Archiv der Kategorie: Feierabend! #51

Lyrik

Was ist los, was soll das hier?
Ist das eine Welt noch mehr?
Seht euch an, die ganzen Leute,
diese riesengroße Meute.
Auf Geld sind sie aus,
den großen Erfolg.
Das beste Aussehen
und ach – was solls.
So denken heute alle nur.
Die Welt ist nicht mehr bunt und schön,
grau ist sie,
man kann nichts mehr sehen.
Doch wartet,
es ist noch nicht zu spät,
ein kleiner Funken Hoffnung späht.
Die Menschen sind noch nicht verloren,
sie sind noch nicht ganz eingefroren.
Nun kommt schon her und glaubet mir,
was ändern, das kann jeder hier.

(R!)

HaiKu

Der Staat ruft zum Krieg
Heckler und Koch frohlocken
Oh, Pöbel tritt an!

(carlos)

Das Vokü-Rezept

Hi, bei uns in der Küche liegen schon seit Ewigkeiten mehrere Packungen Maisgrieß und ich hab echt keinen Plan, was wir damit machen könnten. Wir würden das ja gerne mal für eine Vokü verwenden. Habt ihr eine Idee? Schöne Grüße, Julia“

Liebe Julia,

Maisgrieß ist schon etwas sehr Spezielles, doch mit etwas Aufwand könnt ihr daraus ein superschmackhaftes Essen zaubern. Hier die Idee (für ca. 25 Personen):

Gang 1: Polenta-Suppe mit Räuchertofu und Kartoffeln

Zutaten:

5 Liter Gemüsebrühe 300g Polenta (Maisgrieß)

8-10 Kartoffeln 200g Räuchertofu

200ml Soja-Sahne 10 Knoblauchzehen

6 Zwiebeln 1 Bund Petersilie

Salz und Pfeffer Kokosfett oder Margarine

Zubereitung:

Zwiebeln fein würfeln, in Fett dünsten. Leicht salzen. Räuchertofu und Knoblauch fein würfeln, dazu geben. Kartoffeln schälen, würfeln und kurz mit anbraten. Alles mit Gemüsebrühe löschen und aufkochen lassen. 10min köcheln bis die Kartoffeln weich sind. Anschließend ganz langsam die Polenta reinrieseln lassen und öfter umrühren. Köcheln lassen, bis die Polenta weich ist. Aber Vorsicht: Kann schnell anbrennen, daher ständig rühren! Zum Schluss die Petersilie kleinhacken und mit der Sahne unterrühren, mit Salz und Pfeffer abschmecken. Fertig.

Gang 2: Gefüllte Paprikaschoten mit Polenta-Zitronen-Creme

Zutaten:

25 rote Paprika 500g Polenta

2l Gemüsebrühe 4 Zitronen

10-15 Tomaten 6 Zwiebeln

500g Champignons Hefeflocken

250ml Soja-Sahne Oregano

Kokosfett oder Margarine Salz und Pfeffer

Zubereitung:

Paprika halbieren und entkernen. Backbleche/Auflaufformen einfetten, Paprika darauf verteilen.

Zwiebeln schälen, kleinhacken. In einen Topf geben und in Fett glasig dünsten. Leicht salzen. Polenta und Brühe dazu, unter ständigem Rühren aufkochen lassen und köcheln lassen bis Polenta weich ist. (Rühren nicht vergessen!) Saft von Zitronen dazu geben.

Tomaten kleinwürfeln, Champignons in feine Scheiben schneiden, mit Oregano, Salz und Pfeffer würzen und alles neben den Paprikahälften auf den Blechen verteilen. Paprika mit Polenta füllen.

Alles bei 180 Grad 30 Minuten im Ofen backen.

Hefeflocken mit Sojasahne mischen bis eine sämige Masse entsteht. Masse auf Paprikahälften verteilen und weitere 5-10 Minuten backen. Kurz abkühlen lassen. Fertig.

Gang 3: Polenta-Yofu-Auflauf mit Kirschen

Zutaten:

250g Margarine (Alsan – raumwarm) 250g Polenta

200ml Agavendicksaft 2kg Soja-Joghurt

800g Kirschen (frisch oder aus dem Glas) 2 Zitronen

Zubereitung:

Margarine schaumig rühren. Agavendicksaft, Polenta, Soja-Joghurt und Saft der Zitronen unterrühren. 2/3 der Masse auf zwei bis drei Auflaufformen verteilen. Kirschen darauf verteilen und restliche Masse darüber geben. Auflauf im vorgeheizten Ofen bei 180 Grad 45 Minuten lang backen lassen. Kurz auskühlen lassen. Fertig.

Achtung, liebe Leser_innen! Auch ihr seid hiermit eingeladen, an dieser Rubrik mitzuwirken. Wendet euch mit eurer Liste von Zutaten an feierabendle@riseup.net, und lasst euch überraschen, wie sich daraus eine leckere Mahlzeit zubereiten lässt.

Obdachlosigkeit, soziale Ausgrenzung und rechte Gewalt

„Rechte TäterInnen praktizieren gegen obdachlose Menschen einen Sozialdarwinismus der Tat, der durch einen Sozialdarwinismus des Wortes vorbereitet wird“, heißt es im Klappentext des Buches Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus von Lucius Teidelbaum, das sich mit Obdachlosenfeindlichkeit im Kontext „sozialdarwinistischer Zustände“ (S. 15) beschäftigt. Infolge eines „weit verbreiteten Sozialdarwinismus“ käme es heute laut dem Autor zu einer „systematischen Ausgrenzung benachteiligter durch strukturell privilegierte Gruppen“. (S. 41) Mit dem Begriff Sozialdarwinismus meint der Autor in diesem Kontext „die Abwertung von Transferleistungs-Empfänger_innen und sozialen Randgruppen seitens breiter gesellschaftlicher Schichten“. (S.16) Dieser sog. latente Sozialdarwinismus führt in der Regel zu einem manifesten Sozialdarwinismus, der sich von ersterem dadurch unterscheidet, mit einer Aktivität verbunden zu sein wie beispielsweise Beschimpfung, physische Gewalt oder aber auch Repressalien von Seiten der Behörden.

Die offensichtlichste und schlimmste Facette dieser manifesten Ausformung sind offene Gewalt und Morde an Obdachlosen durch Rechtsradikale und Neonazis. Dieses Thema nimmt eine gesonderte Stellung im Buch ein. Obdachlose werden selten als eigene Kategorie gehandelt, wenn es um Opfer rechter Gewalt geht. Oft wird ein offensichtlicher rechtsradikaler/neonazistischer Hintergrund einschlägiger Taten ignoriert, relativiert oder unter den Tisch gekehrt. Gegen diesen Trend wendet sich das Buch mit voller Vehemenz. Bedrückende Schilderungen von Morden an Obdachlosen durch Neonazis sollen diese Opfer rechter Gewalt nicht in Vergessenheit geraten lassen und es verunmöglichen, diese Taten zu entpolitisieren. Wie es im Eingangszitat bereits angedeutet wird, hat dieser Sozialdarwinismus der Tat rechter GewalttäterInnen einen Sozialdarwinismus des Wortes als Basis – und diese Basis ist sehr viel breiter als einschlägige rechte Kreise. Der Autor sieht hier primär die „Ökonomisierung des gesellschaftlichen Lebens“ (S. 19) als Hauptproblem dieses Phänomens, denn die „Bewertung von Menschen nach (wirtschaftlicher) Leistung ist eine grundsätzlich sozialdarwinistische Position“. (S. 19) Diese Zustände sind hier laut Autor Teidelbaum der Grund für eine „Transformation von Ungleichheit in Ungleichwertigkeit“. (S. 22) Diese sog. Ideologie der Ungleichwertigkeit sei wiederum „ein wichtiges Wesensmerkmal der extremen Rechten“ (S. 22), womit sich der Kreis zwischen gesellschaftlich akzeptierter Ausgrenzung von „Randgruppen“ und rechter Gewalt wieder zu schließen beginnt.

Ganz so einfach darf man es sich bei rechter/neonazistischer Gewalt gegen Obdachlose jedoch auch nicht machen. Wie der Autor beschreibt, gibt es durchaus auch so etwas wie rechte Solidarität mit Obdachlosen. Freilich kommen hier nur die „einheimischen“ Obdachlosen in den fragwürdigen Genuss dessen. Rechte Parteien wie die NPD sowie diverse Neonazi-Gruppen distanzierten sich immer wieder öffentlich von Morden an Obdachlose durch klar dem rechten Spektrum zuordenbare TäterInnen. In Frankreich gibt es Suppenküchen Rechtsradikaler für Obdachlose – gekocht wird dort jedoch stets mit Schweinefleisch, um Muslime und Juden auszugrenzen. Dass die Gewalt gegen Obdachlose, von denen der Autor spricht, aber stets sozialdarwinistische, also letztendlich rechte Argumentions- und Legitimationsmuster zugrunde liegen, lässt sich auch dadurch nicht relativieren.

Aus anarchistischer Perspektive ist zudem positiv hervorzuheben, dass der Autor in seinem kurzen Abriss zu historischen Fragen der Obdachlosigkeit auch auf die Vagabund_innen-Bewegung rund um Gregor Gog eingeht. Die 1927 gegründete Bruderschaft der Vagabunden war klar anarchistisch und rüttelte durch Losungen wie „Generalstreik das Leben lang!“ auf. Sie optierte für „ein ganzes Leben“ im „gottverdammte[n] Dasein in der Gosse“ statt auch nur „einen einzigen Tag Bürger [zu] sein!“ (S. 32).

Dieses Buch ist ein wichtiger und einer der wenigen Beiträge, die Ausgrenzung von und Gewalt gegen Obdachlosen unter sozialdarwinistischen Vorzeichen beleuchtet, problematisiert und die konkreten Auswirkungen und Ursachen, die dies hat, benennt. Die relative Kürze der Ausführungen mindert hierbei nicht die Qualität des Inhalts. Der Autor schafft es sogar, historische Fragen unterzubringen, ohne dass es oberflächlich wirkt. Den Fokus auf diese Aspekte sozialer Ausgrenzung und rechter Gewalt zu legen und wie sie interagieren, ist vor allem in Krisenzeiten wie diesen, in denen das soziale Klima stetig rauer wird, äußerst wichtig.

Sebastian Kalicha

Lucius Teidelbaum: Obdachlosenhass und Sozialdarwinismus. Unrast Verlag, Münster 2013. 80 Seiten, 7,80 Euro, ISBN: 978-3-89771-124-2

Zucker, Brot und Peitsche

Zucker II

Nachdem ich euch im letzten Heft gezeigt habe, was Zucker alles mit dem Körper anrichtet, möchte ich mich in diesem Heft mit der Geschichte des Zuckers beschäftigen. Wo kommt Zucker eigentlich her? Wann kam er nach Europa? Wie kam er?

Der Weg nach Europa

Schon immer galt Süßes als etwas Besonderes. Anfangs griff der Mensch nach Honig, um Speisen zu süßen. Er wurde außerdem zur Heilung eingesetzt und bis heute wird daraus Met gewonnen. In unseren Breitengraden war er bis ins Mittelalter die einzige bekannte süße Leckerei.
Die ältesten Belege für Zuckerrohr wurden in Melanesien (Südostasien) gefunden und sind 10.000 Jahre alt. Vor 8.000 Jahren gelangte das Zuckerrohr von dort nach Indien und später Persien, wo die eigentliche Zuckergewinnung entwickelt wurde. In der Antike gelangte Zuckerrohrsaft als Luxusgut ins römische Reich.
Im 4. Jahrhundert v. Chr. brachte Alexander der Große die Neuigkeit vom Zuckerrohrsaft aus Ostindien mit. Er wurde anfangs als „Honig ohne Bienen“ oder „indisches Salz“ beschrieben, bis die Römer die Bezeichnung „Saccharum“ prägten. Da nur winzige Mengen importiert werden konnten, wurde Zucker zu einem Luxusprodukt, das sich nur sehr wenige, sehr reiche Menschen leisten konnten. Erst 600 n. Chr. konnte Zuckerrohrsaft kristallisiert werden. Damit wurde der Zucker haltbar und der Handel über weite Strecken möglich.

