Archiv der Kategorie: Feierabend! #34

Editorial FA! #34

„Pack die Badehose ein, nimm das Feierabend!-lein und dann nichts wie raus zum Cossi…“ Die Sonne lacht und die Redax schwitzt – weniger wegen der Hitze, sondern vielmehr, um den anberaumten Er­schei­nungstermin halten zu können, damit Ihr, liebe Feierabend!-Leser_innen, erfri­schen­­de Lektüre für die warme Jahreszeit habt.

Auf die warmen Tage werden wieder kalte folgen – da ist ein Dach über dem Kopf un­um­gänglich, am Besten ein selbstbestimm­tes: So bemühen sich Menschen in der Arnie26 um ein Hausprojekt (S.10f), in Magde­burg Besetzer_innen um ein Libertäres Zentrum (S.13), die G16 um einen dauerhaften legalen Besitzstatus (S.9) und die Asylbe­wer­ber_innen in Leipzig um die Abwendung der Abschiebung ins Containerlager (S.1/4).

Unter dem Dach des Feierabend! ist auch noch Platz für Schreiberlinge. Gerade jetzt, wo es auch in Halle zwei neue Verkaufsstellen (la carot, VL) gibt, suchen wir Hallenser Redakteure. Den Auftakt einer hoffentlich dauerhaften Halle-Seite macht ein Bericht über den Protest gegen den Thor-Steinar-Laden (S.12).

Diesmal hoffen wir übrigens auf einen super-sonder-mega-scharf-Druck des Heftes, um Euch ein wenig für die letzte Ausgabe zu entschädigen. Sorry, das war so nicht gewollt!

Zu guter Letzt: die Verkaufsstelle des Monats ist die Schatzinsel, ein sympathischer Späti im Leipziger Westen, wo es seit Neuestem auch den Feierabend! gibt.

Eure Feierabend!-Redax

Wirkungsloser High-Tech-Schrott

Ein Jahr sollte die Testphase für die beiden Drohnen dauern, die die sächsische Polizei seit Februar 2008 einsetzt. Diese ferngesteuerten, mit Kameras bestückten Kleinstflugkörper sollten vor allem der Überwachung der Fanmassen bei Fußballspielen und Demonstrationen dienen. Die Drohnen kamen nach Angaben der Landesregierung im Jahr 2008 in 11 Fällen zum Einsatz – nicht nur bei Fußballspielen, sondern auch bei einer Fahndung nach Einbrechern in der Sächsischen Schweiz und in Leipzig bei den Ermittlungen im „Fall Michelle“ (siehe FA! # 30).

Der Nutzen der neuen High-Tech-Geräte ist nach der langen Erpro­bungs­phase zweifelhaft, wie der sächsische Innenminister Albrecht Buttolo in der Ant­wort auf eine Anfrage der Grünen (1) zugab. So hätte die „bisherige Anwendungserprobung (…) nicht zu straf­recht­lich verwertbaren Aufnahmen“ geführt. Die von den Droh­nen gelieferten Bil­der taugen also scheinbar nicht zur Iden­tifizierung einzelner Personen – es wä­re aber auch möglich, dass Buttolo mit die­ser Erklärung nur heikle Datenschutzdebatten vermeiden wollte. Über die von ihm behauptete präventive Wirkung der Überwachung mit Drohnen konnte oder wollte Buttolo ebensowenig Angaben ma­chen wie dazu, in welcher Relation der Nut­zen der Geräte zu den laufenden Kosten von etwa 76.000 Euro im Jahr steht.

Ob­wohl es also bisher scheinbar keine Kontrolle der mit den Drohnen erzielten Erfolge gab, will die Landesregierung das Pi­lotprojekt um ein Jahr verlängern. Eine weitere Drohne wurde angemietet, um so „die Einsatzmöglichkeiten eines Nachfol­ge­modells unter verschiedenen Wit­te­rungs­bedingungen“ testen zu können. Im Klar­text: Die alten Droh­nen haben nichts gebracht, mal sehen, was die neuen so können.

Ein erster Test hat mög­li­cher­weise am 1. Mai in Leip­zig stattgefunden – jedenfalls sollen dort nach Angaben von Teil­nehmer_innen der an diesem Tag stattfindenden arbeitskritischen Demonstration (siehe FA! #33) Drohnen eingesetzt worden sein. Eine diesbezügliche Anfrage der Linken läuft zur Zeit. Wir werden euch auf dem Laufenden halten.

