Archiv der Kategorie: Feierabend! #28

Cuba: Soziale Alternative oder Diktatur?

Die Meinungen zu Cuba könnten kaum widersprüchlicher sein: Wäh­rend „orthodoxe Marxisten“ das kleine mittelamerikanische Land als sozialistische Alternative hochleben lassen, wird in „libe­ralen“ Kreisen Cuba oftmals auf Diktatur reduziert und ohne nähere Beschäftigung leichtfertig abgetan. Dies sind freilich nur die Pole eines Spektrums, in welchem es kaum möglich ist, an Informationen zu gelangen, die nicht durch die Massenmedien anti-cubanisch oder durch Gruppen, wie bspw. „Cuba Si“ pro-cubanisch eingefärbt sind. Die ca. 2 Mio. Exil-Cubaner in Miami tragen dabei ebenso zur Polarisierung bei wie die Informationspolitik der cubanischen Re­­gie­r­ung. Es gibt kaum ein Thema, an dem Schwarz-Weiß-Malerei und verkürzte Darstellungen so offensichtlich werden wie in der Berichterstattung über die kleine Insel. Um die daraus resultierende, meist schnelle und einseitige Urteilsbildung über die Verhältnisse dort selbst hinterfragen zu können, soll es an dieser Stelle vor allem um die Lebensrealitäten der Cubaner/innen gehen und die Frage, wie der Alltag wirkt. Denn so, wie sich ein einseitiges politisch-polarisierendes Bild nicht mit der erlebten Alltäglichkeit deckt, so gibt es auch keine einfachen Lösungen für die Probleme jenes Landes, dem bald ein umfassender Umbruch bevorsteht.

Lebensalltag

Der Großteil Cubaner/innen lebt in einfachen Verhältnissen auf der Insel. Selbst die vielen alten und zerfallenen Häuser bieten ein festes Dach über dem Kopf und seit der Ernährungskrise in den 90ern gibt es auch wieder ausreichende bzw. ausgewogene Ernährungsmöglichkei­ten für alle. Die nötigen finanziellen Mittel für das Überleben erarbeiten die Menschen hauptsächlich in den zahlreichen staatl­i­chen Betrieben. Dort gibt es wenig Produktionsdruck – wie er hier durch Angst vor Arbeitsplatzverlust geschürt wird – und die Arbeitsbedingungen sind am Menschen orientiert: feste Arbeitsverhält­nisse, ein Acht-Stunden-Tag, umfangrei­che Ausbildung und Weiterbildungen, Mutterschutz, Krankenversorgung und Sozialleistungen sind auch in Zeiten ohne Produktion selbstverständlich. Um effekti­ves Arbeiten zu fördern und den Produk­tions­­druck zu erhöhen, haben die Gewerk­schaf­ten – ähnlich wie der FDGB (1) in der DDR – zudem Belohnungssysteme eingerichtet, wie z.B. kollektiv gezahlte Extragelder bei Produktionssteigerung und die ‚besten Mitarbeiter des Jahres‘, die bspw. einen Aufenthalt mit der Familie im Luxushotel bekommen. Die durchschnitt­lich verdienten 300-600 Peso monatlich – die im übrigen relativ gleich auch bei unterschiedlichen Tätigkeiten und Qualifi­ka­­tio­nen sind, denn ein Arzt verdient kaum mehr als ein Gießer – reichen jedoch gerade mal für die nötigsten bzw. grundle­gen­den Nahrungsmittel und Waren, die auch vom Staat subventioniert werden. Dies ermöglicht zwar keinen Luxus, verhindert aber dennoch eine Mangeler­näh­rung, die besonders bei Kindern in vergleichbaren lateinamerikanischen Ländern keine Seltenheit sind. Generell haben die Cubanerinnen und Cubaner gesundheitlich kaum zu klagen, denn ihr Gesundheitssystem zählt zu den weltweit besten. Es gibt eine hohe Dichte gut ausgebildeter Ärzte, die die Menschen kostenfrei versorgen. Neben diesen sog. ‚Familienärzten‘, die selbst in den entle­gens­ten Winkeln Cubas vertreten sind, gibt es auf regionaler Ebene zahlreiche Polikliniken und einige Spezialkliniken für kompliziertere Operationen. Der breite Zugang der Bevölkerung zu den Ge­sund­heits­­­­­ein­rich­tun­gen zeigt seine Erfolge: die Kindersterblichkeit und die Lebenserwar­tung ist vergleichbar mit denen der führenden Industrie­länder. Beim Bil­­dungs­­­­­­sys­tem zählt Cuba eben­­so zu den weltwei­ten Vor­rei­tern. Es gibt de facto keine Analpha­be­ten, die durch­schnitt­­liche Klassen­stärke in den Schulen liegt bei 12, die Lehr­er/innen sind gut aus­ge­bildet und das Ge­samt­­schulsys­tem för­dert das Bildungsniveau. Die Schulbil­dung ist ebenso kostenlos wie die dazuge­hö­rigen Lehrmittel, Schulklei­dung, Nahrung und Transport.

Was jedoch im sozialen Bereich so fortschrittlich erscheint, ist keineswegs problemfrei: Im Gesundheitsbereich wird mit technisch veralteten und wenigen medizinischen Geräten gearbeitet und auch eine umfangreiche Medikamenten­ver­sor­gung kann nicht immer gewährleis­tet werden. Ebenso fehlt es in vielen anderen Produktionsbereichen an techni­schen Geräten und Rohstoffen. Ursachen dafür lassen sich sowohl in den histori­schen wirtschaftlichen Abhängigkeiten, als auch der US-Blockade als Antwort auf den erklärten Sozialismus Cubas finden. Die kleine Insel hatte sich bereits vor der cubanischen Revolution [siehe Kasten] auf den Zuckerrohrexport konzentriert und war, wie viele lateinamerikanische Länder von US-amerikanischen Importen bzw. Exporten abhängig. Nach den ersten sozialistischen Veränderungen, wie der Land- und Bodenreform und der Verstaat­li­chung der wenigen industriellen Betriebe verhängte die USA 1960 ein bis heute geltendes Handelsembargo. Neue Verträge mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Staaten sollten daraufhin den totalen wirtschaftlichen Zusammen­bruch Cubas verhindern, entpuppten sich allerdings als neue Abhängigkeiten. Denn neben der Cuba-Krise 1962, die fast in einem Atomkrieg geendet hätte, wurde vor allem nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Länder ab 1989 klar, dass sich die cubanische Wirtschaft zu sehr auf den Export der Monokultur Zuckerrohr konzentrierte und nicht an einer wirt­schaftl­i­chen Unabhängigkeit arbeitete. 85% des Außenhandels brachen mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein und stürzten die Bevölkerung Cubas, durch fehlende Importe in eine bis dahin unge­kannte Hungerkrise. Die Krise wurde zudem durch den Druck der US-Blockade, der auch außenpolitisch wirkte und wirtschaftliche Beziehungen zu anderen Ländern verhinderte, verstärkt. Umfang­rei­che wirtschaftliche Veränderungen wurden deshalb 1992 durch die Öffnung für Tourismus und ausländische Investoren eingeleitet. Sie sollten das Land und die Bevölkerung durch neue Devisenzugänge aus ihrer Misere befreien.

Neue Wege

Die Öffnung für den Tourismus jedoch hat viele neue Widersprüche innerhalb der Bevölkerung geschaffen, die vor allem in der Hauptstadt Havanna offensichtlich werden. Denn dort können die Touristen weniger von der Bevölkerung separiert werden, um einheimische Lebensweisen zu schützen und Kontrolle zu behalten, wie es auch in anderen auf Tourismus ausge­rich­te­ten Ländern oft üblich ist. Auf der Insel gibt es zwei verschiedene Währungs­sys­teme: die Devisenwährung Cuc, die dem ungefähren Handelswert von einem US-Dollar entspricht und mit denen die Touristen in speziellen Läden alle erdenkli­chen kapitalistischen Güter erwerben können und den einheimischen Peso, der ungefähr 24-mal weniger Wert besitzt. Die Angestellten in den staatlichen Betrieben, die umgerechnet nur zwischen 12 und 25 Dollar monatlich verdienen, können in den Touristen-Geschäften vor der Haustür kaum die Güter erwerben, die so begehrt sind. Vor allem technische Geräte, (Mar­ken-)­­­Kleidung und andere Luxusgüter werden gebraucht, sind beliebt, haben Konsumbedürfnisse geweckt und die Bevölkerung gespalten. Zwar zahlen auch viele staatliche Betriebe inzwischen ca. 30 Cuc im Monat zum regulären Lohn hinzu, um den Bedürfnissen der Bevölkerung ent­gegen zu kommen, doch ist eine Arbeits­stelle in der Tourismusbranche allemal ertragreicher. So kommt es, dass es viele Menschen vorziehen, trotz hoher anderer Qualifizierung, anspruchs­­­­lo­­sere Arbeit dort zu verrichten, wo mensch einem Trinkgeld hinter­her­­ja­gen kann, das für andere der Monatslohn ist. Der Staat ver­sucht einem unkontrollierten Devisen­han­del und der Spaltung der Bevöl­kerung in Bezug auf unter­schied­liche Wohlstands­ni­veaus, durch verstärkte Kon­trollen und harte Strafen beizu­kom­­men. So gibt es legale Ar­beits­­­plät­ze, wie Taxi­fahrer/innen oder Verwalter/innen sog. „Casa Particula­res“ (eine Art Mini-Pension in Fami­lien­­häu­sern), die eine hohe Summe monatlich an Steuern für ihr Geschäft zahlen müssen, so dass die verdienten Einnahmen durch die Touristen relativ gering bleiben. Illegalisierte Geschäfte, wie die der Taxifahrer/innen ohne staat­liche Geneh­mi­­gung oder ungemeldete Handelsge­schäfte mit Waren und Dienst­leistungsan­ge­bo­ten, werden mit harten Geldstrafen belegt, die schlichtweg unbezahlbar sind. Die Gesetze gehen sogar soweit, dass es z.B. verboten ist, als Ausländer/in in einer cubanischen Familie zu übernachten, da weder Geldgeschäfte noch kritische Worte dort kontrollierbar sind. Für die Überwa­chung und Ein­haltung dieser Richtlinien sind vor allem die ‚Komitees zur Verteidi­gung der Revolution‘ (CDR) verantwort­lich, die in jedem Barrio angesiedelt sind und neben der Organisation des Gemein­we­sens – wie z.B. Betreuung von älteren Menschen, Nachbarschaftshilfe, Durch­füh­­rung von Butspende- und Impf­kampag­nen sowie Gesundheitsaufklärung – auch für die Kontrolle der Kriminalität zuständig sind. Sie ersetzen vielfach Polizei und Militär im Inneren und üben durch die räumliche Nähe der ‚ehrenamtlichen Nachbarn‘ Druck aus. Angst vor Überwa­chung und dementsprechend überlegte Äußerungen, sowie gefühlte Repressionen durch Eingriffe in die Privatsphäre führen dabei vielfach zu Frustration innerhalb der Bevölkerung. So entpuppt sich die Öffnung für den Tourismus, die als einzige Alternative für das sozialistische Land nach dem Zusammenbruch der wirt­schaft­li­chen Beziehungen zur Sowjet­union gesehen wurde, als Falle für die sozia­listische Idee. Denn dass die staatlich eingenommenen Devisen durch die Tourismusbranche zum Teil in Subventio­nen der Grundnahrungsmittel für Cuba­ner/­­­innen umgesetzt werden, wiegt die fehlende Gestaltungsmöglichkeit des eigenen Wohlstands bei den meisten kaum auf. Auch wenn die Ernährungslage insgesamt jetzt besser ist, fehlt es an Freiräumen, mit den geweckten Konsum­be­dürf­nissen selbstverantwortlich umzu­ge­hen, ohne dabei ständigen Reglementie­rungen unterworfen zu sein.

