann und Trampert den parteimarxistischen Fort­schrittsoptimismus nur mit einer Verteidigung des überkommenen Handwerks-Ethos und der kleinen Warenproduktion zu beantworten wissen, betont Loewe zu Recht, dass a) die vorkapitalistische Gesellschaft auch keine reine Idylle war und b) die Unterwerfung der Arbeitskraft unter die kapitalistische Produktionsweise längst nicht jede Hoffnung auf Revolution zunichte macht.

So weit, so gut – es zeugt immerhin von Courage, dass hier aus einer eher libertären Perspektive gerade der Teil der Marxschen Theorie angegangen wird, der am häufigsten zu objektivistisch-deterministischen (Fehl-)Deutungen den Anlass gegeben hat.

Die Lektüre lohnt sich jedenfalls, bei diesem und den anderen Texten. Schön zu sehen, dass hier noch jemand die Frage nach dem Ganzen und den Möglichkeiten seiner Überwindung stellt und nicht nur Ideologie, äh, Ideologiekritik macht. Neben der Wildcat ist der Kosmoprolet damit sicherlich eine der interessantesten Publikationen im deutschsprachigen Raum. Okay, gleich nach der Wildcat, denn schließlich ist bei dieser die Theorie mit einer langjährigen Praxis der Untersuchung und Intervention verbunden. Da kann der Kosmoprolet nicht ganz mithalten. Ein erster Schritt zur genaueren Untersuchung der heutigen Arbeitsverhältnisse ist immerhin der in dieser Ausgabe enthaltene „Fragebogen zur Leiharbeit“. Und trotz aller Einwände ist der Kosmoprolet ein kleiner und angenehmer Lichtblick in der hiesigen radikalen Linken, die sich in der eigenen Perspektivlosigkeit längst häuslich eingerichtet hat.

justus

www.kosmoprolet.org

Rezension

Wo ist denn nun der Wald?

Als ich meine Arbeit im Schloss verlor, war mir vor allem klar, dass es sich hier nur um neue Möglichkeiten und Wege handelt. Schließlich hatte mich mein persönlicher Weg schon weit gebracht und durch alle Forderungen und Umwege bin ich genau dort gelandet wo ich jetzt bin. Was also könnte daran falsch sein? Als ich ging, weinten aber alle meine Kollegen. Sie verstanden gar nicht weshalb obwohl der König selbst doch immer wieder allen erzählt, dass „jeder hier austauschbar“ sei. Weshalb also Tränen um etwas vergießen was jederzeit ersetzt werden kann? Und inwiefern bin ich eigentlich ersetzbar? Oder ist es nur meine Arbeit die ersetzbar ist? Und was ist mit dem Rest?

Bevor ich hier her kam und das erste und wahrscheinlich einzige Mal in meinem Leben „fest“ arbeitete, hatte ich alles versucht, um mich „frei“ zu machen und einer unangenehmen familiären Abhängigkeit zu entkommen. Deshalb nahm ich jede Arbeit, die ich bekommen konnte, an. Und obwohl ich dabei nur an Arbeit dachte und versuchte mich unsichtbar in der Küche, in der ich zeitweise arbeitete, zu verstecken, rettete mir letztlich nicht nur die Arbeit, sondern die Menschen, die tatsächlich mich dort sahen, eines Tages das Leben.

Also nahm ich die Zeit der Arbeitslosigkeit nach der festen Stelle als Geschenk an und begann mich umzusehen nach den Menschen und den Möglichkeiten. Auf diese Weise stolperte ich eines Tages in meiner Nachbarschaft in einen Ort, der es sich zum Ziel gemacht hat, denjenigen zu dienen, die Hilfe brauchen. Hier gibt es eine Küche die ihnen jeden Tag eine warme Mahlzeit serviert.

Ganz unbedarft meldete ich mich also bei der Leiterin an. Sie lächelt, legt sich ein Blatt Papier zurecht und schreibt sich meinen „Lebenslauf“ auf. Dann schickt sich mich runter in den Essraum mit der offenen Küche. Ein schmuckloser Raum, aber mit einem wunderschönen Klavier. Das ist Annas Reich und eines Tages erfahre ich ihre Geschichte.

Sie hält mir ihren Arm entgegen, schiebt den Ärmel hoch und deutet auf die 4 cm-langen Narben an ihrem Unterarm: Messerstiche. Sie ist dazwischen gegangen „Damit sie sich nicht gegenseitig tot stechen. Damals hatte ich noch keine Angst“.

Anna ist fünfzig, 20 Jahre älter als ich. Sie kann es nicht verstehen wenn Menschen nicht über sich selbst lachen können. Sie ist sehr großzügig, aber nicht maßlos, denn sie versucht fair zu teilen. Ich sage auch nichts als sie der jungen Frau den Nachtisch nicht schenkt. Trotzdem kommt sie zu mir „Normalerweise bin ich ja nicht so, aber sie versucht es jedes Mal, und am Ende ist nichts mehr für die anderen da“. Ich nicke. Ich vertraue ihrer Erfahrung.

