Archiv der Kategorie: Feierabend! #44

Kommt Zeit, kommt Arbeit

Leiharbeit bei BMW Leipzig

Wo wäre Deutschland bloß ohne seine Leiharbeiter_innen? 75% der Arbeitsverträge, die im letzten Jahr abgeschlossen wurden, betrafen sog. „atypische Arbeitsverhältnisse“. Rund ein Viertel aller Beschäftigten werkelt heute im Niedriglohnsektor vor sich hin. Deutschland zeigt, wie man es machen muss: Wenn die Löhne nur tief genug sind, dann klappt´s auch mit der Konjunktur.

Was im Großmaßstab recht ist, ist im Kleinen nur billig: Auch bei BMW Leipzig spielen die Leiharbeiter_innen eine wichtige Rolle. Seit Eröffnung des Werkes im Jahr 2005 ist ein knappes Drittel der dortigen Belegschaft in Zeitarbeit tätig – derzeit 1100 von gesamt 3800 Angestellten, in allen Bereichen der Produktion von der Fließbandarbeiterin bis zum Ingenieur. Die Verträge sind jeweils auf ein Jahr befristet und werden nach Bedarf verlängert.

Im Dezember 2011 verweigerte der Betriebsrat aller­dings seine Zustimmung, als die Geschäftsleitung 33 neue Zeitar­bei­ter_innen anheuern wollte. Die Zeitarbeit müsste endlich reduziert werden, fand der Betriebsrat, die Leute bräuchten feste Verträge. Die BMW-Geschäftsleitung klagte daraufhin beim Leipziger Arbeitsgericht, um ihren Willen auf diesem Wege durchzusetzen.

Am 15. Februar 2012 hat das Gericht nun in einem ersten Verfahren der Geschäftsleitung recht gegeben: Der Betriebsrat sei nicht befugt, auf diese Weise gegen die Besetzung von Stellen mit Leiharbeitern vorzugehen.

In einer anderen, für den Betriebsrat entscheidenden Frage erklärte sich das Gericht schlicht für nicht zuständig: Das Verfahren sei nicht geeignet, um zu klären, wie lange jemand legitimerweise in Zeitarbeit beschäftigt werden dürfe. Im §1 des Ende 2011 novellierten Gesetzes zur Arbeit­nehmerüberlassung wird Leiharbeit als „vorübergehende Beschäftigung“ definiert – die genaue Bedeutung des Wortes „vorübergehend“ bleibt dabei allerdings unklar.

So sind manche BMW-Beschäftige schon seit acht Jahren in Leiharbeit tätig. Der Betriebsrat konnte zwar durchsetzen, dass die Leiharbeiter_innen mittlerweile den gleichen Lohn wie die Festangestellten erhalten – allerdings abzüglich der weiteren Zuschläge wie z.B. Weihnachtsgeld. Auch vor möglichen Entlassungen sind sie deutlich schlechter geschützt.

Von gewerkschaftlicher Seite wird aber auch die Ausglie­de­rung bestimmter Teilaufgaben in Logistik- und Zulieferfirmen kritisiert. Bei diesen Firmen arbeiten in Leipzig etwa 2000 Menschen, wovon die Festangestellten meist deutlich schlechter bezahlt werden als die direkt bei BMW Beschäftigten. Und auch diese Zulieferfirmen beschäftigen Leiharbeiter_innen, die wiederum schlechter bezahlt werden als die Festangestellten.

justus

Lokales

Rote Beete? – Selbstorganisiertes Gemüse in Leipzig…

Eine andere Landwirtschaft ist möglich!

Ernährung ist ein riesiges und komplexes Thema. Darüber was gesund ist, gibt es viele Mythen, Überzeugungen und Grabenkämpfe. Bezieht mensch dazu noch die Produktionsbedingungen, die sozialen und ökologischen Auswirkungen des Anbaus mit ein, so bleibt auch das etablierte „Bio-Siegel“ kein fester Anhaltspunkt. Immer mehr Firmen geben sich zwar „grün“, sind es aber deswegen noch lange nicht. Durch Monokulturen, Dumping-Löhne und den erdölverschlingenden Transport- und Verpackungswahn unterscheidet sich die Bio-Produktion teilweise von der konventionellen immer weniger, gerade bei den Discountern. Vollends verwirrend wird es, wenn Bio-Äpfel aus Südamerika von „Experten“ eine bessere CO-2 Bilanz bescheinigt bekommen als die Äpfel vom Kleinbetrieb in der Region (1) und Tomaten, Erdbeeren und Co. das ganze Jahr über als “Bio” in den Läden stehen.

Auf der anderen Seite ist es für die produzierenden Landwirte quasi unmöglich unter den Marktzwängen ein gutes Produkt herzustellen, in bäuerlicher Landwirtschaft, die keinen Raubbau am Boden betreibt, sondern die Natur- und Kulturlandschaft pflegt. Meist bleibt nur die Wahl entweder die Natur oder sich selbst auszubeuten. Ihre Existenz bleibt im Kapitalismus jedenfalls immer abhängig von Subventionen und den (Welt-) Marktpreisen.

Ein anderer Anbau ist möglich

Um sich sicher zu sein, wie das Gemüse produziert wurde und woher es kommt, gibt es nicht nur den individualistischen Weg des eigenen Anbaus. Sich teilweise selbst zu versorgen, verspricht Muße, gesundes Gemüse und einen Schritt zu mehr Unabhängigkeit. Da dies aber im Alleingang für viele weder sinnvoll noch machbar ist, wollen wir es gemeinsam versuchen. Dadurch wird nicht nur der Grad der Versorgung gesteigert, sondern es kann auch eine kollektive Selbstorganisation gelebt werden. Das ist unsere Idee der „solidarischen Landwirtschaft“, die wir auf 5 Hektar Land in Sehlis (bei Taucha) umsetzen wollen. Wir leben teilweise in einer Kommune vor Ort, teilweise in der Stadt und suchen nun Menschen die mit uns eine Gemüsekooperative beginnen möchten. In Deutschland bestehen bereits 23 Höfe, die sich zu mehr als 50% über die solidarische Produktion finanzieren (2) und in Japan, wo das Prinzip in den 60er Jahren entstanden ist, sind etwa ein Viertel der Haushalte an einem solchen Projekt beteiligt (3).

Um den anonymen Markt zu umgehen, organisieren sich GärtnerInnen und „VerbraucherInnen“ gemeinsam und entscheiden so ohne Konkurrenzdruck über Aspekte, die ansonsten fast unmöglich sind. Zum Beispiel die Entscheidung samenfeste Sorten zu verwenden, um von großen Saatgutfirmen und biotechno­logisch hergestellten Hybridsaatgut unabhängig zu werden und ein Sortenspektrum zu erhalten, dass an die Bedingungen vor Ort angepasst ist (4). Ein weiteres Anliegen ist es uns, die Bodenfruchtbarkeit durch Gründüngung, Kompostwirtschaft und Zwischenfrüchte gezielt zu fördern. Damit ist der Anbau kein Raubbau am Boden, sondern unterstützt das Bodenleben und den Humusaufbau.

Sich gemeinsam selbst organisieren

Der Schritt Richtung Ernährungssouverä­nität und nicht-entfremdeter Produktion verlangt natürlich eigene Mitarbeit, Zeit und Willen zur Selbstorganisation – Gemüseanbau ist eine langfristige Angelegenheit. Das Ziel ist es, den kompletten Gemüse-Bedarf der Mitglieder abzudecken. Im ersten Jahr wird die Ernte allerdings erst im September beginnen und deswegen vor allem aus Wintergemüse bestehen (für einen genaueren Überblick siehe Kasten). Die Abneh­merInnen verpflichten sich jeweils für eine ganze Saison. Denn nur so kann die nötige Pla­nungs­sicherheit erreicht werden, kann überhaupt bestimmt werden wie viel angebaut wird. Sich zu verpflichten muss nicht heißen das Gemüse das ganze Jahr auch selbst zu essen, sondern Verantwortung für die Abnahme und den Mitgliedsbeitrag zu übernehmen. Das kann beinhalten, eine Ersatz-Person zu finden oder im Falle einer WG, die neuen Bewohner­Innen an dem Projekt teilnehmen zu lassen. Gemeinsam anzubauen heißt auch wirklich auf dem Feld mitzuarbeiten, oder eine der anderen Aufgaben zu übernehmen, die in der Kooperative anfallen. Drei Tage im Jahr soll jedes Mitglied beim Anbau helfen, schließlich geht es nicht um eine Dienstleistung. Die Mitarbeit schafft nicht nur den direkten Kontakt zum eigenen Gemüse, sie ist auch ganz einfach nötig, um die Kosten zu senken. Außerdem wird auch alles gewachsene Gemüse konsumiert, sei es nun die zweibeinige Möhre oder auch mal ein etwas geplatztes Kohlrabi. Ohne Erfahrung in der Landwirtschaft ist es schwer vorstellbar, wie viel Gemüse aussortiert wird und dann verrottet – sei es durch zu kleines Wachstum, „unschöne“ Optik, oder einfach mangelnde „Nachfrage“.

Vom Hof in Sehlis wird das Gemüse einmal die Woche in die Verteilstationen gebracht, die von den abholenden Personen vor Ort organisiert werden. Im Sommer wird klar werden wie groß der Bedarf in den einzelnen Stadtvierteln ist, und falls ihr über Räume verfügt die dafür geeignet wären, freuen wir uns über eine Nachricht (5). Die Ausgestaltung der Verteilung liegt natürlich bei den Mitgliedern, doch wollen wir der „Verteilung mit der Feinwaage“ eine bedürfnisorientierte und rücksichtsvolle Verteilung entgegenstellen. Niemand soll Gemüse nehmen müssen, dass er/sie nicht mag und begehrte Produkte sollen rücksichtsvoll geteilt werden.

Geld und Politik

Trotz all dieser Vorteile kostet das Ganze natürlich Geld. Nicht nur brauchen die GärtnerInnen Geld für ihr Leben, auch die Maschinen und der Boden wollen finanziert werden. In der Zukunft ist es das Ziel, die Produktionsmittel vom Besitz der Kooperative zu entkoppeln und sie in eine Stiftung zu überführen, um sie unwiderruflich zu entprivatisieren. Um den Zugang zur Kooperative trotzdem nicht vom Geldbeutel abhängig zu machen, ist der Umgang mit Geld für uns ein zentraler Aspekt der Projekt-Gestaltung. Zum verfolgten Anspruch, Lebensmittel nicht mehr als Waren zu behandeln, gehört nicht nur die Loslösung vom „Kilopreis“, sondern auch ein flexibler Mitgliedsbeitrag, der bei der Gründungssitzung am 22. April 2012 in einer anonymen Bietrunde selbst bestimmt wird. Nach einer Übersicht über die anfallenden Kosten werden die Mitglieder ihren möglichen monatlichen Beitrag verdeckt aufschreiben. Falls die Beiträge nicht reichen, geht es in die zweite Runde und jedeR muss sich überlegen wie viel mehr ihm/ihr das Gemüse wert sein kann. Bei bestehenden Projekten klappt diese Form der Eigenverantwortlichkeit gut und so sind wir überzeugt, dass wir uns gemeinsam das gute Gemüse leisten können, ohne Menschen auszuschließen.

Eine besondere Möglichkeit ist bei uns nun im ersten Jahr mitzumachen. Das gibt die Möglichkeit, Teil des Anfangs der Kooperative zu sein und damit die Struktur direkt auszugestalten. Je nach eigener Kapazität kann sich mensch auch stärker in die Organisation einbringen. Gerade sind wir vor allem damit beschäftigt unsere Home­page und die internen Informationswege auszubauen und den Grundstein für die spätere Rechtsform zu legen.

Auch wenn sich alles um Gemüse dreht, geht unser Selbstverständnis darüber hinaus. Wir verstehen uns als ein politisches Projekt, was für uns bedeutet, bewusst eine Alternative zum kapitalistischen Markt zu schaffen um diese Alternative auch Menschen anbieten zu können, die selbst nicht die zeitlichen oder persönlichen Möglichkeiten dazu haben. Dazu gehört auch die Unterstützung von sozialen Initiativen. Sei es der Anbau von Lebensmitteln für Camps oder Treffen, oder einfach die Abgabe unserer „Überschüsse“ an Voküs. Die Selbst­organi­sation ist natürlich ein Mittel zum Zweck, dennoch hoffen wir auch auf die verändernde Erfahrung der Zusammenarbeit. Wir wollen das Erfolgserlebnis gemeinsam unser Gemüse gepflegt zu haben, anstatt es nur passiv zu kaufen. Dabei machen wir uns keine Illusionen darüber, dass solidarische Landwirtschaft eine Möglichkeit innerhalb des kapitalistischen Normalbetriebs bleibt, aber wir halten es für eine Möglichkeit, die es sich zu ergreifen lohnt. Die Kontrolle über unsere Bedürfnisse und ihre Erfüllung muss auf allen Ebenen und gemeinsam erkämpft werden. Für Lebensmittel halten wir unseren Ansatz für durchführbar und sinnvoll.

Wir hoffen Euch einen Einblick vermittelt und Euren Hunger auf solidarisches Gemüse geweckt zu haben. Weitere Informationen und unseren Newsletter findet Ihr auf www.gartencoop.org/Leipzig.