Zucker – Ein Handelsgut

Mit dem Islam kam nach dem Ende des persischen Reiches der Zucker und damit die von Sklaven bestellten Zuckerrohrplantagen in den südlichen Mittelmeerraum. Die Araber haben das Wissen der Perser übernommen und verfeinert – Süßigkeiten aller Art wurden nun hergestellt und an den herrschaftlichen Höfen gab es Zucker im Überfluss.
In den Norden gelangten die Süßigkeiten über Spanien. Auch die Kreuzfahrer brachten den „Sukhar“ (arab.) mit. Der Handel begann. Venedig – wichtiger Handelsort für viele Produkte – wurde im 12. Jahrhundert auch wichtigster Umschlagplatz für Zucker. Von dort gelangte er über die Alpen. Anfangs konnte Zucker in Apotheken gekauft werden und galt als Medizin. Im 14. Jahrhundert entstanden dann die ersten Zuckerbäckereien.
Der sächsische Händler Konrad Roth II. (1530-1610), der bei den Welsern eine kaufmännische Ausbildung u.a. im Zuckerhandel bekam, unterhielt in Lissabon eine Faktorei. Er brachte Kupfer, Saflor und Waffen nach Portugal und auf den Rückreisen Zucker nach Sachsen. 1573 ließ er in Augsburg eine der ersten Zuckerraffinerien nördlich der Alpen errichten. (1)
Nach der Vertreibung der Araber von der iberischen Halbinsel durch die Christen kontrollierten bald die Portugiesen und Spanier den Zuckerhandel. Sie unterhielten große Zuckerrohrplantagen, die von afrikanischen Sklaven bewirtschaftet wurden.
1493 brachte Kolumbus das Zuckerrohr in die „Neue Welt“. Das subtropische Klima war ideal für reiche Ernten. Wälder wurden gerodet, Plantagen vergrößert – größer wurde auch in Europa die Lust nach Kaffee, Tee und Kakao und damit die Lust auf Zucker.
Doch auch die Plantagen in Amerika wurden von Sklaven unterhalten. Die amerikanische Urbevölkerung war schnell „aufgebraucht“ – das war der Beginn des transatlantischen Sklavenhandels. 1530 arbeiteten bereits 30.000 afrikanische Sklaven auf San Domingo – hauptsächlich auf Zuckerrohrplantagen. Der Dreieckshandel war in vollem Gange und die europäischen Herrschaftshäuser und Händler schwelgten im Wohlstand. Dass tausende von Menschen in dieser Zeit ihr Leben verloren, ist weit bekannt und muss hier nicht im Detail besprochen werden. Doch neben Tabak, Kaffee, Kakao und Tee ist es auch der Zucker, der diese grausame Geschichte teilt. Neben Spanien und Portugal waren auch die Niederlande, Frankreich, England und Deutschland an dem Handel beteiligt. Heutzutage ist es kaum vorstellbar, welch gewaltige Umsätze damals erzielt wurden, die die Grundlage für die industrielle Revolution in Europa waren.
Im 18. Jahrhundert wurden kritische Stimmen in Europa immer lauter und der Sklavenhandel geriet in Verruf. 1791 kam es zum großen Sklavenaufstand von San Domingo, der am Ende zur Unabhängigkeit von Haiti geführt hat. Auch auf Kuba, danach größtes Anbaugebiet für Zuckerrohr, kam es immer wieder zu Aufständen, bis Kuba 1902 formal selbstständige Republik wurde. (2)

Zucker als Gemeingut

Zucker galt, wie ich schon ausführte, lange als Luxusmittel. Für „normale“ Menschen war Zucker eher Medizin. Er wurde benutzt um Arzneien wie Sirup anzurühren oder Pillen herzustellen. Zuckerprodukte konnten in Apotheken gekauft werden, die mit dem Zuckergeschäft gute Einnahmen machten.
Doch schon im 16. Jahrhundert gab es kritische Stimmen, der Zucker sei schädlich. So beschreibt zum Beispiel ein Besucher 1598 die Zähne der Königin Elisabeth I. als „schwarz, weil sie zu viel Zucker isst“. (3) Allerdings gab es auch zahllose Loblieder auf den süßen, lieblichen Zucker.
Mit der massenhaften Produktion in Amerika fiel der Zuckerpreis im 17. und 18. Jahrhundert und Zucker hielt Einzug in die Alltagsküchen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lag der Pro-Kopf-Jahresverbrauch allerdings erst bei 2 Kilo – es war nach wie vor ein Gewürz für besondere Anlässe und wurde außerdem zum Haltbarmachen verwendet. (4)

Die Entdeckung der Rübe

Mit den Sklavenaufständen stieg der Zuckerpreis wieder und die Suche nach lokalen Alternativen begann. 1747 entdeckte der Chemiker Andreas Sigismund Marggraf (1709-1782) aus Berlin bei seiner systematischen Suche nach zuckerhaltigen Pflanzen, dass er aus der Runkelrübe Kristalle gewinnen konnte, die identisch mit den Zuckerrohrkristallen waren. Seinem Schüler Franz Karl Achard gelang später die Produktion von Zucker. Er ließ 1802 in Schlesien die erste Rübenzuckerfabrik bauen. So wurde Preußen unabhängig vom englischen Zuckerimport.
Auch Frankreich förderte die Produktion von Zucker aus der Rübe. Die politische Lage zwischen England und Frankreich war angespannt: die Briten belieferten die Franzosen nicht mehr mit Zuckerrohr, wodurch die Raffinerien in Frankreich zum Stillstand kamen. Der Zuckerpreis stieg. Napoleon erließ darauf eine Kontinentalsperre für britische Schiffe. Die Zuckervorräte gingen zur Neige und die Menschen wurden unzufrieden. Darauf beschloss Napoleon per Dekret den Anbau der Zuckerrübe und deren Verarbeitung. Durch Steuerfreiheiten in Frankreich aber auch in Deutschland wurde die Zuckerindustrie unterstützt und bald gab es genügend Zuckerrübenfabriken, um die Nachfrage zu stillen.
Nach dem Verbot der Sklaverei in britischen Kolonien 1834 brach der Handel mit dem Rohrzucker endgültig zusammen und der Rübenzucker ist zum „Zucker“ geworden. Auch jetzt wird er selten als Rübenzucker bezeichnet, wohingegen der Rohrzucker als solcher betont wird.

Die Zuckersteuer

Nicht nur Händler und Industrielle, auch der Staat verdiente gut am Zucker. Anfangs wurden Zölle auf den Import von Rohrzucker erhoben und später auch auf den Rübenzucker.
1764 erließ das britische Parlament ein Zuckergesetz („Sugar Act“), das vorrangig die Staatskasse nach dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763) wieder füllen sollte. Es regelte vor allem den Handel von Zuckerrohrmelasse in den Kolonien. Die allgemeine Steuerpolitik des British Empire stieß in den Kolonien auf Widerstand. Höhepunkt der Proteste war die „Boston Tea Party“ am 16. Dezember 1773. Der Tee stand dabei nur symbolisch für viele Handelsgüter – es hätte genauso gut Zucker sein können und damit „Boston Sugar Party“ geheißen. (5)
1841 wurde in Preußen die Zuckersteuer eingeführt, die anfangs nur den Handel, später auch den Verbrauch betraf. Da damals schon Rübenzucker in rauen Mengen hergestellt wurde, kann von einer Luxussteuer keine Rede sein. Sie war eine reine Verbrauchersteuer, die erst 1993 abgeschafft wurde und bis dahin dem Fiskus einiges einbrachte.
Nachdem lange Zeit Rohrzucker nach Europa importiert wurde, galt Zucker im 19. Jahrhundert als Exportgut in Europa. Zucker war endlich zur Massenware geworden und der Kilopreis wurde in Pfennigen berechnet.
1953 wurde dann das erste Zuckerabkommen der Vereinten Nationen beschlossen, das u.a. Quoten regeln und Lagermengen bestimmen sollte. Es folgten darauf verschiedene Abkommen, die stets erweitert, aber auch eingeschränkt wurden. Das jüngste Abkommen wurde am 20. März 1992 mit der Gründung der „Internationalen Zucker-Organisation“ mit Sitz in London beschlossen. (6) Diese Organisation greift nicht regulierend in die Märkte ein, sondern fördert lediglich den Handel und den Konsum von Zucker und soll neue tolle Produkte erforschen, in denen möglichst viel Zucker enthalten ist. Voll gut.

Im nächsten Heft werde ich euch noch einiges zu Nestlé, Ferrero und Co. berichten, welchen Einfluss die Zucker-Lobby auf die Politik hat und wie staatliche Förderung und wissenschaftliche Studien den Verkauf von zuckerhaltigen Produkten ankurbeln.

Übrigens: Falls ihr mal wieder in Kreuzberg seid und noch mehr zur Geschichte von Zucker erfahren wollt, könnt ihr ja mal im Zuckermuseum vorbeischauen (Trebbiner Straße).

mv

(1) www.deutsche-biographie.de/sfz108370.html
(2) Dass die USA noch heute ein Interventionsrecht besitzen (siehe Guantánamo Bay), steht allerdings auf einem anderen Blatt.
(3) Franz Binder/Josef Wahler, Zucker – der süße Verführer (Freiburg 2004) 42.
(4) Zur Erinnerung: zurzeit beträgt er ca. 36 Kilo.
(5) Hans-Ulrich Grimm, Garantiert gesundheitsgefährdend. Wie uns die Zucker-Mafia krank macht (München 2013) 22.
(6) www.isosugar.org

Die Redaktion … spielt

… mit Kellen, Wölfen und Messern

Seit letztem Monat spiele ich wieder Tischtennis. Draußen, im Park oder gleich auf dem Spielplatz um die Ecke. Ich habe mir dafür eine kleine Tasche zugelegt, mit zwei Kellen und drei Bällen. Einer davon ist orange. Wenn ich jetzt bei Freunden an der Tür klingele und frage, ob sie mit auf den Spielplatz kommen, fühle ich mich wie fünf.

Außerdem spiele ich Okami – ein japanisches Videospiel, in dem ein weißer Wolf die Welt von finsteren Dämonen befreit. „Okami“ auf japanisch bedeutet Wolf, große Gottheit und weißes Papier. Mit mehreren Pinseln bewaffnet zerschneide ich Steine, male Wasser in ausgetrocknete Flüsse, lasse zerstörte Brücken neu entstehen und zeichne Sonnen in schwarze Wolken. Gottesgleich also. So richtig überzeugt von dem Spiel bin ich noch nicht. Die Idee mit den Pinseln statt Waffen hat aber was.

Letztes Jahr habe ich mit Freunden oft Flat Out gespielt – auch ein Videospiel, bei dem der Fahrer aus dem Auto in einem bestimmten Winkel und mit einer bestimmten Geschwindigkeit katapultiert wird, um auf eine Dartscheibe oder ins Tor oder durch Feuerringe zu fliegen. Am Ende liegt der Fahrer immer tot in der Ecke. Auch irgendwie gottesgleich, nur mit dem Unterschied, nicht die Welt zu retten, sondern einfach nur viele Punkte zu ergattern.

Ende letzten Jahres litt ich dann an einer Spiele-Überdosis. Non-Stop Flat Out, Romee, MauMau, Mensch ärgere dich nicht, Trivial Pursuit, Scrabble. Das Problem: Ich kann nicht verlieren und diskutiere bis aufs Messer, wenn ich Ungerechtigkeit wittere. Nicht mit allen. Eigentlich nur mit denen, die mir am nächsten stehen. Und eigentlich völlig sinnlos. Nicht so gut. In Spielen sehe ich dann nur noch Psychokriege, in denen sich jeder behaupten will.