„Es ist so still hier. Wollt ihr keine Musik bei der Arbeit hören?“ Frage ich. „Ja, früher hatten wir mal ein Radio, aber die Chefin sagt, dass die GEMA einfach zu teuer ist“. Der Ort bleibt still und wird jeden Tag ein wenig leerer.

Am Mittwoch bin ich alleine mit dem Koch. Anna ist nicht da. Die Stimmung drückt, die Stille erst unerträglich, dann plötzlich unterbrochen von lautem Gelächter „Was ist mit dem Klavier?“ ruft ein Mann mit leichter Fahne.

„Das hat schon seit Jahren keiner gespielt. Versuch es doch!“ ermutigt ihn der Gärtner.

„Oh nein, oh nein, das gibt Ärger“ murmelt der Koch, „Die Chefin hat es verboten.“

„Weshalb?“ frage ich ihn, aber er schüttelt nur den Kopf und beugt sich tief über seine Schüssel.

Und dann schallt die Musik durch den Raum und überflutet die Stimmung mit Fröhlichkeit. Am Ende kommt der Spieler zu mir an den Tresen. Er besingt erst mich, dann den Koch für seine Feigheit. Zum Abschied winkt er mir zu und zwinkert „Wenn ihr hier eine Gitarre rein stellt, komme ich gerne wieder.“ „Das wäre schön. Dann bis bald.“ Und zum Abschied tauschen wir ein Lächeln.

Der Koch beugt sich tiefer über den Topf, schüttelt noch immer mit dem Kopf. Er ist einer der 400-Euro-Jobber der Einrichtung, genau wie Anna. Dann kommt der Gärtner zu mir. Er lacht und freut sich noch immer über die Musik. „Endlich hat sich mal einer getraut.“ Er gibt mir seine Karte, dann können wir gemeinsam etwas pflanzen. Auch er ist ein Ehrenamtlicher. Etwa die Hälfte der Leute die hier arbeiten sind ehrenamtlich tätig, die andere ist geringfügig beschäftigt. Die Chefin ist keines von beidem.

Anna ist seit fünf Jahren als Köchin in der Einrichtung tätig. Jeden Tag könnte der Brief vom Amt kommen und sie weg schicken. „Gestern hat die Chefin mich gefragt was mir helfen könnte mit dem Rauchen aufzuhören.“ erzählt sie mir weiter ihre Geschichte. „Da sagte ich ihr direkt: eine feste Stelle. Ich glaube es gibt Hoffnung.“

Ich nicht. Das sage ich ihr aber nicht, und vielleicht ist das „jugendlicher“ Skeptizismus, aber meine Einschätzung ist anders.

Die Chefin war auch überrascht als Anna ihr darlegte – ganz offen – wie wenig sie tatsächlich im Monat zum Leben braucht. Vielleicht war sie auch einfach überrascht, dass jemand nicht sinnlos versucht noch etwas mehr als nötig für sich selbst raus zu schlagen.

„Ich habe ihr gesagt, was du mir erzählt hast, dass die GEMA für die Hintergrundmusik die wir uns wünschen nur 100 Euro im Jahr kosten würde, aber es geht wirklich nicht. Sie tut schon was sie kann, dreht jeden Pfennig um.“

Jedes Mal wenn wir sprechen, kommen wir auf das Gleiche: Wir möchten nicht mit Politikern darüber reden und dann ist da noch das Geld.

„Früher war ich Mal richtig glücklich, an meiner Tanke“

Bis zum Raubüberfall.

Knarre am Kopf, Knie auf dem Boden, Stirn gegen die Wand.

„An einer anderen Tanke ist die Frau gestorben. Das war sicher keine Absicht, aber sie hat geschrien, ich habe mich solidarisiert.“

„Normalerweise hat mein Chef das Geld abends immer weggebracht. An diesem Abend nicht.“

„Erst habe ich einfach normal weiter gearbeitet. Die Angst kam später“.

„Ich möchte nur so viel, dass ich wieder mehr Achtung vor mir selbst habe. Genug, um nicht ein Bittsteller beim Amt zu sein“, schließt Anna ihre Geschichte.

Sie reicht mir ein Glas Wasser „Ich kann nämlich Gedanken lesen und du hast Durst“. Ich lache: „Das denke ich mir, dass du das kannst.“ Sie packt mir die Reste von Gestern fürs Abend­­essen ein.

Ich hinterlasse ihr meine Nummer. Es macht mir Angst, dass so ein liebevoller Mensch, der sich ohne etwas dafür zu erwarten um mich kümmert als wäre sie meine Mutter, zwei Wochen lang alleine und krank in ihrer Wohnung liegt. Aus der Einrichtung war in dieser Zeit niemand bei ihr.

Unter die Nummer schreibe ich „Jederzeit!“ und sie ist gerührt. Ich finde das eigentlich gar nicht mehr rührend, eher elend, dass sie das für etwas besonderes hält.