Partizipation?

Neben dem schizophrenen Alltagsleben zwischen greifbarem Konsum der ‚westli­chen Welt‘ im Laden nebenan und der realsozialistischen Gemeinschaft mit ihren Mängeln, krankt das System jedoch vor allem am fehlenden Mitsprache- und Gestaltungsrecht der Cubaner/innen. Zwar gibt es Partizipationsmöglichkeiten, allerdings nur in den ‚systemkonformen‘ Massenorganisationen wie den Gewerk­schaf­ten (CTC), Frauen- und Jugendor­gani­satio­nen (FMC und UJC) oder dem Komitee zur Verteidigung der Revolution (CDR). Diese beschäftigen sich neben ‚der Verteidigung der Cubanischen Revolution‘ – also der Umsetzung staatlicher Richtli­nien – vor allem mit dem kulturellen und sozialen Leben der Gemeinschaft. Im Falle der Gewerkschaften, die alle dem Dachver­band CTC untergeordnet sind und denen ca. 97% der Bevölkerung angehören, kümmert man sich neben betrieblichen Belangen vor allem um die Produktivitäts­stei­gerung. Zudem werden Betriebsfeiern und -ausflüge organisiert und die Beschäf­tig­ten werden im Falle von Krankheit oder Mutterschaftsurlaub zu Hause versorgt. Auch wird der aktuell auf Cuba statt­findende Prozess der ‚konstruktiven Kritik‘ von Gewerkschaften maßgeblich mit durchgeführt und es finden Versamm­lungen statt, auf denen Verbesserungsvor­schläge der Arbeiter/innen gesammelt und weitergeleitet werden. Ziel ist es dabei, in den nächsten fünf Jahren in allen Lebens­be­rei­chen auf Cuba Defizite zu erkennen und zu beheben. Ob bei dieser, von der Regierung inszenierten Maßnahme, tatsächlich alles gesagt werden darf, kann an dieser Stelle zwar schwer beantwortet werden, deutet aber dennoch auf das eigentliche politische Versäumnis: Offen­heit. Denn echte Partizipationsmöglich­keiten an politischen Entscheidungspro­zessen, Mitgestaltungs- und Kritikmög­lich­kei­ten gibt es kaum auf der Insel, da Selbstkritik unerwünscht ist.

Was im sozialen Bereich an Menschen­rechten überdurchschnittlich gut funktio­niert, wird im Bereich der Freiheitsrechte umgekehrt. Dort gibt es zahlreiche Verletzungen bzw. Einschränkungen. Gerade für Gegner/innen des politischen Systems ist es schwer, da allgemeine Rechte wie Informationsfreiheit, Versammlungs­recht und Meinungsfreiheit nicht existie­ren und die Oppositionellen zuerst mit Maßnahmen wie dem Verlust des Arbeits­pla­tzes, öffentlichen Diffamierungen und Drohungen rechnen müssen, wenn sie „auffällig“ werden. Unabhängiger Journa­lis­­mus, insbesondere von politischen Gegner/innen wird ebenfalls verfolgt, gelegentlich werden Persönlichkeitsrechte wie das Recht auf Privatsphäre bei erklärter ‚Gefährdung des cubanischen Sozialismus‘ außer Kraft gesetzt. Auch in den Haftan­stal­ten ist der Umgang mit den Dissiden­ten hart. Selbst Organisationen wie amnesty international haben keinen Zugang zu den Gefängnissen, um den Gerüchten von Folter, Isolationshaft und mangelnder medizinischer Versorgung dort nachzugehen. Die harte Linie der Regierung wird dabei mit der Angst vor Destabilisierung und Sturz des sozialisti­schen Systems begründet. Diese, bereits seit den 60ern praktizierte Politik, zerstört dabei die Grundlage dieses Systems viel mehr, als der neue Massentourismus, da der kritischen Basis die Möglichkeit genommen wird, konstruktiv mitzugestal­ten und die Defizite gemeinsam zu bekämpfen. Die cubanische Regierung sieht immer nur den kapitalistischen (meist US-amerikanischen) Feind lauern, unterbindet dadurch interne Kritik, verfolgt den kritischen Teil der Bevölke­rung und gibt Entscheidungen von oben nach unten durch. Das frustriert vor allem die jüngere Generation, die mit dem Status quo unzufrieden ist. Während die älteren Zeitgenossen die einstige Idee einer sozialistischen Alternative in der Realität noch suchen und zu finden glauben, sind die Meinungen unter den Jungen eher gespalten. Es ist in der Größe schwer abschätzbar, wie viele einfach nur Kon­sum­­mög­lich­kei­ten, sprich Kapitalismus wollen, wie viele einen gemäßigten Sozialismus mit grundlegenden Verände­rungen anstreben oder die Anzahl derer, die ganz andere Vorstellungen vom Zusammenleben haben. Da die Menschen nicht ungestraft offen diskutieren dürfen, bleibt auch unklar, ob der von Regierungs­sei­te skizzierte ‚kapitalistische Feind‘ innerhalb Cubas tatsächlich so stark ist. Tatsächlich ist die zunehmende Mehrheit der Jüngeren unzufrieden mit den inzwi­schen verschärften sozialen und wirtschaft­li­chen Verhältnissen und wünscht sich Veränderungen.

Dass der Staatspräsident Fidel Castro im Sterben liegt und das Interesse an Cuba auch außerhalb groß ist, trägt zudem zur Prognose bei, dass demnächst wohl ein umfassender Wandel bevorsteht. Zwar kann der inzwischen regierende Raúl Castro versuchen, alles wie gehabt weiter­lau­­fen zu lassen, allerdings verkörpert er unter der Bevölkerung, im Gegensatz zu seinem Bruder Fidel, dem meist totales Vertrauen entgegen gebracht wird, nicht die Vaterfigur der Revolution. Wenn Druck von außen kommt, wird die weitere Geschichte Cubas auch von dem Handeln der Inselbewohner/innen selbst abhängen. Ohne Raum für Diskussionen jedoch, werden – ähnlich wie in der damaligen DDR – die Veränderungen wohl schneller über das kleine Land hereinbrechen, als Zeit besteht sich intern gemeinsam über einen neuen Weg zu verständigen.

Alte Hürden

Fernab politischer Propaganda in Richtung Diktatur oder soziale Alternative ist es für die Cubaner/innen nicht einfach auf dieser Insel, die versucht, dem weltweit herr­schen­­den Kapitalismus eine soziale Antwort entgegen zu setzen. Denn so sehr die sozialen Bereiche wie Gesundheit, Bildung und soziale Sicherheit auch gefördert werden, rechtfertigt das nicht die Repressionen im Inneren für den Erhalt selbiger. Dabei werden wichtige interne Stimmen mundtot gemacht, was zum einen die externe Bezeichnung als Diktatur bestärkt, zum anderen aber auch die Möglichkeiten einer wirklichen Alternative zum Kapitalismus kaputt macht. Fakt ist, dass die Menschen vor Ort das Recht und die Souveränität haben sollten, über ihre Entwicklung selbstbestimmt und ohne Einfluss der Einheitspartei oder der ehemaligen cubanischen Großgrundbe­sitzer in Miami zu entscheiden. Cuba krankt daran, das dies nicht geschieht. Ob es jedoch gesundet, wenn die Epoche Fidel vorbei ist, bleibt stark zu bezweifeln. Denn wenn dann die Insel kapitalistisch wird, kann zwar Kritik offen geäußert werden, wie viel bzw. wenig Einfluss aber die Menschen dann auf ihre eigene Entwick­lung haben werden, sehen wir auch hierzulande.

Wenn also die Klassifizierung ‚Diktatur‘ benutzt wird, so hat das in Teilen ebenso seine Berechtigung, wie die Bezeichnung ‚soziale Alternative‘ in anderen Teilen. Die Einschränkung der Freiheitsrechte bilden zusammen mit den sozialen Leistungen dabei die Pole dieser Kontroverse. Im Ganzen betrachtet steckt Cuba voller Widersprüche, gegen die es keine einfa­chen Rezepte gibt. Ein Schönreden der Verhältnisse hilft auf diesem Wege ebenso­we­nig wie das Schlechtmachen des ganzen Systems. Was Cuba braucht ist Mut, Stärke und Durchsetzungskraft der eigenen Bevölkerung, um den mächtigen Interes­sens­politiken entgegenzutreten und sich nicht instrumentalisieren zu lassen. Wenn die Möglichkeit bestünde, unabhängig von Staat und Kapital aus den eigenen Erfah­rungen heraus Veränderungen mitzugestal­ten, könnte Cuba vor einem Schicksal wie dem der DDR bewahrt werden.

(momo)

(1) FDGB: Freier Deutscher Ge­­­­­­werk­­­schafts­­bund, Dachverband der Gewerkschaften in der damaligen DDR
(2) Ein vielschichtigeres Bild über Cuba bieten zum Beispiel die monatlich erscheinenden Lateinamerika Nach­richten

Cubanische Revolution

*** 1952: Diktator Fulgenicio Batista putscht sich an die Macht. Unter seinem Regime findet Korruption, Folterung und Mord an ca. 20 000 Personen statt *** 1953: Gescheiterter Angriff der ‚Bewegung 26. Juli’ auf die Monaca-Kaserne. Die Beteiligten werden dort getötet, später hingerichtet oder, wie Fidel Castro zu langen Haftstrafen verurteilt.*** 1955 Amnestie für politische Gefangene: Fidel und Raúl Castro fliehen nach Mexico, treffen dort auf Ernesto ‚Che‘ Guevara *** 1956: Rückkehr nach Cuba auf der Granma, mit dem Ziel das Land von Batista zu befreien. Die Überlebenden der Schlacht fliehen in die Berge der Sierra Maestra und führen, durch die massive Unterstützung der Bevölkerung ermöglicht, einen jahrelangen Guerillakampf gegen die militärischen Truppen.*** 1959: Die entscheidende Schlacht in Santa Clara zwingt Batista zur Flucht. Fidel Castro ruft die cubanische Revolution aus.*** Erste sozialistische Maßnahmen, wie Alphabetisierungskampagne, Land- und Bodenreform, die Verstaatlichung der Industriezweige sowie Verträge mit der Sowjetunion. Bisherige cubanische Elite, wie Großgrundbesitzer fliehen in die USA*** 1960: USA verhängt Handelsembargo (sog. Blockade) gegen Cuba*** 1961: Missglückte Invasion US-amerikanischer Truppen an der Schweinebucht auf Cuba*** 1962: Cuba-Krise: Militärische Seeblockade der USA gegen die Stationierung sowjetischer Raketen auf Cuba. Nur knapp wird ein Atomkrieg verhindert.***

CHIAPAS: Spannungen nehmen zu!