Die Tischtennis-Saison ist aber noch jung. Bis jetzt habe ich mich noch nicht ins Spiel hineingesteigert. Bis jetzt will ich noch nicht immer gewinnen. Bis jetzt geht es noch um den Spaß. Manchmal muss ich mir noch still vorsagen, dass ich doch gewinnen will, um mich zu konzentrieren. Ich frage mich, wie lange es anhält. Gestern habe ich schon meinen Namen auf eine Kelle geschrieben.

tung

dagegen

Das Leben soll ja ein Spiel sein, ein Spiel des Lebens. Auf dieses Spiel hab’ ich aber keinen Bock mehr! Ein Kredit aufnehmen und das Studium beenden? Ich hab’ keinen Bock! Arbeiten und Karriere machen? Ich hab’ keinen Bock! Heiraten und Kinder kriegen? Ich hab’ keinen Bock! Eins ist mir mittlerweile klar geworden – an diesem Spielbrett bin ich falsch. Wird wohl Zeit, mir mein eigenes zu basteln. Ein Brett, wo ich über Los gehe, und alle um mich herum 20.000 Euro einziehen dürfen. Bis dieses Brett steht, dauert es aber noch ein Weilchen. Erstmal die Grundlagen schaffen: altes Brett nehmen und kaputtschlagen!

carlos

mitunter mit Gedanken

Mit sinnvollen wie sinnfreien, hellen wie dunklen und (gesellschaftlich) wertvollen wie auch völlig indiskutablen. Gedankenspiele sind dabei vor allem eines – die freie Entfaltung im Inneren, die Alternative zu realen Handlungszwängen, die Möglichkeit, überhaupt über gesellschaftliche Normen und Grenzen hinauszudenken. Da die Freiheit des einen bekanntlich da aufhört, wo die der anderen beginnt, ist es (fast) nur im Selbst möglich, wahnwitzige Ideen zu entwickeln oder überhaupt die eigene Persönlichkeit so zu entfalten, dass die gesellschaftliche Determination keinen Zombie hinterlässt. Das freie Spiel mit den Gedanken ermöglicht es mir erst woanders und mit anderen spielerisch tätig zu werden. Bei Gesellschaftsspielen, Wettkampfspielen, Wortspielen, sexuellen Spielen oder im Schauspielerischen, ja auch bei Machtspielen.

Ich spiele, also bin ich.

k.mille

… Karten- und Rollenspiele

Vielleicht ein bisschen old school, aber ich steh drauf: am runden Tisch mit Freunden und allerlei Genussmitteln sitzen und mit viel Phantasie in analoge Spielewelten tauchen. Die ansonsten bekämpfte Konkurrenzgesellschaft leb ich hier auch gern mal aus, inklusive Rumpöbeln. Ohne schlechtes Gewissen.

Besonders gut funktioniert das bei Skat-Abenden. Man muss gar kein alter Mann sein, um dort mit viel tamtam aufzutrumpfen, oder bei schlechteren Karten den Skat-Gott ob der Kartenverteilung zu verfluchen. Besser noch den Gegner beschimpfen, wenn er am gewinnen ist. Aber ich will hier kein falsches Bild hinterlassen, denn oftmals spiele ich auch ganz friedfertig – vor allem dann, wenn ich selbst ganz vorne throne.

Eine andere gute Gelegenheit, um sonst beherrschte Emotionen, konträre Haltungen oder ungeahnte Facetten des selbst mal auszuleben, bieten sich in so genannten Krimi-Rollenspielen. Als Abendfüllendes Programm konzipiert, schlüpfen 8-10 Menschen (am besten Freund_innen) in ganz unterschiedliche Rollen und spielen beispielsweise einen Mönch, Magier oder Möchtegern-Popstar. Die Aufgabe besteht nun darin herauszufinden, wer aus der illustren Runde der_die Mörder_in einer fiktiven getöteten Person ist. Zwar sind die Mordgeschichte, diverse Indizien und personelle Verstrickungen durch das story-board vorgegeben, allerdings bleibt noch genügend Spielraum um der Rolle den eigenen Stempel aufzudrücken. Herrlich, mit welcher Genugtuung ich als arroganter Magier über den Pöbel herziehen kann. Noch dazu erfinde ich auch neue Zauber, so dass irgendwann alle hoffentlich vor Furcht erstarren….

Der Phantasie freien Lauf lassen kann man übrigens auch mit dem Dixit-Kartenspiel. Platz drei meiner aktuellen best-of-Liste. Wunderschöne, verspielte und interpretationsoffen gezeichnete Bilder bilden hier die Basis. Die Aufgabe besteht darin eines davon assoziativ mit Worten zu belegen, ohne zu viel dabei zu verraten. Denn bestimmte Karten der Anderen sollten auch irgendwie dazu passen können.

Ja ich steh auf Spiele. Vor allem dann, wenn sie zwischenmenschliche Geselligkeit fördern, Phantasie anregen und mir ermöglichen in fremde Welten zu tauchen oder mich mal richtig gehen zu lassen. Mit vielen analogen Karten-, Brett- und Rollenspiele geht das vortrefflich. Und zu entdecken gibt es da noch jede Menge. Vielleicht ein bisschen old school – aber ich steh drauf.

momo

… mit

Sehr schön, denn wer spielt nicht gern? Brettspiele, Kartenspiele, Wortspiele, Schauspiele etc..

Soweit so gut. Doch ist das schon alles? Was spiele ich? Denn immerhin heißt die Rubrik ja „Die Redaktion spielt“ und mir schwirren bei diesem Begriff so massenhaft Gedanken durch den Kopf. Daher habe ich vor mit dem Begriff spielen zu spielen und zu schauen, was denn eigentlich alles dahinter steckt.

Anfangs denkt man häufig an Kinder, denn die sind ja ständig am Spielen. Dies ist meist ein positives Spielen. Man hat Spaß, kann etwas dabei lernen und verbringt eine schöne Zeit. Mit steigendem Alter spielt man dann immer weniger. Zumindest diese Art von Spielen. Allerdings ist nicht jede Art von Spielen eine rein positive. Menschen spielen auch im Stillen, ohne der anderen Person davon zu berichten. An dieser Stelle wird das Spielen nicht nur einseitig, sondern zum Teil auch manipulierend. Ich will damit nicht sagen, dass dies in jedem Fall bewusst geschieht und immer eine genaue Absicht dahinter steht, aber es kommt durchaus vor. Manchmal spielt man Menschen aber auch etwas vor, um nicht oder weniger verletzbar zu sein bzw. eine andere Person nicht zu verletzen. Ob das nun gut oder schlecht ist – darüber lässt sich streiten. Darum soll es aber an dieser Stelle auch gar nicht gehen. Sehen wir mal eben davon ab und wenden uns wieder der positiven Art von Spielen zu. Ich mag zum Bleistift auch Wortspiele sehr gern. Und auch beim Sex wird des öfteren gespielt, die unschuldigen Rollenspiele der Kindheit wandeln sich so z.B. in eine ganz andere Richtung oder allein der Begriff Sexspielzeug weist darauf hin, dass Sex durchaus einen spielerischen Charakter haben kann und hey, macht ja auch Spaß – sollte es zumindest ;). Manchmal spielt man auch einfach mit Gedanken. Es ist interessant wie weitläufig, dieser Begriff ist, aber wie oft er nur so eindimensional betrachtet wird. Zugegeben, er ist so weitläufig, dass ich irgendwie nicht so recht einen roten Faden zustande bringe. Ich springe von einem Gedanken zum nächsten. Schreibe – verwerfe. Ein Teil sagt mir, dass ich mir doch ohne weiteres ein „Spiel“ raus suchen könnte, um das Ganze einfacher zu gestalten aber ein Anderer fände das schlichtweg viel zu langweilig. Dann lieber ein holpriger Text, der nicht so einfach von der Hand geht und außerdem ist es ja auch per se nichts schlechtes. Es kann durchaus einen positiven Effekt haben einmal feste Schemata zu überwinden und den Gedanken(spielen) freien Lauf zu lassen.

R!

„‚Religion ist Scheiße‘-Rhetorik nervt“

Interview über Christlichen Anarchismus

FA!: Hallo, Sebastian Kalicha. Du hast ja Ende 2013 ein Buch zum Christlichen Anarchismus im Verlag Graswurzelrevolution herausgegeben. Was hat dich motiviert, ein derartiges Buchprojekt in Angriff zu nehmen?

SK: Ich komme aus der nicht-religiös anarchistischen Ecke und verstehe mich gleichzeitig als gewaltfreien Anarchisten. Durch meine Beschäftigung mit verschiedenen Traditionen des gewaltfreien Anarchismus stieß ich relativ früh notgedrungen auch auf Leo Tolstoi, der ja einer der bekanntesten gewaltfreien Anarchisten ist, dies dabei jedoch christlich begründet. Von da aus habe ich mich weiter und intensiver mit christlich-anarchistischen Theorien und Ideen – auch fernab von Tolstoi – beschäftigt und begann mich mehr und mehr dafür zu interessieren; wohlgemerkt ohne selbst gläubig zu sein. Gleichzeitig wurde mir auch schnell bewusst, dass christlich-anarchistische Literatur im deutschsprachigen Raum nur sehr spärlich gesät ist und man, will man sich näher in das Thema einlesen, relativ rasch auf fremdsprachige Bücher und Artikel angewiesen ist. Daher kam die Motivation, einen aktuellen Sammelband zum Thema für eine deutschsprachige LeserInnenschaft zusammenzustellen, um dieses Defizit zu beheben.

FA!: Wer sollte dein Buch lesen, und was kann der_die Leser_in inhaltlich von deinem Buch erwarten und erfahren?

SK: Zuallererst hoffe ich, dass das Buch ein Beitrag ist, um den christlich-anarchistischen Diskurs zu verbreitern und zu intensivieren. Daher hoffe ich, dass der Sammelband für die kleine Gemeinde der christlichen AnarchistInnen im deutschsprachigen Raum von Interesse ist. Desweiteren gibt es eine Reihe progressiver christlicher Strömungen wie die Theologie der Befreiung, Religiöser Sozialismus, die christliche Friedensbewegung, etc., bei denen es bestimmte Überschneidungen zum christlichen Anarchismus gibt. Auch für VertreterInnen dieser Richtungen ist das Buch hoffentlich von Interesse. Es ist aber auch ein Buch, das sich sowohl an eine nicht-religiös anarchistische, als auch an eine nicht anarchistische, christlich-religiöse LeserInnenschaft bzw. an TheologInnen richtet. Bei beiden Lagern stößt man immer wieder auf Ablehnung oder Skepsis wenn der christliche Anarchismus zur Sprache kommt, was ich für bedauernswert halte. Es geht hier darum den christlichen Anarchismus wieder verstärkt ins Gespräch zu bringen, Vorurteile abzubauen, reflexartige Schnellschüsse zu vermeiden und Pauschalurteile durch differenzierte Betrachtungen zu ersetzen. Diese Berührungsängste zwischen Anarchismus und Christentum sind, wenn man sich der Thematik von einer bestimmten Richtung her nähert und die inhaltlichen Schnittmengen analysiert, meiner Ansicht nach unbegründet.
Inhaltlich ist der Sammelband als Einführung in den christlichen Anarchismus konzipiert. Er beinhaltet einen generellen Überblick über christlich-anarchistische Thematiken und eine Diskussion zum Verhältnis von Anarchismus und Christentum, Beiträge, die sich mit einer anarchistischen Lesart und Interpretation der Bibel beschäftigen, Reflexionen zu christlich-anarchistischem Aktivismus sowie Porträts bedeutender christlicher AnarchistInnen. Jacques Ellul, dessen Buch Anarchie et christianisme (Anarchie und Christentum) behandelt wird, ist einer davon. Weiterhin werden Dorothy Day und Ammon Hennacy von der Catholic-Worker-Bewegung vorgestellt. Peter Chelchicky, ein Frühreformator und „Ketzer“ der im Tschechien des 14./15. Jahrhunderts lebte, wird ebenfalls porträtiert und dessen christlich-anarchistische Dimension diskutiert.

FA!: Dieses Sammelwerk verdeutlicht ja vor allem, dass christlicher Glaube und Anarchismus nicht zwangsweise ein Gegensatz sind, sondern, dass es auch Anarchist_innen gab und gibt, die beides miteinander verbinden können. Wo siehst du die Schnittstellen zwischen christlichem Glauben und anarchistischem Denken? Was haben beide gemein?