(justus)

 

(1) www.gruene-fraktion-sachsen.de/fileadmin/user_upload/Kleine_Anfragen/4_Drs_15653_-1_1_3_.pdf

(2) www.gruene-fraktion-sachsen.de/fileadmin/user_upload/Kleine_Anfragen/4_Drs_13892_-1_1_3_.pdf

Holocaustleugnerin gescheitert

Eine juristische Schlappe musste Ursula Haverbeck-Wetzel, Leiterin des Collegium Humanum e.V. am 5. August vor dem Bundesverwaltungsgericht einstecken. Sowohl der Collegium Humanum e.V. als auch dessen Teilorganisationen Bauernhilfe e.V. und der Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten waren im Mai 2008 verboten worden. Der Collegium Humanum e.V. betrieb u.a. ein Schulungszentrum in Vlotho (Nordrhein-Westfalen), zudem ist Haverbeck-Wetzel auch die Vorsitzende des Trägervereins der 2007 in Borna eröffneten „Gedächtnisstätte“ (siehe FA!# 27). Haverbeck-Wetzel legte umgehend Widerspruch gegen das Verbot ein.

Ohne Erfolg: Auch die Bemühungen ihres Anwalts, der Frau Wetzels Leugnung des Holocaust aus ihrer anthroposophischen Weltanschauung heraus zu rechtfertigen versuchte, konnte das Gericht nicht überzeugen. Es bestätigte das Verbot in allen Punkten. Und obwohl Verbote neonazistische Ideologien nicht aus der Welt schaffen, wie die zeitgleich zur Verhandlung auf dem Vorplatz des Gerichtsgebäudes demonstrierenden Antifa­schist_in­nen zu Recht anmerkten, muss mensch sich in diesem Fall bestimmt nicht darüber aufregen.

(justus)

Hier zu Hartz 4 – Die Ecke mit Tipps und Tricks für ein entspannt(er)es Leben

Heute: Termin verpasst, was ist zu tun?

Wer kennt das nicht. Mensch war zwei drei Wochen in der Sonne Spaniens, hat verschiedene nette und nicht so nette Kommuneprojekte besucht und ist voll mit libertären Ideen, die es gilt möglichst bald zu verwirklichen. Doch kaum zu Hause angekommen, holt einen die schnöde, graue Realität ein, denn ein Brief der ARGE mit einer Meldeaufforderung wartet bereits im Briefkasten. Alles halb so schlimm, wäre der Termin nicht vor drei Tagen gewesen…

Im Falle eines versäumten Meldetermins droht gemäß § 31 Absatz 2 SGB II die Kürzung der Regelleistung in Höhe von 10% sowie der Wegfall des Zuschlages für die Menschen, die zuvor Arbeitslosengeld I bezogen haben. Die Kürzung gilt normalerweise drei Monate, § 31 Absatz 6 Satz 2 SGB II.Allerdings nur, wenn die Meldeaufforderung eine schriftliche Belehrung über die Rechtsfolgen des Fernbleibens enthält und der Hilfebedürftige keinen Grund für sein Fernbleiben darlegen kann, § 31 Absatz 2 SGB II.

Hit-Tipp: Nur mündlich erteilten Meldeaufforderungen braucht Ihr nicht nachzukommen!

Daraus ergibt sich zum Einen, dass nur telefonisch mit­geteil­te Mel­deaufforderungen ruhigen Gewissens ohne finanzielle Nach­tei­le versäumt werden können. Ansonsten muss ein wichtiger Grund für die Terminversäumnis vom Hilfebedürftigen dargelegt wer­den.

Wichtig! Eine Entschuldigung ist nur bei attestierter Krankheit als Grund für Terminversäumnis sinnvoll!

Der wichtige Grund wird von den Sachbearbeitern der ARGE sehr eng ausgelegt. Die Pflege kranker Eltern in einer anderen Stadt wird zum Beispiel für nicht ausreichend angesehen. Daher ist grundsätzlich von Entschuldigungsversuchen abzuraten! Eine Ausnahme bildet hier nur die eigene Krankheit oder die von den Kindern, welche ärztlich attestiert ist.

Wichtig! Wird im Rahmen der Entschuldigung ein Aufenthalt außerhalb angegeben, droht für die Zeit der Ortsabwesenheit der völlige Entzug der SGB-II-Leistungen.

Die Pflege der kranken Eltern in einer anderen Stadt hat schon so manchen für die Zeit des Aufenthalts in der anderen Stadt um die gesamten SGB-II-Leistungen gebracht.

Hit-Tipp: Erwähnt den versäumen Termin nicht! Ist der Brief mit der Meldeaufforderung nicht angekommen gibt’s auch keine Leistungskürzungen.

Für den Zugang der Meldeaufforderung ist nicht der Hilfeempfänger, sondern die ARGE beweispflichtig. Die Meldeaufforderungen werden aber fast immer mit einfacher Post durch Pin, TNT, Citypost, Deutsche Post etc. versandt, wodurch die ARGE den Zugang beim Hilfeempfänger nicht beweisen kann. Ein solcher Beweis könnte der ARGE nur gelingen, wenn die ARGE Mitarbeiter die Meldeaufforderung selbst vorbeigebracht hätten, etwa bei einem „Vor Orts Termin“ oder die Meldeaufforderung „zugestellt“ wurde. Die Zustellung ist regelmäßig erkennbar an dem Vermerk des Zustellungszeitpunkts der Postzustellerin auf dem Briefumschlag.