„Jene von uns die im Krieg gekämpft haben, kön­nen die Pfade wiedererkennen, auf denen er vorbereitet wird und näher kommt. Die Zeichen des Krieges am Horizont sind klar. Der Krieg wie die Furcht haben ihren Geruch. Und man fängt schon an, seinen übelriechenden Gestank einzuatmen.”

Das waren Subcomandante Marcos Worte am vorletzten Tag des freien Kolloquiums über “Antisystemische Bewegungen”, wel­ches vom 13. bis zum 17.12.07 in San Cristóbal de las Casas stattfand. Marcos Worte drücken die aktuelle angespannte Situation in den autonomen Gemeinden Chiapas‘ klar und unmissver­ständlich aus.

Die Bedrohungen und Übergriffe von paramilitärischen Organisationen nehmen derzeit bedenklich zu. Desweiteren gibt es aktuell 56 ständige Militärbasen auf in­di­­genem Gebiet in Chiapas, bei denen ge­nau­so eine sich stei­gernde Aktivität zu er­ken­nen ist. Waf­fen und Ausrüstun­gen wer­den moderni­siert und im­mer mehr Bataillone und Sonder­streit­kräfte rücken an. All dies sind Anzeichen einer militä­rischen Eskalation der Situation, die die mexika­nische Staatsregierung anzu­streben scheint. Im Moment jedoch wird “die Ar­beit” noch den paramilitärischen Organi­sa­tionen über­lassen.

Staatliche Vertreibungspolitik

Die Regierung setzt aber nicht nur auf die militärische Karte. Um den Vertreibungs­druck auf die freiheitsliebenden Einwoh­nerInnen Chiapas‘ zu erhöhen, vergibt sie parallel das besiedelte Land der autonomen Gem­einden an andere Bauern Mexikos. Sie schürt damit bewußt Konflikte zwischen den verschiedenen Bauern, um dann in der Öffentlichkeit den Konflikt als Krieg zwi­schen Bauern und indigenen Gemein­den darstellen zu können. Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie stark die Regie­rung diese Vertreibungspolitik forciert: Allein in einer Region wurden 16 Millio­nen Pesos dafür investiert, Land zu enteig­nen und an Familien weiterzuge­ben, welche mit der regierenden Partei PRI (Partido Revolucionario Institucional) in Verbindung stehen. Viele dieser Fami­lien haben wiederum Kontakt zu den staatlich unterstützten Para­mili­tärs, die die zapatis­ti­schen Gemeinden immer wieder über­fallen, Angst verbreiten und selbst vor Morden nicht zurückschrecken.

Seit September letzten Jahres findet in Chiapas eine bedrohliche Steigerung der Ge­walt statt. Bestes Beispiel hierfür ist die zapatistische Gemeinde Bolon Ajaw in der Region Montes Azules. Vom Zusammen­schla­gen von Dorfbewohnern oder Schüs­sen auf sie bis zur Misshandlung von Kin­dern reicht die Liste der Bedrohungen sei­tens der paramilitärischen Organisation für die Verteidigung der Indigenen und Campe­si­no­­­rechte (OPDDIC), die die internationa­len Beobachter immer wieder tatenlos re­gistrieren müssen. Auch gibt es schriftliche Drohungen wie die folgende: „In guter Freundschaft und als Brüder warne ich die EZLN-Angehörigen von Bolón Ajaw und rate ihnen, so schnell wie möglich zu verschwinden, weil morgen oder heute Nacht die Armee einmar­schieren wird. Glaubt mir, meine Freunde. Aus der Region von El Mango.”

Obwohl die Namen der Täter oftmals bekannt sind, werden seitens der Regie­rung keinerlei rechtliche Schritte eingelei­tet. Im Gegenteil, aus verschiede­nen offi­ziellen Stellen, wie u.a. aus dem Regie­rungs­amt des (Bun­des-)Staates Chiapas und dem Büro des Direk­tors der nationa­len Kom­mis­sion für Natur­schutz­­ge­bie­te (Region Süd­gren­ze) wird ein klares Interesse an der “Umsied­lung” der zapa­tistischen Gemeinden be­kun­det und extra stillge­halten.

Die Gemeinde von Bolon Ajaw ist jedoch nur ein Beispiel unter vielen. Auch viele andere zapatistische Gemeinden leiden darun­ter, dass ihnen ihre Ernten gestohlen, die Felder abgebrannt, und die Menschen mit Tod, Vergewal­tigung und Folter be­droht werden. Mit der Umsetzung des “Plan México” ist noch mit einer weiteren Verschärfung der Repressalien zu rechnen. Nachdem Präsi­dent Felipe Calderon bekundet hat, dass es in Mexico keinen schmutzigen Krieg gebe, wurde im Namen des “Kampfes gegen das Verbrechen” die Justizreform von der Abgeordnetenkam­mer gebilligt und damit die polizeistaat­lichen Verhältnisse noch legitimiert. Der „Plan“ sieht eine Zu­sammenarbeit Mexicos mit den Vereinigten Staaten vor. Es soll gegen das organisierte Verbrechen (wie Drogen­handel) vor­ge­gan­gen und der Terrorismus bekämpft werden. Viele Andersdenkende und Andersleben­de, gerade die autonomen Gemeinden Chiapas‘, werden nun ver­stärkt dem Ter­roris­mus­verdacht zum Op­fer fallen. Die USA unterstützt México dabei militä­risch wie finanziell. In Bezug auf die sozia­len Kämpfe im Land führt dies zur weite­ren Beschneidung persönlicher Rechte und zu einer Verstärkung des “Krieges niederer Intensität” unter polizei­staatlichen Prämis­sen, wie das der welt­weite „Anti-Terror-Kampf“ auch in vielen anderen Ländern schon gezeigt hat.

Zwischen Angst und Entschlossenheit

Vom 20. bis zum 22.12.07 wurde in Acteal den Opfern des Massakers von vor zehn Jahren (22.12.1997) gedacht. Bei diesem Massaker, welches sich über Stunden hinzog, wurden 45 Tzotzil-Indígenas, meist Frauen und Kinder, brutal von der para­militärischen Organisation Mascara Roja ermordet. Eine 200 Meter entfernte mexikanische Polizeieinheit reagierte nicht und sah dem Abschlachten damals einfach zu. Zu der Veranstaltung waren viele natio­nale wie auch internationale Gäste und Organisationen angereist. Es gab Vor­träge von verschiedenen Menschen­rechts­organi­sationen und von Vertreterinnen der Maya-Frauengruppe, viele Plena und einiges mehr.

Bis heute steht die Forderung nach einer Bestrafung der Täter im Raum, ebenso wie die Forderung nach einer offiziellen Zu­sicherung, dass sich so etwas nicht wieder­holen wird. Bis heute hat sich diesbezüg­lich noch nichts getan.

Das Massaker in der Abeja-Gemeinde von Acteal hatte nicht ohne Vorzeichen stattge­fun­den. Damals wie heute gab es im Vor­feld vermehrt Drohungen und Über­griffe auf die Ein­wohner­Innen der auto­nomen Ge­meinden. Viele befürchten deshalb, dass die aktuellen Entwicklun­gen wie damals die Vorbo­ten einer bru­talen Eskala­tion der Ge­walt seitens der Para­mi­litärs und des mexi­ka­nischen Staates sind.

Die EZLN (Ejército Zapatista de Liberación Nacional), der be­waffnete Arm der zapa­tistischen Bewegung, zieht ihre Konse­quen­zen daraus. Marcos liess am vorletzten Tag des Kolloquiums verlauten, dass die EZLN nun lange Zeit nicht mehr an öffentlichen Tagungen teilnehmen könne, da die Basisgemeinden momentan massi­ven Bedrohungen und Aggressionen ausgesetzt seien und man sich deshalb verstärkt um die Verteidigung der Men­schen vor Ort kümmern müsse. Auch wenn das für die kampferprobte Organisa­tion der autonomen Bauern von Chiapas keine neue Herausforderung ist, sei es das erste Mal seit 1994, dass die soziale Ant­wort, national wie international, so gering ausfiele, und die Gemeinden so stark auf sich selbst zurückgeworfen wären.

Nun liegt es an uns, daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Wir müssen uns klar werden, dass die Gefahr besteht, dass wir erneut untätige ZeugInnen weiterer Vertreibungen, Massaker und Morde in den autonomen Gebieten Mexicos werden.

Brutal angegriffen werden Andere, gemeint aber sind wir indirekt alle.

(sahne)

 

Quellen und weitere Infos:

Naomi Klein, La Jornada, 21. Dezember 2007

xttp://www.indymedia.org

xttp://www.enlacezapatista.ezln.org.mx

Wer sich für die Arbeit als unabhängigeR MenschenbeobachterIn interessiert, kann hierzu Informationen beziehen unter: carea@gmx.net

Grenzen sprengen

Der israelisch-palästinensische Kon­flikt ist in der deutschen Linken ein kon­­tro­­verses Thema. Sich zwischen den Fall­­stricken bedingungsloser Solidarität mit der einen oder der anderen Seite durch­zu­schlän­geln ist ein schwieriges, aber nö­ti­ges Unter­fangen. Denn auch wenn Na­tio­na­lismus, Antisemitismus und Isla­mismus auf palästinensischer Seite ein erns­tes Problem sind – wie antideutsche Lin­ke zu Recht bemerken – , sollte man auch die negativen Folgen der israelischen Be­sat­zung für die palästinensische Bevöl­ke­­rung nicht über­sehen. Die simple Freund-Feind-Logik des bewaffneten Kon­flikts einfach zu über­nehmen, bietet keinen Ansatz­punkt für emanzipatorisches Han­deln und konstruk­tive Lösungen. Diese Lo­gik hat das Geschehen die letzten 40 Jah­re lang bestimmt und ebenso wenig po­si­tive Folgen gezeitigt wie die immer neuen An­läufe zu Friedensverhandlungen und ei­ner Zwei-Staaten-Lösung. Die Arbeit der is­ra­elischen Anarchists Against The Wall (AATW) könnte hier eine Perspektive bie­ten, da sie mit ihren gewaltfreien Aktionen ge­gen den Mauer­bau, die sie zusammen mit palästinen­sischen AktivistInnen durch­führen, die simple Logik des „Wir-gegen-die“ über­schrei­ten. Das macht sie für uns inte­ressant. Yossi von den Anar­chists Against The Wall erläuterte in einem per Mail geführten Interview Hinter­gründe und Ziele der Arbeit der Gruppe.

Die Feierabend!-Redaktion

FA!: Zunächst mal: Seit wann gibt es die AATW, wie habt ihr euch gegründet?

Yossi: AATW wurde im April 2003 von ei­ni­gen größtenteils anarchistisch orien­tier­ten israelischen AktivistInnen gegrün­det, die schon zuvor in unterschiedlicher Form in den besetzten Gebieten aktiv wa­ren. Der Anlaß war ein Protestcamp in Mas´ha. Die Mauer näherte sich dem Dorf, letztlich hätten sich dadurch 96% der Ackerfläche auf der „israelischen“ Seite be­fun­den. Das Camp, an dem sich auch pa­läs­tinensische und internationale Akti­vis­tInnen beteilig­ten, bestand aus zwei Zel­ten auf dem Gelände, das konfisziert wer­den sollte. Die AktivistInnen waren vier Mo­nate vor Ort, in der Zeit war das Camp ein Zentrum für die Informa­tions­ver­brei­tung und für basisdemokratische Entschei­dungs­­fin­dung, direkte Aktionen gegen den Mau­er­­bau wurden dort vorbe­reitet. Ende Au­gust 2003, als die Mauer um Mas´ha fast fertig war, zog das Camp in den Garten ei­nes Hauses um, der auch weg sollte. Nach zwei Tagen, in denen wir die Bull­dozer blockier­ten und viele verhaftet wur­den, mussten wir aufgeben. Aber die Idee des Wider­standes blieb erhalten.