In meinem eigenen Leben haben mich Menschen gerettet. Aussätzige, Punker, Verlierer, Versager, Diebe. In meiner Not und in meiner Angst haben sie sich um mich geschlossen wie eine Mauer bis ich wieder sicher war. Ich habe niemals um ihre Hilfe gebeten. Ich war einfach nur zufälligerweise zur richtigen Zeit am richtigen Ort – als Köchin, illegal, großzügig je nach belieben bezahlt mit viel lauter Musik jeden Tag, an einem Ort der Unzuverlässigkeit und des Trotz, geprägt vom Egoismus der Selbstverwirklichung. Aber gesehen haben sie mich irgendwie trotzdem.

„Was sollen wir tun?“ frage ich meinen Freund den Musiker. Er besitzt einen Plattenladen und gab mir die GEMA-Info als ich ihm davon erzählte, dass die schlecht-bezahlten Mitarbeiter der Einrichtung keine Musik mehr hören dürfen wenn sie arbeiten.

Ich lasse meiner Wut freien Lauf.

„Ständig dieses ‘das kann ich nicht, weil…’. Ich kann es nicht mehr hören. Das ist doch totaler Quatsch.“

Er nickt. Er hat den gleichen Traum. Und er versteht es auch nicht.

„Warte noch ein bisschen,“ beschwichtigt er mich. „Vielleicht haben wir bald alle zusammen. Dann schaffen wir hier so einen Ort“.

„Ich finde ja bemerkenswert mit wie wenig Geld ihr jungen Leute heute auskommt“ sagt meine Mutter.

„Am liebsten mit keinem“, sage ich.

Ist das Utopie, Naivität oder letztlich unsere einzige Chance? Was macht denn das Geld? Austauschbar?

Keine Kasse

Kein Geld

Keine Knarre

Keine Angst?

(isobel)

Uebrigens

Mehr Repression wagen!

Konservative und Polizei hatten seit jeher viel gemeinsam – zum Beispiel ihr fest gefügtes Weltbild. Um was für ein Problem es auch gehen mag: Im Zweifelsfall hilft immer Zucht und Ordnung. Oder wenn das nicht hilft, dann eben Ordnung und Zucht. Dieser zwar nicht bewährten, aber immerhin alten Methode entsprach auch der Antrag der CDU, der am 29. Februar 2012 im Leipziger Stadtrat besprochen und dummerweise angenommen wurde. Damit hat jetzt nicht nur die Polizei ein Stimmrecht im Drogenbeirat der Stadt. Auch die Staatsanwaltschaft und das Ordnungsamt bekommen künftig deutlich mehr Einfluss auf die städtische Drogenpolitik.

Aber braucht Polizeipräsident Horst Wawrzynski unbedingt noch mehr Mitspracherecht? Der spricht doch ohnehin schon die ganze Zeit, genau so, wie es seinem fest gefügten Weltbild entspricht. Dann polemisiert er z.B. gegen Präventions-Projekte wie die Drug Scouts, die so frech sind und sich weniger um Wawrzynski und lieber um die Gesundheit der Drogen­benutzer_innen kümmern.

Wobei ein wenig sozialpädagogische Betreuung vielleicht auch dem Horst nicht schlecht täte. Denn etwas zwanghaft wirkt sein Vorgehen schon, stur nach dem Motto: „Man muss nur genug Kanonen auffahren, dann trifft man irgendwann auch einen Spatzen.“ So wurde vom 21. zum 22. Februar wieder eine der beliebten Komplexkontrollen durchgeführt. Acht Stunden dauerte der Einsatz und war glatt ein bisschen erfolgreich: Sogar Cannabis wurde gefunden. Im Zweifelsfall hilft eben immer Zucht und Ordnung. Oder wenn das nicht hilft, dann eben Ordnung und Zucht!

justus

Kommentar

Schillernd verdunkeln

Neofolk, Neonazis, Medien und Experten

„Als Nazi versteht hier sich keiner an diesem Abend“. So begann der Bericht der Leipziger Internet-Zeitung (L-IZ) über das Konzert der amerikanischen Neofolk/Industrial-Band Blood Axis, das am 20. August 2011 in der Theaterfabrik stattfand (1). Eine Veranstaltung, die schon im Vorfeld für Kontroversen sorgte. Schließ­lich gelten Blood Axis nicht ohne Grund als Neonazi-Band. Wer sich z.B. stilecht schwarz-weiß-rot gestaltete Kruckenkreuze (das Symbol der österreichischen Faschisten) aufs Plattencover packt, braucht sich über Kritik nicht wundern.

Ebenfalls auf der Bühne der Theaterfabrik stand am 20. August der britische Musiker Andrew King. King hatte vormals bei Sol Invictus gespielt, musste die Band aber verlassen, nachdem er für rassistische Äußerungen in einem Interview öffentlich in die Kritik geraten war (2).