Wichtig! Ihr habt die Meldeaufforderung gar nicht erhalten! Sagt nicht, der Brief mit der Meldeaufforderung sei zu spät angekommen.

Denn nur dafür, ob die Meldeaufforderung zugegangen ist, ist die ARGE beweispflichtig, wenn der Hilfebedürftige angibt er habe den Brief erhalten nur zu spät, muss er den Zeitpunkt des Zugangs beweisen. Die Meldeaufforderung gilt ansonsten als drei Tage nach Aufgabe zur Post als dem Hilfebedürftigem zugegangen.

Übrigens haben auch Arbeitslose einen Anspruch auf Urlaub. Ihr müsst ihn vorher beantragen. Einige SachbearbeiterInnen lassen sich für die Bearbeitung solcher Anträge jedoch viel Zeit. Zudem bekommt mensch meist kurz vor und nach dem Urlaub eine Meldeaufforderung. Also immer den Briefkasten im Auge behalten.

Wichtig! Urlaub rechtzeitig beantragen (ca. 2 Monate vorher). Mit Meldeaufforderungen kurz vor und kurz nach dem Urlaub rechnen!

Dr. Flaschenbier

Im Unterholz der Moderne (2)

Ein Beitrag zur Kritik des esoterischen Denkens

Religion und Herrschaft waren historisch schon immer eng verbunden. Die ältesten Staatswesen waren Theokratien. Der Herrscher war zugleich oberster Priester, ein Mittler zwischen den Welten der Menschen und der Götter, oft genug galt er selbst als (halb-)göttliches Wesen. Seine Aufgabe war es, die stets vom Chaos bedrohte kosmische Ordnung im Gleichgewicht zu halten. Die soziale Ordnung wurde also als mikrokosmische Widerspiegelung einer makrokosmischen göttlichen Ordnung gesehen, aus der sich die Legitimation der Herrschaft ableitet. Die Herrschaft erschien gleichsam als im Ursprung der Welt, der ewigen Ordnung der Dinge verankert (1). Das altgriechische Wort „arche“ etwa bedeutet nicht umsonst sowohl „Ursprung“, „Prinzip/Regel“ als auch „Herrschaft“. Dieses etymologische Beispiel ist auch ein Indiz dafür, wie tiefgreifend die eben skizzierte Kosmologie Weltwahrnehmung und -interpretation strukturiert: Herrschaft reproduziert sich, indem sie von den Beherrschten als in der Natur der Dinge liegend akzeptiert wird.

Mit dem Übergang vom Feudalismus zum mo­dernen Kapitalismus und zur parla­men­tarisch-demokratischen Staatsform hat die (christliche) Religion zwar viel von ihrer früheren Bedeutung eingebüßt. Mit der bürgerlichen Revolution ist die Herrschaft aber bekanntlich nicht verschwunden. Mit den inneren Widersprüchen und Konflikten, die jedes Herrschaftssystem notwendig produziert, reproduziert sich auch die Mythologie, bis heute wirkt sie (in säkularisierter Form) fort. Etwas überspitzt ließe sich sagen, dass mittlerweile die Natur die Stelle Gottes als höchste Berufungsinstanz eingenommen hat.

Mythologischer Kreisverkehr

Das heißt nicht, dass man künftig auf den Begriff der Natur verzichten müsste. Die Frage ist eher, von welcher Vorstellung von Natur mitunter die Rede ist. Die Feststellung, dass der Mensch einen Körper hat, also auch ein biologisches Wesen ist und darum z.B. essen muss, um nicht tot umzufallen, ist an sich unproblematisch. Nur ist das in den meisten Fällen eben nicht gemeint, wenn von der „Natur des Menschen“ geredet wird. Vielmehr versteckt sich dahinter oft die Idee einer höheren Macht, die unser soziales Handeln bestimmt. Selbst der Vernunftsbegriff lässt sich als Teil einer Mythologie verwenden. „Vernunft“ bezeichnet in diesem Rahmen dann die Erkenntnis der vermeintlichen göttlichen oder natürlichen Gesetze und die Unterordnung unter dieselben – der Begriff markiert dann genau die Stelle, an der der Denkprozess abgebrochen wurde, eine nicht mehr hinterfragbare Wahrheit behauptet wird. Dagegen gilt es, an den inneren Widersprüchen anzusetzen, die so verdeckt werden sollen, am vernünftigen Denken festzuhalten und die angeblichen Selbstverständlichkeiten kritisch zu hinterfragen.

Denn eben diese Setzung einer starren Norm ist ein wichtiger Bestandteil der gesellschaftlichen Mythologie. Das grundlegende Muster ist simpel: Vom zu erklärenden Phänomen wird eine jenseitige „Ursache“ abgeleitet, und von dem so konstruierten Fixpunkt her dann wie­derum das diesseitige Phänomen interpretiert. Die Welt ist eben so, weil Gott sie so eingerichtet hat; Herrschaft gibt es, weil die Menschen „von Natur aus“ nach Macht streben (und weil bestimmte Menschen von Natur aus minderwertig sind und einfach beherrscht werden müssen). Im Kern lassen sich alle Formen mythologischen Denkens also auf einen simplen Zirkelschluss reduzieren. Statt z.B. auf die „menschliche Natur“ zu verweisen, könnte man auch einfach sagen: „Menschen sind halt so“. In der Realität verstecken sich die Zirkelschlüsse allerdings oft im Kern ausgeklügelter theologischer, philosophischer und sogar wissenschaftlicher Theoriegebäude.