Rote Beete

Gemüsekooperative im Aufbau

(1) „Äpfel werden mit großen Containertransporten verschifft. Pro Container ist der Energieaufwand extrem niedrig, und in einen Container gehen 20 Tonnen Äpfel. Der weite Transport ist kein Klimakiller.“ „Die Betriebsgröße ist viel entscheidender als die Marktnähe […] Viele Klein-Betriebe verbrauchen mehr Energie als ein größerer Betrieb. Wir empfehlen als Betriebs-Mindestgröße eine Jahresproduktion von 1000 Tonnen Äpfel, das entspricht 40 Hektar Anbaufläche“ (Elmar Schlich, Professor für Prozesstechnik in Lebensmittelbetrieben an der Uni Gießen, auf www.jetzt.de)
(2) Liste der Höfe auf www.solidarische-landwirtschaft.org/angebot
(3) de.wikipedia.org/wiki/Landwirtschaftsgemeinschaftshof
(4) Samenfestes Gemüse ermöglicht Saatgut selbst nachzubauen und ist zwar nicht so uniform wie das vom großen Markt geforderte, aber dafür sehr schmackhaft. Der Nachbau von eigenem Saatgut ist allerdings arbeitsintensiver und daher wird es auch uns nicht möglich sein, komplett auf Zukauf von samenfestem Saatgut zu verzichten.
(5) Wichtig ist für den Raum, dass er gut für die Mitglieder zugänglich ist und idealerweise handelt es sich dabei um einen Kellerraum ohne Fundament. Dort ist es feucht genug, damit eventuell auch größere Mengen Gemüse eingelagert werden können.
Quellen:
de.wikipedia.org/wiki/Landwirtschaftsgemeinschaftshof
www.solidarische-landwirtschaft.org/
jetzt.sueddeutsche.de/texte/anzeigen/439709 – „Der Apfel vom nächsten Bauern – das ist Öko-Romantik pur!“

Antispe Reloaded?!

Flanierte mensch am 25. Januar diesen Jahres die Grimmaische Straße entlang, so bot sich dort ein fast schon vergessenes Protestbild. Blutverschmierte Pelze und Kreidezeichnungen mit dem hervorgehobenen „MORD“ zeigten dem_der interessierten Stehenbleiber_in, dass Galeria Kaufhof wieder in den Pelzhandel eingestiegen war.

Die Offensive gegen die Pelzindustrie (OGPI) hatte zu bundesweiten Aktionstagen aufgerufen und auch etwa 15 Personen aus Dresden und Leipzig beteiligten sich. Sie zeigten Transparente, verteilten Flyer und verspritzten fleißig Kunstblut. Ähnlich zu sehen war dies in Leipzig 2005/06 vor Peek & Cloppenburg und 2008/09 vor Breuninger. Bei letzterem blieb die regionale Kampagne erfolglos, was am allgemeinen Nachlassen des Widerstandes gelegen haben dürfte. Nicht nur das aktionistische Element verschwand. Nach den teils heftigen Debatten der Vorjahre innerhalb der linken Szene um die (Un)Sinnhaftigkeit antispeziesistischer Kritik, also die Kritik an der Ungleichwertigkeit zwischen Menschen und (anderen) Tieren, war es still um die „Bewegung“ geworden. Die jungen idealistischen Aktivist_innen der Antispeziesistischen Aktion und (anderer) Tierrechtsgruppen schienen dem Diskurs entwachsen, entpolitisiert, in materialistische oder esoterische Gefilde entschwunden.

Aber ob nun Nachwuchs oder wieder entflammte alte Hasen, der Widerstand gegen Tierausbeutung war nie ganz fort und erschöpft sich nicht im Konsumieren bei veganen Voküs, Brunches und in veganen Fressläden. Neben Kaufhof in Leipzig waren der Zirkus Aeros in Mag­deburg und die Messe „Reiten, Jagen, Fischen“ in Erfurt Ziele anti­spe­ziesistischen tier­rechts­fokussierten Pro­testes. Ein ostdeutscher Start in ein womöglich wärmeres Jahr des stellvertretenden Widerstandes.

Auch auf theoretischer Ebene tat und tut sich etwas. Im Lesecafé der Gieszer16 stellte die Leipziger Gruppe alfred* zusammen mit dem FSR Soziologie der Uni Leipzig das Buch „Human-Animal Studies – Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen“ vor. Und am 4. April hält der Psychologe und Tierrechtler Dr. Colin Goldner im Rahmen der Ringvorlesung „Wo steht der Mensch?“ an der HTWK Leipzig einen Vortrag zum Thema „Unsere haarige Verwandtschaft: Zum Verhältnis Mensch-Menschenaffe“. Über Sinn und Unsinn des Antispeziesismus gestritten wird also weiterhin. Jedenfalls solange, bis in Leipzig der erste vollvegane Supermarkt eröffnet, dann wird erstmal eingekauft.

shy

Lokales

Queer-feministische Kneipenkultur (Teil 1)

Dass gerade die zwei Feierabend!-Autor_innen mit der kleinsten Trink- und Rauchpraxis in die Tiefen Lindenauer Schankwirtschaften eintauchten, passt zu den scheinbaren Widersprüchen einer dort aufblühenden antisexistischen Kneipenkultur. Zwei Betreiber_innen luden zum Gespräch und so entstanden im Abstand von drei Monaten folgende Gespräche zu den zwei jungen, vielversprechenden Projekten – der queer-feministischen Wochenkneipe joseph_ine und der Kneipe Skorbut. Anfang Dezember nahmen wir im entstehenden Leseraum des Hausprojekts Casablanca Platz und fragten drauf los …

FA!: Könnt Ihr Euch mal kurz mit Buchstaben vorstellen und erklären, was Ihr so bei der joseph_ine macht?

M.: Ich bin M. und so richtig so was wie Arbeitsgruppen oder so gibt es bei der joseph_ine nicht. Irgendwie wird beim Treffen soweit es geht besprochen wer gerade Kapazitäten wofür hat, ob irgendwelche Sachen organisiert werden müssen, ob irgendwelche Veranstaltungen gemacht werden oder so, zum Beispiel ‘ne Barschicht oder was auch immer. Das wird immer ganz spontan entschieden, je nachdem, wer gerade wofür Kapazitäten hat.

A.: Ich bin A. und mach’ vor allem den Kontakt zum Haus, weil ich selber drin wohne, so als die Schnittstelle und für Getränkebestellung und so Zeug.

FA!: Was ist die joseph_ine eigentlich? Wie würdet Ihr das definieren?

M.: Ich glaub‘ ganz zu Beginn war es schon wie so ‘ne Kneipe angedacht, im queer-feministischen Kontext. Und wo ab und an mal ‘ne Veranstaltung ist, aber so ganz zu Beginn war es einfach nur als Treffpunkt, Treffort angedacht. So nach und nach hat sich ein Programm entwickelt. Dann gab es natürlich irgendwie den Anspruch, einen Politsalon zu machen, dann gab’s noch die Idee, einmal im Monat einen Film zu zeigen. Das alles mit so einem queer-feministischen Anspruch. Was vielleicht noch wichtig zu sagen ist, dass es ‘ne Kneipe ist, die von den Leuten, die dort mitmachen wollen, lebt. Sprich, wer kommt und welche Kapazitäten hat, das kann man dann darin verarbeiten.

A.: Ja, und entstanden ist es aus dem großen, queer-feministischen Vernetzungstreffen, was Anfang Mai 2010 war; wo so 60, 70 Leute aus Leipzig da waren, die in verschiedenen Projekten aktiv sind. Und da gab es dann fünf Arbeitsgruppen, von denen glaube ich keine andere mehr existiert außer die Ladyfestgruppe, die ja dann auch das Ladyfest gemacht hat. Und eine Gruppe war die Raumgruppe, mit diesem Anspruch: „Wir brauchen Räume für uns – und am liebsten gleich mit ‘nem Infoladen, der jeden Tag geöffnet hat und mit Kneipe dran und so. Aber bis wir das schaffen, nehmen wir erstmal einen anderen Raum, um den zu besetzen, um sich einmal die Woche zu treffen und Kneipe zu machen.“

FA!: Wann war dann der Startschuss?

A.: Einen Monat später hat die joseph_ine dann angefangen. Das war ganz gut weil wir mit dem Haus gerade so weit waren, dass die Räume nutzbar waren und es jetzt auch nicht Räume waren, die so vorbelastet sind, die schon zehn Jahre in der linken Szene existieren und wo verschiedene Sachen scheiße gelaufen sind oder so. Und dann war die joseph_ine auch die erste Gruppe, die das Casablanca richtig genutzt und gerockt hat, ganz viel mit gebaut hat. War gut.

FA!: Wie war so die Resonanz am Anfang? Wie hat sich das entwickelt? Wer waren die Leute, die kamen, und die, die mitgemacht haben?

A.: Am Anfang war ‘ne ganz schöne Dynamik. Also so Juni/Juli, dann bis November Pause und dann ging’s quasi so richtig los. Es war schon voll – und es kamen sogar Leute aus Connewitz.

FA!: *lach*

M.: Das ist ja ‘n ganz schöner Weg, den man da zurücklegen muss… Ja, es wurde zu Beginn ganz schön gut angenommen und wahrgenommen – was aber damals schon immer ein bisschen schwierig war und immer noch schwierig ist, sind so Leute, ich glaube die haben so’n bisschen das Gefühl, dass wir als geschlossene Gruppe funktionieren. Und dann kamen immer mal wieder so welche an und meinten „Na… ich würd‘ ja auch gern‘ mal ‘ne Barschicht machen…“ Und wir waren alle immer total froh, wenn jemand ankam, aber so diese Idee dahinter, dass hier halt alle, die irgendwie eine Idee haben, mitmachen können, kam jetzt nicht so deutlich rüber.

FA!: Ist das dann weniger oder mehr geworden, gleich geblieben?

A: Also ja, es wird weniger gerade. Aber das liegt vielleicht auch daran, dass das Programm gerade manchmal so unklar ist oder dass es auch einfach mal spontan ausfällt. Dass halt nicht mehr diese verbindliche Struktur ist: „Mittwochs kann man da hingehen.“ Manchmal ist, wenn keine_r Bock hat, dann halt auch um Zehn oder Elf schon zu, das passiert auch. Über’n Sommer war’s immer ziemlich voll.

FA!: Mal eine praktische Frage: Wenn jetzt kein Programm war, sondern nur Bar – wie kann ich mir das vorstellen? Was ist queer an einer Bar?

M.: Also für mich persönlich ging es gar nicht darum, dass jetzt irgendetwas so ganz besonders ist, sondern darum, dass es ein Gedankengut gibt, das in dem Raum geteilt wird. Gewisse Standards, die für mich nicht erst diskutiert werden müssen. Grad hier im Westen ist die joseph_ine einfach ein super Ort zum Ausgehen.

FA!: Was war denn so die Laufkundschaft? Konntet Ihr die einordnen? Kam die aus dem queer-feministischen Kontext?

A.: Am Anfang war das schon ganz schön viel die Zielgruppe, die dann auch direkt gekommen ist. Jetzt wird es zunehmend zu so einer Kiezveranstaltung – klar, weil Leute aus Connewitz ja auch nicht jede Woche hier herkommen. Dann waren es viel Leute aus Lindenau, die Mittwochabend ein Bier trinken wollen und vielleicht gar nicht so viel mit queer zu tun haben. Es kommen relativ wenig Leute zufällig vorbei. Von der Straße direkt rein, das passiert eigentlich nicht.

FA!: Ihr hattet vorher gesagt, dass es irgendwelche Standards gibt, derer man sich sicher sein kann. Hattet Ihr innerhalb der Gründungsgruppe mal drüber gesprochen, was für euch queer ist, oder was denn so das Mindeste ist, der kleinste gemeinsame Nenner von Euch?

M.: Es ist bei uns immer schon ganz schön fraglich, wer die Kerngruppe ist und mit wem trifft man sich, um darüber zu sprechen? Wir haben das zu Beginn bei uns gemacht, in der Orgagruppe – und dann hatten wir irgendwann auch einen Salon dazu, wo wir mit den Leuten, die hier herkommen/sind, darüber gesprochen haben. Es gab auch mehrere Theorieveranstaltungen dazu.

A.: Wir sind halt nicht so eine inhaltliche Gruppe, sondern mehr eine Orgagruppe. Wir managen irgendwie diese Kneipe und stellen das bereit und wer Bock hat, mal einen Film zu zeigen oder so, kann halt herkommen und das machen. Das ist aber leider nicht so gut rübergekommen – offensichtlich.

A.: Am Anfang war es wirklich auch mehr Kneipe. Oder so gedacht. Als Raum, wo man hinkommen und sich treffen kann und nicht immer ‘ne Veranstaltung ist oder immer irgendwas oder wo man immer zuhören oder gucken muss.

FA!: Wie lange gibt es Euch jetzt ungefähr? Ein Jahr und ein bisschen, oder?

A.: Ja. Bis zum Sommer lief’s ganz gut – dann war Sommerpause und danach ist es nicht mehr so richtig in die Gänge gekommen.

FA!: Und das habt Ihr dann versucht wiederzubeleben mit den festen Terminen?