Auch der Merseburger Uwe Nolte trat im Vorprogramm auf, ein Musiker, der allem Anschein nach gute Kontakte zur Hallenser Neonazi-Szene pflegt (3). Aber so genau wollte es der L-IZ-Reporter vermutlich gar nicht wissen.

Neovölkische Realitätsverluste

Nicht so genau wissen wollte es auch der Leipziger Kulturwissenschaftler Alexander Nym (u.a. Autor des Buches „Schillerndes Dunkel – Geschichte, Entwicklung und Themen der Gothic-Szene“), der in mehreren Artikeln für die L-IZ den Experten vom Dienst machte.

So erklärte Nym, die Vorwürfe gegen Michael Moynihan, den Frontmann von Blood Axis, seien zwar irgendwie gerechtfertigt. Es sei aber so, „dass der Mann solche Aktionen zusammen mit Boyd Rice als agents provocateurs unternommen hat“, wobei er leider nur ein wenig die „Ironie vermissen ließ“ (4).

Stimmt. So veröffentlichte Michael Moynihan in seinem Verlag z.B. 1992 die gesammelten Werke des US-amerikani­schen Neonazis James Mason – eine Aktion, die wirklich jede Ironie vermissen lässt. Wie der Mangel an Ironie sich bei Moynihans langjährigem Koopera­tions­partner, dem Sozialdarwinisten und Industrial-Musiker Boyd Rice, äußert, werden wir gleich sehen (5). [zu Moynihan und Rice siehe unten, Exkurs 1]

Bleiben wir vorher noch ein wenig bei Alexander Nym. Dieser meint, erst in den Neunzigern, und gerade wegen der antifaschistischen Kritik seien „echte Rechte in die Post-Industrial-Szene reingekommen, zum Großteil aus dem NSBM [National Socialist Black Metal], die von Industrial Culture und deren Schocktradition keine Ahnung hatten und tatsächlich glaubten, Neofolk und Death In June etc. sei ‚racially conscious music’. Die Kritiker haben nichts begriffen, aber die Szene unangenehmer gemacht, die Anfang der Neunziger dezidiert antifaschistisch eingestellt war, aber ihre Faszination und das historische wie ästhetische Interesse am Dritten Reich nicht verleugnet hat.“ (6)

Es gilt also: Lieber nicht kritisieren – sonst kommen die Nazis! Was das Neofolk-Publikum angeht, so sei es dahingestellt, inwiefern dieses Anfang der Neunziger dezidiert antifaschistisch eingestellt war. Was die Haltung der prägenden Bands und Künstler betrifft, war diese jedenfalls keineswegs antifaschistisch, von ‚dezidiert’ ganz zu schweigen. An diesem Punkt zeigt Nym ein Maß von Realitätsverleugnung, dass man bei einem Experten eigentlich nicht erwarten sollte.

Bleiben wir nur mal beim Stichwort der ‚racially conscious music’: Schließlich äußerte sich der bereits erwähnte Boyd Rice schon Mitte der 80er Jahre sehr ausführlich zum ‚Rassenbewusstsein’ der Neofolk-Szene – in einem von etwa 1986 stammenden TV-Interview mit dem US-amerikani­schen Neonazi Tom Metzger.

Auf die Bitte Metzgers, doch ein paar „rassenbewusste Sänger oder Bands in Europa oder Großbritannien“ zu nennen, antwortete Rice: „Es gibt zum Beispiel einen Typen namens David Tibet. Er hat eine Band namens Current 93, die sich mehr und und mehr in eine rassenbewusste Richtung bewegt. Und er ist befreundet mit ein paar Leuten, die sich Death In June nennen, die sehr rassisch orientiert sind. Und es gibt eine andere Band, Above The Ruins, mit einem Typen, der auch bei Skrewdriver spielt.” [siehe unten, Exkurs 2]

Es folgte ein etwas wirrer Exkurs zum Thema Industrial-Musik: Diese sei (so Rice) wirklich „weiße” Musik, im Gegensatz zu einem Großteil der populären Musik, die viele Einflüsse von den Schwarzen übernommen hätte.

Metzger: „In dem Sinne, dass moderne Musik im Großen und Ganzen ein Propa­gan­da­instrument jüdischer Interessen, der Schwarzen usw. ist, während wir jetzt eine Form von Propagandakunst für die weißen Arier entstehen sehen?“

Rice: „Ja, ja, das denke ich auch.“

(Mit den Suchbegriffen ‚Boyd Rice’ und ‚Tom Metzger’ lässt sich dieses Interview übrigens problemlos bei Youtube finden – für eventuelle Übelkeit übernimmt die Redaktion keine Haftung.)