SK: Ich kann das hier nur ansatzweise und stichwortartig erörtern und es gibt natürlich auch innerhalb der christlich-anarchistischen Bewegung immer wieder unterschiedliche Meinungen und Ansätze. Prägnant auf den Punkt gebracht würde ich sagen: Christliche AnarchistInnen gehen prinzipiell davon aus, dass das, was im Evangelium geschrieben steht und was uns von Leben und Wirken Jesu überliefert ist, unter den politischen Vorzeichen von heute am ehesten mit „Anarchismus“ beschrieben werden kann. Dabei finden wir laut christlichen AnarchistInnen im Evangelium alles, was auch den „klassischen“ Anarchismus ausmacht: eine Kritik und Ablehnung von Klassenstrukturen und unterdrückerischen Herrschaftsformen; eine egalitäre und inklusive Alternative dazu; eine Ablehnung von Gewalt, Zwang und Machtausübung; eine Anprangerung ungerechter und ausbeuterischer ökonomischer Verhältnisse und der Versuch diese zu überwinden. In diesem Sinne ist es nur konsequent und logisch, dass die erste Bewegung, die sich direkt auf all das berufen hat, in der Apostelgeschichte in einer Art beschrieben wird, die uns AnarchistInnen sehr bekannt vorkommen und sympathisch sein müsste: „Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte.“ (Apg 2,44-45) Und weiter zur Gütergemeinschaft in dieser sog. Urgemeinde: „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam.“ (Apg 4,32) Viele sehen also in diesem Idealzustand, das in der Bibel als „Reich Gottes“ bezeichnet wird, letztendlich eine Entsprechung zur „Anarchie“ von der die AnarchistInnen reden. In diesem Sinne meinte Nicolai Berdyaev bereits: „Das Reich Gottes ist die Anarchie.“

FA!: Ich habe den Eindruck, dass die theoretischen Ansätze und die (wenigen) Aktivist_innen, die sich als christliche Anarchist_innen verstehen, in der anarchistischen Szene wenig Bedeutung erfahren, mitunter sogar tabuisiert werden. Weil es viele Anarchist_innen gibt, die sagen, dass der Gottesglaube prinzipiell nicht mit der anarchistischen Idee vereinbar ist, fällt es gläubigen Politaktivist_innen entweder schwer sich als anarchistisch denkend zu beschreiben, oder sie verbergen weitestgehend ihren Glauben in ihrer politischen Aktivität. Woher kommt dieser weitverbreitete Gedanke an die Unvereinbarkeit? Und wo siehst du Grenzen zwischen christlichem Glauben und anarchistischem Denken?

SK: Woher dieser weitverbreitete Meinung nach Unvereinbarkeit zwischen Anarchismus und Christentum kommt ist für mich insofern eher schwer verständlich, da selbst in den anarchistischen „Klassikern“ von Kropotkin über Rocker und de Cleyre bis hin zu Bookchin und Woodcock ein sehr differenziertes Bild des Christentums aus anarchistischer Perspektive gezeichnet wird. Da wird natürlich einerseits von den unterdrückerischen und reaktionären Ausformungen dieser Religion (zumeist im Sinne der institutionalisierten Form dieser) geschrieben, die ja unleugbar existierten und auch weiter existieren. Diese Ausformungen werden auch von christlichen AnarchistInnen heftig kritisiert, weshalb es in dieser Frage ohnehin keinen Unterschied zu den nicht-religiösen AnarchistInnen gibt. Gleichzeitig wird aber auch stets betont, dass dies nur eine Seite der Medaille ist und dass es im Christentum, um es mit Kropotkin zu sagen, „ernstzunehmende anarchistische Elemente“ gibt. Es ist wichtig, dies zur Kenntnis zu nehmen. Diese anarchistischen Elemente finden aber leider eher wenig Beachtung und werden gerne im Zuge einer fundamentaloppositionellen Haltung gegenüber Religion schlicht ausgeblendet. Grenzen in dem Sinn wie ich sie verstehe sehe ich daher nicht wirklich. Ich würde sagen, dass es Sinn macht klarzustellen, dass die historischen und ideengeschichtlichen Wurzeln des Christentums und des Anarchismus natürlich andere sind und es von daher falsch wäre zu sagen, Anarchismus und Christentum seien im Grunde genommen das gleiche. Auch die Frage des Glaubens ist letztendlich eine, wo sich klarerweise Unterschiede auftun können. Das rechtfertigt meiner Ansicht nach aber nicht das Aufziehen von undurchlässigen Grenzen oder dergleichen. Wenn gläubige und nicht-gläubige AnarchistInnen in einen Diskurs treten, halte ich es vor allem für wichtig, dass das Ganze polemikfrei und mit gegenseitigem Respekt von statten geht. Reflexartige und polemische „Religion ist Scheiße“-Rhetorik geht mir eher auf die Nerven.

FA!: Was waren für dich persönlich in der Beschäftigung mit dem Thema die beeindruckendsten Erkenntnisse, die du mitgenommen hast?

SK: Als jemand, der klassisch katholisch sozialisiert wurde, ist eines der beeindruckendsten Dinge beim christlichen Anarchismus für mich die anarchistische Lesart und Interpretation der Bibel, die anarchistische Exegese, aber auch historische Fragen zu dieser Zeit, in der sich diese Geschichten, von denen wir in der Bibel lesen, abspielten. Dieser Zugang ist auch hilfreich, das Geschriebene anders einordnen zu können. Aber nicht einmal ein explizit anarchistischer Zugang ist notwendig, um das Offensichtliche feststellen zu können: Das Evangelium ist ein Text, der sich radikal auf die Seite der Marginalisierten, Armen, Ausgestoßenen und Subversiven stellt, die gegen die Mächtigen aufbegehrten und Ungerechtigkeiten anprangerten. Wenn das Ganze dann noch mit anarchistischen Theorien in Verbindung gebracht wird, ist es noch spannender. Das ist es, was den christlichen Anarchismus ausmacht und so beeindruckend für mich macht.

FA!: Was gibt es darüber hinaus für inhaltliche Aspekte beim Christlichen Anarchismus, die wichtig bei der Auseinandersetzung mit dem Thema sind und die nicht vergessen werden sollten?

SK: Ein Aspekt, der mir wichtig und interessant erscheint, ist die Frage zum christlich-anarchistischen Aktivismus. Wie können christliche AnarchistInnen aktiv werden, um gegen Ungerechtigkeiten anzukämpfen angesichts der bekannten Maxime: „Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“ (Mt 5,39) Vor allem Tolstoi hatte diesen Aspekt stark betont und schrieb viel über Nicht-Widerstand in diesem Sinne. Gleichzeitig gibt es viele christliche AnarchistInnen, die sehr wohl für sich in Anspruch nehmen, aktiven gewaltfreien Widerstand zu leisten, ohne dabei unchristlich zu handeln. Christlich-anarchistische AktivistInnen gehören mitunter zu den mutigsten und radikalsten, die mir je begegnet sind. Die verschiedenen Interpretationen und Diskussionen zu diesem Thema sind sehr spannend.

FA!: Wie war eigentlich die bisherige Resonanz auf das Buch und/oder wie haben die Leute in deinen Lesungen und Veranstaltungen zu dem Thema reagiert?

SK: Die Resonanz war gut. Ich habe Lesungen sowohl in eher nicht-religös anarchistischen, als auch in eher christlich-theologischen Rahmenbedingungen gemacht und von beiden Seiten kamen überwiegend positive Rückmeldungen. Auch die Rezensionen waren gut bislang. Teils hatte ich bei Veranstaltungen auch das Gefühl, dass die anarchistische Szene weit weniger zu einer strikten Anti-Haltung was Religion anlangt tendiert, als ich das zuvor angenommen hatte. Das freut mich natürlich.

FA!: Vielen Dank für das Interview!

momo

Der lange Sommer der Autonomie (Teil 5)

Operaismus für Anfänger_innen

 

Bislang habe ich in dieser Artikelreihe dargestellt, wie sich die operaistische Theorie und Bewegung vom Ende der 1950er Jahre bis 1970 entwickelte. Den weiteren Verlauf werde ich in den letzten beiden Teilen sozusagen im Schnelldurchlauf behandeln. Nicht etwa, weil dazu nichts Wichtiges mehr zu sagen wäre – die Schwierigkeit besteht vielmehr darin, dass die Lage ab diesem Zeitpunkt zusehends unübersichtlich wird.

Ein kurzer Überblick darüber, wie sich die operaistische Bewegung organisatorisch entwickelte, mag das Problem verdeutlichen: Ganz zu Anfang, 1960, bestand sie nur aus einer Handvoll linker Aktivist_innen, die sich um die Zeitung Quaderni Rossi sammelten und Untersuchungen in den Fabriken durchführten. Erst wesentlich später im „Heißen Herbst“, den wilden Streiks von 1969 (siehe FA! #50), gewann der Operaismus eine wirkliche Massenbasis. Hier wurde die Szenerie durch die großen Gruppen der „organisierten Autonomie“, namentlich Potere Operaio und Lotta Continua geprägt, die mit jeweils mehreren tausend Mitgliedern landesweit aktiv waren.

Dagegen entstand Anfang der 70er eine neue autonome Bewegung, die durch zahllose kleine Gruppen und lose, informelle Zusammenhänge geprägt war. Neue Subjekte, Frauen, Arbeitslose, Jugendliche usw. traten mit eigenen Forderungen auf den Plan. Die Autonomia knüpfte einerseits an die vorangegangenen Kämpfe der Fabrikarbeiter_innen an, weitete den Konflikt aber auf ein größeres Terrain aus und entwickelte eine Kritik und Praxis, die alle Aspekte des Alltagslebens einbezog – von der Wohnsituation bis zur Kindererziehung, vom Bildungssystem bis zur Lage in den psychiatrischen Einrichtungen und Knästen…

 

Organisierte Autonomie“ und Frauenbewegung

Der erste Anstoß für diese Neuzusammensetzung der sozialen Kämpfe „von unten her“ kam dabei von Aktivistinnen der neuen Frauenbewegung, die 1970 entstand. Viele, wenn nicht die meisten dieser Frauen waren in den einschlägigen linken Organisationen sozialisiert worden. Sie machten aber rasch die Erfahrung, dass sie dort – egal wie „revolutionär“ sich diese Organisationen nach außen darstellen mochten – doch immer nur eine untergeordnete Stellung gegenüber den männlichen Militanten einnahmen. Die logische Antwort war, sich unabhängig zu organisieren, autonom sowohl den etablierten Parteien und Gewerkschaften als auch den großen linksradikalen Organisationen gegenüber. (1)

Dies betraf auch die operaistischen Gruppen, allen voran Potere Operaio. So traten 1971 eine ganze Reihe von Aktivistinnen, darunter Mariarosa Dalla Costa, Leopoldina Fortunati und andere, aus der Organisation aus. Daraus entstand bald eine neue Gruppe, nämlich Lotta Femminista („Feministischer Kampf“), die in der italienischen und internationalen Frauenbewegung eine wichtige Rolle spielte.

Zu den Gründen ihres Austritts erklärt die Feministin Mariarosa Dalla Costa im Rückblick: „Wenn ich gefragt würde, warum ich Potere Operaio im Juni 1971 verließ und eine Gruppe von Frauen sammelte, aus der später der erste Keim von Lotta Femminista wurde, dann würde ich antworten: ‚Es war eine Sache persönlicher Würde’. Zu dieser Zeit war das Verhältnis von Mann und Frau, gerade in diesem Umfeld von intellektuellen Genossen, nicht so, dass ich mich hinreichend gewürdigt fühlen konnte.“ (2)

Das Problem war freilich nicht nur, dass sich das Rollenverhalten der männlichen Aktivisten nicht unbedingt positiv von der Mehrheitsgesellschaft abhob. Auch in den theoretischen Debatten bei Potere Operaio fand die Lebenslage der weiblichen Lohnabhängigen keine Beachtung. Vielmehr wurde das „Proletariat“ fast selbstverständlich als „männlich“ vorausgesetzt. Das hatte sicher auch reale Gründe – die niedrig qualifizierten „Massenarbeiter“, welche Ende der 60er Jahre die zahlenmäßig größte Fraktion der Arbeiterschaft in den norditalienischen Industriegebieten darstellten, waren ja tatsächlich zum Großteil junge Männer.