Dabei sind die so konstruierten „ewigen Wahrheiten“ selbst geschichtlich geformt. Das mythologische Weltbild erscheint nur deshalb plausibel, weil der jenseitige Fixpunkt (der göttliche Wille oder die Ordnung der Natur) jeweils eben so konstruiert wird, dass er als „Ursache“ zu den zur Debatte stehenden diesseitigen „Wirkungen“ passt. Da sich aber die Phänomene, die so erklärt und gerechtfertigt werden sollen, historisch verändern, müssen sich auch die „ewigen Wahrheiten“ entsprechend anpassen. Wenn z.B. die Existenz von Dinosauriern eine allgemein anerkannte Tatsache ist, wirkt die naive biblische Schöpfungsgeschichte eben nur noch bedingt überzeugend, der Schöpfungsglauben muss andere Formen annehmen, um die christliche Lehre mit den weltlichen Fakten in Einklang zu bringen.

Obwohl die Mythologien also fortwährend der materiellen Realität angepasst werden müssen, sind sie doch mehr als bloße ideologische „Anhängsel“ derselben. Ideologie und materieller „Unterbau“ stützen sich vielmehr in einem komplexen Rückkopplungsverhältnis gegenseitig. So haben rassistische und sexistische Denkmuster einen großen Anteil daran, den Zugang zu Ressourcen und Machtpositionen zu reglementieren, die Diskriminierung erzeugt eine materielle Realität, die wiederum der Ideologie scheinbare Plausibilität verleiht. Aus dieser wechselseitigen Entsprechung von Ideologie und materieller Realität lässt sich aber auch ein Erkenntnisgewinn ziehen: Eine Analyse der heute vorherrschenden Formen der Mythologie erlaubt auch Rückschlüsse auf die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Konflikte und Widersprüche. Als Anschauungsobjekt soll uns hier die heutige Esoterik dienen.

Archetypischer Nonsens

Dabei erscheint es ratsam, einige Eigenheiten des esoterischen Denkens anhand eines Beispiels zu verdeutlichen. Beobachten wir den Zirkelschluss also einmal „in freier Wildbahn“, in der Archetypenlehre des Freud-Schülers und Tiefenpsycholo­gen Carl Gustav Jung. Jung bietet sich nicht nur deshalb an, weil er ein wichtiger Vordenker und „wissenschaftlicher Gewährsmann“ der heutigen Esoterikszene ist, sondern auch weil er immer noch eine gewisse Reputation als Wissenschaftler hat. Seine Mittlerstellung zwischen Wissenschaft und Esoterik hat auch den Vorteil, dass er im Gegensatz zu anderen Esoterikern nicht nur Behauptungen aufstellt, sondern auch versucht, diese sachlich zu begründen. Es ist aufschlussreich, in welche Widersprüche er sich dabei verwickelt.

Jung will den religiösen Vorstellungen mit Hilfe der Psychologie eine empirische Basis verschaffen und sie zugleich rechtfertigen, indem er sie in der Natur des Menschen, in einem mysteriösen „kollektiven Unterbewussten“ verankert. Basis der Religion sind Jung zufolge die Archetypen, „geistige Formen, deren Vorhan­densein nicht durch persönliche Erfahrung erklärt werden kann und die urtümliche, angeborene und ererbte Formen des menschlichen Geistes darstellen“ (2). Diese symbolischen Formen“ treten u.a. spontan in Träumen auf. Jung verlegt also das „Göttliche“ in die Tiefen der menschlichen Psyche. Damit liefert er u.a. die theo­retische Grundlage für die Vermischung unterschiedlichster religiöser Traditionen, einen Synkretismus, der für die heutige Esoterik typisch ist. Wie die meisten Esoteriker_innen glaubt Jung, eine ewige Wahrheit entdeckt zu haben, die bruchstückhaft in allen Religionen zu finden ist. Das Universum wird als Entäußerung eines göttlichen Geistes interpretiert. Das individuelle Bewusstsein ist ein Teil dieses „Geistes“. Eine reichlich konservative Weltsicht: Jung sieht den Menschen in eine ewige Ordnung der Welt eingebettet, die sein Handeln und Denken bestimmt.