A.: Joa. Dann diese akute Schwierigkeit, dass viele von uns gerade ‘ne andere Kneipe aufmachen. Das zieht dann halt auch Kapazitäten ab – ganz massiv. Da bleiben dann halt nur noch drei Leute übrig in der joseph_ine – und die können das dann natürlich nicht schmeißen.

FA!: Wie groß ist denn eure Kerngruppe?

A.: Sieben, acht Leute?

M.: Maximal. Vielleicht kann man das gerade bei der Gelegenheit nochmal sagen: Wir hatten mittlerweile so’n bisschen die Überlegung, ob wir es nicht einfach sein lassen. Da gibt es Stimmen, die sagen: „Einfach sein lassen“, so aus einem Frust heraus. Dann gibt es aber auch Stimmen, die sagen: „Nein eigentlich nicht so, auch wenn es gerade nicht so gut angenommen wird, aber es ist einfach ein Ort.“ Ich glaube aber, um das weiterhin irgendwie stemmen zu können brauchen wir mehr Leute. Wer da Lust hat, soll gerne dazu stoßen, oder neue Energie und Inputs bringen. Wir sind da sehr dankbar.

FA!: Wie können sich dann die Leute bei Euch melden? Wann ist das Plenum? Während der joseph_ine oder am Nachmittag?

M.: Das ist schon an einem Mittwoch, wann genau, das kann auf unserer Homepage nachgelesen werden. Ansonsten kann man auch einfach zur joseph_ine vorbeikommen.

FA!: Wie viele Leute kommen denn durchschnittlich?

A.: Das ist total verschieden, auch ganz schön wetterabhängig.

M.: Das ist überhaupt nicht abzusehen. Neulich war ich hier, da saßen ganz viele Leute hier, die habe ich noch niemals vorher gesehen. Das freut mich natürlich, aber das war überhaupt nicht zu erklären, es war total voll – und gerade sonst ist das nicht so.

A.: Vorletzte Woche waren wir zu zweit bis um Elf rum und dann kamen plötzlich 20 Leute. Manchmal ist es auch total voll.

M.: Wie kamt Ihr eigentlich dazu, uns zu interviewen?

FA!: Das kam – glaube ich – über mich, weil ich jetzt neu zum Feierabend! kam, da ich mein Studium endlich soweit fertig habe, dass ich dafür Kapazitäten frei habe. Und ja, mir war der Feierabend! ein bisschen zu wenig queer und außerdem gehört es zu den wenigen Themen, über die ich schreiben kann. Ich fand das Konzept sehr interessant, aber finde, dass man viel zu wenig darüber stolpert, wenn man sich in Leipzig bewegt. Da es meines Wissens nach nicht sonderlich viele queere Veranstaltungen gibt in Leipzig – wenn man mal schwullesbische Diskotheken, die sich queer nennen, ausschließt – fänd‘ ich es schön, wenn es die joseph_ine länger gäbe und sie mehr Leute kennen lernen würden. Queere Örtlichkeiten in und um Leipzig – was fällt Euch denn dazu noch ein? Mir fällt halt nicht so viel ein, was noch bestünde.

M.: Ich denke gerade an tipkin.

FA!: Das ist die queere Radiosendung auf Radio Blau?

M.: Genau.

A.: Dann gibt es halt schon noch viel so Partysachen. Queerparties gibt es schon immer mal wieder. Und es gab dieses Paranoid Paradise – das queere Filmfestival. Wenn man’s mit Berlin vergleicht, ist es ein Witz – aber wenn man es mit Halle vergleicht, ist’s schon viel.

M.: Ich wollte drauf hinaus, dass es immer schon Querverbindungen gab, dass es wohl schon so etwas wie eine Gruppe gibt, die so etwas regelmäßig macht.

A.: Es gibt immer mal wieder solche Veranstaltungen, ne? Es gibt diese „Gender Kritik“-Reihe von der Uni, dann gibt es immer wieder mal Veranstaltungen vom Institut für Frauen- und Geschlechterforschung.

M.: Es gab‘ irgendwann mal von der Do-It-Herself-Gruppe diese Visual-Crew, die sich queer-feministisch tituliert hatte, dann allerdings ein bisschen Schwierigkeiten hatte, das über Visuals in die Praxis umzusetzen. Aber ich glaube, die haben zumindest so eine Denke dahinter.

A.: Wir hatten ein queeres Fußballteam beim Ataricup!

M.: Oh yeah! Wir waren das bestgelaunteste Team.

FA!: Ihr wollt also sagen Ihr habt haushoch verloren?

M.: Ja. (lacht)

A.: Wir hatten viel Spaß.

M.: Noch mehr Fragen?

FA!: Ja, ich hatte noch irgendwo eine… genau! Ich würde gerne noch mal was zur Zukunft fragen. Es scheint ja gerade so, als wäre die Zukunft der joseph_ine fragwürdig… Gibt es irgendwelche großen Konzepte, was Ihr euch für die Zukunft vorstellen könntet?

M.: Ich glaube, das ist ganz schön abhängig davon, wen du gerade fragst. Also für mich zum Beispiel steht es überhaupt nicht zur Diskussion, dass die joseph_ine schließt. Große Konzepte gibt es nicht, aber Fakt ist, dass es irgendwie weitergeht. Und wenn man es auch einfach erst mal so macht, dass es nur alle zwei Wochen öffnet oder so. Also große Zukunftskonzepte nicht, Schließen aber auch nicht!

FA!: Okay, und wie sieht es bei Dir aus, A., wie würdest Du das Ganze einschätzen?

A.: Ich weiß es nicht, ich kann’s gerade nicht so einschätzen. Ich glaube, es sind schon alle total gewillt, da weiterzumachen, aber dann ist es halt so wie gestern, wo dann plötzlich niemand kommt, keine Tresenschicht kommt und dann fällt es einfach aus. Klar, dann machen viele von uns jetzt die andere Kneipe da drüben auf, was eine kommerzielle Kneipe ist.

FA!: Welche Kneipe? Wo?

A.: Skorbut am Lindenauer Markt. Im ehemaligen „Schotten“.

FA!: Es heißt noch „Schotte“?

M.: Nein! Es heißt Skorbut! Heute hat die Frau von unserer Müllabfuhr angerufen und meinte: „Ich würde Euch nächste Woche Dienstag mal die Mülltonne vorbeibringen, was soll ich’n da drauf schreiben?“ Und dann meinte ich: „Na, da steht Skorbut drauf!“ Also die Kneipe heißt schon Skorbut, „Schotte“ muss gestrichen werden!

A: Es kennen halt alle noch als den „alten Schotten“. Das machen schon die meisten Leute aus dem joseph_ine-Spektrum und das merkt man schon, wie sich das gegenseitig ein bisschen behindert. Aber ich fänd‘ es schade, wenn die kommerziellen Strukturen die nichtkommerziellen fressen würden – wie so oft. Das fänd‘ ich ganz schön scheiße.

M.: Ja.

FA!: Das heißt also: Die joseph_ine braucht dringend noch Unterstützung, weil von Euch jetzt ‘n bisschen Kräfte abgezogen werden. Wo können sich die Leute jetzt direkt melden, wie sollte man am besten vorgehen, wenn man helfen möchte?

M.: Ich würde sagen: Bei Bedarf einfach mal vorbeikommen!

A.: Oder beim Plenum mal vorbeikommen. Oder Mittwochabends einfach mal die Tresenleute ansprechen.

FA!: Hmm, also irgendwie fehlt mir noch Tiefe.

A.: Tiefe.

FA!: Hättet ihr eine Anekdote, so aus dem Stegreif?

A.: Vielleicht diese Queerparty, wo wir diese paar Leute rausgeschmissen haben? [Gelächter]

FA!: Ooh, jetzt wird’s interessant. Wen habt ihr rausgeschmissen?

M.: Ziemlich viele. [Klingt wie ein abgeklärtes Cowgirl] Harte Tür. Gute Tür.

A.: Naja, wir haben zwei Leute rausgeschmissen oder so. Den mit dem Deutschlandtrikot und den, der die ganze Zeit Leute angefasst hat auf der Tanzfläche. Beides war nicht schön.

M.: Nee.

A.: Es verirren sich schon, gerade bei den Tanzveranstaltungen, doch mal Leute hierher, die denken es wäre eine ganz normale Disko und sie könnten sich benehmen wie in einer ganz normalen Disko. Und das ist dann wahrscheinlich der Unterschied – dass wir da ein bisschen aufmerksamer sind. Und dann relativ zügig auch Leute rausschmeißen. Na klar, erst ansprechen und diskutieren, aber dann irgendwann auch aufhören mit Sprechen und rauswerfen.

M.: Jetzt überleg‘ ich die ganze Zeit wegen einer Anekdote.

A.: Es ist jetzt auch alles einfach nicht so spektakulär. Rumsitzen, Bier trinken, ein bisschen Kickern …

FA!: … und dabei nicht blöd von der Seite angemacht werden.

A.: Manchmal kommt ein Film… total langweilig das Konzept. Aber eigentlich auch ganz gut so. Manchmal gibt es dann auch Themen und Diskussionsrunden.

M.: Und da hatte ich in diesem Rahmen auch schon echt nette Unterhaltungen. Die so in einem anderen Kontext einfach nicht stattgefunden hätten. Ich habe jetzt gerade an diesen einen Politsalon gedacht, wo wir gar nicht so groß und breit über so einen theoretischen Rahmen gesprochen haben, sondern darüber, was wir unter queer-feministisch verstehen und wie wir so zueinander stehen und das war irgendwie ziemlich gut. Ich brauch immer diese vertraute Atmosphäre dafür, um einfach so ein bisschen Tiefgang zu haben und dafür ist die joseph_ine – also für mich zumindest – schon ganz schön gut.

… an dieser Stelle blenden wir aus und bedanken uns herzlich für das Gespräch. Eine Fortsetzung war abzusehen und folgte Monate später. Blättert einfach um …

Die joseph_ine im Netz: josephine.blogsport.de/
Und (fast) jeden Mittwoch ab 20 Uhr in der Josephstraße 12.

Lokales

Queer-feministische Kneipenkultur (Teil 2)

Anfang März 2012 im gemütlichen Hinterzimmerchen einer Eckkneipe am Lindenauer Markt. Wir freuten uns auf ein Wiedersehen mit den zwei redseligen Kneipenmacher_innen und wurden nicht enttäuscht …

FA!: Es sind seit unseren Interview jetzt drei Monate vergangen. Wie hat sich das entwickelt mit der joseph_ine?

M.: Es hat eine Transformation stattgefunden, wir haben noch nicht zugemacht. Dadurch, dass die Gruppe relativ verkleinert ist, war das Problem, dass so etwas wie eine Kerngruppe nie so wirklich vorhanden war. Und jetzt haben sich nochmal ein paar Leute zusammengesetzt und es ist relativ klar, dass es schon irgendwie weitergeht, allerdings nicht mit regelmäßigem Jeden-Mittwoch-Betrieb. Sondern immer nur wenn Veranstaltungen sind, werden die gemacht. Im Moment werden immer so Veranstaltungen gemacht, so wie gerade Bedarf, Ideen da sind. Was jetzt nicht jeden Mittwoch ist, aber der März war schon ganz gut gefüllt. Und immer nur bis zwölf; wenn Kneipenbetrieb gewünscht ist, dann können die ja einfach nebenan in’s Skorbut kommen. Aber aufgelöst noch nicht. Noch nicht!

A.: Aber es war schon kurz davor. Die letzten Treffen, wo wir dann zu dritt waren; gemerkt haben, dass es einfach nicht mehr geht. Haben wir auch gedacht, machen wir jetzt nur noch bei Bedarf und Veranstaltungen und setzten nochmal einen Hilferuf aus. Und es sind ja jetzt plötzlich auch vier, fünf neue Leute aufgetaucht, die Bock haben, da auch verbindlich regelmäßig Tresen zu machen oder irgendwas. Und damit läuft das jetzt wieder.

FA!: Zumindest Du warst beim letzten Mal nicht so gut drauf, bist Du jetzt besser gelaunt?

A.: Ich hab’ mich einfach ein bisschen rausgezogen, ne? Also ich bin da selten, mache nächste Woche da ‘ne Veranstaltung, ok. Also ich find’s super, wenn neue Leute kommen. Gucken, wie’s wird ….

M.: Und ich mag’s auch sehr. Grade in so ‘nem Kontrastprogramm zu einem Skorbut-Kneipenabend finde ich joseph_ine immer sehr warm und sehr leicht. Kann ruhig noch weiter geh’n.

FA!: Ich frage mich, wie’s kommt, dass die joseph_ine nicht ganz so gut besucht ist, im Gegensatz zum Skorbut. Liegt das am Angebot – hier ist ‘ne richtige Kneipe und dort ist mehr so … naja, nicht so ‘ne richtige Kneipe? Also wollen die Leute sowas hier?

M.: Also ich glaube, das zieht nochmal ganz andere Zielgruppen an. Joseph_ine war ja schon immer ziemlich so Szenepublikum. Also wenn’s jetzt um so Hausprojekte ging oder halt wirklich um diesen queer-feministischen Anspruch, der dahinter steht. Und hier sind halt einfach auch so ziemlich viele, die halt nicht unbedingt sich in solchen Szenen bewegen, sondern eher hier in der Kuhturmstraße aktiv sind und so Ausstellungen machen oder viele aus dem Theater der jungen Welt, viele junge Schauspielende sind da und so. Ist einfach nochmal ein ganz anderer Anreiz.