Bei FIAT waren bis zum „Heißen Herbst“ von 1969 überhaupt keine Frauen in der Produktion tätig – erst Anfang 1970 und in Reaktion auf die wilden Streiks begann die Konzernleitung Tausende von jungen Frauen einzustellen. Damit wurden einerseits die männlichen Montagearbeiter an den Fließbändern ersetzt, die in den vorangegangenen Kämpfen eine treibende Rolle gespielt hatten. Zugleich nutzte das Unternehmen die Chance, um die Lohnkosten zu senken: Die Frauen übten zwar eine Tätigkeit aus, die der dritten Lohnkategorie entsprach, sie wurden aber nach der (niedrigeren) vierten Lohnkategorie bezahlt.

Das warf Fragen auf, die von den männlichen Theoretikern von Potere Operaio allerdings nur mit wenigen flapsigen Worten abgetan wurde, wie in einem Artikel vom Februar 1970: „Die Einstellung von Frauen bei FIAT Mirafiori ist vergleichbar mit der Einstellung von Schwarzen in der Autoindustrie von Detroit in den dreißiger Jahren. Es ist Zeit damit aufzuhören, vor lauter Sorge um die ‚Gleichstellung’ der Frauen zu vergehen, die wie jede Unterweisung in Sachen Bürgerrechten vollkommen daneben ist. Das Kapital hat die Frauen bei Mirafiori längst ‚gleichgestellt, indem es sie an die Fließbänder geschickt hat.“ (3) Es handelte sich um ein Spaltungsmanöver des Kapitals, die Frauen sollten sich eben organisieren und den Kampf der männlichen Arbeiter unterstützen – ein besonderes Problem gab es da nicht.

Diese Analyse war sicherlich mangelhaft und trug eher dazu bei, gerade die Spaltungen zwischen verschiedenen Fraktionen des Proletariats zu befördern, die sie doch verhindern wollte. Dazu stellt die italienische Feministin Leopoldina Fortunati, fest: „Die Debatte bei Potere Operaio war sehr weit entwickelt, soweit es darum ging, die neuen Fabriken, die Rolle der neuen Arbeitergeneration innerhalb des gegenwärtigen kapitalistischen Systems zu analysieren, aber sie war sehr arm in Bezug auf Fragen der Hausarbeit, Affekte, Emotionen, Sexualität, Bildung, Familie, zwischenmenschliche Beziehungen, Miteinander usw.“ (4)

Bei aller Kritik betont Fortunati aber auch, wie wichtig die Leistungen der operaistischen Theoretiker für sie gewesen seien: „Sie verwandelten das Vermächtnis der Marxschen Theorie in etwas Dynamisches und nutzten es, um die Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts analysieren und verstehen zu können, und das war es, was sie den Graswurzelaktivist_innen wie mir mitgaben: die Fähigkeit, Marx ohne falsche Ehrerbietung zu nutzen.“ (4) Mit anderen Worten: Der Operaismus bot ein brauchbares theoretisches Rüstzeug, mit dem sich auch die Stellung der Frauen innerhalb der kapitalistischen Arbeitsteilung besser verstehen ließ – es war nur nötig, dieses Rüstzeug angemessen respektlos zu gebrauchen.

 

Kritik der Hausarbeit

Genau das taten die Feministinnen auch, und erweiterten dabei die operaistische Kritik der Fabrikarbeit um eine Kritik der Hausarbeit. Die Grundzüge dieser Analyse entwickelte Dalla Costa in ihrem Text „Die Macht der Frau und die Umwälzung der Gesellschaft“ (5). Dieser war zunächst als internes Papier für die Debatten bei Potere Operaio verfasst, wurde von Dalla Costa aber später überarbeitet und als Broschüre veröffentlicht. Der Text fand in der internationalen feministischen Bewegung großen Anklang und wurde mehrfach übersetzt.

Dalla Costa zufolge beruht die Macht des Kapitals nicht allein auf der produktiven Arbeit des „doppelt freien Lohnarbeiters“. Das Kapital ist ebenso auf die unbezahlte Arbeit der Frauen angewiesen, die nötig ist, um die Arbeitskraft des (männlichen) Lohnarbeiters zu reproduzieren. „Seit Marx ist klar, dass das Kapital mittels des Arbeitslohns herrscht und sich entwickelt, das heißt, dass der oder die Lohnarbeiter_in und deren Ausbeutung die Basis der kapitalistischen Gesellschaft bildet. Was weder klar war noch seitens der Organisationen der Arbeiterbewegung bemerkt wurde, war der Fakt, dass genau durch den Arbeitslohn die Ausbeutung der unbezahlten Arbeit organisiert wurde. […] Das heißt, über den Lohn wurde eine größere Menge an Arbeit kommandiert, als in der für die Fabrikarbeit gezahlten Geldsumme auftauchte.“

Dass diese Arbeit prinzipiell ohne Lohn geleistet wurde, wirkte sich nicht nur auf die Profitrate aus. Es trug auch dazu bei, zu verschleiern, dass es sich an dieser Stelle überhaupt um ein Zwangs- und Ausbeutungsverhältnis handelte. Diese Arbeit der Frauen schien vielmehr „ein persönlicher, außerhalb des Kapitalverhältnisses geleisteter Dienst zu sein.“ Ihre Funktion „im Zyklus der gesellschaftlichen Produktion blieb unsichtbar, weil von dort aus nur das Endprodukt ihrer Arbeit, der Arbeiter, zu sehen war. Sie selbst blieb dabei in prä-kapitalistischen Arbeitsverhältnissen gefangen“.

Lotta Femminista waren, ähnlich wie Potere Operaio (siehe FA! #50), vor allem in den norditalienischen Regionen Veneto und Emiliana aktiv, ebenso in Rom. Die Gruppe war in ihrer Tätigkeit aber auch sehr stark international ausgerichtet. So wurde 1972 in Padua das International Feminist Collective gegründet, ein Netzwerk, das neben Italien auch in den USA und Kanada, aber auch in Großbritannien und Deutschland sehr aktiv war. Aus diesem heraus wurde eine internationale Kampagne gestartet – „Lohn für Hausarbeit“. (5)

 

Internationale Debatten

Die Forderung stieß innerhalb der Frauenbewegung keinesfalls auf ungeteilte Zustimmung. Im Gegenteil sahen viele Feministinnen gerade die gleichberechtigte Teilhabe am Erwerbsleben als das beste Mittel, um die Emanzipation der Frauen voranzubringen. Eine Bezahlung für Hausarbeit einzufordern, schien ihnen dagegen vor allem eine Bestätigung des Status quo zu sein und wurde von ihnen harsch kritisiert.

Demgegenüber verteidigte die in den USA lebende Feministin Silvia Federici, ein Gründungsmitglied des International Feminist Collective, in einem Text von 1974 die Kampagne gegen etwaige Missverständnisse. Es handle sich vielmehr um einen „Lohn gegen Hausarbeit“ (6). Die Lohnforderung sei nur das gewählte Mittel, nicht etwa das Ziel der Kampagne. Die Forderung bedeute auch nicht, „dass wir diese Arbeit weiterhin verrichten werden, sofern wir dafür bezahlt werden. Es bedeutet genau das Gegenteil.“

Denn Hausarbeit sei eben keine Arbeit „wie jede andere”: „Einen Lohn zu erhalten, heißt Teil eines Vertragsverhältnisses zu sein, und es gibt keine Unklarheit, was dessen Inhalt betrifft: Du arbeitest, nicht weil du es gerne tust oder weil es dir eben so einfällt, sondern weil dir nur unter dieser Bedingung erlaubt wird zu leben. Aber egal wie sehr du auch ausgebeutet wirst, du bist mit deiner Arbeit nicht identisch.”

Bei der Hausarbeit stelle sich dies grundlegend anders dar. Diese sei zwar ebenfalls ein Ausbeutungsverhältnis – aber gerade weil für die geleistete Arbeit kein Lohn gezahlt werde, erscheine sie nicht als Arbeit im eigentlichen Sinn. Es sei nicht nur so, dass die Hausarbeit den Frauen zugeteilt und aufgezwungen werde, zugleich „wurde sie in ein scheinbar natürliches Merkmal unserer Körperlichkeit und Persönlichkeit als Frauen verwandelt, in ein inneres Bedürfnis, ein Drang, der angeblich aus den Tiefen unseres weiblichen Charakters entspringt.“

Die Ausbeutung würde also verschleiert und mystifiziert – sie erscheine als Produkt der „Liebe“ oder der „weiblichen Natur“. Genau diese Mystifikation solle mit der Kampagne durchbrochen werden, die Lohnforderung solle die Hausarbeit wieder als Zwangs- und Ausbeutungsverhältnis kenntlich machen.

Von diesem Punkt aus kritisierte Federici auch die Institution der Kleinfamilie. Trotz aller romantischer Vorstellungen, die sich daran knüpften, stelle diese die kleinste basale Einheit der kapitalistischen Gesellschaft dar. Die Ausbeutung im Haushalt lasse sich nur im Verhältnis zur Ausbeutung in der Fabrik verstehen: „Es ist kein Zufall, dass die meisten Männer gerade dann anfangen an Heirat zu denken, wenn sie ihren ersten Job kriegen. Nicht nur, weil sie es sich leisten können – jemanden zu Hause zu haben, der sich um einen kümmert, ist die einzige Möglichkeit, nach einem langen Tag am Fließband oder Schreibtisch nicht durchzudrehen. […] Und auch in diesem Fall gilt, dass die Sklaverei der Frau sich umso tiefgreifender gestaltet, je ärmer die Familie ist, und dies nicht nur aus monetären Gründen. Tatsächlich verfolgt das Kapital eine doppelte Politik, eine für die Mittelklasse und eine für die proletarische Familie. Es ist kein Zufall, dass wir den stumpfesten Machismo gerade in Familien der Arbeiterklasse finden: Je mehr Schläge der Mann auf Arbeit einstecken muss, umso mehr muss die Frau darauf getrimmt sein, sie aufzufangen, umso mehr wird es ihm freigestellt, sein Ego auf ihre Kosten.wieder aufzubessern. Du schlägst deine Frau, wenn du frustriert oder fertig von der Arbeit bist oder wenn du eine Niederlage einstecken musstest (und zur Arbeit in die Fabrik zu gehen ist an sich schon eine Niederlage).“

Federici erklärte es für absurd, diesen Kampf der Frauen für eine Bezahlung ihrer Arbeit mit den Lohnkämpfen zu vergleichen, wie sie von den männlichen Fabrikarbeitern geführt wurden. Die Ausgangslage stelle sich bei den Hausfrauen nämlich komplett anders dar: „Der Lohnarbeiter stellt, indem er mehr Lohn fordert, seine soziale Rolle in Frage und bleibt doch in ihrem Rahmen. Wenn wir für eine Bezahlung unserer Arbeit kämpfen, dann kämpfen wir ohne Zweideutigkeit und direkt gegen unsere soziale Rolle.“

Dabei ginge es nicht darum, sich „einen Platz innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse zu erkämpfen, weil wir niemals außerhalb derselben waren.“ Das Ziel sei vielmehr, den kapitalistischen Plan zu durchkreuzen, das Kapital anzugreifen und damit zu zwingen, „die sozialen Verhältnisse in einer Weise neu zu strukturieren, die für vorteilhafter für uns selbst ist und in der Folge auch vorteilhafter, um eine Einigkeit der Klasse zu erreichen.“

 

Italienische Verhältnisse

Das war ziemlich nah an der politischen Linie, die auch Potere Operaio in den Jahren von 1969 bis 1973 verfolgten. So erinnerte der „Lohn für Hausarbeit“ nicht von ungefähr an das Konzept des „politischen Lohns“, also die Strategie, mit immer neuen Lohnforderungen das Kapital in die Krise zu treiben – nur mit dem von Federici erwähnten Unterschied, dass die männlichen Lohnarbeiter dabei allemal „im Rahmen ihrer Rolle“ blieben. So gerieten Potere Operaio rasch in eine Krise, zumal sie sich nicht nur strategisch eingleisig auf immer neue Lohnforderungen festlegten, sondern sich zugleich auch in ihrer Klassenanalyse ziemlich verrannten und alle Akteur_innen abseits der jungen, unqualifizierten, männlichen „Massenarbeiter“ weitgehend ignorierten. Welche Folgen dies für die operaistischen Debatten hatte, werde ich im nächsten (letzten) Teil dieser Serie noch genauer darstellen.