Sieht so aus, als müsste Alexander Nyms Neofolk-Geschichtsschreibung drastisch revidiert werden. Der angebliche agent provocateur Boyd Rice war schon 1986 ein lupenreiner Neonazi und Rassist. Irgendein Hintersinn von ‚Provokation’ oder ‚satanisch-nietzscheanischer Amoralität’ lässt sich seinem stumpfen Geblubber beim besten Willen nicht unterschieben. Und gerade Rice bemühte sich offenbar eifrig, Neofolk als ‘racially conscious music’ darzustellen – wogegen der „Experte“ Alexan­der Nym heute lieber antifaschistischen Initiativen die Schuld zuschieben will.

Und was die angebliche Unterwanderung durch ‚echte Rechte’ angeht: Richtig ist daran nur, dass es ab Mitte der Neunziger eine Annäherung von Neofolk- und NS-Black-Metal-Szene gab.

Es ist allerdings schon ein wenig dreist, auf diese Weise ausgerechnet Michael Moynihan rechtfertigen zu wollen. Eben jener hatte schließlich großen Anteil an dieser Annäherung und bemühte sich z.B. mit seinem Label Storm Records eifrig, der NSBM-Szene bessere Vertriebsmög­lichkeiten zu eröffnen.

Hoppla! Neonazis!

Wir lernen: Alexander Nym ist eben kein Experte, sondern leider nur ein Insider, was in dem Fall ein riesiger Unterschied ist – in der Neofolk-Szene kann man sich eben nicht unbedingt darauf verlassen, was ein Musiker einem erzählt.

Gerade wegen Nyms Insider-Status lohnt es sich allerdings, genauer hinzuhören, was er sagt. Und schließlich ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Denn nachdem er im Fall von Blood Axis noch eifrig bemüht war, jedes Problem zu leugnen, zeigte sich Nym plötzlich umso betroffener von den „offen aggressiven Verhaltensweisen, die bei der neujährlichen ‚Neofolk-Rauhnacht’ in der Leipziger Theaterfabrik gezeigt wurden“. [zur ‚Neofolk-Rauhnacht‘ siehe unten, Exkurs 3]

Zu diesen Verhaltensweisen zählt Nym z.B. das „wiederholte Zeigen des Hitlergrußes während des Auftritts von Triarii“. (Genau gesagt machte ein Musiker auf der Bühne den ‚römischen Gruß’, aus dem Publikum wurde mit Hitlergrüßen geantwortet.) Desweiteren pöbelten „österrei­chische ‚pan-germanische’ Schlägertypen einen Konzert­gänger an, weil dieser kein Deutsch sprach (nicht der einzige Zwischenfall dieser Art). Andere brachten Trinksprüche für ein ‚judenfreies neues Jahr’ aus, ohne das kleinste Anzeichen von Selbstironie, politischer Satire oder schwarzem Humor (nicht, dass irgend­was davon etwas so Geschmackloses rechtfertigen würde).“

Die Zitate stammen aus einem englisch­sprachigen Text, den Nym Mitte Februar unter dem pathetischen Titel „Ruf zu den Waf­fen“ auf der Website des Industrial Culture Research Net (7) veröffentlichte. Die Neofolk-Szene, so der Tenor, drohe von Neonazis unterwandert zu werden. Da müsse man jetzt aber doch mal was tun.

Denn eigentlich hatte die Szene mit Nazis nie was am Hut, die ganze Nazisymbolik sei immer nur Provokation gewesen, und überhaupt seien die Neofolker, so Nym, seiner langjährigen Szene-Erfahrung nach „eher gefühlsbetont, verletzt, unkonventionell, die Ausgestoßenen und Verbannten, insgesamt intelligenter und emotionaler als das übliche testosterongeladene Rockpublikum.“ Zumindest, wenn man die bösen NS-Black-Metaller vergisst, die die Szene unterwandert haben…

Wenn jedoch Zwischenfälle wie bei der „Neofolk-Rauhnacht“ zur Norm würden, so Nym, würde es der „eher gesittete, freundlich gesinnte Neofolker (der sehr oft über hohe Bildung und ein überdurchschnittliches Einkommen verfügt) vielleicht eher ver­meiden, in potentiell gefährliche Situationen zu geraten. Er würde nicht hunderte Ki­lometer reisen und die Hotelkosten zahlen, um obskure Bands zu sehen und Gleich­ge­sinnte zu treffen, um dann dafür angegriffen zu werden, dass er ‚nicht Nazi genug’ sei.“

Man merkt, hier spricht ein Snob. Statt politische Überzeugungen zu kritisieren, stößt Nym sich nur an schlechten Umgangsformen und schlechtem Geschmack. Oder um es mal polemisch zu verkürzen: Gegen Nazis hat er gar nichts einzuwenden – er hat nur was gegen Naziproleten. Wer über Abitur und gutes Einkommen verfügt, muss jedenfalls nicht befürchten, von Nym als Neonazi oder Rassist erkannt oder gar kritisiert zu werden.

Schließlich gedeihen seiner Meinung nach „Rassismus, Bigotterie und Ignoranz vor allem unter einfachen Gemütern, den Ungebildeten und sozial Benachteiligten“. Also vor allem unter den arbeitslosen Bewohnern ostdeutscher Plattenbausiedlungen. Als Rassismusexperte bewegt Nym sich damit locker auf dem Niveau der Bild-Zeitung von ungefähr 1992.