A.: Normale Leute einfach aus dem Kiez. Die mal gucken kommen, was hier so in ihrer alten Stammkneipe wieder los ist. Was ich auch glaube, ist jetzt nur ‘ne Vermutung, es ist einfacher hierher zu kommen, weil es hier so klar ist – hier bezahl’ ich Geld und krieg’ dafür was. Das ist so ‘ne klare Aufgabenverteilung. Und in der Bäckerei [Anm.: Synonym für Casablanca] ist es ja schon immer so, eigentlich soll ich dann auch noch da was mithelfen. Und am Ende mit aufräumen und dann soll ich noch mein Geld selber einschätzen, ist schon anstrengender. Da wird von den Leuten einfach mehr erwartet. Mich verantwortlich zu fühlen für den Raum – das ist hier überhaupt nicht.

M.: Ich weiß noch grad zu Beginn, dass viele Leute so ein bisschen ängstlich, unsicher waren, ob sie jetzt einfach so reinkommen dürfen in diese Kneipe da unten, also in die joseph_ine. Ist halt einfach einfacher, in eine Kneipe zu gehen.

A.: Hier machen wir auch größere Veranstaltungen, da kommen auch viel mehr Leute. ‘Ne Kneipe, die sechs Tage offen hat, ist auch einfacher hinzugehen als … mittwochs und dann vielleicht auch nicht jeden Mittwoch. Und dann regnet’s und dann geht man doch nur einmal im Monat hin.

FA!: Ich wüsste gerne zur „Türpolitik“ was. Ihr hattet ja beim letzten Mal so schön davon erzählt, dass es hier anders sein soll als in anderen alternativen Kneipen und Ihr selbst bei der joseph_ine schon Leute vor die Tür setzen musstet. Wie hat sich das hier ergeben?

A.: Ist schon auch passiert, aber wenig. Der Typ mit dem Deutschlandtrikot, den ich bei der joseph_ine rausgeschmissen hab’, der war hier und redete nur Scheiße.

FA!: Aber diesmal war er ohne Deutschlandtrikot da?

A.: Ja, aber ich hab’ ihm trotzdem gleich gesagt, er soll gehn. Hatt’ ich kein Bock. Nee ach … was haben wir für ‘ne Tür? Erstmal isses offen und Leute können erstmal kommen und wenn sie anfangen, sich daneben zu benehmen, dann fliegen sie halt raus oder dann passiert irgendwas. Hier herrscht so ‘ne höhere Sensibilität dafür, was passiert hier grad im Raum und wie gehen Leute grad miteinander um.

M.: Wir haben nicht in der Gruppe so eine Art Checkliste, die erfüllt werden muss, bevor man rausschmeißt.

A.: Das andere ist halt auch, wenn Leute besoffen sind, grad am Wochenende und zu später Stunde, dann reden die halt auch einfach Müll. Ich nehm’ das mittlerweile auch alles nicht mehr so ernst, aber da kommt schon immer mal irgendso ein blöder rassistischer Spruch. Klar, dann kann ich hingehen und sagen: Hey, reiß Dich mal zusammen! oder so, aber dann fange ich nicht mehr irgendwelche Diskussionen an. Aber da gehe ich davon aus, die sind betrunken und am nächsten Tag ist es ihnen peinlich und dann ist auch wieder gut so.

FA!: Die unglückliche Zukunftsfrage …

A.: Aktuell ist, wir sind bis Ende Mai auf jeden Fall hier und danach ist es total unklar, was passiert. Es kann sein, dass wir in irgendeiner Form hier bleiben. Es kann sein, dass wir woanders hingehen. Und es kann sein, dass wir überhaupt nicht mehr existieren danach …

M.: Das glaube ich aber nicht! Also für mich ist das überhaupt kein Ende. Es gibt mal wieder ‘ne Transformation und vielleicht sowas wie: Wer ist eigentlich Skorbut, bitteschön? Und das mit noch ein bisschen mehr Verantwortung.

FA!: Nochmal zum Selbstverständnis: Ihr findet’s nicht wichtig zu postulieren, was die Kneipe für einen Anspruch hat, oder?!

A.: Ich glaube, es wurde schon ziemlich schnell durch die Eröffnung, durch ganz viel Hörensagen ziemlich klar, wie wir ticken und aus welchen Kontexten wir kommen. Ist ja auch nicht so, dass das alles gänzlich unbekannte Leute hier hinter dem Tresen sind. Dadurch ist schon ein bisschen klar, in welche Richtung das geht und welchen Anspruch wir haben. Vielleicht muss man auch seinen Gäst_innen manchmal ein so bisschen Eigenverantwortung zutrauen und muss die nicht die ganze Zeit mit irgendwelchen Verboten oder Ansprüchen in irgendwelche Richtung weisen. Wenn’s Probleme gibt, sind wir schon da und haben schon eine Meinung, für die wir einstehen können und die auch argumentieren können.

FA!: Seht Ihr da die Gefahr, dass es sich durch die alltägliche Praxis, den Trott, den Alltag doch einschleicht, dass Ihr weniger sensibel werdet?

A.: Ich denk’ jetzt nicht in Jahren, nicht? Ich glaub’s eigentlich nicht, weil wir alle schon ziemlich klar haben, was so unsere politischen Vorstellungen und Ansprüche sind. Und dann gibt’s vielleicht Momente, wo’s mir zu anstrengend ist, dazwischen zu gehen oder sowas. Allein auch durch die Auswahl der Veranstaltungen und was da für Plakate drinhängen oder die Bierdeckel oder so … es zieht sich ja durch, ohne dass es jetzt total plakativ überall dran steht.

FA!: Was unterscheidet die Veranstaltungen zu den Veranstaltungen, die in anderen alternativen Kneipen sind?

M.: Ich glaub’, wir haben schon intern so ganz viel auf dem Schirm, dass wir versuchen, so ein Geschlechterverhältnis zu halten. Dass einfach nicht so Typenbands die ganze Zeit auftreten, sondern auch gerne mal ein Abend, wo zwei Frauenbands spielen. Gibt solche Diskussionen innerhalb, kriegt man nach außen gar nicht so mit.

A.: Auch was wir für Musik spielen, die ganze Zeit. Fällt vielleicht gar nicht so auf, aber da haben wir uns auch viel drüber unterhalten, dass es nicht nur quotiert ist, also paritätisch, sondern dass eher mehr Frauenbands spielen. Und dann gibt’s so Polit­veranstaltungen, wie diese Buchvorstellung zum Beispiel, zur Knastkritik. Das sind halt so linke Sachen, demnächst gibt’s wahrscheinlich so ‘ne Trans*-Buchvorstellung … halt so Zeug.

M.: Morgen ist zum Beispiel ‘ne Veranstaltung, wo einfach klar war, dass das irgendwie unterstützt wird. Vom Ladyfest, die einfach einen Raumausweich brauchten. Margret Steenblock, die vorher irgendwo im Süden auftreten wollte und da ging’s dann spontan nicht und bei solchen Sachen ist dann klar, dass das irgendwie unterstützt wird, auch ohne großartig erstmal durch’s Plenum sprechen oder so.

FA!: Wie ist eigentlich Eure ökonomische Situation gerade? Wo geht’s finanziell hin? Immerhin habt Ihr auch ganz moderate Preise.

A.: Da müssen wir eventuell auch nochmal was dran drehen, an den Preisen. Wir zahlen uns bisher keine Löhne aus, weil wir ja noch die Schulden zurückbezahlen. Ist also quasi ehrenamtlich grade, was eigentlich auch ein bisschen krass ist.

FA!: Aber in absehbarer Zeit soll’s mal …

A.: Also vielleicht nicht, dass zehn Leute davon komplett leben können. Aber irgendwie … nach Bedarf.

FA!: Aber dass der Stundenlohn schon ein adäquater ist. Also wenn man hier 30, 40 Stunden arbeiten würde, dass man dann davon leben könnte …

M.: Wenn man wöllte, ja. Ich glaube, hier will niemand 40 Stunden die Woche arbeiten. Das ist ja die ganze Sache, deswegen …

A.: Ist schon kein Wunder, warum hier überall fünf Euro Stundenlohn gezahlt wird. Also die Gewinnspannen sind einfach ziemlich niedrig. Und die Nebenkosten sind enorm hoch. Und dann bezahlen wir noch die ganzen Steuern und das ganze Zeug und da bleibt echt nicht viel übrig.

M.: Ey, habt Ihr jetzt noch irgendwas wichtiges? Ich hab’ nämlich total Hunger.

FA!: Ja … wir auch, dann mal los. Vielen Dank, daß Ihr das heute noch einrichten konntet, und lasst Euch nicht unterkriegen!

shy & gundel

Lokales

Wissenschaft, die Wissen schafft: Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Wissenschaftliche Forschung wird gerne – und oftmals auch zurecht – für ihre „Elfenbeinturm“-Perspektive kritisiert. Praxisnähe und Alltagspraktikabi­lität der gewonnenen Erkenntnisse werden nicht selten vermisst, auch fehlender Realitätsbezug wird der Wissenschaft gern vorgeworfen. Glücklicherweise aber halten solcherlei pauschal gefällte Urteile keiner näheren Analyse stand, da Verallgemeinerungen bekannterweise immer fehlerhaft sind. Das im Folgenden vorgestellte sozialwissen­schaft­liche Forschungsprogramm zu Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (GMF) widerlegt die gängige Kritik und bricht bewusst aus dem ihm zugeschriebenen „Elfenbeinturm“ aus. Obgleich die mitt­ler­weile zehn Jahre lang gesammelten Ergebnisse zu GMF noch sehr langsam über den „Rapunzelzopf“ der Forscher­_in­nen in die praktische Welt hinaus gelangen, tragen sie dennoch genügend Zündstoff in sich, um einiges an progressiven Veränderungen anstoßen zu können.

Rund die Hälfte der deutschen und auch europäischen Bevölkerung sind der Ansicht, dass es zu viele Zuwanderer in ihrem Land gäbe (1+2).

Dies ist eines von zahlreichen Ergebnissen der wohl größten und längsten deutschen Panelstudie, in die 2009 auch ausgewählte europäische Länder einbezogen wurden. Prof. Dr. Wilhelm Heitmeyer prägte den (sperrig klingenden) Begriff der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und schuf 2002 zusammen mit Prof. Dr. Andreas Zick ein gleichnamiges sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm am Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung. Der Begriff selbst bezeichnet die Abwertung von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen „aufgrund von ethnischen, kulturellen oder religiösen Merkmalen, der sexuellen Orientierung, des Geschlechts, einer körperlichen Einschränkung oder aus sozialen Gründen“ (1). GMF wird dabei als Syndrom verstanden, da sich die Vorurteilsstrukturen ähneln und ablehnende Tendenzen meist gegenüber mehreren Gruppen bestehen. Als gemeinsamer Kern des Syndroms wurde die sog. „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ identifiziert, also eine Grundeinstellung, in der die Menschen prinzipiell nicht als gleichwertig angesehen werden. In jährlich stattfindenden telefonischen Befragungen eines repräsentativen Teils der deutschen Bevölkerung (2011 wurden 2000 Menschen befragt) wurden und werden die verschiedenen Einstellungen ermittelt, um Ausmaße, Entwicklungen und Ursachen von Vorurteilen gegenüber bestimmten Menschengruppen analysieren zu können. Die Ergebnisse sind erschreckend und belegen v.a. das, was innerhalb der sog. Linken ohnehin lange vermutet und fortwährend angemahnt wird: Dass menschenfeindliche Einstellungsmuster in der sog. Mitte der Gesellschaft weit verbreitet sind.

Über 50% der europäischen und deutschen Bevölkerung meinten 2009, dass der Islam eine Religion der Intoleranz sei. Rund ein Viertel der 2009 befragten europäischen und 13% der deutschen Bevölkerung (2011) waren zudem der Meinung, dass Juden zu viel Einfluss in ihrem jeweiligen Land hätten.(1+2)

Die verschiedenen untersuchten Einstellungen des GMF-Syndroms wurden 2011 in insgesamt 12 Kategorien unterteilt: Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Homophobie, Islamophobie, Eta­blier­ten­vorrechte, Sexismus, Abwertung von Menschen mit Behinderung, Abwertung von Obdachlosen, Abwertung von Langzeitarbeitslosen, und speziell auch die Ablehnung von Asylbewerber_innen und Sinti & Roma (3). Bemerkenswert daran ist zudem, dass unter dem GMF-Konzept auch gesellschaftliche Einstellungsmuster gefasst werden, bei denen Abwertungen nicht nur „kulturell“, sondern auch mit „natürlicher“ oder „sozialer“ Überlegenheit begründet werden, wie bspw. bei den feindlichen Einstellungen gegenüber Langzeitarbeitslosen oder den Etabliertenvorrechten. Letzteres hebt auf eine soziale Hierar­chi­sierung bzw. Vorrangstellung von „Alteingesessenen“ ab. Das Konzept ist generell offen für weitere hinzukommende Kategorien, sofern sie sich auch auf eine dahinter stehende „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ beziehen. Die Ergebnisse der GMF-Untersuchungen wurden jährlich bei Suhrkamp unter dem Titel „Deutsche Zustände“ veröffentlicht und reflektiert.