Jedenfalls liefen die feministischen und die operaistischen Debatten in ihrer weiteren Entwicklung weitgehend bezugslos nebeneinander her – wie Mariarosa Dalla Costa im Rückblick feststellte (2): „Ich selbst hatte meine ersten Schritte bei Potere Operaio gemacht, deswegen war es frustrierend zu sehen, wie sehr diese ganze Debatte abgeblockt wurde. Männliche Genossen, die nichts über die Entwicklung unseres Diskurses oder die für uns zentralen Themen wussten, konnten uns nicht folgen und nur auf dem Niveau von Höhlenmenschen argumentieren wenn sie mit uns zusammentrafen. Umgekehrt blieben ihre Debatten für uns undurchschaubar, während es dringend nötig gewesen wäre, eine gemeinsame Diskussion zu führen.“

Zugleich wuchs die Frauenbewegung in Italien rasch. So versammelten sich bei einer landesweiten Konferenz 1974 etwa 10.000 Frauen, und am 18. Januar 1975 fand in Rom eine große Demonstration für die Legalisierung der Abtreibung mit 20.000 Teilnehmerinnen statt – das waren Größenordnungen, die im internationalen Vergleich wohl einzigartig waren.

Die Bewegung erhielt teilweise Unterstützung durch die Gewerkschaften und Organisationen der radikalen Linken – so bildeten sich z.B. bei Lotta Continua eigene Frauengruppen. Zugleich blieb das Verhältnis zwischen der Frauenbewegung und der restlichen Linken gespannt. So kam es am Rande der erwähnten Anti-Abtreibungs-Demonstration 1975 zu Handgreiflichkeiten, als einige männliche Aktivisten die Reihen des Ordnungsdienstes durchbrechen wollten.

Alisa Del Re, eine andere ehemalige Aktivistin von Potere Operaio, die aber von dort zur kommunistischen Partei wechselte, bemerkte dazu: „Ich hatte mit Frauen zu tun, die in außerparlamentarischen Gruppen aktiv und zugleich Feministinnen waren, und die waren zu dramatischen Entscheidungen gezwungen […] Der Gegner war oft im eigenen Heim: Wenn eine Frau persönliche Autonomie erlangen und zugleich die Beziehungen aufrecht erhalten wollte, zu Geliebten, Freunden, Gatten, Vätern oder zu Männern, die in der Linken engagiert waren und somit viele ihrer Ideen von einem grundsätzlichen Wandel der Gesellschaft teilten, dann war das für sie mit viel Unbehagen verbunden.“ (8)

Während die männlichen Aktivisten den Feministinnen ihren „Separatismus“ vorwarfen, kritisierte die Frauenbewegung umgekehrt die Aktionsformen der Linksradikalen – allen voran die Gewalt bis hin zum Schusswaffengebrauch bei Demonstrationen, die sich oft genug mit allerlei Macho-Attitüden verband. In strategischer Hinsicht sollten die Feministinnen damit recht behalten: Die zunehmende Militarisierung der autonomen Bewegung (wobei natürlich auch die harte, von der Polizei ausgehende Gewalt ihre Rolle spielte) führte zunehmend in eine Sackgasse. Ab 1978 – nachdem der ehemalige Ministerpräsident Aldo Moro durch die Stadtguerillagruppe der Roten Brigaden ermordet worden war – wurde die radikale Linke durch massive staatliche Repression zerschlagen, viele hunderte Aktivist_innen wanderten ins Gefängnis.

Im Zuge dessen wurde auch die feministisch-marxistische Theorielinie von Lotta Femminista aus dem akademischen und allgemeinen Diskurs verdrängt, wie Mariarosa Dalla Costa beschreibt: „In den 1980ern, Jahren der Repression und Normalisierung, ersetzte eine grundlegend ‘kulturelle’ Ausformung des Feminismus diese großen Kämpfe und Forderungen, und das hatte die Funktion, die Forderungen und Wortmeldungen der Frauen zu kontrollieren und zu selektieren. […] Zu sagen, dass unsere Arbeiten nicht frei zirkulieren konnten, wäre noch allzu beschönigend ausgedrückt. Sie verschwanden geradezu, […] sie wurden überwältigt, von einen entgegengesetzten politischen Willen und einer Unmenge an Studien zur ‘Frauenfrage’, die von einer gänzlich anderen Perspektive aus durchgeführt wurden.“ (2)

Mit den vorangegangenen Seiten habe ich hoffentlich ein wenig dazu beigetragen, dem Vergessen entgegen zu wirken. Im nächsten Heft werde ich diese Artikelreihe dann (endlich!) zum Abschluss bringen – dort wird dann Antonio Negri und dessen Konzept des „gesellschaftlichen Arbeiters“ das Thema sein. Ihr dürft also weiterhin gespannt sein.

justus

 

(1) Darauf verweist z.B. Patrick Cuninghame: „Italian feminism, workerism and autonomy in the 1970s: The struggle against unpaid reproductive labour and violence”, online unter:

libcom.org/history/italian-feminism-workerism-autonomy-1970s-struggle-against-unpaid-reproductive-labour-vi

(2) Mariarosa Dalla Costa: „The door to the garden: Feminism and Operaismo“

(Vortrag von 2002), online unter libcom.org/library/the-door-to-the-garden-feminism-and-operaismo-mariarosa-dalla-costa

(3) zitiert nach Steve Wright: „Den Himmel stürmen – Eine Theoriegeschichte des Operaismus”, Assoziation A, Berlin/Hamburg 2005, S. 146.

(4) Leopoldina Fortunati: „Learning to struggle: My story between workerism and feminism”

libcom.org/library/learning-struggle-my-story-between-workerism-feminism-leopoldina-fortunati

(5) Mariarosa Dalla Costa: „Women and the subversion of the community”, www.commoner.org.uk

(6) vgl. www.citsee.eu/interview/organising-and-living-interview-silvia-federici

(7) Silvia Federici: „Wages Against Housework”, http://caringlabor.wordpress.com/2010/09/15/silvia-federici-wages-against-housework/

(8) zitiert nach Patrick Cuninghame, a.A.o.

Staaten über Menschen

Wie die ukrainische Bevölkerung mit Hilfe der Medien entmündigt wird

 

Die Geschehnisse in der Ukraine in den letzten Monaten, sowie die von vielen als einseitig wahrgenommene Berichterstattung hierzulande haben hohe Wellen geschlagen.

In meinem letzten Artikel (FA! #50) habe ich ein Propaganda-Modell vorgestellt, das einseitige und verzerrte Berichterstattung allein aus Grundannahmen erklärt, die die wirtschaftliche und institutionelle Beschaffenheit der westlichen Mediensysteme widerspiegeln. Ihm zufolge werden offizielle Feinde stark verunglimpft, während unliebsame Fakten über ideologische Verbündete ignoriert werden oder verhältnismäßig wenig Berichterstattung erfahren. Mensch dürfte also erwarten, dass die Medien tendenziell die russische Politik übermäßig auch auf unfaire Art und Weise kritisieren, ohne die neoliberale und teils eskalierende Politik des transatlantischen EU-USA-Bündnisses und des IWF zu hinterfragen. Eine umfassendere Behandlung dieses komplexen Themaa wäre angebracht, doch werde ich mich hier nur grob auf einige Aspekte beziehen, die das Modell in seinen Schlussfolgerungen bestärken.

Die Mängel der deutschen Medien offenbaren sich vor allem durch ihre Auslassungen. Es ist schwer möglich, sich ein genaueres Bild von der Lage in der Ukraine zu machen, ohne sich auf alternative, anti-imperialistische oder im Westen sendende russische Medien wie Russia Today zu stützen, die ebenso zur einseitigen Berichterstattung neigen. Mensch sollte sich jedoch davor hüten zu meinen, er oder sie könne mit nur einer Nachrichtenquelle die Situation richtig rekonstruieren und alles in einen korrekten Kontext setzen. Selbst kritische Medien können natürlich einseitig und ideologisch voreingenommen berichten, vom Staat direkt abhängige Medien sollten mit der größten Skepsis beäugt werden. (1)

Die im Bundestag vertretenen Parteien taten sich bis auf die LINKE dadurch hervor, dass sie den Einfluss der rechten Kräfte in der Ukraine geflissentlich ignorierten und nicht einmal Einspruch erhoben, als mehrere Swoboda-Mitglieder dazu auserkoren wurden, Ministerposten in der neuen ukrainischen Regierung zu besetzen. Bereits während der Demonstrationen waren die Mitglieder der Swoboda und des Rechten Sektors durch ihre Gewalttätigkeit, ihre paramilitärische Organisationsweise und ihre Zurschaustellung rechtsextremer Symbole aufgefallen.

Den deutschen Medien war dies keine Erwähnung wert. Im Gegenteil waren sie von Anfang an bemüht, den Einfluss der nationalistischen Kräfte bei den von November bis Ende Februar laufenden Maidan-Protesten sowie bei der Regierungsbildung klein zu reden und zu ignorieren. Die deutschen RedakteurInnen schrieben kaum etwas über jene Kräfte in der Ukraine, die entweder eindeutig faschistisch sind oder eine ideologische und historische Nähe zum ukrainischen Faschismus aufweisen. (2) Noch wurden ihre Kontakte mit westlichen Spitzenpolitikern wie dem deutschen Außenminister Frank Walter Steinmeier oder dem ehemaligen US-amerikanischen Präsidentschaftskandidaten und Scharfmacher John McCain jemals thematisiert oder kritisch hinterfragt. (3) Politiker wie Medien waren eher darum besorgt, gegen wen sie agieren, ungeachtet dessen, welche zweifelhaften Kräfte sie im Gegenzug dafür unterstützen. (4)

Die Meinung der pro-russischen Bevölkerung oder der Regierung konnte gar nicht wahrgenommen werden, fast ausschließlich verschafften sich Mitglieder oder Führer der Opposition in den deutschen Medien Gehör. So konnte etwa Vitali Klitschko, da er deutschsprachig und auf der Seite der Demonstrant_Innen war, übermäßig viele Interviews hierzulande abhalten. Seine öffentliche Präsenz stand kaum in Relation zu seiner politischen Bedeutung in der Ukraine während oder nach den Protesten. (5)

Es ist den Medien auch nicht gelungen, die Ereignisse in der Ukraine in einen umfassenden geopolitischen Kontext zu setzen. Es gibt seit den 90ern Anzeichen dafür, dass die NATO, deren Existenzberechtigung spätestens seit 1990 sehr zweifelhaft ist, sich darum bemüht, Russland strategisch einzukreisen. So expandierte sie nach dem Ende des Kalten Krieges entgegen der Abmachungen zwischen dem ehemaligen Generalsekretär der KPdSU, Michael Gorbatschow, und seinen westlichen Gegenspielern weiterhin nach Osten. Angebote seitens Russlands, die NATO zugunsten eines gemeinsamen Sicherheitsnetzwerks aufzulösen, wurden mehrmals ausgeschlagen. Hinzu kam die Errichtung eines Raketenschilds in den osteuropäischen Ländern, der zwar offiziell gegen die iranischen und nordkoreanischen Atomwaffenprogramm gerichtet sein sollte, jedoch wohl eher darauf abzielte, Russland im Falle eines nuklearen Krieges deutlich zu benachteiligen. Das Projekt wurde 2009 nach dem Amtsantritt Obamas und nach langen Streitereien zwischen Ost und West in dieser Form vorerst auf Eis gelegt, doch besteht nach wie vor die Möglichkeit, dass es wieder aufgenommen wird und zur Einkreisung Russlands dient.

Das jetzige Spannungsverhältnis der beiden Machtblöcke hätte also schon lange abgebaut werden können, womit die jetzige Lage in der Ukraine auch harmloser wäre.