Mehr Widersprüche!

Freilich ist nicht alles falsch, was er sagt. So betont Nym zu Recht, dass die Szene seit langem stagniert, sowohl was ihre Größe, als auch was ihre Inhalte betrifft: „Philosophisch beschränkt sich der Referenzrahmen des Genres zunehmend auf einen ‚provokanten’ Kanon von Figuren der konservativen Revolution, des 2. Weltkriegs und der Neuen Rechten […] Ästhetisch gesehen war der Zug schon abgefahren, als der Begriff ‚Neofolk’ geprägt wurde. Neue Impulse sind nicht zu erkennen.“

Bahnbrechend avantgardistische Werke sollte mensch von der selbsternannten ‚konservativen Avantgarde’ eben nicht erwarten. Und was die Provokation angeht, ist die Neofolk-Szene mittlerweile unge­fähr so provokant wie eine Schnabeltasse – vor allem an­gesichts eines Publikums, dass exakt so eine ‚Provokation’ erwartet.

Folgerichtig beklagt auch Nym die lähmende Langeweile, die nicht nur ihn während des Triarii-Konzerts ergriff: „Was die Band vor einem Publikum spielen ließ, dass sich nicht im Geringsten provoziert fühlte, noch irgend etwas von den angeblichen Widersprüchen bemerkte, auf welche die Neofolk-Szene so stolz ist. Vielleicht, weil es keine solchen Widersprüche gab? Während die Musiker dafür bekannt sind, Sympathien für die Nazi-Diktatur zu hegen, bot ihre Performance keine ästhetischen Brüche oder Denkanstöße, um jene zu verstören oder zu verwirren, die vor der hohlen Simulation monumentaler Heldenhaftigkeit in platter Bewunderung versanken.“

Tja, so was kommt von so was. Wer mit dem Dritten Reich sympathisiert, der will mit der Verwendung von Nazi-Symbolik nun mal keine Verstörung, sondern Zustimmung erreichen, zielt also nicht auf Provokation, sondern auf Propaganda ab. Dass das Ergebnis dann furchtbar eindimensional ist, versteht sich von selbst – um genau diese eine Dimension geht´s bei Propaganda ja gerade. Es wäre witzlos, ihr das vorzuwerfen.

Genau das tut Nym aber, der mit Blick auf Triarii klagt: „Es wäre viel interessanter (und lustiger) gewesen, wenn sie sich selbst nicht als platt affirmative, sondern widersprüchliche Künstler präsentiert hätten, nicht als reine Verkörperungen ihrer Lieblings-Ästhetik, und dem Publikum etwas zum Nachdenken gegeben hätten, statt eine muffige Feier [des Dritten Reichs].“

Klar. Wenn Landser keine Nazi-Band wären, dann würden sie auch bessere Texte schreiben… Aber weil Nym eben glaubt, es ginge im Neofolk irgend­wie um Provokation und Denkanstöße, unterstellt er der Band, sie würde es eigentlich nicht so meinen, sie könnte und wollte doch eigentlich intelligente, herausfordernde Kunst machen, die über blanke Affirmation hinausreicht. Es braucht vermutlich langjährige Szene-Erfahrung, um das für logisch zu halten…

So ist es auch gut gemeint, aber wenig aussichtsreich, wenn Nym dazu aufruft, doch zum eigentlichen Gehalt der Sache, zur Provokation zurückzukehren, und rhetorisch fragt: „Wie würdest du reagieren, wenn beim nächsten Neofolk/Martial-Industrial-Gig jemand in deiner Nähe den römischen Gruß machen oder auf der Bühne Sieg Heil! rufen würde? Richtig, du würdest dich nicht drum kümmern. Vielleicht würdest du mit den Schultern zucken bei solch einem deplatzierten Zeichen des Mangels an eigenständigem Denken. Aber du würdest dich wohl nicht trauen, dem entgegenzutreten“…

Wir erinnern uns: Einige Zeilen weiter oben wurde noch gewarnt, Hitlergrüße und ähnliche „Geschmacklosigkeiten“ könnten von der Ausnahme zur Norm werden – jetzt sagt Nym, dass Hitlergrüße bei Neofolk-Konzerten ganz alltäglich sind. Aber natürlich ist auch das Hit­lergrüßen eigentlich nicht so gemeint, nur Ausdruck eines „Mangels an eigenständigem Denken“ und nicht etwa von politischer Überzeugung. Weil die geäußerten Gedanken so furchtbar doof sind, können es eben nicht die eigenen Gedanken der Leute sein.