FA!: Was für Leute machen bei euch mit?

Y.: Die meisten sind junge Israelis, meist aus Oberschichts- oder Mittelklasse­familien europäischer Herkunft. Es gibt aber auch ältere AktivistInnen, viele arabisch-jüdischer Herkunft und aus der früheren Sowjetunion, auch Leute aus der Unter­­schicht. Ideologisch und kulturell ist die Gruppe ziemlich vielseitig: Es gibt Punks und Hippies, Queers, Veganer und Straight Edger, Pazifisten und Nicht-Pazifisten, und viele würden sich nicht mal als Anarchisten bezeichnen.

FA!: Kannst du etwas zu eurer Arbeit sagen, wie sehen eure Aktionen aus?

Y.: Seit ihrer Gründung hat die Gruppe an Hunderten Demonstrationen und di­rekten Aktionen – gegen die Mauer und die Besetzung allgemein – in der West Bank teilgenommen. Mit unserer Arbeit in Palästina wollen wir in erster Linie die Leu­te vor Ort unterstützen. Meist gibt es ei­nen Demonstrationszug vom Dorf dort­hin, wo die Mauer gebaut wird, und wir ver­suchen, die Bulldozer und Arbeiter zu blockieren. Wir versuchen auch oft, zu­sammen mit palästinensischen und inter­na­tionalen AktivistInnen die Mauer oder die Checkpoints zu sabotieren. Es gibt auch fokussiertere Aktionen – nicht in Form von Demonstrationen – gegen den Mau­er­bau, die Checkpoints oder die „Apart­heids-Straßen“ (Straßen, die von Pa­läs­tinenserInnen nicht benutzt werden dürfen). Wir nehmen auch an vielen De­mons­trationen in Israel teil und machen di­rekte Aktionen gegen Unternehmen, die von der Besatzung profitieren. Unsere Aktionen in der West Bank werden meist sehr gewalttätig unterdrückt. Friedliche Gummi­geschossen, Gummigeschossen, manch­mal sogar scharfer Munition zer­schla­­gen. Bei rein palästinensischen De­monstrationen gibt es noch ein weit höhe­res Maß an Gewalt als bei den Demos, an denen wir uns beteili­gen. Die Anwesen­heit von Israelis bietet einen gewissen Schutz. Die israelischen Soldaten verhal­ten sich deutlich anders, wenn wir dabei sind, und die Gewalt läuft auf niedrigerem Level ab. Obwohl viele israelische Aktivis­tInnen bei diesen Demonstrationen verletzt wurden, haben die Palästi­nenser­Innen den höchsten Preis zu zahlen. Bis heute sind zehn palästinen­sische Demons­tran­ten getötet und Tau­sende verletzt wor­den. Die Armee und die israelische Regie­rung wollen den palästi­nensischen Wider­stand mit allen Mitteln brechen und isra­elische AktivistInnen daran hindern, sich da­ran zu beteiligen. Die Repression ist auch deshalb für die palästinensischen Ak­ti­vistInnen wesentlich härter, weil es zwei Sys­teme bei der Justiz gibt. Wir werden nach dem Zivilrecht behandelt, während für die Palästinenser Militärrecht gilt. De­ren Haftstrafen sind also viel länger, sie be­kommen auch mehr und höhere Geld­strafen.

FA!: Was sind eure Ziele, unmittelbar und auch langfristig?

Y.: Wir haben kein Manifest oder eine kla­re Ideologie. Wir sind gegen Rassismus, Apart­heid und Krieg, wir wollen eine freie Ge­sellschaft, in der Juden und Palästi­nen­ser gleichberechtigt zusammenleben. Ich den­ke, unsere Aktionen zeigen, was wir er­rei­chen wollen. Gegen eine Mauer, die die Leu­te voneinander trennt, arbeiten wir mit Pa­lästinensern zusammen. Gegen Beset­zung und staatliche Herrschaft, die dazu da sind, die Leute ihrer Logik zu unter­wer­fen, kommen wir und brechen ihre Ge­setze mit einer nicht-hierarchischen Gruppe.

FA!: Wie sollte eurer Meinung nach eine Lösung des Konflikts aussehen?

Y.: Wir haben keine klare Lösung. Viele von uns unterstützen die Kein-Staaten-Lö­sung, andere denken, dass es zuerst eine Ein- oder Zwei-Staaten-Lösung geben muss. Mir ist egal, wie viele Staaten es gibt, so­lange wir Freiheit und Gleichheit für alle Ein­­­wohner dieses Landes erreichen. Eine wirk­liche Lösung sollte auf sozialer Ge­rech­tigkeit und der Überwindung von Na­tio­nalismus und Kolonialismus basie­ren, d.h. dem Ende von Israel als ein „jü­discher“ Staat und dem Aufbau einer neuen bi-nationalen Gesellschaft. Uns wird immer gesagt, das sei unrealistisch, aber derzeit gibt es ohnehin keine „rea­lis­tische“ Lösung. Die Zwei-Staaten-Lösung ist ein Apartheids­plan, welcher von Bush und (Israels Ministerpräsident) Olmert ge­gen den Willen der Palästinenser durch­ge­setzt wurde. Was von der israe­lischen Re­gie­rung als Frieden verkauft wird, ist nur die Fortsetzung der Ok­ku­pation mit ande­ren Mitteln. Der Kon­flikt ist auch nicht von allein da. So lange euro­pä­ische und ameri­ka­nische Inte­ressen die isra­elische Po­li­tik und die Lage in der Re­gion be­stimmen, wird es keine Versöh­nung geben.

FA!: Die israelische Friedensbewegung (Grup­pen wie Peace Now und so weiter) ist derzeit ziemlich schwach, soweit ich weiß. Kannst du dazu etwas sagen? Wie ist euer Verhältnis zu diesen Gruppen?

Y.: Wir sehen uns nicht als Teil der „Friedens­bewegung“. Wir sind eine Bewe­gung gegen die Besatzung. Der Frieden wird oft benutzt, um den Status quo zwischen Unterdrückern und Unter­drückten zu erhalten. Der Hauptun­terschied in der israelischen „Linken“ besteht zwischen den Zionisten und den Nicht- oder Antizi­onisten. Für die meisten von uns sind Gruppen wie Peace Now, One Voice, das Peres-Center für Frieden und andere sogenannte „Friedens“-Gruppen irrelevant oder sogar eine Gefahr. Israe­lische Grup­pen, die einen Frieden in Form von Freihandelszonen und unter Beibe­haltung der meisten Siedlungen wollen, sind nicht links und werden keinen Frieden bringen. Diese Art von „Friedens“-Grup­pen sind viel schwächer, als sie vor der zweiten Intifada waren. Das liegt an dem Traumge­bilde einer „Pax Americana“ im Na­hen Osten, das sie der israelischen Öffent­­lichkeit verkaufen wollten – ein Traum­­gebilde, das ihnen nun auf die Füße ge­fallen ist. Wir arbeiten eng mit Anti-Be­satzungsgruppen wie Gush Shalom, Taa­yush, Coalition of Women for Peace zu­sammen. Die Zahl dieser Gruppen ist seit der zweiten Intifada stark gestiegen.

FA!: Hier hört man meist nur etwas über die Hamas oder die Fatah. Gibt es auf paläs­ti­nensischer Seite linke Gruppen, die dem Na­tio­nalismus der Fatah oder dem Isla­mismus der Hamas etwas entgegen­setzen, habt ihr da Kontakte?

Y.: Wir arbeiten nicht mit Parteien zu­sammen, also auch nicht mit Hamas oder Fatah. Unsere Arbeit läuft vor allem über die Kommitees in den Dörfern, wo die gan­­zen Familien vertreten sind, aber na­tür­lich auch Vertreter der Parteien – oft Leu­te von der Fatah, auch von kleinen lin­ken Parteien. Es sind auch Hamas-Leute da­bei, mit denen wir dann auch zusam­men­­arbeiten. Es gibt auch Unterschiede zwi­schen den Parteimitgliedern in den Dör­­fern und der Führung der Hamas. Wir wer­­den als Israelis akzeptiert – die Basis ist, dass wir gewaltfreie Aktionen gegen die Be­­set­zung machen. Die Hamas-Leute ar­bei­ten natürlich nicht so gern mit Israelis zu­sammen, aber wenn sonst alle dafür sind, widersprechen sie auch nicht. Wir sel­­ber schließen keinen aus – wir sind auch nicht in der Position, jemand ausschließen zu können.

FA!: Gibt es auch palästinensische Anar­chis­tInnen?

Y.: Wenige. Es gibt Leute auf palästinen­sischer Seite, mit denen wir eng zusam­men­­arbeiten, aber die sehen sich nicht un­be­dingt als AnarchistInnen. Wir haben auch eine gute Zusammenarbeit mit paläs­tinen­sischen Marxisten, Trotzkisten usw. Wir haben Kontakt zu Anarchisten im Liba­non und versuchen, mit anderen anar­chis­tischen Gruppen im Nahen Osten Kon­takte zu knüpfen.

FA!: Und wie würdest du die Hamas beurteilen?

Y.: Die ist mir natürlich nicht so sympathisch. Aber Fakt ist, dass die Hamas anfangs sehr von Israel unterstützt wurde, ähnlich wie die Taliban durch die USA. Die Hamas hat keine Waffen bekommen, wurde aber politisch unterstützt. Man wollte sie als Gegenpol zur PLO stärken, weil man dachte, die Islamisten wären besser zu kontrollieren. Die Hamas ist antiimpe­rialistisch, antiwestlich, sie macht auch viel sozia­le Arbeit, und sie ist sicher weniger korrupt als die Fatah. In gewisser Weise haben sie sich auch mit der Demo­kratie abgefunden – sie akzeptieren, dass Wah­len nicht gegen den Islam sind. Sie akzep­tieren die Demokratie, weil sie ihnen nützt. Wenn es nur die Wahl zwischen Hamas und Fatah gibt, ist es schwer, sich zu entscheiden. Die Hamas will einen islamischen Staat, in dem Schwule, Frauen, Juden usw. unterdrückt werden. Aber die Fatah würde Palästina zur Freihandelszone machen, was auch auf Ausbeutung und Unterdrückung hinaus­läuft. Wir gehen damit so um, dass wir nicht mit den Parteien kooperieren, sondern mit den Leuten an der Basis.

FA!: Ihr seid wegen eurer Arbeit starker Repression ausgesetzt, Prozessen usw. Wie ist da die Lage?

Y.: Die Repression gegen uns findet vor allem bei den Demonstrationen statt, bei denen regelmäßig Gummigeschosse einge­setzt werden. Viele von uns wurden schon angeschossen, haben Kopfverletzungen davongetragen und mitunter immer noch mit den Folgen zu kämpfen. Das ist härter als bei Demonstrationen hier in Deutsch­land. Andererseits werden bei uns seltener Verfahren eröffnet, wenn man festge­nommen wird. Ich wurde schon zehnmal verhaftet, andere zwanzig oder dreißig mal. Meist wird man am selben Tag wieder freigelassen. Wenn es Verfahren gibt, dann Monate später. Zur Zeit laufen 70-80 Verfahren. Man muss dazu sagen, wir sind etwa 200 Leuten, also sind fast 50% betroffen. Das ist hart, aber es gibt auch viel Solidarität und Spenden, so dass wir die Anwaltskosten zahlen und weiter­machen können. Das Problem besteht aber weiter.