Weiterhin zeigte der Westen, dass er nur sehr selektiv oder gar nicht dazu bereit war, Abmachungen und seine eigenen Standards einzuhalten. So griff er 2011 militärisch in den libyschen Bürgerkrieg ein, obwohl die von Russland und China tolerierte Resolution lediglich eine Flugverbotszone für Gaddhafis Streitkräfte vorsah. Und seit 2008 verwehrt er Südossetien eine Abspaltung von Georgien, obwohl die Parallelen zur Kosovo-Abspaltung von Serbien so stark sind, dass es eigentlich naheliegend wäre, dieselben völkerrechtlichen Standards anzuwenden. Es ist daher eine verkürzte und einseitige Analyse, wenn z.B. die WELT behauptet, Putin habe mit einer „Blitzannexion“ den „geltenden Ordnungsrahmen Europas aufgekündigt.“ (6)

 

Real Bad Boys

Psychologisierungen von Putin und verkürzte Darstellungen der Konfliktlage dienen insbesondere dazu, ein einseitiges Feindbild zu schaffen. Die ständige Konzentration auf Putins Freizeitaktivitäten, sein „Macho“-Gehabe sowie Spekulationen über seine Intentionen (wie z.B. N-TV mit reißerischen Überschriften wie „Präsident Putin träumt von der Wiederauferstehung eines großrussischen Reiches“ (7)) – so etwas findet man nie in dieser Form und in diesem Ausmaß in der deutschen Berichterstattung über westliche Führer oder repressive Partnerregime wie Saudi-Arabien. Die Fokussierung auf Putins Persönlichkeit ist noch abstruser, wenn man sich vor Augen hält, dass seine Beliebtheitswerte in Russland nach dem Krim-Referendum auf 60-70% hochgeschnellt sind. Es müssen andere Erklärungsansätze gefunden werden, wenn ein Großteil der russischen Bevölkerung und seiner Eliten genauso gehandelt hätte.

Genauso manipulatorisch ist es, psychologische Behauptungen über politisch Andersdenkende anzustellen, wie in etwa Clemens Wirgin auf WELT ONLINE jenen, die Verständnis für die Politik Russlands aufzeigen, beweislos eine „Faszination für starke autoritäre Führer wie Wladimir Putin“ (8) unterstellt.

Ebenso erstaunlich ist die Art und Weise, mit welchen Begriffen Personen belegt werden, die sich um eine differenzierte Betrachtung der Gesamtlage bemühen. So wurde unter anderem Gregor Gysi, welcher sich in seiner Bundestagsrede weder auf die Seite Russlands noch auf die des Westens schlug, sondern beide in ihrer Handhabung des Völkerrechts kritisierte, als „Putin-Versteher“ gebrandmarkt. Diese von Personen wie dem Chefredakteur der ZEIT Josef Joffe genutzte Wortwahl suggeriert, dass jede Person, die die Schuld bei der Krim-Krise nicht einseitig Russland zuschreibt, zugleich ein Sympathisant Wladimir Putins und seines politischen Systems ist.

Es muss gesagt werden, dass es in den Medien Stimmen gab, die solch eine Verunglimpfung kritisch sahen und als nicht hilfreich erachteten. Doch sagt es schon viel über die deutsche Presse aus, dass Bezeichnungen wie „Putin-Versteher“ als Schimpfwort ihren Weg in die Öffentlichkeit finden.

Politiker wie Angela Merkel und Barack Obama, die sich durch illegale Drohnenkriege, die Ausweitung der Überwachungsgesellschaft und das Aufzwingen wirtschaftlich und sozial fataler Maßnahmen auf andere Länder hervortun, müssen solche öffentlichen Verunglimpfungen hingegen nicht fürchten. Die Apologeten dieser politischen Strategien bedürfen anscheinend keinerlei besonderer Bezeichnungen und werden auch sonst weitestgehend ignoriert, während in Putins Fall jegliche Abweichler gekennzeichnet und kritisiert werden.

 

Die Semantik der Manipulation

Es sollten auch grundlegende Begrifflichkeiten hinterfragt werden, die in den Medien gebraucht werden. So wird bei fast jeder Gelegenheit die Eingliederung der Krim in das russische Staatsgebiet als „Annexion“ bezeichnet. Eine „gewaltsame und widerrechtliche Aneignung fremden Gebiets“ – so wird der Begriff auf der Duden-Website erklärt.

Der völkerrechtliche Status dieser Angliederung ist jedoch nicht so offensichtlich illegal, wie es die konsequente mediale Anwendung dieses Begriffs vermuten lässt. Der Begriff der Annexion legt nahe, dass es sich bei der Unabhängigkeitserklärung der Krim um einen Gewaltakt Russlands gegen die Ukraine gehandelt hat. Damit wird schlicht die Bevölkerung der Krim entmündigt, die sich zu 93% für einen Beitritt zur Russischen Föderation entschieden hat. Es ist natürlich wichtig zu hinterfragen, welchen Einfluss das russische Militär auf die Wahl hatte, die nicht nach westlichen Standards hinsichtlich Transparenz geführt wurde. Es gibt jedoch wenige Hinweise darauf, dass der Großteil der Wähler auf der Krim drangsaliert wurde, wenn sie nicht für einen Beitritt stimmen würden. Noch hat es den Anschein, dass das doch eindeutige Wahlergebnis anders gewesen wäre, wenn das russische Militär nicht zu Zeiten des Referendums stationiert gewesen wäre. (9) Es ist daher falsch, von der Bevölkerung der Krim nur im Passiv zu schreiben und ihr damit jegliche Autonomie bei der Festlegung ihrer Nationalität zu versagen. Ähnlich verhält es sich mit den Separatisten im Südosten der Ukraine. (10)

Die Meinung der einfachen Bevölkerung dort fand in den deutschen Medien gar keine Repräsentation, und mensch kann sich nach wie vor nur eine grobe Vorstellung davon machen, was für eine Zukunft sich die Menschen dort selbst wünschen. Blind wurde spekuliert, dass es sich bei diesen Personen schlichtweg um russische Agenten und Truppen handeln müsste. Die „Beweise“ westlicher Regierungen wurden nicht angezweifelt. Es scheint für viele Redakteure unvorstellbar, dass viele Menschen auf der Krim wirklich Teil Russlands sein oder einfach nicht in der Ukraine verbleiben wollen. Dies könnte zufriedenstellend z.B. damit erklärt werden, dass sich viele Bewohner_Innen dort durch einen Beitritt zur Russischen Föderation wirtschaftliche Vorteile, wie z.B. eine Anhebung der Renten und Beamtengehälter erhoffen. (11) Es ist auch nicht einleuchtend, die 1954 staatlich verordnete Abgabe der damals russischen Krim an die ukrainische Sowjetrepublik als legitimer anzusehen, als einen Mehrheitsbeschluss der dortigen Bevölkerung.

Weiterhin müsste es logisch sein, dass eine illegale Absetzung des ukrainischen Präsidenten, dessen Partei vor allem Unterstützung in den südlichen und östlichen Gebieten findet, die Einheit des ukrainischen Staatsgebildes schwächen kann. Dieser Zusammenhang wurde allerdings so gut wie nirgends in den Medien so dargestellt. Stattdessen wird der allmächtige und alles kontrollierende Russe postuliert, weshalb der SPIEGEL auf seinem Cover Putin als „Brandstifter“ bezeichnet und die Frage „Wer stoppt ihn?“ (12) stellt.

Natürlich ist es absurd, wenn manche alternativen oder pro-russischen Medien die Maidan-Proteste lediglich als neo-faschistische Agitation oder als Inszenierung der ach so allmächtigen USA darstellen.

Ebenso realitätsfern ist es aber auch, hinter den Aktionen separatistischer Aktivisten und Paramilitärs stets nur das Tun des russischen Staates zu vermuten und ihnen damit jegliche Art von selbstbestimmtem Handeln abzusprechen. Die Demonstrationen auf beiden Seiten haben wohl ihre Eigendynamik, die auf verstehbaren materiellen und politischen Bedürfnissen fußt.

Nachlässig ist es auch, wenn verkannt wird, dass die USA tatsächlich ihre Interessen in der Ukraine vertreten. Es gab keine journalistischen Bemühungen in den Mainstream-Medien, um herauszufinden in welche Kanäle die 5 Milliarden Dollar fließen, mit denen die USA NGOs in der Ukraine finanzieren, und welchen Zielen sie konkret dienen. Es ist wahrscheinlich, dass zumindest ein Teil der Gelder genutzt wurde, um die Regierung Janukowitsch zu destabilisieren, genauso wie auch die restlichen Anstrengungen der NATO-Länder darauf abzielen, eine pro-westliche Regierung in Kiew an der Macht zu sehen. Dabei wird der Westen wie auch Russland eher die eigenen geopolitischen Interessen im Blick haben, als die jener, die direkt von den politischen Umbrüchen dort betroffen sind.

Manche sehen sogar die Gefahr, dass Russland seine militärische Macht nutzt, um in die Ukraine einzumarschieren und sich das Land anzueignen. Zwar kann das russische Militär extrem brutal vorgehen, wie die beiden Kriege in Tschetschenien deutlich gemacht haben. Doch gibt es bisher wenig Hinweise darauf, dass die Kreml-Führung dazu bereit ist, auch im Ausland militärische „Abenteuer“ zu starten. Die Spekulationen über einen Kriegsbeginn seitens Russlands sind daher eher abwegig. (13)

Weiterhin sollte der Begriff der „Maidan-Revolution“ nicht ohne weiteres akzeptiert werden. Der Begriff der „Revolution“ impliziert weitreichende politische, soziale und ökonomische Umbrüche. Zwar erreichten die Demonstrant_Innen ihr Ziel, die Janukowitsch-Regierung abzusetzen. Doch ist es bisher nicht ersichtlich, ob die Tradition der korrupten Politik, die sowohl von pro-westlichen wie von pro-russischen ukrainischen Politiker_Innen betrieben wird, jetzt wirklich ihr Ende findet.

So kommentiert Trenin, seinerseits Chef des Moskauer Think Tanks Carnegie-Center:

Der Maidan hat leider die Chance verpasst, sich zu einem Aufstand gegen die Korruption zu wandeln. Alle ukrainischen Machthaber der vergangenen Jahre waren korrupt, wenn es auch selten so offensichtlich und so widerlich war wie bei Janukowitsch. Der Kampf gegen das korrupte System hätte die Menschen einen können in Ost und West. Aber die Nationalisten haben die Revolution gekapert und gestohlen.“ (14)

Die pro-westlichen Politiker_Innen wie Timoschenko hatten schon einmal nach der sogenannten „Orangenen Revolution“ 2004 die Chance, die Ukraine nach ihrem Willen zu formen. Doch war das Resultat so enttäuschend, dass Janukowitsch trotz seiner bekannten Korruptheit wieder an die Macht kam.

 

There is no Alternative?

Die Diskussionen in der deutschen Presse gingen für den meisten Teil nur so weit, ob im Hinblick auf Russland lieber eine Politik der Diplomatie oder eine Hardliner-Haltung samt härterer Sanktionen angebracht wäre. Der Fakt, dass weder eine Angliederung der Ukraine an Russland noch an die EU überzeugende Perspektiven darstellen, wurde gänzlich ignoriert. Es sollte für jeden minimal progressiv eingestellten politischen Beobachter von Interesse sein, dass der ukrainischen Bevölkerung, eine bessere Zukunft in Aussicht gestellt wird, als jene, die beiden europäischen Großmächte vertreten. Weder das von der EU und dem IWF gewollte Austeritätsregime (15), welches bereits in Südeuropa einer ganzen Generation zu Lasten fällt, noch das autoritäre und auf billigen Rohstoffen basierende Gesellschafts- und Wirtschaftssystem Russlands werden eine Gesellschaft hervorbringen können, die frei von repressiven Herrschaftsstrukturen sowie von wirtschaftlicher Armut ist.