Wenn der „Geist“ im Mittelpunkt der Welt steht, ist es nur logisch, alle Erscheinungen der Welt als bloße Zeichen zu betrachten, die auf diesen „ursprünglichen“ Geist zurückverweisen – als Archetypen eben. Der Wissenschaftler Jung verfällt einem vorwissenschaftlichen Denken, er konstruiert einen symbolischen Kosmos, der sich nach dem Muster der Analogie strukturiert. In dem Vortrag „Das Irrationale gestern und heute“ (3) charakterisiert Umberto Eco die Logik dieses Weltbildes so: „Eine Pflanze wird nicht anhand ihrer morphologischen und funktionalen Eigentümlichkeiten definiert, sondern anhand ihrer Ähnlichkeit (…) mit einem anderen Teil des Kosmos. Ähnelt sie vage einem Teil des menschlichen Körpers, so hat sie Sinn, weil sie auf den Körper verweist. Aber der betreffende Teil des Körpers hat Sinn, weil er auf einen Stern verweist, und dieser hat Sinn, weil er auf eine Tonleiter verweist, und diese wie­de­rum, weil sie auf eine Hierarchie von Engeln verweist, usw. ad infinitum.“

Während Jung in diesen endlosen Kreuz- und Querverweisen eine verborgene Wahrheit zu finden meint, benennt Eco die Konsequenz mit dankenswerter Klarheit: „Jedesmal, wenn man glaubt, ein Geheimnis aufgedeckt zu haben, ist es ein solches nur, wenn es auf ein anderes Geheimnis verweist, und das immer weiter bis zu einem letzten Geheimnis. (…) Das letzte Geheimnis (…) ist, dass alles Geheimnis ist.“ Ein solches Denken „verwandelt die ganze Bühne der Welt zum Sprachphänomen, und zugleich entzieht es der Sprache jede kommunikative Macht.“ Die ewige Wahrheit ist ziemlich nichtssagend, die Querverweise führen nirgends hin.

Jung reduziert die äußere materielle Realität nicht nur zum Hirngespinst: Um die grundlegende Behauptung seiner Theorie plausibel zu machen, muss er die Außenwelt komplett ausblenden. Um behaupten zu können, dass die archetypischen Bilder „nicht durch persönliche Erfahrung erklärt werden“ können, also angeboren sein müssen, muss Jung die Existenz der Gesellschaft ebenso ignorieren wie den Fakt, dass Menschen mitei­nander kommunizieren.

Die viel näherliegende Möglichkeit, dass religiöse Vorstellungen (und Ideen über­haupt) nicht genetisch vererbt, sondern kulturell tradiert werden, will Jung nicht sehen. Kritiker_innen hält er entgegen: „Sie versäumen (…) zu berücksichtigen, dass, wenn die Archetypen (…) vom Bewusstsein erworbene Vorstellungen wären, man sie selbstverständlich begreifen (…) würde, wenn sie in unserem Bewusstsein auftauchen. Ich kann mich sehr wohl aller jener erinnern, die mich, durch ihre eigenen Träume (…) befremdet, zu Rate zogen: Sie tappten hinsichtlich ihrer Bedeutung völlig im Dunkeln“, weil „die Träume Bilder enthielten, die auf nichts ihnen Erinnerliches zurückgeführt werden konnten.“ Kaum zu glauben. Schließ­lich wimmelt es in der schnöden Außenwelt geradezu von Archetypen. Ja, wie Jung selbst ein paar Seiten weiter erklärt, sind diese geradezu „allgegenwärtig“. Das Bild einer Schlange oder eines Baumes kann ebenso einen „Archetyp“ darstellen wie eine Mutter mit Kind – es ist sicher kein Wunder, dass solche Symbole in allen Kulturen (und ab und an auch in Träumen) auftauchen.

Noch absurder wird es, wenn Jung mit diesem theoretischen Instrumentarium politische Zeiterscheinungen angeht. So waren seiner Meinung nach nicht etwa die Nazis für das 3. Reich verantwortlich, sondern vielmehr ein Archetyp: der germanische Gott Wotan. Welche Motive diesen dabei trieben, bleibt leider unklar. Aber das kommt dabei raus, wenn mensch die Realität im Lichte „ewiger Wahrheiten“ interpretiert. Von einer wirklichen Analyse z.B. der Bedingungen, unter denen nationalistische oder antisemitische Ideologien entstehen und sich ausbreiten, ist man damit weit entfernt. Dass Jung selbst gelegentlich zu rassistischen und antisemitischen Ausfällen neigte, ist an­­ge­sichts der seiner The­orie zugrundeliegenden biologis­tischen Kurzschlüsse nicht verwunderlich (4).

Esoterische Nabelschau

Trotzdem hat Jungs Denken in der heutigen Esoterik Schule gemacht. Schauen wir uns die dabei wirkenden Faktoren mal etwas genauer an, die Widersprüche und Konflikte, auf die das esoterische Denken eine Antwort liefern soll. Denn trotz ihrer Berufung auf alte Traditionen ist die Esoterik ein sehr modernes Phänomen – erst unter den Bedingungen einer weitgehenden Säkularisierung, der Auflösung traditioneller Milieus und einer damit einhergehenden Pluralisierung der Religiosität wird die Idee einer in allen Religionen verborgenen Wahrheit überhaupt denkbar. Dass die Esoterik ein spezifisch modernes Phänomen ist, ist aber noch zu ungenau. Präziser gesagt ist die Esoterik die Religiosität der postfordistischen Marktwirtschaft, sie hat ihre besondere Form erst nach dem 2. Weltkrieg annehmen können.