(justus)

Mehr Informationen zur Arbeit der Gruppe und Spendenmöglichkeiten findet ihr unter: xttp://www.awalls.org

Hilfe, die Polen kommen!

Die Angst macht sich breit in Sachsen. Eilig werden die Schaufenster von Ge­­schäf­­ten mit Brettern vernagelt, an den Kassen der Supermärkten drängen sich die Leu­te, um noch rasch die letzten Hamster­käu­fe zu tätigen. Alte Menschen wagen sich gar nicht mehr auf die Straße. Der Grund: Am 21. Dezember ist das Schen­ge­n­er Abkommen auch für die neuen EU-Staa­­ten in Kraft getreten, die Grenzkon­trollen an der polnischen und tschechi­schen Grenze sind damit Vergan­gen­heit.

Das macht den Leuten Angst – vor allem da­vor, dass osteuropä­ische Kri­mi­nelle bei uns künftig noch viel leichter rauben und mor­­den können. Oder wenigstens sollte es den Leuten Angst ma­chen, wenn es nach Sach­sens Innen­­­mi­­nis­ter Albrecht Buttolo (CDU) ginge. Er nimmt „die Be­fürch­­tun­gen der Bür­gerin­nen und Bürger“ auf je­den Fall „sehr ernst.“ Darum hat er auch „Maß­­­­­­nah­­men der säch­si­schen Poli­zei ver­an­­lasst“, damit sich die Leute „auch weiter sicher im Frei­­staat Sach­sen füh­len kön­­nen.“

Als erste Maß­nah­me hat er die Bro­schüre dru­cken lassen, der diese Zitate ent­nommen sind. Diese wurde Anfang Dezember an sächsische Haus­halte verteilt, um den potentiell schon ziemlich verängs­tigten Bürgerinnen und Bürgern zu erklären, wie die Polizei sie vor der drohenden Gefahr schützen will.

Zunächst mal werden die „Kontrollen im grenznahen Raum“ verstärkt – statt der stationären gibt es nun dreimal so viele mobile Kontrollen. „Gemeinsam mit der Bundespolizei und dem Zoll“ soll so ein „Fahndungsschleier im grenznahen Raum“ errichtet und so der „Verfolgungs­druck auf Straftäter“ erhöht werden insbesondere durch verstärkte „Kontroll­tätigkeit auf den Bundesautobahnen“. Und nicht nur das: Mit Hilfe „aufeinander abgestimmter Lagebilder für ein zeitnahes Erkennen der Krimina­litätsentwicklung“ hofft man, diese „bereits in den Ansätzen“ bekämpfen zu können.

„Bereits in den Ansätzen bekämpfen“ klingt ja schon gut – fast wie „im Keim er­sticken“. Aber ein bisschen aufpassen müs­sen die Bürgerinnen und Bürger auch sel­ber. Denn die Polizei kann zwar hart durch­greifen, aber nicht zaubern. Darum will sie sich zusätzlich um die Beratung küm­mern und „Präventionsveranstal­tun­gen“ organi­sieren, bei denen erklärt wird, wie man sich schützen kann. Okay, der gu­te Wille zählt. Aber insgeheim fragt man sich schon: Prävention gegen Polen – geht das denn?

Für ältere Leute, die nicht mehr so gut zu Fuß sind und deshalb nicht zu diesen Ver­anstaltungen kom­men können, gibt es noch ein paar Ver­haltenstipps auf den Weg. Zum Beispiel: „Notie­ren Sie sich die Einzel­heiten, falls Sie ver­dächtige Perso­nen fest­stel­len oder ande­re ver­dächtige Wahr­­nehmungen ma­chen“. Wenn sich also zum Beispiel fremd­­­län­disch aus­schau­en­de Per­so­nen in Ihrer Wohn­­­­­gegend herum­­trei­­­ben, gilt: „Haben Sie keine Be­denken, im Zwei­­fels­­fall die Polizei anzurufen.“

Fragt sich nur, ob die im Ernst­fall wirklich helfen kann. Denn auch den tapferen Polizei­beam­ten macht die zu erwar­tende Invasion ost­eu­ropäischer Krimi­neller offen­bar Angst. Mehr noch: Sie haben die Hosen gestri­chen voll. Rund 1000 von ihnen gingen des­halb am 22. November in Frankfurt/Oder auf die Straße, um gegen den Wegfall der Grenz­kon­trollen zu demonstrieren. Das Motto der Demo lautete: „Offene Grenzen ja – KEINE Freifahrt für Terro­rismus und Krimi­nalität“.

„Polnische Superkriminelle sind uns überlegen!“ wäre vielleicht ein noch besseres Motto gewesen. Aber auch so kann einem Angst und Bange werden, wenn da von „Terrorismus und Krimi­nalität“ die Rede ist. Nicht genug, dass die fiesen Osteuropäer unsere Autos klauen – müssen wir uns künftig auch noch vor pol­nischen Selbstmordattentätern fürch­ten?! Und selbst die Polizei ist offenbar machtlos angesichts des drohenden Ansturms von Kriminellen und Terro­risten.

Und wenn nicht die Polizei, wer kann uns denn dann noch helfen? Vermutlich nur die Bundeswehr. Frau Kanzlerin: Handeln Sie JETZT!

(justus)

Nazi-Demo in Reudnitz

Relativ unbehelligt konnte am 12.1. eine Nazi-Demo in Leipzig-Reudnitz über die Büh­ne gehen. Etwa 350 Nazis waren vor Ort, als sich gegen 13.30 Uhr der De­mons­trationszug nach einer Auftaktkund­ge­bung am Bahnhof Anger-Crottendorf in Be­wegung setzte.

Eine Gegendemonstration mit ca. 400 Men­schen startete kurz vor 12.00 vom Barnet-Licht-Platz neben dem Alten Messe­gelände. Die Polizei war zahlreich vor Ort, u.a. um – zur vorbeugenden Ein­schüchterung der Demoteilnehmer – Aus­weis­kontrollen durchzuführen. Die De­mons­tration selbst verlief ohne Zwi­schen­fälle. Im Anschluss wurde versucht, den Nazi­aufmarsch mit dezentralen Aktionen zu be- oder verhindern – aufgrund der massi­ven Polizeipräsenz leider ohne Erfolg.

Skandalös an dem Ganzen ist, dass die Zwischenkundgebung der Nazis in direk­ter Nähe eines hauptsächlich von Studen­ten bewohnten Hauses stattfand, welches schon am 22. November 2007 von 30 bis 40 Neonazis mit Leuchtspurmunition ange­griffen worden war. Es ist wohl kein Zu­fall, dass der Anmelder des Aufmar­sches, Istvan Repaczki, gleich um die Ecke wohnt. Das Hauptziel der Demonstration dürf­te also die Einschüchterung poten­tieller politischer Gegner gewesen sein – zur Abwechslung mal bei Tageslicht und mit Genehmigung des Ordnungsamtes. Repaczki ist schon seit Jahren bei den „Frei­en Kräften Leipzig“ aktiv und war u.a. am Angriff auf Besucher einer Veranstal­tung im Kino Cineding im Januar 2007 be­teiligt.

Die Zwischenkundgebung konnte aller­dings erst nach einiger Verzögerung begin­nen, da die Hausbewohner mit lauter Musik störten. Die Polizei erwies sich darauf­hin mal wieder mal als Freund und Hel­fer, sie brach die Haustür auf und stell­te den Strom im Haus ab, um den störungs­freien Ablauf der Kundgebung zu er­mö­glichen. Der Marsch endete gegen 18.00 Uhr am S-Bahnhof Stötteritz.

(justus)

Das kleine Spontandemo-ABC

In den letzten Monaten kam es bundes­­­weit immer wieder zu zahl­reichen „Spontandemos“. In Leipzig demonstrierten Menschen aus verschiedenen Spektren u.a. ge­gen Nazi­über­­­grif­fe, die Räu­­m­ung des Kopen­­hagen­er „Ungdoms­huset“ und die Re­­pres­­sions­­­flut ge­gen ver­meintliche „ge­­walttätige Glo­bali­sierungs­­kri­tikerInnen“ sowie jegliche Form der Repression.

Bei diesen Demos ging die Initiative spontan von losen Zusammen­hängen und Einzel­personen aus. Es gab keine Vor­bereitung sowie keine planen­den und koordinierenden Gruppen. Es lohnt also, sich mal ein wenig Zeit zu nehmen und sich mit den Besonder­heiten von „Spontandemos“ aus­einander­zusetzen, denn auch spontane Demos sind „richtige“ Demos, weisen aber ein paar nicht un­wichtige Besonder­heiten auf, die es zu beachten gilt, um unsere Sache auch spontan auf der Strasse vertreten zu können. Dies soll keine Ab­schreckung sein, sondern Euch vielmehr er­mutigen, auch spontan Eure Meinung, Eure Wut oder auch mal Eure Freude auf die Strasse zu tragen. Ihr solltet Euch nur im Vor­feld fragen, ob ihr in der Lage seid, die Situation zu überblicken und vielleicht den einen oder anderen Punkt dieses Textes berücksichtigen.

Juristisch gibt es die Unterscheidung in „normale“ Demonstra­tionen, Eil­demos und Spontan­demos. Generell besteht immer die Pflicht bis spätes­tens 48 Stunden vor Ver­öffent­lichung der Aufrufe (und nicht erst vor Beginn der Demo) eine Demo an­zumelden.

Bei Eildemos kann diese Frist der 48 Stunden nicht ein­ge­halten werden. Trotz­dem müssen Eil­demos beim Ordnungs­amt (z.B. auch tele­fon­isch) an­ge­meldet werden.

Der Unter­schied zwischen „normaler“ und Eil­demo einer­seits und Spontan­demo anderer­seits ist nun, dass letztere sich wegen des aktuellen An­­lasses sofort bildet, keinen ver­­antwort­lichen Ver­­an­stalter und -jeden­­falls erstmal- auch keineN (ver­ant­wort­­­­licheN) Lei­ter­­­In be­nötigt. Spon­tan­demo heißt also, dass die Demo wegen des aktuellen Anlasses so dringend ist, dass keine Zeit für eine An­meldung bleibt bzw. das Ordnungs­amt schon geschlossen hat.

Wichtig ist es noch zu be­achten, wer der Polizei eigentlich als Ver­anstalterIn einer Demo gilt: Sobald eine Gruppe oder eine Person im Vor­feld er­kenn­bar die Ver­antwortung für eine Demo übernimmt („deutlich hervorgehobene vorbereitende organisatorische Funktion“), gilt sie als Ver­anstalterIn und ist damit prinzipiell anmelde­pflichtig. EinE feststell­bareR Ver­anstalterIn macht sich durch Unter­lassen der An­meldung grund­sätzlich straf­bar.