Über die Hälfte der befragten deutschen Bevölkerung 2011 war der Meinung, dass die meisten Langzeitarbeitslosen nicht daran interessiert seien, einen Job zu finden. Über 60% finden es darüber hinaus „empörend, wenn sich die Langzeitarbeitslosen auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen“ (1).

Wie bereits angedeutet, geht es den Wissenschaftler_innen indes nicht nur darum, Ausmaße und Entwicklungen menschenfeindlicher Einstellungen in der Gesamtgesellschaft (in fundierter und nachprüfbarer Weise) öffentlich zu machen und damit zu sensibilisieren. Darüber hinaus liegt ein Schwerpunkt in der Analyse der Ursachen von GMF. Unter der Fragestellung, inwiefern die Veränderungen von GMF mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammenhängen, wurden so bspw. soziale Desintegration und gefühlte Benachteiligung (sog. Relative Deprivation) als Faktoren und Erklärungsansatz ausgemacht. Mit anderen Worten steht der eigene gesellschaftliche Ausschluss in engem Zusammenhang mit der Abwertung anderer gesellschaftlicher Gruppen. Denn – so die naheliegende These – wenn es einem an Anerkennung mangelt, besteht die Tendenz, sich selbst durch die Abwertung anderer wieder aufzuwerten. Dabei wird zwischen drei Aspekten von Desintegration unterschieden, die gemeinsam Einfluss auf die Abwertung bestimmter anderer gesellschaftlicher Gruppen haben: Zum einen die sozio-ökonomische Einbindung, bei der es um den eigenen Status, also die Lebens- und Arbeitsverhältnisse und Konsummöglichkeiten geht, die nicht nur als begrenzt, sondern v.a. auch zukünftig gefährdet wahrgenommen werden.

Zum zweiten ist die politische Einbindung oder negativ der politische Ausschluss – sprich gefühlte Macht- und Einflusslo­sig­keit bei (gesellschafts-)politischen und institutionellen Belangen – ein Faktor sozialer Desintegration. Empirisch betrachtet haben Menschen mit wenig Interesse an politischer Partizipation oftmals auch eher GMF-Einstellungstendenzen (4). Anders ausgedrückt, spiegelt sich die Frustration und Resignation über die eigene Einfluss­lo­sigkeit auf die Politik wohl auch in der der Abwertung von anderen gesellschaftlichen Gruppen wider.

Als dritter Aspekt sozialer Desintegration wird die „personale Dimension“ oder „sozial-emotionale Einbindung“ benannt, bei der es um eigene soziale Netzwerke geht bzw. um eben jene fehlende unterstützende Gemeinschaft, die nicht nur zur Selbstverwirklichung motivieren kann, sondern zudem Orientierung bietet und Sinn stiftet.

Darüber hinaus wurde empirisch auch nachgewiesen, dass fehlender Austausch mit als vermeintlich fremd wahrgenommenen Menschen Ungleichwertigkeitsvorstellungen begünstigt. Des weiteren befördern auch autoritäre Strukturen sowie Flexibilitätszwang und fehlende soziale Normen und Regeln GMF-Einstellungen. Insbesondere bei jenen Menschen, bei denen auch soziale Hierarchien Teil der eigenen Ideologie sind, ist die allgemeine Befürwortung von menschenfeindlichen Aussagen besonders ausgeprägt.

Mehr als 60% der Befragten in acht europäischen Ländern sind der Meinung, „dass Frauen ihre Rolle als Ehefrau und Mutter ernster nehmen“ sollten. Fast ein Drittel dieser meinen zudem, dass es eine „natürliche Hierarchie zwischen Schwarzen und Weißen“ gäbe. (2)

Im europäischen Vergleich von 2009 wurde übrigens festgestellt, dass in den Niederlanden die geringsten GMF-Tendenzen zu beobachten sind, während in Polen und Ungarn die Vorurteilsstrukturen am ausgeprägtesten sind. Insgesamt wurden repräsentativ Menschen aus Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien, Portugal sowie den benannten Ländern befragt. Deutschland liegt im internationalen Vergleich insgesamt – trotz mitunter großer Unterschiede was die (In-)Toleranz einzelner Gruppen betrifft – eher im Mittelfeld.

54% der Deutschen stimmten 2011 der Aussage „Wer irgendwo neu ist, sollte sich erst mal mit Weniger zufrieden geben“ zu (1).

Diese Aussage, die in der deutschen Studie unter „Etabliertenvorrecht“ kategorisiert und analysiert wird und wie eine altbekannte Stammtischparole klingt, wird wahrscheinlich auch gegen das GMF-Konzept als solches eingewandt – nämlich dann, wenn es um Schlussfolgerungen aus der „neuen“ GMF-Forschung gehen soll. Oder warum findet die Veröffentlichung derartiger alarmierender Ergebnisse über Feindseligkeiten in der Gesamtgesellschaft so wenig Beachtung in der Politik?

Mit dem Forschungsprogramm wurden drei große Ziele verfolgt (5). Zum einen sollte für die in der Mitte der Gesellschaft vorhandenen Ungleichwertigkeitsvorstellungen sensibilisiert werden. Die umfangreichen – hier nur exemplarisch herausgegriffenen – Ergebnisse sollen erinnern und zum präventiven und ggf. intervenierenden Handeln anregen, um derlei Haltung nicht zum Normalzustand werden zu lassen. Doch statt angesichts der Ergebnisse tatsächlich massiv in integrative Programme und andere Präventionsmaßnah­men zu investieren, bei denen v.a. junge Menschen ein gleichwertiges Miteinander erleben und schätzen lernen, wird lieber dem Verfassungsschutz und der Polizei vertraut, die sich erst dann melden, wenn die Ideologie soweit gefestigt ist, dass sie zu menschenfeindlichen Handlungen geführt hat.

Zum zweiten nahm das Forschungsprogramm v.a. gesellschaftliche Entwicklungen in den Blick, um deren Einfluss auf GMF zu untersuchen. Die dahingehend aufbereiteten Ergebnisse rund um soziale Desintegration bieten jede Menge Anregungen für Veränderungen im politischen System und im Bereich der sozialen Sicherung. Daraus könnten sogar Forderungen abgeleitet werden, die nicht nur den Parlamentarismus als solchen ins Schwanken bringen, sondern auch das allgemeine kapitalistische Leistungsprinzip samt sozialer Vereinsamung kritisieren und diesem einen Selbstermächtigungsprozess entgegensetzen. Allerdings lassen sich auch realpolitische Verbesserungen mit dem GMF-Konzept in der Rückhand diskutieren, die mit stärkeren sozialen Leistungen und Netzwerken beginnen, einen Bogen zu mehr direkter Demokratie schlagen und beim bedingungslosen Grundeinkommen ihren Höhepunkt feiern könnten.

Zum dritten soll mit der Forschung zu GMF auch auf die Bedeutung generalisierender Ideologien, wie die der sozialen Hierarchisierung, hingewiesen werden. Das kritische Hinterfragen von Einstellungen und der dahinter liegenden Ideologie ist nicht nur eine fortwährende gesamtgesellschaftliche Aufgabe, sondern könnte auch gegen staatlich gesteuerte institutionalisierte Diskriminierung gewendet werden. Denn wenn bspw. erwachsene Flüchtlinge und Asylbewerber_innen gesetzlich geregelte Leistungen erhalten, die insge­samt 225 € nicht überschreiten (inklusiver aller Sachleistungen) und einer Residenzpflicht unterworfen sind, dann findet eine eklatante Ungleichbehandlung und soziale Hierarchisierung gegenüber den anderen in Deutschland lebenden Menschen statt, die zumindest Anspruch auf ein (mager bemessenes) Existenzminimum haben und Bewegungsfreiheit besitzen. Auch die Abschiebung von Flüchtlingen (hauptsächlich Roma) nach Serbien während des winterbeding­ten „Ausnahmezustandes“ Mitte Februar, ist für die dort größtenteils unerwünschte Bevölkerungsgruppe mitunter lebensgefährlich und zeugt von einer dahinter stehenden Ideologie, die dieser Menschengruppe keinen großen bzw. gleichrangigen Wert beimisst (6).

Schlussendlich ist durch die GMF-Forschung auch ein theoretisch fundiertes und empirisch geprüftes Konzept entstanden, das durchaus Potential hat, die Probleme, die sonst gemeinhin unter Rückgriff auf das Extremismusmodell erklärt werden, begrifflich und inhaltlich aus einer neuen Perspektive zu erfassen. Das GMF-Konzept setzt an den dahinter stehenden Werten an, die sich von tendenziellen Un­gleich­wer­tig­keits­vorstellungen zum gefestigten ideologischen Weltbild – wie bei Neonazis – wandeln können. Damit macht es Feindlichkeiten schon in ihrer „Keimzelle“ sichtbar – nicht erst wenn der Rechtsbruch erfolgt. Das rückt nicht nur Vorurteile aus der „Mitte der Gesellschaft“ in den Fokus, sondern eröffnet auch eine Reihe an Handlungsstrategien und Möglichkeiten der Übertragung in die Praxis. Als eine „echte Alternative“ zum Extremis­mus­mo­dell kann GMF laut Kausch/Wiedemann zwar nicht in Stellung gebracht werden, weil der Begriff keine Unterscheidung zwischen Alltagsdiskriminie­rungen und organisiertem Neonazismus zulässt und keine gesellschaftlichen Machtverhältnisse bei der Bewertung von Ungleichwertigkeit eine Rolle spielen (7). Zudem bleibt ein quantitativ-empirischer Ansatz immer beschränkt in seinen Möglichkeiten komplexe Zusammenhänge und Ursachen zu erklären und müsste theoretisch und interdisziplinär weiter unterfüttert werden. Eine Weiterentwicklung des GMF-Konzeptes könnte diese und weitere Defizite durchaus beheben, andererseits ist es auch müßig, darüber zu diskutieren, da seitens der Politik der Wille fehlt, sich vom Extremismusmodell zu lösen. Natürlich ist es politisch praktikabler und bequemer, die „Freiheitlich Demokratische Grundordnung“ (FDGO) zum Maß zu nehmen und all jene als extremistisch zu brandmarken, die gegen sie verstoßen (siehe FA! #39 & 41).

Gerade diese Verengung auf die FDGO ist wohl einer der Hauptgründe, warum das GMF-Forschungsprogramm auch im Gesamten ein sozialwissenschaftliches Randthema bleiben wird. Mit dem GMF-Konzept wird der Finger in die Wunde gelegt und gesellschaftliche Einstellungsmuster der Ungleichwertigkeit werden problematisiert. Damit begibt sich die wissenschaftliche Forschung weg vom Elfenbeinturm in ein gesellschaftlich relevantes und politisch kontrovers besetztes Feld. Wen wundert es dann, wenn es auch Bestrebungen gibt, diesen „Elfenbeinturm“ weiter abzuriegeln und den „Rapunzelverdächtigen Haarwuchs“ der For­scher­_in­nen zu begrenzen?!

momo

(1) „Deutsche Zustände“. GMF-Langzeituntersuchung, Zusammenfassung: www.uni-bielefeld.de/ikg/Handout_Fassung_Montag_1212.pdf
(2) „Europäische Zustände“2009, Zusammenfassung: www.ag-friedensforschung.de/themen/Rassismus/studie.pdf
(3) Mit der Kategorie „Roma und Sinti“ wird auf Antiziganismus rekurriert (und an anderer Stelle auch so benannt). Obgleich die Bezeichnung „Sinti und Roma“ unzureichend ist, da wesentlich mehr Gruppen von Zigeuner_innen bestehen, die sich nicht darunter subsumieren lassen, ist diese Kategorisierung mit Blick auf den Wortlaut in der empirischen Studie erklärbar. Denn, analog zum Alltagsgebrauch, werden Roma&Sinti stellvertetend bzw. synonym zum NS-belasteten Zigeuner-Begriff verwendet.
(4) www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/GMF/SozialeDesintegration.html
(5) www.uni-bielefeld.de/ikg/projekte/GMF/GesZiele.html
(6) www.proasyl.de/de/news/detail/news/abschiebungen_nach_serbien_trotz_kaelte_notstand/
(7) Kausch und Wiedemann analysieren in ihrem Beitrag „Zwischen ‘Neonazismus’ und ‘Ideologien der Ungleichwertigkeit’.“ in: „Ordnung. Macht. Extremismus. Effekte und Alternativen des Extremismus-Modells“ (Forum für kritische Rechtsextremismusforschung (Hg.) 2011) u.a. die Tauglichkeit von GMF als begriffliche Alternative zum Extremismusbegriff. Die fehlende Integration gesellschaftlicher Machtverhältnisse wird dabei u.a. als GMF-Defizit kritisiert. Damit ist gemeint, dass bspw. die Diskriminierung von Asylbewerber_innen von der Mehrheitsgesellschaft den gleichen Stellenwert bekommt, wie bspw. die „Deutschenfeindlichkeit“ einer türkischen Minderheit hier.