Auch wenn sie ihre weltanschaulichen Vorläufer im Okkultismus des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat, so beruht sie doch auf einer viel breiteren so­zia­len Basis als dieser, der weitgehend eine Sache des gehobenen Bürgertums und des Adels war. (Die Angehörigen anderer Schichten waren damals viel zu sehr da­mit beschäftigt, ihr Auskommen zu sichern, um sich diesen Luxus der Kom­mu­­­­nikation mit „höheren Mächten“ leisten zu können.) Erst die sozialstaatlich gestützte Ausweitung des Kon­sum­sektors in der fordistischen Wirtschaft der Nachkriegsjahre, die dadurch wachsende Rolle der Freizeit als Ort der Identitätsfindung und die damit einhergehende wachsende Bedeutung postmaterialistischer“ Einstellungen schuf die Bedingungen für eine weitere Ausbreitung des esoterischen Den­kens. Die­se Veränderung ihrer sozialen Basis hatte auch Aus­wir­kungen auf die theoretische und praktische Ausprägung der heutigen Esoterik.

Was die Esoterik von älteren Formen der Religiosität unterscheidet, ist die Bedeutung, die sie dem einzelnen Individuum und dem „Selbst“ zuweist. Galt im Christentum noch das Credo „Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil“, war dort also die Mitgliedschaft im Verein der Gläubigen entscheidend, ist die Suche nach dem Seelenheil heute zur Privatsache geworden. Die Gruppenzugehörigkeit verliert an Bedeutung, die Religiosität wird zunehmend „Ich-zentriert“. Damit entsteht eine „patchwork-Religion“, die je nach Belieben zusammengeschustert wird.

Darin teilt sich keine ewige Wahrheit mit, sondern eher die subjektive Befindlichkeit des modernen Individuums, des den Zufällen des Marktes ausgesetzten Konkur­renz­subjekts. Die Tendenz zur Individualisierung war dem Prozess der kapitalistischen Modernisierung von Anfang an zu eigen. Mehr noch ist das „Individuum“ geradezu eine Erfindung der Moderne. Als seine erste theoretische Darstellung lässt sich Descartes´ reines Vernunftssubjekt sehen, das nach dem Motto „Ich denke, also bin ich“ nur die eigene Existenz zweifelsfrei gelten lässt. Die Leibniz´sche „Monade“ gehört ebenso in diese philosophische Traditionslinie wie Adam Smiths Vorstellung einer Gesellschaft von freien Marktsubjekten, die in Konkurrenz miteinander und in der Verfolgung ihres egoistischen Eigeninteresses bestmöglich das Allgemeinwohl fördern. Marx und Engels haben bei Gelegenheit sehr richtig auf den illusorischen Charakter der liberalen Theorie hingewiesen: „Das egoistische Individuum der bürgerlichen Gesellschaft mag sich in seiner (…) Vorstellung (…) zum Atom aufblähen, d.h. zu einem beziehungslosen, selbstgenügsamen, bedürfnislosen (…) Wesen. Die unselige sinnliche Wirklichkeit kümmert sich nicht um seine Einbildung“, gerade die Loslösung des Individuums aus der traditionellen Großfamilie, die Befreiung aus der Leibeigenschaft und der feudalen Ständeordnung schafft die Bedingungen für den Siegeszug des Kapitalismus, der das Individuum nun dem unpersönlichen Zwang des Marktes unterwirft (5).

Möge die Macht mit euch sein

Die Angebote der Esoterik entsprechen perfekt dem Bedürfnis, trotz aller aus dieser Unterwerfung unter die Marktgesetze fol­­gender Unsicherheiten an der Illusion fest­­zuhalten, man hätte alles unter Kontrolle. Dass diese Angebote auf eine entsprechende Nachfrage treffen, ist nicht zu­letzt eine Folge des vorläufigen Schei­terns des Versuches, durch solidarisches Handeln reale Veränderungen zu erreichen, ins­besondere also der gescheiterten Revolte von 1968. Ebenso fällt der große Esoterik-Boom, der Ende der 70er Jahre einsetzte, wohl nicht ganz zufällig zeitlich mit dem Übergang zum Postfordismus zusammen. Mit dem damals einsetzenden Nie­der­gang der Schwerindustrie (dank der billigeren Konkurrenz aus Fernost) verschwindet auch der industrielle „Massenarbeiter“. Die Dynamik des Marktes untergräbt auch die Fundamente, auf die sie sich ursprünglich stützte. Gegenüber der Schwerindustrie gewinnen andere Bereiche, Mikroelektronik und Dienstleistungen an Bedeutung. Das hat auch Auswirkungen auf andere Lebensbereiche. So verliert die bürgerliche Kleinfamilie als normatives Modell zunehmend an Bedeutung. Aus der wachsenden Pluralisierung und Segmentierung des Arbeitsmarktes und der privaten Lebenswelten folgt ein Verlust tradierter Orientierungen, den damit stetig anwachsenden Entschei­dungs­möglichkeiten und -zwängen entspricht ein ebensolches Wachstum realer und vermeintlicher Lebensrisiken.