Eine Demo, die trotz mehr­stündiger Mobilisier­ung nicht an­gemeldet wurde, kann – muß aber nicht – von der Polizei auf­ge­löst werden. Gegen diese Auf­lösung kann natürlich sofort eine Spontan­demo durchgesetzt / versucht werden…

Bei Nicht­auflösung kann die Polizei gegen­über der Menge oder Delegierten oder ei­ner spontan gewählten, leitenden Person Auf­­lagen bestim­men bezüg­lich Route, Dauer, Transpis usw. Da hier­gegen schnell ge­nug kein Rechts­schutz mög­lich ist, kommt es dabei ausschließ­lich auf die Verhand­lungen vor Ort und v.a. eine realis­tische Ein­schätzung der Kräfte­ver­hältnisse an. Es ist also wichtig für euch ein­zu­schätzen, welche Forderung­en Sinn machen und diese gegen­über den Bullen auch zu ver­treten. Dafür können die Teil­nehmer­Innen einer Spontan­demo einE Lei­terIn „wählen“, die dann als Ver­ant­wort­­licheR mit der Polizei, z.B. über die Route usw. ver­handelt. Wichtig ist, dass dieseR LeiterIn die Demo nicht als Ver­an­stalterIn an­melden/sich ver­ant­wort­­­lich er­­klären muss, da es bei einer Spon­tan­demo ja gerade keineN Ver­anstalter­In gibt. Ebenso spontan können sich auch Ordner­Innen finden.

Es kann also unter be­stimmten Um­ständen sinnvoll sein, einE Lei­ter­In der Demo zu wählen um die Ver­handlung­en mit den Bullen zu ver­ein­fachen. Lasst euch aber nicht ver­un­­sichern und lehnt jede Ver­­ant­­wor­t­ung als Ver­an­stalterIn ge­gen­­­über den Bul­len ab. So kann die Ver­ant­wort­ung, die sich aus dem Ver­samm­lungs­gesetz für die ein­zelne Person er­geben würde, ab­ge­wendet werden und es er­scheint niemand nament­lich als Ver­anstalter­In bei den Bullen.

Außer­dem gibt es noch ein paar Sachen, die mensch be­achten sollte, um den Bullen die Auf­lösung der Ver­anstaltung nicht zu ein­fach zu machen. Eine spontane Demo ohne Ver­anstalter liegt näm­lich definitiv nicht vor, wenn z.B.

– aufwendig neu gemalte Transpis,

– Aufrufe mit ViSdP (Verantwortlich im Sinne des Presserechtes),

– lange und des­halb nachweis­bar vor­ge­fertigte Rede­beiträge usw. vor­handen sind.

Nicht gegen eine spontan durch­geführte Demo sprechen da­gegen alle Dinge, die ent­weder schon vor­handen sind (Megaphone, alte Transpis, Fahnen, evtl. auch ein Lauti) oder die sehr schnell her­gestellt werden kön­nen (z.B. Hand­zettel, nicht ab­ge­lesene Rede­beiträge usw.).

Ent­scheidend für die Durch­führung einer Spontan­demo ist die Dauer der Mobi­lisier­ung. Wenn Ihr z.B. ein Posting auf Indy­media stellt und das Stun­den bevor es eigent­lich los­gehen soll, könnt Ihr ziemlich sicher sein, dass die Polizei das mittler­weile auch weiß und unter diesem Argument die Demo unter Um­ständen auf­lö­sen kann. Weniger sicher weiß die Polizei bei SMS-Ketten im Vor­feld Be­scheid und möglicher­weise keinen blassen Dunst hat sie bei der alten Taktik der Mund-zu-Mund-Propaganda.

Nicht zuletzt weiß mensch nie ge­nau, was auf dem wei­ter­­en Ver­­lauf der Demo so pas­sier­en wird, des­halb gilt auch und be­son­ders bei Spon­tan­demos das kleine Demo-­­Einmaleins! (1)

Eine ganze Menge also, was man im Kopf be­hal­ten soll­te für die nächste Spontandemo! Und zu alle­dem be­sonders eins: Lasst euch nicht ein­schüch­tern von den Tricks der Polizei!

(EA Leipzig)

(1) ein beständiger Link zum Demo-1×1: xttp://www.nadir.­org/­nadir/­archiv/PolitischeStroemungen­/antirepression/rechtshilfe/hilfe2.htm oder in jedem „WasTunWennsBrennt“

EinmalEins für „moderne“ Staatsbürger

Einige schlaue Köpfe haben einmal behauptet, das herausragendste Merkmal der Mo­der­­ne wäre das einer um sich greifenden Berechenbarkeit. Leider haben sie da­­bei über­sehen, dass zu einer richtigen Berechnung auch die jeweils passenden Rechen­mit­tel ge­hö­ren. So kommt es, dass eine anwachsende Menge von Interessenskalkülen in der mo­dernen Welt nicht zu Transparenz sondern zu „Unübersichtlichkeit“ und „Über­kom­plexität“ führt. Der Einfachheit halber könnte mensch auch von einer aus­ufern­den Orien­tierungs­lo­sigkeit sprechen. Das passende Umfeld also, um Eier als Hüh­ner zu verkaufen. Zugespitzt for­mu­liert: Die Moderne unterscheidet sich von allen bis­he­ri­gen Epochen gerade darin, dass sie es ermöglicht, nicht nur Einige oder Viele son­dern Al­le in Dummheit einzulullen.

So wundert es kaum, dass die „modernen“ Volksparteien aktuell versuchen, den gemei­nen Bür­ger für dumm zu verkaufen, indem sie so tun, als gäbe es plötzlich eine völlig neu­­­­ar­tige po­li­tische Debatte um Mindestlöhne und eine Verschärfung des Strafrechts für Mi­­gran­tIn­nen. Dabei reichen schon vier Finger, um das angebliche Neue als Wieder­kehr des ewig Glei­chen darzustellen. Das dritte Jahr der derzeitigen Bundesregierung ist an­ge­bro­chen und damit auch der Vorwahlkampf. Dementsprechend rechnen die gro­­­ßen Wahl­stra­tegen die dumpfesten Vorurteile ihrer Anhängerschaft fürs erste einfach hoch. Mo­bi­li­sie­rung der Stammwählerschaft heißt das dann. Da haben wir einerseits die Rechts­kon­ser­va­tiven, denen der Staat sowieso nie genug Gewalt anwenden kann und die, historisch gesehen, von der CDU bedient werden. Andererseits die Links­so­zia­listen, für die die staatliche Vorsorge selbst dann nicht weit genug geht, wenn der Stadt to­tal be­­stimmen würde, was überhaupt ‚da sein‘ kann bzw. Existenzrechte wie Vollstreckungs-Ti­tel zuspräche. Klassischerweise das Klientel der SPD.

Und ganz logischerweise würde in dieser Gemengelage jeder konkret politische Inhalt die ideologische Integrität der jeweiligen Lager nur ge­­fähr­den. Da darf dann auch ein gewisser Roland Koch (CDU), seit seiner Korruptions-Affäre bekannt als „Schweinchen Babe“, härtere Stra­­fen für „Ausländer“ fordern und dabei auf Schmusekurs zur NPD gehen. Denn wem die wohltätig verteilten Lebensmittelkarten nicht aus­­rei­chen, der wird sowieso nie begreifen, was man hierzulande unter ‚deutscher Leitkultur‘ versteht. Dass in einem „modernen“ Rechtsstaat ein­­zig die Richter am konkreten Fall über die Angemessenheit der Strafe entscheiden, solche Details interessieren im Kampf ums stumpfeste Res­­sen­timent von Rechts so wenig, wie die unliebsame Frage nach den Ursachen, welche eine Kriminalisierung bestimmter Be­völ­ke­rungs­schich­­ten notwendig bedingen. Bleibt nur zu hoffen, dass sich der eiserne Roland nicht verrechnet hat und die Sicherheitsverwahrung von Mi­­grantInnen in Gefängnissen statt in Auffanglagern den Bürger nicht am Ende noch teurer kommt.

Ver­lässlicher ist da schon die SPD. Besser spät als nie hat man sich ausgerechnet, dass die eigenen Arbeitsmarktreformen der letzten Jah­re zu ei­nem massiven Lohndumping und zur Prekarisierung ganzer Bevölkerungsschichten geführt und eine Unmenge von Ne­ben­wi­der­sprü­chen in der roten Ecke produziert haben. Peter Hartz, besser bekannt als „Mister VW“, ist ja mittlerweile auch anderweitig straf­rechtlich ver­urteilt. Nach diesen ganzen Pleiten versucht man deshalb jetzt, der völligen Desintegration des eigenen Lagers ent­ge­gen­zu­wirken, indem man der Wäh­lerschaft die Einführung flächendeckender Mindestlöhne suggeriert. Und wer will schon nicht mehr Lohn für Arbeit im Ka­pitalismus. Lei­der scheint man bei der SPD zu vergessen, dass diese Rückkehr zu „ursozialistischen“ Positionen nur dann wirklich wirk­sam wäre, wür­de man auch gleichzeitig zur staatlichen Preiskontrolle zurückkehren. Mal ganz abgesehen vom büro­kra­tischen Aufwand durch­greifender Kon­trollen und der faktischen Aushebelung der Tarifautonomie. Denn letztlich würde dieser Mindestlohn gleich­zeitig in vie­len Fällen der ma­ximale sein und gewerkschaftliche Kämpfe erheblich erschweren. Immerhin: Den Staatsfetisch des links­sozialistischen Klien­tels hat man da­mit punktgenau bedient und welcher ernsthaft engagierte Gewerkschafter wählt heutzutage schon noch SPD.

Was am Ende bleibt, ist die einfache Formel: Aktuelle Debatte minus heiße Luft istgleich Nichts-Neues bzw. zusammengekürzt: Die große Koa­li­tion entspricht dem nationalen Konsens. Dass dieser wiederum die beiden Lager fest umspannt und den Bürger in seinem heißen Traum vom starken Staat bestätigt, das sehen unsere Berufspolitiker zwar sehr genau, aber irgendwie muss man ja zu Wahlkampfzeiten Pro­fil entwickeln. Da­rum die beiden Debatten, fein säuberlich getrennt. Und das Ausweichen auf Anachronismen fällt ja angesichts der Bil­dungsregression gar nicht weiter auf. Gegen solchen Dummfang von CDU bis SPD hilft nur eines: politisches Bewusstsein und mehr Selbst­bestimmung, Widerstand und die Verwaltung der Bedürfnisse aus eig’ner Hand. Das sind die Rechenmittel, um die Manipulation von oben auszuhebeln. Die Volksparteien kön­nen sich derweil ruhig erneut zum Zentrum zusammenschließen, denn solange dieses nie­mand wählt, haben MigrantInnen auch hierzulande Zu­kunftschancen und die Arbeiterschaft die begründete Aussicht, an der eigenen Pro­duktion fair und gerecht beteiligt zu werden.

Lasst Euch also nicht bequatschen und gebt Euch die Mittel selber an die Hand! Post­moderne, you are welcome!