Die Berliner Zeitung etwa rechtfertigt ihre Opposition zur „Annexion“ der Krim überwiegend moralisch:

Menschenwürde, Meinungs- und Pressefreiheit, Recht auf sexuelle Selbstbestimmung – darum geht es, nicht um die in Deutschland geschmäcklerisch diskutierte Frage, ob Putins eindeutig völkerrechtswidrige Annexion der Krim und die ebenso eindeutig völkerrechtswidrige Bedrohung der Ukraine wirklich als völkerrechtswidrig anzusehen seien. Es geht um die Menschenrechte und damit um das Recht, selbst zu entscheiden, wie und wo einer leben möchte.“ (16)

An der Einforderung dieser Rechte ist selbstverständlich nichts auszusetzen. Doch wird dabei geflissentlich ignoriert, dass der Auslöser der Maidan-Proteste nicht nur Janukowitschs Politik allgemein war, sondern auch konkret die Frage, ob man entweder ein Assoziierungsabkommen mit der EU schließen oder die Partnerschaft mit der Russischen Föderation vertiefen will, die die Ukraine mit verbilligten Gaspreisen unterstützt. Eine wirtschaftliche Ausrichtung an den neoliberalen Maßstäben der EU würde wohl, ähnlich wie in Südeuropa, breite Teile der Bevölkerung weiterhin verarmen lassen. Und gibt es nicht auch ein Menschenrecht, eine ökonomische Zukunft zu haben und frei von Armut zu sein?

Es ist zu erwarten, dass mit einer Sparpolitik an frühere neoliberale Maßnahmen angeknüpft wird. Besonders ärmere Schichten wird es schwer belasten, wenn sich die Preise für Güter des täglichen Gebrauchs wie Gas und öffentlicher Nahverkehr weiterhin erhöhen.

Die deutschen Mainstream-Medien verkennen, dass insbesondere Menschen ohne Aussicht auf Verbesserung ihrer eigenen wirtschaftlichen Lage sehr anfällig für reaktionäre Weltanschauungen sein können. Gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten lassen sich fast unmöglich aufstellen, doch kann mensch wohl genügend Beispiele finden, die solch eine Betrachtungsweise erlauben. (17)

Es ist wohl kaum wünschenswert, dass die Ukraine auf dieselbe Weise „westliche Werte“ durch ein ruinöses Austeritätsprogramm kennen lernt. Insbesondere dann, wenn die hoffnungslose Lage der letzten Jahre schon dazu führte, dass die rechte Swoboda-Partei bei den Parlamentswahlen sich von 0,7 auf 10 Prozent steigerte. Es ist daher schlichtweg fahrlässig und gefährlich, wenn die destruktiven Folgen der IWF/EU-Politik weder Beachtung finden noch Kritik erfahren.

Die einzige Person, die Alternative abseits der Großmächte gefordert und dafür ein Podium in den deutschen Medien bekam, war Marina Weisband in der ARD-Talkshow von Günther Jauch. Der SPIEGEL mag sie dafür als „idealistische Basisdemokratin“ betiteln. (18) Doch je mehr mensch sich die beiden angebotenen Alternativen vor Augen führt, desto offensichtlicher wird es, dass für die ukrainische Bevölkerung weder eine Anbindung an Russland noch eine an die EU als wünschenswert erachtet werden kann.

Natürlich kann mensch meinen, dass solch eine Alternative nicht existiert, die Realisierung einer freien Gesellschaft aus den gegebenen Machtverhältnissen unrealistisch ist, und dass die Presse deshalb alternative Gesellschaftsmodelle jenseits der großen Machtzentren nicht zu erwägen braucht. Dabei geht es um die grundlegende Frage, welche Aufgaben den Medien in vermeintlich aufgeklärten Gesellschaften zukommen sollen. Natürlich sollen sie ein möglichst umfangreiches und akkurates Bild politischer Geschehnisse und der Welt liefern. Doch ist es ebenso von größter Bedeutung, wie ich meine, dass sie für das Wohlbefinden aller Menschen eintreten und sich gegen jegliche Art von Ausbeutung und Unterdrückung positionieren. Dafür ist es notwendig, gesellschaftliche Alternativen in Betracht zu ziehen, die gerade, weil sie in den Medien keinen Platz finden, weitestgehend als unrealistisch angesehen werden. Dies wäre ein schweres Zugeständnis für die Medien, die sich größtenteils dem Paradigma des „There is no Alternative“ ergeben haben und denen zufolge es keine Alternative jenseits des politischen Realismus gibt.

Daher liegt es letztlich an den Menschen selbst, eine Presse zu schaffen, die nicht die bestehenden Machtstrukturen stützt und damit ihr eigenes Schicksal in die Hand nimmt.

alphard

 

(1) Empfohlene kritische Quelle www.hintergrund.de

(2) Ein Artikel auf Englisch zum Weiterlesen: www.globalresearch.ca/the-medias-disinformation-campaign-on-ukraine-there-are-no-neo-nazis-in-the-interim-government/5376530

(3) Steinmeier lud sogar den Chef der Swoboda im Februar zu sich ein, der Jahre zuvor gegen die „jüdische Mafia in Moskau“ gehetzt hatte (www.derwesten.de/politik/ukrainische-partei-hetzt-gegen-juden-und-russen-id9074942.html)

(4) In dasselbe Muster fällt die dürftige Berichterstattung über die Toten in Odessa. Mehr dazu: www.hintergrund.de/201405053091/globales/kriege/odessa-keine-tragoedie-sondern-ein-gezieltes-progrom/drucken.html

(5) Die Bezugnahme auf Klitschko war anscheinend auch ein rein deutsches Phänomen, welches in englischsprachigen Medien nicht zu finden war. Seit dem Krim-Referendum spielte er de facto keine Rolle mehr. Insbesondere der Vergleich mit Timoschenko macht deutlich, wie wenig Gewicht er in der Politik hat: www.spiegel.de/politik/ausland/julia-timoschenko-lobt-kanzlerin-merkel-a-957378.html

(6) www.welt.de/debatte/kommentare/article126629930/Die-verquere-Realpolitik-Idee-der-Putin-Versteher.html

(7) www.n-tv.de/politik/politik_kommentare/Putins-Irrtum-article12468626.html

(8) www.welt.de/debatte/kommentare/article126629930/Die-verquere-Realpolitik-Idee-der-Putin-Versteher.html

(9) Eine unabhängige Umfrage des PEW-Instituts scheint dies zu bestätigen: www.heise.de/tp/artikel/41/41704/1.html

(10) Eine nicht-repräsentative Umfrage der FAZ und 6 weiterer Medien lässt vermuten, dass es auch dort eine Mehrheit für eine erweiterte Unabhängigkeit gab. Inwiefern dies wirklich der Fall ist, muss zusätzliche Forschung ergeben: www.faz.net/aktuell/politik/ausland/separatisten-verkuenden-grosse-mehrheit-fuer-abspaltung-von-ukraine-12934681.html

(11) Die Russische Föderation hat ein 3-mal so hohes Bruttosozialprodukt wie die Ukraine und hat daher mehr Spielraum für Sozialleistungen: de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Bruttoinlandsprodukt_pro_Kopf (nach Daten des IWF)

(12) SPIEGEL 11/2014

(13) Wie z.B. der FOCUS Kriegsbestrebungen unterstellt, wenn er im selben Kontext von Russlands „Territorial-Hunger“ spricht. (http://www.focus.de/politik/ausland/russische-hegemoniebestrebungen-hunger-auf-land_id_3700503.html) Ein imperialer Angriffskrieg wäre unter den gegebenen Bedingungen nichts als politischer Suizid.

(14) www.spiegel.de/politik/ausland/interview-mit-dmitrij-trenin-zur-krise-auf-der-krim-a-956381.html

(15) Austerität beschreibt im politischen Kontext eine strenge Sparpolitik.

(16) www.berliner-zeitung.de/meinung/leitartikel-zur-krise-in-der-ukraine-es-geht-schlichtweg-um-das-menschenrecht,10808020,26753066.html

(17) Wie etw=a die Zuwendung der Deutschen hin zur damals politisch schwachen NSDAP während der Weltwirtschaftskrise der 20er/30er Jahre und die Erstarkung faschistischer Kräfte in Griechenland nach dem Einbruch der dortigen Wirtschaft aufgrund der Finanzkrise.

(18) www.spiegel.de/kultur/tv/krim-krise-im-jauch-talk-bei-der-ard-a-956525.html

Talkin’ bout a revolution?

Theaterprojekt hinterfragt den Mythos vom “Arabischen Frühling”

 

Die Initiative Ost-Passage Theater, die momentan versucht, ein Nachbarschaftstheater im Leipziger Osten aufzubauen, hat ein Pilotprojekt gestartet, das die zukünftige Bühne inhaltlich profilieren soll. Gemeinsam mit Flüchtlingen und Migrant/-innen aus den Aufstandsgebieten Nordafrikas und des Nahen Ostens will die Gruppe auf Spurensuche gehen und dabei hinter die Fassaden der deutschen Berichterstattung schauen. Wie ist die aktuelle Lage der Menschen vor Ort? Was hat sich für sie verändert? Und wie geht mensch mit der Situation um, hier in Deutschland im Exil zu sein, während Familienangehörige und Freunde in der Heimat bleiben mussten?

Über den Sommer soll das gesammelte Material zu einem Theaterstück verdichtet werden und Ende Oktober Premiere feiern. Flankierend bereitet die Gruppe eine kleine Gesprächsreihe vor, die dem interessierten Publikum außerdem die Möglichkeit geben soll, selbst Fragen an die Flüchtlinge und Migrant/-innen zu richten.

Momentan setzt sich die Gruppe vor allem aus tunesischen und syrischen Flüchtlingen aus den Asylbewerberheimen Torgauer Straße und Riebeckstraße zusammen. Gesucht werden weiterhin Menschen vor allem aus Ägypten, Libyen oder dem Libanon, die Lust und Zeit haben, ihre Geschichte zu erzählen und gemeinsam mit den anderen ein Theaterstück zu dem Thema zu entwickeln. Auch wer keinen entsprechenden Migrationshintergrund vorweisen kann, aber Interesse an dem Thema hat, ist herzlich eingeladen, das Projekt zu unterstützen. Denn die Gruppe will im Rahmen eines Patenmodells zusätzlich Tandems bilden, um den Flüchtlingen und Migrant/-innen das Überwinden von Sprach- und Kulturbarrieren zu erleichtern.

 

Mehr Informationen unter: http://ost-passage-theater.de/projekte/pilot-2014

Anmeldung und Kontakt: info [ät] ost-passage-theater.de

Weißrussland: Repression gegen antifaschistische Fußballfans

Die Regierung Lukaschenko in Weißrussland ist bekannt für autoritären Führungsstil. Doch scheint sich die Repression im Zuge der bevorstehenden Eishockey-Weltmeisterschaft nochmals zu verschärfen. Einige Anhänger von Partizan Minsk traf es dabei besonders hart. Am Morgen des 6. Mai 2014 wurden vier Ultras des Fußballklubs in Minsk festgenommen und im Laufe des Tages zu mindestens 10 Tagen Arrest verurteilt. Ihnen wird „Hooliganismus” vorgeworfen, was als strafrechtliche Begründung für sämtliche politische Aktionen oder simples vermeintlich „ungebührliches” Verhalten steht. Bis zum heutigen Tag ist nicht bekannt, dass eine der verhafteten Personen wieder frei gelassen wurde.

Die Fans von Partizan traten zuletzt am Samstag den 3. Mai in Erscheinung, als durch ihre Intervention ein Propaganda-Kampfsport-Turnier russischer Nazis der Organisation Rus’ Molodoja (Junges Russland) in Minsk abgebrochen wurde. Die herbeigerufene Miliz nahm allerdings am Wochenende keine an der Aktion beteiligten Personen fest.

Die Frau eines der Inhaftierten betonte deshalb gegenüber der weißrussischen Wochenzeitung Nasha Niva, dass sich die Ultras mit dieser Aktion offenbar als „aktive” Bürger_innen in Erinnerung gerufen haben und deshalb inhaftiert wurden. Gerade vor dem Beginn der Eishockey-Weltmeisterschaft wolle das Regime für Ruhe sorgen.

Zivilcourage gegen Nazis wird somit nicht nur in Deutschland kriminalisiert und kollektiv bestraft. Um die Freund_innen und Genoss_innen in Minsk zu unterstützen, solltet ihr auch während der Sommerpause durch kreative Aktionen eure Solidarität mit den Ultras von Partizan Minsk zeigen!

Antiracist Fans Standing Together!

Klaus Canzely