Die Esoterik ist ein Mittel, diese Risiken vermeintlich handhabbar zu machen, indem der realen Ohnmacht eine imaginäre Allmacht entgegengestellt wird. Das entsprechende Denkmuster lässt sich etwa so zusammenfassen: Die menschliche Seele ist Teil einer geistigen „kosmischen Energie“. Da er so einen direkten Draht zum „Göttlichen“ hat, kann der Mensch dessen Wesen, die Regeln dieser ewigen Ordnung des Kosmos direkt erfassen – nicht mittels des Verstandes, sondern durch intuitive unmittelbare Erkenntnis. Indem er sich dieser Ordnung unterwirft, wird er selbst der göttlichen Macht teilhaftig, die Vereinzelung ist aufgehoben, die Kontrolle über das eigene Schicksal wiederhergestellt.

Diese Denkfigur lässt sich in unzähligen Vari­anten wiederfinden. Während die Sata­nist_innen der Church Of Satan in sozialdarwinistischer Manier die Regeln der kapitalistischen Ökonomie verinnerlicht haben und sich als auserwählte Elite im „Kampf aller gegen alle“ imaginieren, leugnen andere schlicht die äußere Realität. Eine populäre Variante dieser Strategie ist das Positive Denken, wie es von Dale Carnegie und ähnlichen Au­tor_in­nen propagiert wird. Es geht dabei nicht um simplen Optimismus. Auch hier steht im Hin­tergrund die Idee einer jenseitigen Macht, die durch die Kraft der Ge­­danken beeinflusst wird: „Alles wird gut, wenn du nur fest genug dran glaubst.“ Ora­keltechniken wie Tarot, Pendeln, Astrologie oder das fernöstliche I Ging versprechen Sicherheit, indem sie scheinbar die Folgen möglicher Entscheidungen voraus­sagen, während magische Praktiken die Ergebnisse selbst zu beeinflussen versprechen. Man könnte darin auch ein Symp­tom enormer Orien­tierungslosigkeit sehen.

In dem Maße, in dem esoterische Praktiken und Denkmuster sich verbreiten, ist auch eine Abkopplung von einem entsprechenden Milieu zu beobachten. Die Praktiken individiualisieren sich, Esoterik entwickelt sich mehr und mehr zur „Klien­tenreligion“. Entsprechend der bewährten Verfahrensweise der kapitalistischen Ökonomie, auch aus der Beseitigung der von ihr selbst angerichteten Schäden noch Profit zu schlagen, boomen die psychologischen Hilfsangebote. Dabei geht es oft weniger um die Linderung konkreter psychischer Leiden, vielmehr wird (ähnlich wie bei Jung) die Psychologie selbst zum Religionsersatz, indem sie z.B. eine „ganzheitliche“, umfassende Entwicklung der Persönlichkeit und ähnliche Hilfestellun­gen bei der Sinnsuche verspricht.

Wie anhand der Jungschen Theorie schon gezeigt (Wotan und die Nazis!), führt die Ignoranz des esoterische Denkens gegenüber gesellschaftlichen Strukturen und den sich aus diesen ergebenden Sachzwängen mit schöner Logik zur Verschwö­rungstheorie. Die Idee einer im Hintergrund wirkenden bösen Macht kann dabei in relativ „rationalistischen“ Varianten (das Böse als eine Gruppe von Menschen, Freimaurer, Illuminaten, Juden usw.) auftreten, aber auch geradezu kosmische Aus­­maße annehmen. Die Über­­gänge sind fließend. So landet der Autor William C. Gray am Ende eines Buches über ma­gische Prak­tiken (6) bei der Vi­sion einer kos­mischen Schlacht, in der die Mächte der Ordnung mit den Mächten des Chaos kämpfen. Das Wirken der letzteren findet Gray in allerlei irdischen Erscheinungen (von der modernen Kunst bis zur Atombombe) wieder. Der bei Neonazis und Esoterikfans beliebte Jan Udo Holey (siehe auch hier in diesem Heft) dagegen weitet im Laufe seines dreibändigen Machwerks „Ge­heim­ge­sell­schaf­ten“ die Verschwörung der anfangs noch recht menschlich anmutenden „Illuminaten“ (die Holey recht unverhohlen mit den Juden identifiziert) in immer gigantischere Dimensionen aus.