(clov)

Editorial FA! #28

Beim heiligen Gustav, diese digitale Revolution! Vor 4-5 Jahren reich­te uns ein PC und in maximal 24h stand das ganze Heft. Da­mals bot uns sogar noch der Infoladen des Conne Island oder das Linxxnet Asyl. Alles kam fertig rein, Deckel drauf und raus da­­mit. Heute dagegen, kaum 28 Hefte später, meint mensch ge­ra­dezu, der Kommunismus wäre ausgebrochen. Und der kann ganz schön anstrengend sein. Da drängt sich ein Redak­tions­kol­lek­tiv in 12qm um einen stationären Layout-Rechner mit an­ge­schlos­se­nem Drucker und Scanner, die Laptops klappen auf, USB-Sticks wech­seln die Ports wie Heuschrecken die Pflanzen, Fla­schen klir­ren, der Kühlschrank platzt, ebenso der digitale Post­ka­sten. Und wer nicht den legendären 7-Tage-plus-Dauer-Lay­out-Kritik-Frie­mel-Marathon übersteht, muss vor der nächsten Aus­gabe dringend zu­sätzliche Trainingsschichten einschieben. Viel­leicht liegt es auch da­ran, dass wir es seit längerem nicht mehr schaffen, dem selbst­ge­steckten Anspruch, alle 1-1/2 Monate zu erscheinen, gerecht zu wer­den, sondern eher ein 2-1/2 Monats­heft sind. wir driften also eher Richtung Magazin als Richtung Ta­ges­zeitung ab. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass wir trotz der vielen eingereichten Bei­­träge – Dank an all die lieben Supporter – trotz alle dem ein­fach zu wenig Anstöße von Außen be­kom­men. Deshalb hier noch­mal der Aufruf an Euch: Schreibt uns! Nicht nur Leserbriefe, son­dern was auch immer Ihr meint, dass es ver­öf­fent­licht wer­­den sollte.

Um unseren Praxiswert steigern, findet Ihr in der aktuellen Aus­ga­be neben vielen Linxz zu Gruppen, Veranstaltungen und Pro­jek­­ten auch einen beigelegten Aushang der Roten Hilfe für die Haus­­tür, falls der Schutzmann wieder klingelt. Außerdem auf S. 29 einen lustigen Kreuzchentest, der am Ende gar nicht so lustig ist. Aber das könnt Ihr ja selber rausfinden. Auch eine neue Rubrik soll uns von nun an begleiten. Die Nebenwidersprüche lauern halt überall dort, wo Handlungsbedarf besteht. Bei uns auf S. 14/15. Die Frage nach der Privatisierung der Leipziger Stadtwerke ( S.1/3/4) ist aber auch ein heißes Thema in Bezug auf den er­zwun­genen Bürgerentscheid am 27.01.. Da könnte mensch glatt ver­gessen, welcher militaristische Alltag auf dem Flughafen vor der Stadt eingezogen ist ( S.8/9). Ganz froh sind wir auch darüber, dass es uns doch noch gelungen ist, die Anarchisten aus Israel zu in­ter­viewen, die im Dezember einen Vortrag in Leipzig über ihre po­li­tische Arbeit hielten. Denn bei aller konkreten Widersprüch­lich­keit: Mauerbau war noch nie eine progressive Lösung ( S.27/28). Ähnlich verbohrte Ansichten finden sich höchstens bei den Na­tional-Revolutionären ( S.16ff). Soviel Zement in der Birne muss ja Kopfschmerzen bereiten. Da hilft letztlich nur kräftig RÜCKEN­WIND. Apropos: Unsere neue Verkaufsstelle. Fahr­rad­schrauben und Lesen sind also keine unüberwindlichen Wider­sprüche. In diesem Sinne: Der Frühling kommt, also raus an die Luft!

Eure Feierabend!-Redax

tatort fussball

Um es gleich vorweg zu sagen: Nicht jeder Lokfan ist ein Neonazi. Und nicht jeder akzeptiert die rechte Gesinnung von so manchem An­hän­ger. Es gibt, gerade in den Diskursen innerhalb der Ultraszene bei Lok, Entwicklungen, die durchaus Anlass zu Hoffnung geben. Was nicht heißen soll, dass alles gut ist.

Der 1. FC Lokomotive hat ein ernsthaftes Problem. Weit schwer­wie­gender als die finanzielle und sportliche Misere der letzten Jahre ist die enge Verknüpfung von Leipzigs Neonaziszene und der Hooli­gan­szene beim Traditionsverein aus Probstheida. Dies zeigt ein alarmierendes Beispiel aus dem letzten Jahr.

Anfang Dezember, genauer gesagt am 8.12. 2007, fand im Clubhaus des FC Sachsen die Weihnachtsfeier der in Fankreisen als links an­ge­sehenen Ultragruppierung „Diablos“ ein jähes Ende, als etwa 70 Ver­mummte die Räume stürmten. Da diese mit Baseballschlägern, Mes­sern, Rauchgranaten und einer Gaspistole bewaffnet waren, kann die­ser Vorfall nicht als „normale“ Schlägerei unter Fußballfans ange­se­hen werden. Nachforschungen in Kreisen von Lok haben außerdem er­geben, dass viele ältere Schläger nicht dabei waren und diese Aktion auch nicht gut heißen. Einige waren sofort zu Spenden für den „Wie­deraufbau“ bereit. Woher kommt also diese Masse an Leuten?

Fakt ist, dass am Abend des Überfalls etwa 15 Leute der berüchtigten rech­ten Hallen­ser Fangruppe „Saalefront“ ihre eigene Weihnachtsfeier mit unbestimmtem Ziel verließen. Fakt ist auch, dass die Polizei mitt­ler­weile recht genau weiß, wer an je­nem Abend mit von der Par­tie war, da einige der Angreifer schwere Verletzungen von den Stüh­len und Tischen, die auf ihnen zerschlagen wurden, davon­ge­tra­gen haben. So was lässt sich dann doch nicht so leicht verbergen.

Und auch aus dem Umfeld von Lok kamen Hinweise zu mög­lichen Tätern. Gerüchteweise ist zu hören, dass Ricardo Sturm, einer der führenden Köpfe der Leipziger Neonaziszene, an der Or­ga­ni­sa­tion des Angriffs beteiligt gewesen sein soll. Außerdem ist immer wie­der von den „Blue Caps“ die Rede, einer Gruppierung von Lokfans, die im Februar 2006 ein menschliches Ha­ken­kreuz im Stadion for­mierte.

Ein Gutes hat dieser Vor­fall den­noch: In Leipzig rutschte Lok ins Kreuz­feuer der Kritik und die Dis­kussio­nen in der Fanszene dürf­ten für die rech­te Szene un­gün­stig sein. Die Zu­kunft wird zei­gen, ob es hier­durch zu Selbst­­rei­ni­gungs­­prozessen kommt.

(tim)

Leipzig und der Stadtwerke-Verkauf

– schon zwei Mal gescheitert – Bürgerentscheid am 27.1.2008 –

Wer ist noch nicht über sie gestolpert, die Plakate der Bürgerinitiative APRIL (Anti­PRivatisierungsInitiative-Leipzig), die zum JA-Sagen am 27. Januar beim Bürger­entscheid auffor­dern? Opti­mistische Aller­welt­s­­gesichter grinsen da auf einen herunter und ver­kün­den: „Wir sagen Ja! – Stim­me abgeben und Ein­fluss be­­hal­ten“.

Wozu eigentlich? Ja dazu, dass die Stadt­verwaltung sieben kom­munale Betriebe in den nächsten drei Jahren nicht verkaufen darf, weder ganz noch anteilig.

Machen am 27. Januar 103000 von den rund 400 000 Stimmberechtigten (ent­spricht 25 Prozent) ihr Kreuz bei Ja (kein Ver­kauf), dürfen die betroffe­nen Unter­nehmen bis 2011 keine neuen Eigentümer bekommen.

Worum geht’s? Ende letzten Jahres kamen Ober­bür­ger­meister Burk­hard Jung und eine knappe Mehrheit im Stadtrat – be­stehend aus Ver­tretern der CDU, SPD, FDP – auf den Gedanken, den Schul­den­berg der Stadt Leip­­zig von knapp 900 Mio. Euro ab­zu­bauen, in­dem 49,9 Pro­zent der Stadt­wer­ke Leipzig (SWL) an einen Pri­vat­­investor ver­kauft wer­den. Der fran­zö­sische Kon­zern Gaz de France S.A. (1) ist bereit 520 Millionen Eu­­ro da­für hinzu­blät­tern und hat damit das Rennen ge­macht. Mit die­sem Geld hat die Stadt viel vor. So sollen die Schulden abgebaut werden, Schu­len, Kinder­gärten und Straßen saniert und durch Aufträge an mittelständische Unter­nehmen Arbeits­plätze geschaffen wer­den. Soweit die Wunschträume der Befürworter des Ver­kaufs.

Die Anti­PRivatisierungs­Initiative­Leipzig, die ein Spektrum von Attac, über zahl­reiche Bürgervereine, Stadträte, der IG Metall, den Grünen, der Linken bis zu Pfarrer Führer umfasst, sieht dies natürlich völlig anders: Um diesen Anteilsverkauf und vorsorglich auch den der anderen städtischen Unternehmen zu verhindern, startete sie im September 2007 ein Bürger­begehren, um einen Bürger­entscheid zu erzwingen.

Innerhalb von zwei Monaten sammelte die Ini­tiative – vorrangig bestehend aus den Grup­pen und Vereinen, die auch die Mon­tags­­demon­strationen getragen haben – Un­ter­schriften von 10 Prozent der Leipziger Wahl­­berechtigten. (2)

Da man befürchtet, dass es letztlich nicht nur um die SWL geht, sondern prinzipiell al­le großen kom­munalen Unter­nehmen un­ter dem Dach der Hol­ding Leip­ziger Ver­sor­gungs- und Ver­kehrsbetriebe (LVV) (3) „pri­va­tisierungs­gefährdet“ sind, ist die Fra­ge­stellung entsprechend weit gefasst:

Sind Sie dafür, dass die kommunalen Un­ter­nehmen und Betriebe der Stadt Leipzig, die der Daseinsvorsorge dienen, weiterhin zu 100% in kommunalem Eigentum ver­bleiben?“

Der Grund für diese Befürchtung liegt da­rin, dass die zahlreichen städtischen Unter­neh­men sich gegenseitig quer sub­ven­tio­nie­ren und so die Daseinsvorsorge (4) für die Stadt kostenneutral gewährleisten. Die jähr­lichen Gewinne der Wasser-, sowie der Stadt­werke (5) werden zum Ausgleich der De­fi­zite bei den Verkehrsbetrieben heran­ge­zo­gen und ermöglichen sowohl das ge­gen­wärtige Preisniveau als auch den Be­trieb und Erhalt des Verkehrsnetzes.

Hier setzt das Hauptargument der Gegner des Verkaufs an: Indem ein Mit-Eigner ins Boot geholt wird, werden die Handlungs­spiel­räume der Stadt und ihr Einfluss auf die Preisgestaltung, Auf­trags­vergabe, Ent­schei­dungen auf Investitions- und Förder­tä­tig­keiten langfristig entspre­chend ver­rin­gert. Kurz: Man verkauft das Huhn und wun­dert sich dann, keine Eier mehr zum Früh­­stück zu haben.

Die SWL spielen nicht nur als Strom­ver­sor­­ger, sondern auch als Sponsor des kultu­rel­­len und sportlichen Lebens der Stadt ei­ne bedeutsame Rolle und ermöglichen so Vie­­len die Teilnahme an Veranstaltungen, die sie sich sonst nicht leisten könnten. Eben­­so fördern die Stadtwerke durch ihre Auf­­tragspolitik bereits regionale mittel­stän­di­ge Unternehmen, da anfallende Aufträge von der LVV zu 67 Prozent an eben solche Be­­triebe vergeben werden und es fraglich er­scheint, ob ein privater Investor ein ähnlich star­kes regionales Engagement entwickeln wür­­de.