Na gut, auch Nym hat es eigentlich nicht so gemeint: ‚Mangel an eigenständigem Denken’, das ist so ähnlich wie ‚geschmacklos’, nur eine Phrase. Das sagt man eben so, wenn man politische Einstellungen kritisieren will, ohne inhaltlich darauf einzugehen. Mit Inhalten will Alexander Nym sich nicht beschäftigen, folglich muss er das Problem als reine Formfrage behandeln. Im Gegensatz zu den sonstigen Gepflogenheiten der Szene haben die bei der ‚Neofolk-Rauhnacht’ anwesenden Neonazis eine eindeutige Aussage gemacht – diese ‚Geschmacklosigkeit’ ist das einzige, was Nym ihnen vorzuwerfen weiß.

justus

(1) www.l-iz.de/Kultur/Musik/2011/08/Neofolk-in-der-Theaterfabrik-Barditus-Andrew-King-Blood-Axis.html
(2) So klagte King, der Westen habe seine „kulturelle und moralische Überlegenheit“ verloren, und sprach von einem „Rassengedächtnis“, an das er mit seiner Musik appelliere. Mehr dazu unter www.whomakesthenazis.com/2011/06/andrew-king-and-traditionalism.html
(3) siehe newdawnfades.blogsport.de/2008/04/03/rechte-neofolk-konzerte-in-halle/
(4) www.l-iz.de/Kultur/Musik/2011/06/Theaterfabrik-Leipzig-Neofolk-Band-Blood-Axis.html
(5) Moynihan, Rice und Mason traten Anfang der 90er auch gemeinsam in der Show des TV-Predigers Bob Larson auf. Eine Audiodatei davon ist auf der Website von Boyd Rice leicht zu finden.
(6) www.l-iz.de/Kultur/Musik/2011/06/Blood-Axis-in-der-Theaterfabrik-Extremismusstelle-Veranstalter-Stimmen.html
(7) siehe icrn.blogspot.com/2012/02/alexander-nym-call-to-arms.html

Exkurs 1: Boyd Rice & Michael Moynihan

Der Industrial-Musiker Boyd Rice hat durch sein seit 1975 bestehendes Projekt NON einen gewissen Kultstatus in der Szene. Rice ist Mitglied der Church Of Satan. 1984 gründete er die Abraxas Foundation, einen ‚satanistisch-faschistischen think tank’, dem auch Michael Moynihan 1989 beitrat. Im selben Jahr ging Moynihan mit Rice auf Japantournee, und arbeitete auch in der Folge eng mit diesem zusammen. Eine Zeitlang teilten sich die beiden sogar ein Appartement *.

Anfänglich eher dem Satanismus und Nazi-Okkultismus zugeneigt, wandte Moynihan sich später dem Heidentum zu. In politischer Hinsicht vertritt er mittler­weile einen völkischen Regionalismus, eine Ordnung von „kleinen, homogenen Stammesgesellschaften“ jenseits des Nationalstaats**.

Mit der NSDAP hat das nur bedingt etwas zu tun, vielmehr bewegt Moynihan sich damit voll im Mainstream der US-amerikanischen Rechten. Diese hegt seit jeher großes Misstrauen gegenüber der Washingtoner Zentralregierung, die verdächtigt wird, sich mit fremden Mächten gegen das eigene Volk verbündet zu haben – die ‚ZOG’, die ‚zionist occupation government’ ist ein fester Begriff in der amerikanischen Rechten. So ist der wichtigste Bezugspunkt für die rechten Militias auch nicht der Nationalstaat, sondern vielmehr die eigene Scholle, die man notfalls auch mit der Knarre verteidigen will.

* siehe oraclesyndicate.twoday.net/stories/605560/
** www.radicaltraditionalist.com/tyr.htm

Exkurs 2: Death In June, Current 93, Above The Ruins…

Die Band Death In June wurde 1981 von Douglas Pearce und Tony Wakeford gegründet. Diese beiden waren zuvor in trotzkistischen Gruppen aktiv gewesen, begannen aber nun, sich für den ‚national-bolschewistischen’ Flügel der NSDAP zu interessieren. 1982* trat Tony Wakeford der National Front bei. Nachdem dies 1984 publik wurde, stieg Wakeford bei Death In June aus und gründete noch im selben Jahr die Band Above The Ruins.

Ein Mitglied dieser Band war Gareth Smith, zeitgleich in den Neonazi-Organisationen Blood & Honour bzw. Combat 18 aktiv. Parallel zu Above The Ruins spielte Smith bei der Naziskin-Band No Remorse (nicht bei Skrewdriver). Smith war auch noch dabei, als Above The Ruins sich 1987 in Sol Invictus umbenannten.

Ein weiteres Mitglied von Above The Ruins/Sol Invictus war Ian Read. Read spielte parallel auch bei Current 93 und Death In June mit. Um 1990 herum leitete er den Wachschutz bei diversen Neonazi-Kongressen**.

Etwa 1988 trat Tony Wakeford bei der National Front aus . Smith und Read mussten Sol Invictus verlassen. Wakeford, pflegte aber noch lange nachher Kontakte, etwa zum NF-Aktivisten Richard Lawson. Dieser machte z.B. bei Wakefords Hochzeit 1998 den Trauzeugen.