Theorie & Praxis

Krise – da war doch was?

Alle reden von der Krise. Über fünf Millionen Einträge gibt es dazu im Internet, der Washington Post zufolge sprach Obama seit 2009 in seinen Reden ganze 330 Mal von der Krise und täglich gibt es neue Krisenmeldungen. Doch womit haben wir es zu tun, wenn das mittlerweile inflationär verwendete K-Wort fällt?

Ein Blick über den Tellerrand zeigt, die Krise ist nicht neu und lässt sich nicht auf eine Finanz- oder Wirtschaftskrise reduzieren. Angesichts der politischen Entwicklungen in der Eurozone handelt es sich ebenso um eine Legitimationskrise – Papandreou lässt grüßen – wie gleichzeitig auch um eine globale Klima-, Energie- und Ressourcenkrise. Kurz: Es sind multiple Krisen, die sich gegenseitig bedingen und verstärken. Während der zähe Ver­handlungskampf um die Höhe der so genannten Rettungsschirme oder das zulässige Maß der Staatsverschuldung die aktuelle Berichterstattung dominieren, und Proteste gegen die aufgezwungenen Sparhaushalte nur am Rande erwähnt werden, steht die verschärfte ökologische Krise im medialen Schatten. Zu Unrecht, denn sowohl die soziale, als auch die ökologische Krise sind eng mit der Wirtschafts- und Finanzkrise verzahnt. Schließlich basiert der kapitalistische Produktionsprozess nicht nur auf der Ausbeutung von Arbeitskraft und auf billigen fossilen Energieträgern, sondern auch auf der fortschreitenden Privatisierung gesellschaftlicher Prozesse und der Inwertsetzung bisher unangetasteter Elemente der Natur.

Vor allem letzteres produziert besonders im Globalen Süden massive sozial-ökologische Verwerfungen. Beispielsweise spekulieren Investment-Fonds auf Nahrungs­mittelpreise, treiben damit die Getreidepreise derart in die Höhe, dass Länder den Import von Lebensmitteln nicht mehr bezahlen können und in Folge die lokale Bevölkerung hungert. Ähnlich verhält es sich beim Land Grabbing, der weltweiten Aneignung von Land durch Konzerne und Staaten, oder beim Abbau natürlicher Ressourcen für boomende grüne Wirtschaftszweige. Doch auch im Globalen Norden sind Menschen, die wenig Rentabilität versprechen, von ökonomischer Ausgren­zung betroffen. Allein in Deutschland beläuft sich die Zahl der Haushalte, die auf Grund unbezahlter Rechnungen zeitweise von der Energieversorgung abgeschnitten sind, auf 800.000.

Die propagierten Lösungen für die aktuellen Krisen und Krisenerschei­nun­gen des Kapitalismus bewegen sich dennoch innerhalb des bestehenden Systems, unterliegen marktkon­for­men Sachzwängen und ignorieren das bestehende Machtgefälle. Die Folge dieser herr­schafts­förmigen Bearbeitung? Die scheinbare Lösung eines Problems verschärft lediglich ein anderes: Der Agro-Sprit verspricht der Klimakrise beizukommen, während jedoch für den Anbau nicht nur große Flächen des Amazonas abgeholzt werden, sondern auch gleich ganze Bevölkerungsgruppen dem neuen Exportschlager weichen müssen. Vergleichbares gilt in Bezug auf Elektroautos: Anstelle das Konzept des Individualverkehrs und damit die Aspekte des Lebensstil im Globalen Norden in Frage zu stellen, werden neue Jobs im „green business” bejubelt, während stillschweigend der Lithium-Abbau unter fragwürdigen Arbeits­be­din­gungen und mit ökologischen Katastrophen voranschreitet. Ob und wenn ja, wer in Bolivien von diesem Boom profitiert, bleibt außen vor.

Die hegemoniale Rezeptur zur Krisenbewältigung liest sich ähnlich wie ein Kochrezept von Jamie Oliver: Ein bisschen grüne Technologien hier, ein wenig erneuerbare Energien da, großzügiges Beimischen von gekürzten Staatsausgaben, je nach Bedarf eine Messerspitze gesetzliche Richtlinien oder Privatisierungen. Dann alles den Grundzutaten Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und hohe Renditen beimischen, kurz umrühren, und fertig ist der Einheitsbrei, der uns je nach Gusto als „Green New Deal“ oder „Green Economy“ serviert wird. Wie jedoch auf die multiplen Krisen zu reagieren ist, um die nötigen, tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungen zu erreichen, muss noch (weiter) ausbuchstabiert werden.

Klar ist: Die derzeit an Griechenland durchexerzierten neoliberalen Krisenmaßnahmen sind weder neu, noch wirksam. Vielmehr erinnern sie an die Strukturanpassungsmaßnahmen mit deren Hilfe bei­spielsweise Subsahara-Afrika in den 1980er Jahren aus der Schul­denkrise kommen sollte. Doch die gekürzten Staatsausgaben, massiven Privatisierungen und kompetitive Wechselkurse etc. haben nicht zu einer Verbesserung der Lebenssituation der Menschen vor Ort beigetragen, ganz im Gegenteil. Der enge Fokus auf technologische und marktbasierte Lösungen hat nicht nur eine entpolitisierende Wirkung, sondern führt letztlich dazu, dass sich im globalen Machtgefüge nichts ändern muss. Mit herrschaftsförmigen Analysen der Krise und den gängigen „Bewältigungsstrategien“ ist also wenig gewonnen, aber viel verloren.

Aus emanzipatorischer Perspektive ist es dennoch wichtig, zu sehen, dass die aktuellen Krisen nicht per se in einen drohenden Weltuntergang münden müssen. Krisen eröffnen immer auch die Chance für grundlegendes Umdenken. Diese Möglichkeit wollen wir auf dem BUKO Kongress 2012 nutzen, um gemeinsam zu diskutieren, uns zu vernetzen und den Handlungsraum zu erweitern.

(die lokale Vorbereitungsgruppe des BUKO34-Kongress)

Theorie & Praxis

Pro & Contra: Schick ich mein Kind auf eine staatliche Schule?

Für politisch interessierte Eltern ist die Entscheidung über die Schulform des Nachwuchses sicher keine leichte. Denn diese hat nicht nur ganz individuell etwas damit zu tun, was mensch sich bei Themen wie Freundschaften, Umfeld, Lernerfahrungen, zukünftige Perspektiven und die Vorbereitung auf die sog. „reale Welt“ für das Kind verspricht, sondern ist auch eine kollektiv-politische Frage. Denn welche Chancen haben noch die Kinder staatlicher Schulen, wenn sich alle engagierten Eltern (sofern es die geografische Lage und der Geldbeutel zulässt) auf Privatschulen wie bspw. Freie Schulen zurückziehen? Aber muss deshalb das eigene Kind zum Märtyrer werden? Wäre es das überhaupt? Diesen und weiterführenden Fragen widmen sich im Folgenden unsere Pro&Contra-Kontra­hent_in­nen:

PRO:

Spätestens mit dem Infobrief zur Schulanmeldung wurde mir klar, dass nun eine neue Epoche beginnen wird, unser Sohn wird bald ein Schulkind sein. Aber dann stand da: Einzugsgebiet Ernst-Pinkert-Schule, Martinstraße. Ich hatte von dieser Schule schon gehört, ihr schlechter Ruf eilte ihr bereits meilenweit voraus. So ging ich mit gemischten Gefühlen auf Argu­mentsuche und schaute mir die Schule mal an.

Nach eingehender Recherche und meinen bislang gesammelten Erfahrungen habe ich mich gegen den Besuch einer staatlich anerkannten Ersatzschule (Freie Schule) und für die Martinstraße entschieden, und zwar aus folgenden Gründen: Freie Schulen haben ein bestimmtes Klientel. Selbst wenn freie Schulen nicht teuer sein müssen, erfolgt dennoch eine Art soziale Segregation. Die Eltern entscheiden sich bewusst für eine freie Schule und nehmen den Mehraufwand von Zeit (Suche, Anmeldung) und Kosten in Kauf. In der Regel gehen Kinder aus sozial schwächeren, ‘bildungsfernen’ Schichten seltener auf freie Schulen. Dies fördert die Spaltung der Gesellschaft.

Doch soll mein Kind nur auf eine staatliche Grundschule gehen, um meine gesellschaftliche Idealvorstellung zu befriedigen? Nein, denn der Besuch einer freien Schule in Leipzig bedeutet nicht gleichzeitig eine bessere Lernatmosphäre.

Freie Schulen werben z.B. mit kleinen Klassen, Freiarbeit und Kreativitätsentfaltung, teilweise mit altersdurch­mischtem Stammgruppen­unterricht. Schaut man allerdings genauer hin, so schneiden staatliche Grundschulen diesbezüglich nicht unbedingt schlechter ab.

Die durchschnittliche Klassenstärke liegt in Sachsen bei 19,6 Kindern. Freie Schulen haben ähnliche, u.U. sogar größere Klassen, da sie meist, trotz großer Nachfrage, einspännig laufen (z.B. Waldorfschule). Damit fällt das Kriterium der Klassenstärke bei der Entscheidung, ob freie Schule oder nicht, für mich weg.

Freiarbeit und Kreativitätsentfaltung spielen auch mittlerweile in staatlichen Schulen eine große Rolle. Ein wichtiges Argument für die Wahl einer freien Schule wäre für mich tatsächlich ein klassenübergreifender Unterricht, der Stammgrup­pen­unterricht. Al­ters­gemischter Unterricht ist eine große Herausforderung für alle Teilnehmer und eine tolle Möglichkeit zum Wissenserwerb. Thüringen (z.B. Jena-Plan-Schulen) hat gezeigt, dass dieses Konzept durch­aus auch staatlich konfiguriert werden kann.

Die freie Schulszene bietet für mich in Leipzig diesbezüglich keine echte Alternative. In unserer Stadt gibt es al­ler­dings nur genau zwei Ersatzschulen, die einen Stamm­gruppen­unterricht anbieten. Die Grundschule des evangelischen Schulzentrums unterrichtet die erste und zweite Klasse gemeinsam. In der kleinen Grundschule Auguste lernen sogar insgesamt 47 Kinder der Klassen 1-4 gemeinschaftlich.

Ein weiteres Kriterium für den Besuch einer staatlichen Schule ist die Motivation bzw. Qualifikation der Lehrkräfte, denn ich behaupte, dass die Qualifikation der Lehrer an staatlichen Schulen oftmals besser ist als an staatlich anerkannten Ersatzschulen. Für viele frisch examierte Anwärter ist eine Stelle an einer freien Schule nur zweite Wahl. Stellen an staatlichen Schulen sind rar und heißbegehrt. Lehrer an freien Schulen erhalten nur 80% des staatlichen Lehrertarifs. Ich kann mir schon vorstellen, dass sich das auf die Motivation der jeweiligen Lehrkraft auswirken kann. Dies führt u.a. dazu, dass freie Schulen häufiger von Lehrerwechsel betroffen sind als staatliche Einrichtungen.

Nun, nach diesen ganzen Überlegungen wird mein Sohn auf die Martinschule gehen, ich werde mich aktiv am Elternrat beteiligen und versuchen den Schulalltag mit anderen gemeinsam mitzugestalten. Nach wie vor finde ich altersgemischten Stammgruppenunterricht gut, und ich bin durchaus der Überzeugung, dass auch in Sachsen ein derartig alternatives Schulkonzept staatlich realisiert werden könnte.

molly

# Soziale Segregation verhindern

# Qualifikation der Lehrer_innen ist gesichert

# Motivation der Lehrkräfte höher durch tarifliche Löhne

# Auch Stammgruppenunterricht und kleine Klassenstärke ist organisierbar

CONTRA:

Anweisungen, Abfragen, Lob, Tadel, Drohungen, Strafmaßnahmen, Beurteilungen, Beschimpfungen – ca. 90 % einer Schulstunde in einer dauernden Endlosschleife… Während diverser Praktika und Hospitationen im Leipziger Grundschullehramts­ studium hatte ich mehr und mehr das Gefühl, per Zeitmaschine in die schönsten wilhelminischen Jahre abzutauchen – wenn sich die Klassenzimmertür hinter den versammelten Kindern schloss und die Reglementierungen, Zurechtweisungen und sonstigen Monologe der Lehrkraft wieder losgingen. Ein paar Jahre Unterricht dieser Sorte hatten sich erkennbar bei den Kindern ausgewirkt: Unterwürfigkeit gegenüber den Lehrerinnen, Unehrlichkeit in Bezug auf Regeln und latente Mobbing-Atmosphäre gegenüber Schwächeren herrschten vor. Genau die Stimmung also, die auch das Arbeitsleben so vieler Erwachsener prägt, hier wurde sie in ihrer Entstehung sichtbar – der Unterwerfung der Subjekte quasi.

Nachdem ich ähnliche Beobachtungen von autoritärem und langweiligem Unterricht an immer mehr Schulen gemacht hatte, beschloss ich das Berufsziel „Lehrer“ zu streichen. ReferendarInnen und junge LehrerInnen können zwar immer wieder versuchen das System Regelschule zu reformieren, erwartet wird in der Praxis aber ihre lückenlose Anpassung. Die reformorientierten Ansätze im Lehramtsstudium werden nämlich größtenteils im praktischen Teil der Ausbildung fallen gelassen. Sprüche wie: „Jetzt vergessen Sie mal was Sie im Studium gelernt haben!“ kennen wohl die meisten jungen Päda­gogInnen. Und mensch passt sich dann eben doch an.