Dass die Sorge um weitere (Teil)­Privatisie­run­­gen nicht völlig aus der Luft gegriffen ist, ver­­deutlicht die Episode des „Opernballkom­pro­­misses“. So soll Ober­bürgermeister Jung im November 2006 am Rande des alljähr­lichen Opernballs – einer High-Society-Ver­an­­staltung bei dem sich alles trifft, was Rang, dicke Konten und Namen hat – mit der CDU-Fraktion im Stadtrat einen politischen Kom­­promiss ausgehandelt haben.

Der Deal: Die CDU-Fraktion stimmt dem an­teiligen Verkauf der Stadtwerke zu. Im Ge­gen­zug versprach der OB die spätere Priva­ti­sierung weiterer Unternehmen unter dem Dach der LVV. Entsprechend brachte die CDU im November letzten Jahres den Vor­schlag ein, auch die LVB teilweise zu privati­sieren. Dieses Hick-Hack ist derzeit zwar von geringerer Bedeutung, wird aber in dem Mo­ment interessant, in dem der Bürger­ent­scheid nicht genügend Ja-Stim­men erhält und diese Entscheidung an den Stadtrat zu­rück delegiert wird.

Zurück zum aktuellen Verkaufs­vor­haben, den Stadtwerken Leipzig. Hier springen vor allem zwei Ungereimtheiten ins Auge: Er­stens sind die SWL weit davon entfernt, ein marodes Unternehmen zu sein und zweitens wurde das Unternehmen schon zwei Mal in Tei­len verkauft und wieder zurück gekauft.

Nicht nur, dass die Stadtwerke zu einem nicht unerheblichen Teil den Nahverkehr, sportliche und kulturelle Ereignisse sub­ven­tionieren, sie sind außerdem klar auf Ex­pan­sionskurs. Die Bilanz für 2006 wies ei­nen Gewinn von 54 Mio. Euro auf, für 2007 wird mit einem ähnlichen Ergebnis gerech­net, was 2008 noch übertroffen werden soll. Abgesehen davon halten die Stadtwerke seit 2003 75 Prozent der Anteile des Danziger Fern­­wärmeunternehmens Gdanskie Prze­dsie­biorstwo Energetiky Cieplnej (GPEC), sowie An­teile von Fern­wärme­versorgern in Tczew und Staro­gard Gdanski. Sie sind ebenfalls an Unter­nehmen in Bulgarien (KES AG So­fia), Litauen (Klaipedos Energija) und Tsche­chien (Teplarny Jablonec a. s.) beteiligt.

Und: In Leipzig sammelte man bereits zwei­mal Erfahrungen mit Privatisierungen und deren Rückgängigmachung. Sowohl 1992 als auch 1998 wurden je 40 Prozent der Stadt­werke verkauft und die Verträge wenige Jah­re später rückgängig gemacht. Im Jahr 1992, als die Stadtwerke gegründet wurden, hielt RWE (Rheinisch-West­fälisches Elektrizitätswerk AG) einen Anteil von 40 Prozent. Drei Jahre später stellte man fest, dass die Partnerschaft nicht die gewünschten Er­folge brachte und die Stadt kaufte die An­teile zurück. Der zweite Versuch erfolgte 1998 – erneut wurden 40 Prozent veräußert und zwar an die MEAG (Mitteldeutsche Energie­Ver­sorgung AG). Diese Aktiengesell­schaft wurde später von RWE aufgekauft, die ihren Anteil an ihre Tochter EnviaM über­gab. Damit hielt einmal mehr der RWE-Kon­zern 40 Prozent der Leipziger Stadt­werke und über­raschen­der­weise hatten Stadt und Konzern sich 2003 über die Strategie der SWL so sehr zerstritten, dass man ver­kün­dete: „dass die strategische Ausrich­tung von EnviaM und den Stadt­werken Leipzig in spezifischen Markt­segmenten nicht kom­patibel sind“(6) und trennte sich erneut. Das heißt, die Stadt nahm Kredite auf und kaufte erneut die Anteile zurück und zwar mit einem Verlust von 16 Millio­nen Euro. Un­ter anderem dieser finanzielle Ver­lust soll nun durch einen dritten An­teils­verkauf wie­der aus­geglichen wer­den… manche lernen eben nie aus…

Bleibt die Frage, ob unsere Stadtober­häup­ter schlicht äußerst vergesslich und dilet­tan­­tisch sind, oder ob doch mehr dahinter steckt? Denn nicht nur die Stadt Leipzig pri­va­­tisiert kom­munale Un­te­rnehmen. Schon im let­zten Jahr­hun­dert, Ende der 90er Jahre, ver­kauften mehrere deut­sche Kom­munen und Ge­meinden die jewei­li­gen Ei­gen­be­trie­be und er­hielten so eine re­la­tiv große Sum­me auf einen Streich. (7) Damit ist späte­stens jetzt die EU-Privati­sie­rungspolitik, die sich in Abkommen wie dem GATS (Gene­ral Agreement on Trades and Services) nie­der­­schlägt, auch hier vor Ort an­gekommen. Zum Wohle des freien Marktes und dessen un­sichtbarer Hand, die es letztlich richten soll, werden Städte und Gemeinden dazu an­ge­halten, sich durch Privatisierungen mög­lichst komplett zu entschulden.

Wer dabei auf der Strecke bleibt, sind die Kon­­sumenten, die finanziell nicht in der La­ge sind, Preiserhöhungen für Wasser, Strom und andere grundlegende Ressour­cen mit zu tragen. Diese politische Ent­wick­lung ist also nicht neu, nun kommt der Neo­li­be­ralismus langsam aber sicher auch in der so­genannten Ersten Welt auf der kom­mu­nalen Ebene und damit bei je­dem Einzelnen und seinem Portemonnaie an.

Was hier geschieht, kann mensch seit Jahr­zehn­ten in politikwissenschaftlichen Lehr­bü­chern nachschlagen: weg vom Sozialstaat, der seine Bürger mit dem Nötigen versorgt, (wie eben Infrastruktur, Grundversorgung zu erschwinglichen Preisen, Kranken-und Ren­ten­­ver­sicherungs­systemen) hin zu ei­nem Nacht­wächterstaat, der nur noch in nach­gewiesenen Not­situationen einspringt. Mensch könnte sich für den Fall der Stadt­werke das Szenario vorstellen, dass diejeni­gen, die den Markt­preis für Strom nicht zah­len können und dies bei der Stadt­ver­wal­tung nachgewiesen haben, von der Stadt ge­kaufte Strom­kontingente zugewiesen be­kom­men kön­nten. Oder um in der Realität zu bleiben: Arbeitslose, die eine 120-pro­zen­tige Kürzung erhalten haben, dann eben Le­bens­mittelgutscheine (8) erhalten.

So gesehen schrumpft das auf den ersten Blick ritterliche Ansinnen der Bürger­ini­tia­tive zum konservativen Ruf nach Papa So­zial­staat. Mensch wehrt sich mit Händen und Füßen gegen die entsprechenden Ent­wick­lungen, aber leider erst dann, wenn die Angst um das ganz persönliche Porte­mon­naie um sich greift. So löblich es auch ist, dass mindestens 10 Prozent der Leipziger Be­völkerung dafür sind, über diese Frage di­rekt zu entscheiden – es kostet ja auch nur eine Unterschrift und die hat mensch oft genug geübt – umso bedauerlicher ist es, dass selbst dieses bürgerschaftliche En­ga­gement nur auf drei Jahre hin seine Wir­kung entfalten soll und letztlich mit 25 Pro­zent Ja-Stimmen noch immer eine ziemlich gro­ße Hürde zu nehmen ist. Kann mensch tat­sächlich von demokratischer Mitgestal­tung sprechen, wenn die Ent­scheidung bei ei­ner hoch komplexen Frage wie dieser, stumpf auf ein Kreuz bei „Ja“ oder „Nein“ re­du­ziert wird? Das eine Auge lacht, ob der sich scheinbar bietenden Partizipations­mög­lichkeit, das andere weint, ob des Gefühls, in­nerhalb des Politiktheaters einmal mehr ver­höhnt zu werden.

(hannah)

 

(1) Gaz de France ist mit ca. 50.000 Mit­arbei­tern, 13,8 Mio. Kunden und einer Börsenkapi­ta­lisierung von ca. 34 Milliarden Euro einer der größ­ten Energieversorger Europas. Die Ge­schäfts­aktivitäten umfassen die Erzeugung, Ver­tei­lung und den Verkauf von Energie (insbe­son­de­re Erdgas, aber auch Strom sowie Energie­dienst­leistung in mehr als 30 Ländern). Seit 1976 ist Gaz de France über die Gaz de France Deutsch­land GmbH mit inzwischen 700 Mit­ar­bei­terInnen auf dem deutschen Markt vertreten und u. a. an der GASAG in Berlin beteiligt.

 

(2) Nach der Gesetzeslage wären auch 5 Prozent aus­reichend gewesen, um einen Bürgerentscheid her­bei zu führen. Damit wurde die Entschei­dung über den Anteilsverkauf aus den Händen des Stadtrates genommen und den Wahlberech­tig­ten in Leipzig als Sachentscheidung vorgelegt.

 

(3) Die Holding LVV umfasst: die Stadtwerke Leipzig GmbH, die Leipziger Wohnungs- und Bau­gesellschaft mbH, das Klinikum St. Georg GmbH, die Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) GmbH, die Kommunale Wasserwerke Leipzig GmbH und den Eigenbetrieb Stadtreinigung Leipzig.

 

(4) Daseinsvorsorge: Nach dem Zweite Welt­krieg in Westeuropa vom Staat übernommene Auf­­gabe zur Bereitstellung der notwendigen Grund­versorgung, die letztlich das Funk­tio­nie­ren der Menschen im kapitalistischen System ge­­währ­leistet. Dazu zählt die Bereitstellung von öf­­fent­lichen Einrichtungen für die All­ge­mein­heit, also Verkehrs- und Beförderungswesen, Gas-, Wasser-, und Elek­trizitätsversorgung, Müll­abfuhr, Abwasserbeseitigung, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Krankenhäuser, Fried­höfe usw. Dabei handelt es sich größtenteils um Betätigungen, die heute von kom­munal­wirt­schaftlichen Betrieben wahrgenommen werden.

 

(5) Nach Angaben der APRIL erwirtschaften die Wasserwerke jährlich ca. 22 Mio. Euro und die Stadtwerke ca. 50 Mio. Euro.

 

(6) www.rwe.com/generator.aspx/presse/language=de/id=178406?pmid=4000344.

 

(7) 1998 verkaufte Potsdam seine Wasserwerke zu 49 Prozent an Eurowasser und kaufte diese nach 1,5 Jahren zurück – Hamburg veräußerte 1999 die kommunalen Elektrizitätswerke an den Vatten­fallkonzern – die Stadt Dresden sämtliche 48000 kommunale Wohnungen für 1,7 Milliar­den Euro an die US-Investorengruppe Fortress.

 

(8) Gutscheine erhalten neben erwähnten Lang­zeitarbeitslosen vor allem AsylbewerberInnen, siehe Seite 5ff.