David Tibet gründete 1983 Current 93. Ab 1985 wirkte er bei Death In June mit, später auch bei Sol Invictus. Eine Zeitlang wohnte er auch mit Ian Read und Douglas Pearce zu­­sammen, 1988 teilte er sich eine Wohnung mit Tony Wakeford, der zu der Zeit bei Current 93 den Bass übernahm***. Trotz dessen hat Tibet sich später vehement und durchaus glaubwürdig von Fa­­schismus und Rassismus distanziert.

* www.whomakesthenazis.com/2010/09/tony-wakeford-on-manoeuvres.html
**siehe www.stewarthomesociety.org/wakeford.html bzw. FA! #33
***siehe www.stewarthomesociety.org/wakeford2.htm

Exkurs 3: Neofolk-Rauhnacht

Bei diesem Neujahrskonzert traten rechtsoffene Bands wie Dernière Volonté und Triarii auf. Organisiert wurde das Konzert von der Equinoxe Organization*, einer Veranstaltungsgruppe, die nicht nur politisch unbedenklichen Bands (etwa Brighter Death Now und Gerechtigkeits Liga im November 2011) ein Forum bietet, sondern auch zwielichtigen bis neonazistischen wie Death In June oder Der Blutharsch.

Neofolk-Silvesterpartys wie die ‚Rauh­nacht’ haben in Leipzig schon eine gewisse Tradition. Ähnliche Veranstaltungen wurden vom rechten Label Eis & Licht über mehrere Jahre im Leipziger Hellraiser-Club organisiert. Als unange­kün­digter „Special Act“ traten dort auch Von Thronstahl auf – eine Band, deren Frontmann Josef Klumb u.a. durch seinen Hang zu antisemitischen Verschwö­rungstheorien und seine Kontakte zu organisierten Neonazis bekannt ist (s. FA! #34).

*siehe dazu auch www.conne-island.de/nf/182/21.html

Lokales

Bundeswehr rüstet auf und ab

Schießanlage im Zeitzer Forst geplant

Zwischen Thüringen und Sachsen-Anhalt, nahe Zeitz müssen bald ca. 7000 qm Wald einer neuen Schießanlage weichen. Satte 10 Millionen Euro lässt das Bundesverteidigungsministerium springen, um künftigen Soldat_innen in Auslandseinsätzen das scharfe Schießen unter mög­lichst geringer Wegezeit beizubringen. Die Bürgerinitiative „Kein Schuss im Zeitzer Forst“ macht dagegen mittels Unterschriftensammlung und geplantem Ostermarsch (9.4.2012) mobil. Sie bringen dabei den ganzen Zeitzer Forst als Natur- und Naherholungsgebiet in Stellung – obgleich große Teile unbegehbar sind, weil sie entweder schon von der Bundeswehr für die Übungen genutzt werden oder noch durch die ehemalige Nutzung der Sowjetsoldaten „munitionsbelastet“ sind.

Die geplanten Investitionen in Waffentechnik in Zeitz sind übrigens nur ein Bruchteil von den 1,3 Milliarden Euro, die der Verteidigungsminister Thomas de Maizière ausgeben wird, um künftig effizienter und stärker in Auslandseinsätzen agieren zu können. Die infrastrukturelle und technische Ausstattung der Bundes­wehr­standorte ist Teil einer sog. „qualitativen Aufrüstung“ der Bundeswehr (siehe FA!#40). Und sie ist die Kehrseite einer vermeintlichen Abrüstung, wie sie auch im Oktober letzten Jahres mit der Bekanntgabe der Standortschließungen suggeriert wurde. Denn von 400 Standorten werden tatsächlich 136 geschlossen und die Anzahl der Dienstposten soll von 281 500 auf 197 500 sinken. Ein Großteil dessen wird im Norden Deutschlands und in NRW abgezogen.

Die General-Olbricht-Kaserne in Leipzig bleibt uns indes leider auch in Zukunft erhalten – dafür ist ihre geografische Lage nahe dem Militärflughafen (Nato-Drehkreuz) Halle-Leipzig nur zu günstig. Allerdings soll dort die 13. Panzergrenadierdivision aufgelöst werden – das Hauptquartier quasi, das über eine ca. 11.000 Menschen umfassende Truppe sog. Stabilisierungskräfte verfügt hat, die bspw. in Afghanistan eingesetzt werden. Aber da auch hier Ab- und Aufrüstung zwei Seiten der Medaille sind, wird aus der Dienststelle eben auch gleich eine neue gebildet: das Ausbildungskommando für das Heer.

Ja, in der Bundeswehrwelt bewegt sich was – verbessern tut sich jedoch nichts. Da lohnt es sich doch mehr mit dem Ostermarsch am 7. April gegen Kriegseinsätze auf und ab zu radeln – und zwar vom Leipziger Bahnhof ab 12 Uhr über die Olbricht-Kaserne zum Nato-Flughafen.

momo