Die Zusammenfassung von Otto Herz, an deutschen Regelschulen würden Kinder des 21. von Lehrkräften des 20. in einem System des 19. Jahrhunderts unterrichtet, ist also naheliegend. In diesen Schulen wird allzu oft die kollektive Resignation des Kollegiums während des Unterrichts auf die sonst so lebendigen Kinder übertragen, bis diese, kurz gesagt, der Mehr­heits­gesellschaft angepasst sind.

Es wäre sicher ungerecht, der Regelschule jede Reformierbarkeit abzusprechen. Viele engagierte LehrerInnen arbeiten teils seit Jahrzehnten daran und es wurden und werden durchaus Fortschritte erzielt. Leider werden diese Ansätze oft verwässert – so bedeutet „Freiarbeit“ meist nur noch, dass Arbeitsblätter „frei“ ausgefüllt werden dürfen, bis alle Kinder dieselben Blätter bearbeitet haben – oder können durch simple Ge­gen­re­for­men wie­der aufgehoben wer­den. Ein Beispiel für ein solches roll-back ist die Einführung des ADH-Syndroms (1): Kinder die sich ungenügend dem Frontalunterricht fügen, sind dann eben krank. Kein Wunder dass ein solches Modell in den altmodischsten Schulen am eifrigsten zur Rettung und Modernisierung althergebrachter Diszi­plinierungspraxis aufgegriffen wird. (2)

Wenn ich also nicht 20 Jahre warten will, bis die sächsische Regelschule vielleicht mal erträglich geworden ist, weil ich jetzt ein Kind im schulpflichtigen Alter habe, bleibt nur eine alternative, freie bzw. demokratische Schule übrig.

Diese Schulen sind bestimmt keine paradiesischen Inseln und laborieren seit eh und je an diversen Problemen, wie zum Beispiel Leistungsnachweisen. Es scheint nicht leicht zu sein, den Bildungserfolg von Kindern objektiv zu messen, wenn keine Lehrplaninhalte anhand von benoteten Tests abgefragt werden können. Die Vorteile äußern sich eher subjektiv:

Dadurch, dass die Kinder keinem fremden System unterworfen werden, sondern Räume, Inhalte, Zeitplan und Methoden selber beeinflussen können, werden andere Kompetenzen erlernt – nicht Anpassung, sondern Selbstwirksamkeit, nicht Konkurrenz sondern Kooperation, nicht Befehls­ ausübung sondern Mitbestimmung. Diese Unterschiede sind nicht deshalb so drastisch, weil in freien und demokratischen Schulen die besseren Leh­rerInnen oder Kinder wären, sondern weil ihre Struktur auf Partizipation, Offenheit und Freiwilligkeit ausgelegt ist und sich damit den Bedürfnissen der Menschen anpasst.

Zwar wird freien Schulen oft vorgeworfen, einer gewissen bildungsaffinen Schicht eine Wohl­fühleinrichtung zu bieten und alle anderen in der Regelschule allein zu lassen. Aber was soll daran elitär sein, wenn ich meinem Kind jahrelangen autoritären Unterricht ersparen will? Die Perspektive einer demokratischen Schule ist es ja gerade, offenen Unterricht exemplarisch vorzuleben und damit langfristig auch die Reform der Regelschule zu beeinflussen.

Um diese Entwicklung voranzubringen und gleichzeitig eine allgemeine Bildungsgerechtigkeit herzustellen wäre es natürlich wichtig, Schulen in freier Trägerschaft den staatlichen Schulen rechtlich und finanziell gleichzustellen. Dadurch gäbe es keine „alternativen“ oder „Regelschulen“ mehr, sondern alle Eltern und Kinder hätten die freie Wahl der Bildungseinrichtung. Bis es soweit ist, müssen sich Leute wie ich eben gegen die Mehrheitsgesellschaft entscheiden.

soja

(1) Aufmerksamkeits-Defizits-Hyperakti­vitäts-Syndrom. Mit Aufmerksamkeits-Defizit ist aber nicht gemeint, dass die Kinder zu wenig Aufmerksamkeit bekämen, sondern aufbringen würden.
(2) Die so abgestempelten Kinder können dann wieder speziell „integriert“, sprich diszipliniert, werden. So kann sich der Unterricht „integrativ“ und die Schule „Integrationsschule“ nennen, aber das ist wieder eine andere Geschichte…

# Förderung von Haltungen der Unterwürfigkeit, Unehrlichkeit und Ungleichwertigkeit

# Als Lehrkraft wenig Gestaltungsfreiheit beim Unterricht

# Freie Schulen setzen auf Partizipation, Offenheit und Freiwilligkeit

# Alternative Schulen zeigen Reformmöglichkeiten für staatliche auf

Wirtschaftswunder und Papiertiger

Immobilienkrise und Protest in China

Schon in unserer #42 haben wir über Arbeiter_innen-Unruhen und die wirtschaftliche Lage in China berichtet. Mittlerweile ist es Zeit für ein Update. Was die Unruhen angeht, stellen z.B. die Vorgänge in der südchinesischen Hafenstadt Wukan eine neue Qualität dar. Immerhin haben hier die Partei und die Sicherheitskräfte über Wochen hinweg gänzlich die Kontrolle über die Lage verloren – mehr dazu weiter unten.

Aber auch die Immobilienblase scheint schneller zu platzen, als wir es vermutet hätten. So fielen die Immobilienpreise für Peking allein im November 2011 um 35%. Auch in Shanghai sahen Immo­bi­lien­firmen sich gezwungen, die Preise für Eigentumswohnungen um bis zu ein Drittel zu reduzieren (1).

Abstürzende Neubauten

In einigen Städten, z.B. Ordo und When­zou, ist die Immobilien- in eine ausgewachsene Kreditkrise übergegangen, mit allem was dazugehört – ruinierte Geschäftsleute, die sich aus Verzweiflung von Häuserdächern stürzen, inklusive. In Shanghai sammelten sich aufgebrachte Käu­fer­_innen, die kurz zuvor noch Appartements zu höheren Preisen erworben hatten, vor den Firmenzentralen, um Rückzahlungen zu verlangen – mancherorts gingen sie zu handfester Randale über, zertrümmerten Fensterscheiben und verwüsteten Innenräume.

Das chinesische Radio berichtete, dass etwa die Hälfte der Maklerfirmen in der im Süden des Landes gelegenen Stadt Shenzhen die Türen schließen mussten. Der Umsatz der Stahlindustrie (der zu einem Gutteil aus der Produktion von Stahlkonstruktionen für den Häuserbau herrührt) sank zwischen Juni und Dezember um 15%. Etwa 100 von verschiedenen Kommunen angesetzte Landverstei­gerungen endeten ohne Verkäufe. Die von der Stadt Peking erzielten Einkünfte aus Landverkäufen san­­ken im letzten Jahr um 15%.

Damit befinden sich die Kommunen in der Klemme: Denn der Verkauf von staatlichem Grund und Boden ist ihre wich­tigste Einnahmequelle. Wenn diese wegfällt, ist unklar, ob sie die Kredite zurückzahlen können, die zur Finanzierung großzügiger Infrastruktur-Projekte aufgenommen wurden. Die Immobilienblase bedroht also auch die Grundlagen des bisherigen rasanten Wachstums, das im letzten Jahrzehnt jährlich 8 bis 10% des BIP betrug.

Denn dieses konnte seit Beginn der weltweiten Krise 2007 nur noch durch staatliche Konjunkturmaßnahmen und Kredite aufrechterhalten werden. So investierten staatliche Stellen und Firmen in den Bau von Flughäfen und die großzügige Ausweitung des Autobahn- und Schienennetzes (2). Gleichzeitig floss ein großer Teil der Kredite in den Immobiliensektor, verschuldete Regionalbehörden verkauften im großen Stile Land an staatliche Unternehmen.

Die Gelder wurden also nur zwischen verschiedenen staatlichen Instanzen umgeschichtet. Der wichtigste (und wohl auch einzige) Effekt dabei war, dass die Preise in die Höhe getrieben wurden – wobei auf die großflächige Ansiedlung ausländischer Firmen und ein damit verbundenes Anwachsen der Arbeitsbevölkerung in den Städten spekuliert wurde. Aus dieser Erwartung heraus wurden auf dem Immo­bilienmarkt riesige Überkapazitäten aufgebaut – so wird die Zahl der leer stehenden Eigentumswohnungen derzeit auf bis zu 65 Millionen geschätzt (die Gewerbeimmobilien sind dabei noch gar nicht mitgezählt). Das milliardenschwere Konjunk­turpaket trug also beträchtlich dazu bei, die schon vorher bestehende Immobilienblase noch mehr aufzublähen.

Und auch auf das jetzige Absacken der Immobilienpreise reagierte die Zentralregierung, indem sie die Banken anwies, den bedrängten Schuldner_innen mit Notkrediten auszuhelfen. Ein weiteres unkontrolliertes Fallen der Preise konnte damit vorerst verhindert werden. Aber auch die Regierung befindet sich in der Klemme: Uneingeschränkte Kreditvergabe dürfte die bestehende Blase nur weiter vergrößern, während diese ohne Kredite endgültig platzen würde.

Der Aufstand von Wukan

Die Krise könnte aber auch die sozialen Konflikte im Land verstärken. Einen möglichen Vorgeschmack boten im Dezember die Unruhen in der südchinesischen Hafenstadt Wukan. Anlass war dabei der geplante Verkauf von Gemeindeland an ein Bauunternehmen. Die Stadtverwaltung hatte seit Mitte der 90er Jahre immer wieder solche Verkäufe getätigt, obwohl das Land mehr oder weniger öffentliches Eigentum ist. Denn wer vom staatlichen Haushaltsregister der Landbevölkerung zugerechnet wird, hat damit automatisch ein auf 30 Jahre beschränktes Nutzungsrecht für ein Stück Ackerland.

Die Landverkäufe waren dabei lange Zeit kein großes Problem. Weil die rund 20.000 Einwohner_innen der Stadt vorrangig vom Fischfang lebten, wurden die rechtlichen Ansprüche auf Land nicht geltend gemacht. Im Zuge der weltweiten Wirtschaftskrise sind die Einkünfte aus der Fischerei aber bedroht – das Ackerland gewinnt also als zusätzliche Einkommensquelle an Bedeutung.

Der Protest begann am 21. September 2011, zunächst friedlich. Aber nachdem drei Protestierende bei einer Demonstration vor der örtlichen Zentrale der KP festgenommen worden waren, belagerten am Folgetag mehrere hundert Menschen das Polizeirevier und verlangten die Freilassung der Verhafteten.

Nachdem die Unruhen sich auch mit massiver Polizeigewalt nicht unter Kontrolle bringen ließen, lenkten die Behörden scheinbar ein: Die Protestierenden sollten eine 13köpfige Delegation wählen, um Verhandlungen einzuleiten. Was wie ein Entgegenkommen aussah, diente aus Sicht der Obrigkeit aber wohl nur dazu, die vermeintlichen „Rädelsführer“ der Unruhen ausfindig zu machen. Diese Vermutung liegt angesichts der weiteren Entwicklung nahe: So wurden Anfang Dezember fünf der Delegierten von zivil gekleideten Polizisten aus einem Straßenrestaurant entführt.

Der nächste Schlag folgte zwei Tage später: Etwa tausend bewaffnete Polizisten rückten auf die Stadt zu. Die Ein­wohner_innen reagierten, indem sie die Zufahrtstraßen mit Barrikaden versperrten. Nach zweistündigem Schlagabtausch zog sich die Polizei zurück.

Am darauf folgenden Tag kam die Nachricht, dass einer der Entführten, der 43jährige Xue Jinbo, im Polizeigewahrsam einem Herzinfarkt erlegen sei. Entgegen dieser offiziellen Verlautbarung war der Delegierte aber in der Haft offenbar gefoltert und wahrscheinlich ermordet worden. Der Sohn des Opfers, dem die Leiche gezeigt worden war, berichtete, diese hätte deutliche Zeichen von Misshandlungen aufgewiesen. Diese Nachricht löste neuen Aufruhr aus. Die aufgebrachte Menge stürmte Verwaltungsgebäude, der örtliche Parteisekretär, der die Stadt seit 30 Jahren regiert hatte, wurde in die Flucht getrieben.

In den folgenden Wochen beschränkte sich die Polizei darauf, die Zufahrtsstraßen zu blockieren, die Lieferung von Lebensmitteln zu unterbinden und die Ein­woh­ner_innen am Verlassen der Stadt zu hindern. Auch die Fischereiflotte von Wukan wurde im Hafen festgehalten. So sollte einerseits Druck auf die Protestierenden ausgeübt, andererseits eine Ausweitung des Protests auf die umliegenden Ortschaften verhindert werden. Eine lückenlose Blockade gelang aber nicht: Bewohner_innen der Nachbarorte brachten Reis und andere Nahrungsmittel in die Stadt. Die Einwohnerschaft von Wukan organisierte sich derweil selbst. So wurde ein neues Stadtkomitee gewählt und für den Kontakt nach außen ein Pressebüro eingerichtet. Eine öffentliche Gesundheitsversorgung wurde organisiert, ebenso ein nächtlicher Streifendienst, um für Sicherheit zu sorgen.

Einige Zeit blieb unklar, wie die Zentralregierung sich positionieren würde. Letztlich schreckte sie aber davor zurück, den Aufstand mit allen Mitteln niederzuschlagen – wohl aus Angst vor einer möglichen Ausweitung der Unruhen innerhalb Chinas und öffentlicher Aufmerksamkeit im Ausland. Der verantwortliche Parteisekretär wurde seines Amtes enthoben.

Das ist in solchen Fällen nicht ungewöhnlich und entspricht einem teils vermeintlichen, teils realen Interessengegensatz von Zentral- und Lokalregierung: Einerseits wälzt die Zentralregierung die Verantwortung für unpopuläre Repressionsmaß­nahmen auf die Lokalregierungen ab. Denn solange sich Proteste nur gegen „korrupte“ lokale Eliten richten, lassen sie sich kontrollieren und stellen keine Gefahr für die politische Ordnung im Gesamten dar. Andererseits hat die Staatsführung, im Gegensatz zu den lokalen Behörden, auch tatsächlich ein Interesse an der Eindämmung der Korruption.

Der Posten des Parteisekretärs wurde nun mit einem Repräsentanten des Protestkomitees besetzt. Ein deutliches Zeichen dafür, wie großes Interesse die Staatsführung an der Befriedung des Konflikts hat. Die Lokalbehörden haben derweil angekündigt, bereits veräußertes Land zurückzukaufen. Verhaftete Demons­tran­t­_innen wurden freigelassen und eine offizielle Untersuchung zum Tod von Xue Jinbo in Aussicht gestellt.

Damit ist zumindest in Wukan wieder Ruhe eingekehrt. Allerdings wird es für die Regierung zunehmend schwierig, die Kontrolle aufrecht zu erhalten. Die Zahl der landesweiten Unruhen wächst seit Jahren beständig. So wird geschätzt, dass es im letzten Jahr ungefähr 180.000 ‚Massenzwischenfälle’ gab. Die nun drohende Wirtschaftskrise könnte zusätzlich dazu beitragen, dass die sozialen Verhältnisse auch in China in Bewegung geraten – mit möglicherweise weltweiten Auswirkungen.

justus

(1) www.foreignaffairs.com/articles/136963/patrick-chovanec/chinas-real-estate-bubble-may-have-just-popped
(2) vgl. Wildcat #85, Herbst 2009, „Alle Hoffnungen richten sich auf China“
(3) www.telegraph.co.uk/news/worldnews/asia/china/8954315/Inside-Wukan-the-Chinese-village-that-fought-back.html

Nachbarn

outside the box #3: „Gebären“

Zum dritten Mal erschien nunmehr die outside the box – Zeitschrift für feministische Gesellschaftskritik, die seit ihrer ersten Ausgabe im November 2009 versucht, linke, feministische Kritik präsenter zu machen. Sie hat den Anspruch feministische Gesellschaftskritik aus den Fußnoten linker Werke in den Mittelpunkt des Gesprächs zu rücken und den entsprechenden Themen ein Forum zu bieten.

Nachdem sich die letzten beiden Nummern mit Emanzipation bzw. Form beschäftigten, geht es dieses Mal um ein Thema das wie kaum ein anderes mit Natürlichkeit und Fremdzuschreibungen verbunden ist: Gebären.

Während viele andere (queer-)feministische Magazine lockerflockig daher kommen, nicht schwer im Magen liegen und sich durchaus auf dem Klo schmökern lassen, würde die outside als Klolektüre Hämorriden begünstigen. Kürzere und leichtere Texte gibt es auch, die meisten längeren Texte haben es aber in sich und wollen sowohl gründlich als auch gern mehrfach gelesen werden. Die Unterscheidung längerer Theorietexte von eher praktisch orientierten Textformen schlägt sich auch im Layout nieder, die Differenz fällt schon beim Durchblättern der Ausgabe auf. Interviewteil, lebensnahe Texte und Theoriebeiträge haben verschiedene Schriftarten und -größen. Die outside the box kommt gut gepolstert daher: 103 Din-A4-Seiten, dazu noch eine Einlage in A3.

Quer durch das Heft schlängelt sich der Interviewteil, der mich von allen Beiträgen am meisten ansprach. In vier Blöcken tauschen sich vier Personen über die Gebärensaspekte „Geburt/Schmerz“, „Aufklärung/Natursehnsucht“, ein „solidarisches Umfeld“ und „Anforderungen an Mütter, Väter und Andere“ aus. Drei der Personen haben selbst Kinder geboren, die vierte möchte nie selbst Kinder gebären und scheiterte mit dem Versuch als dritte Bezugsperson für ein Kind von Freund_innen da zu sein. Aus vielfältigen Perspektiven sprechen die vier auch Themen an, die sich sonst weder in den üblichen Schwangerschaftsratgebern finden lassen, noch Eingang in gängige feministische Texte finden: z.B. das Gefühl, als Frau versagt zu haben, weil das Kind per Kaiserschnitt geboren wurde und nicht ganz „natürlich“. Die scheinbar undenkbare Situation, als Mutter direkt nach der Geburt nicht sofort vor Mutterliebe zu vergehen, sondern sich erst einmal an das neue Wesen gewöhnen zu müssen und paternalistisches Verhalten aus dem Freund_innenkreis sind nur ein paar der Themen, die bewusst machen, wie viel über Schwangerschaft noch nicht gesagt wurde. Ich hätte gerne noch viele, viele Seiten mehr von diesem nachdenklich machenden Gespräch gelesen. Leider reichte der Platz im Heft nicht aus, um noch mehr Interview abzudrucken, was die Herausgeberinnen mit einer Liste an Themen kommentieren, die sie gerne noch angesprochen hätten, wie beispielsweise Sexualität und Schwangerschaft und die Entfremdung vom eigenen Körper.

Das Verhältnis zum eigenen Körper ist in zwei biografischen Texten präsent, in denen die Autor_innen darüber sprechen, wie sie ihre Abtreibungen empfanden, wie behördliche Fristen, ihre Selbstbestimmung über den eigenen Körper einschränkten und mangelnde ärztliche Begleitung sie verletzte. In diesen Beiträgen wird ein Thema präsent, das bei den „Betroffenen“ oft die Sehnsucht nach Gedankenaustausch weckt, in dieser Gesellschaft jedoch tabuisiert ist, weshalb viele mit ihren Gefühlen auf sich allein gestellt waren.

Die Außensicht auf das Gebären (lassen) ist das Thema zweier von Vätern verfasster Texte. Beide berichten vom Aufeinanderprallen alternativer Lebens- und Erziehungsmodelle und normalisierender Außenwelt. Es wird thematisiert wie schnell sich Unzufriedenheit breit macht und die Beziehung ebenso wie den eigenen Alltag bedroht, wenn mensch den ganzen Tag nur von Lohnarbeit und/oder Kind umgeben ist und keine Zeit mehr für die eigenen Interessen und Bedürfnisse hat.

Ein dritter Text aus männlicher Perspektive behandelt das Unaussprechliche – „die männliche Angst“. Die Angst, die eintreten kann, wenn der_die Sex­part­ner_in schwanger geworden ist/sein könnte – und man selbst ab dem Zeitpunkt die Entscheidung, wie es weiter geht, allein der potentiell schwangeren Person überlassen und das Ergebnis akzeptieren muss. Dieser Beitrag ist ein Hybrid, inhaltlich eher theoretisch teilt er das Layout und den leicht verständlichen Inhalt mit den anderen „Praxistexten“.

Die theorielastigeren Beiträge unterscheiden sich inhaltlich stark von­einander, den größten gemeinsamen Nenner weisen vier Artikel auf, die sich allesamt mit historischen Persönlichkeiten bzw. Persönlichkeitsmythen beschäftigen, die stets in identitären Spannungsfeldern standen. Die mexikanische La Malinche, die deutsche Bettina von Arnim und der polnische Mythos der Matka Polka. Die vierte im Bunde ist Maria Theotokos, Maria die Gottesgebärende, deren bild­licher Inszenierung auf den Grund gegangen wird.

Schnell wird deutlich, dass „Gebären“ von vielen Autor_innen durchaus sehr weit gefasst wurde, nicht immer geht es um das Zur-Welt-Bringen von Kindern, auch die Schöpfung von Ideen und die Produktion nationaler Identität wird behandelt.

Nah am körperlichen Thema sind beis­pielsweise noch die Kulturgeschichte der Gebärmutter und der Beitrag über das Wiener Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch.

Wie es sich für eine linke, sich kritisch-antideutsch verortende Zeitschrift gehört gibt es natürlich auch Texte mit NS-Bezug: Es werden die Geburtenpolitik im Nationalsozialismus – und deren heutige Interpretation behandelt und das Modell der „neuen Frau“ reflektiert, das nach und nach nationalsozialistisch geprägt und schließlich bedeutungslos wurde.

Wesentlich abstrakter kommt z.B. ein Text mit dem Titel „‘Nicht ohne Sträuben.‘ Libido und Fortpflanzungsfunktionen“ daher, der das Problem der Zuweisung von Frauen zur Natur sowie Männer zur Kultur mit Psychoanalyse zu widerlegen versucht, dabei jedoch auf reichlich krude Theorien Freuds zurückgreift.

Das Thema des Hefts erweckt bei manchen Texten den Eindruck eines Alibis, wenn ein Bezug zum Themenkomplex „Gebären“ kaum noch zu erkennen ist und der entsprechende Text an eine Haus- oder Abschlussarbeit erinnert, die sich in die Ausgabe geschlichen hat.

Mitunter liegt die Vermutung nahe, der_die ein_e oder andere Autor_in versuchte durch verklausulierte Formulierungen, übermäßigen Fachwortegebrauch und unzählige Referenzen über inhaltliche Schwächen hinwegzutäuschen bzw. einen besonders kompetenten Eindruck zu erzeugen. Zwar ist Stil Geschmackssache, doch leider besteht bei elitärem Sprachgebrauch die Gefahr, einen Teil der Le­ser_inn­enschaft auszuschließen.

Leichter verdaulich ist die Photostrecke, in der verschiedene Marienbilder – ohne Kind – nachgestellt wurden und auch die liebevollen Illustrationen, die sich quer durch das Heft ziehen, sollen nicht verschwiegen werden. Schade, dass es dieses Mal keinen Comic gibt, dafür liegt der Ausgabe als Geschenk ein Din A3 großer Extrabogen bei, der vom Layout her zur zweiten outside the box passt und zwei Texte beinhaltet.

Genau in der Mitte des Magazins findet sich das Editorial, das mit seiner ungewöhnlichen Lage wohl das queerste Element in dieser Ausgabe ist. Auch wenn sich die Redaktion in Interviews teilweise queer verortete und für eine ganzheitliche Sichtweise auf feministische Themen eintreten möchte, empfinde ich in #3 queere Perspektiven als unterrepräsentiert.

Die einzige Position zu nicht-monogamen Beziehungsformen findet sich im Interviewteil, in einem der „Vätertexte“ wird das Thema queer kurz touchiert.

Nachdem im Jahr 2008 der schwangere Transmann Thomas Beatie die Presse in Aufruhr versetzte und im Erscheinungsjahr der neuen outside das Bundesverfassungsgericht die Zwangssterilisierung von Trans*personen als Voraussetzung für die Personenstandsänderung abschaffte, habe ich beim Thema „Gebären“ mehr erwartet.

Zugegeben, im call for papers, der der dritten outside voraus ging, wurde zumindest die Schwangerschaft von Trans*personen erwähnt – in die Texte hat das Thema jedoch keinen Eingang gefunden. Es gibt auch tatsächlich nur einen einzigen Beitrag (und das Editorial), in dem das Gender_Gap verwendet wird und damit einen Hinweis darauf, dass zumindest in einem Text nicht-binärgeschlechtlichen Identitäten mitgedacht wurden. Explizit genannt werden sie in keinem Beitrag. Wenn von schwangeren Personen die Rede ist, sind allein Cisfrauen (1) gemeint, den väterlichen Part übernehmen stets Männer. Es scheint, als sei die outside the box der Natürlichkeit auf den Leim gegangen, die sie doch mit dieser Ausgabe in Frage stellen wollte.

Alles in allem kann ich die outside the box sehr empfehlen, da sie mit ihrem Mix aus niederschwelligen und schwerer zugänglichen Texten für fast alle Leser_innen interessante Aspekte zu bieten hat. Für 4,50 Euro hat mensch eine Menge Lesestoff (103+2² Seiten) – und wer gar nicht damit warm werden kann hat immer noch ein schickes, frühlingsgrünes Mitbringsel aus Leipzig für die Bekannten im tristen Restdeutschland.

Website mit Bezugsmöglichkeiten: outside.blogsport.de

gundel

(1) „Cis“ ist das Pendant zu „trans*“ und meint Personen, bei denen das nach der Geburt zugewiesene Geschlecht mit dem gelebten und gefühlten Geschlecht übereinstimmt.

Rezension