Auch die Idee einer im Geheimen wirkenden feindlichen Macht dient in scheinbar paradoxer Weise der Bewältigung von Ängsten. Das „allmächtige Selbst“ nimmt hier die Gestalt des „Eingeweihten“ an, der die Lügengespinste der Weltverschwörer durchschaut. Die Verschwörungstheorie schafft Orientierung, indem sie eine Ursache für alle Probleme annimmt und die Welt sauber in ein dualistisches „Gut-böse“-Schema sortiert. Sie liefert so eine irrationale Antwort auf sehr reale Ängste. Wirkliche Kritik z.B. der Marktgesetze dagegen würde ja gerade die eigene „Markttauglichkeit“ gefährden. Die Beschäftigung mit der Herkunft bestimmter Ängste scheitert oft daran, dass diese durch das Infragestellen der gesellschaftlichen „Normalität“ noch verstärkt werden. Die Angst davor, von der Gesellschaft als „überflüssig“ aussortiert zu werden, treibt zur Konformität, wird handhabbar gemacht, indem man sich zumindest symbolisch der eigenen Zugehörigkeit versichert. Durch das Konstrukt einer „fremden“, von außen kommenden Macht lassen sich die negativen Folgen der kapitalistischen Ökonomie scheinbar erklären, ohne sich in Opposition zu den realen Verhältnissen zu stellen (7).

Gerade in ihrer inhaltlichen Beliebigkeit, ihrer scheinbaren Abkoppelung von jeglicher äußeren Realität ist die Esoterik also ein sehr sensibler Seismograph sozialer Widersprüche. Dass dabei auch rassistische und antisemitische Denkmuster oder antiquierte Geschlech­ter­rollen reproduziert werden, ist nicht verwunderlich. In der „Offenbarung“, der „Intuition“ als vermeintlich unmittelbarer Form der Erkenntnis tauchen die unhinterfragt übernommenen gesellschaftlichen „Selbstverständlichkeiten“ wieder auf. Ganz intuitiv kann man so z.B. zu der furchtbar tiefgreifenden Erkenntnis kommen, das „Schwule“ eben doch irgendwie abartig oder Frauen „von Natur aus“ anders als Männer seien. Dass sie ein Teil dieser Gesellschaft sind, ist den Esoteriker_innen nicht vorzuwerfen – wohl aber, dass sie sich mit dem freiwilligen Verzicht auf den Verstand als Werkzeug kritischen Denkens dümmer machen, als sie sein müssten. Illusionen mögen vielleicht entlastend wirken, helfen tun sie sicher nicht, wenn es darum geht, reale Probleme zu lösen.

(justus)

 

(1) siehe Norman Cohn, „Die Erwartung der Endzeit – Vom Ursprung der Apokalypse“, Insel Verlag, Frankfurt 1997.

(2) alle Zitate soweit nicht anders angezeigt aus C.G. Jung, „Symbole und Traumdeutung“, in „Traum und Traumdeutung“, Deutscher Taschenbuchverlag 2001, Seite 50 -59, Hervorhebungen von mir.

(3) zu finden in Umberto Eco, „Im Labyrinth der Vernunft“, Reclam Leipzig 1999, S. 376-390.

(4) siehe Micha Brumlik, „C.G. Jung zur Einführung“, Junius Verlag 1993, S. 44 bzw. 126.

(5) Karl Marx/Friedrich Engels, „Die Heilige Familie – Kritik der kritischen Kritik“, in MEW Bd. 2, Dietz Verlag Berlin, 1976. Siehe dazu auch Gabriel Kuhn, „Jenseits von Individuum und Staat – Individualität und autonome Politik“, Unrast 2007.

(6) William C. Gray, „Magie. Das Praxisbuch der magischen Rituale“, Goldmann Verlag, München 1994.

(7) siehe z.B. Gugenberger/Schweidlenka/Petri, „Weltverschwörungstheorien. Die neue Gefahr von rechts“, Deuticke Verlag Wien/München 1998.

Ausschluss durch Einschluss

Leipziger AsylbewerberInnen sollen ins Containerlager

Leipzigs heimbewohnende Asylbe­wer­ber_innen müssen bald umziehen. Aus der Stadt an deren Rand, von Stein und Beton in Blech, von wenig Raum auf noch weniger Raum. Genauer gesagt werden es wohl wieder sch… ähh, schöne Wohncontainer, 24qm zum Wohnen und Schlafen für jeweils 4 Personen. Die Stadt Leipzig beschloss am 16.07.09 den Bau einer Sammelunter­kunft in „Systembauweise“ (so der Euphemismus) am selben Ort, an dem sich schon in den Jahren 2000 bis 2006 ein Con­tainerlager für Asylsuchende befand. In der Wodanstrasse des fernen Leipziger Nordostens, weit ab vom pulsierenden Leben der Stadt, zwischen Gewerbegebiet und der Autobahn; fern von Wohngebieten, Supermärkten, Schulen und sonstigem gesellschaftlichen Leben. Ein Platz, der für schmarotzende und potenziell kriminelle Ausländer nach Meinung vieler Deutscher am ehesten geeignet ist, wenn man sie schon nicht dahin loswird, wo sie doch eigentlich hingehören.

Begründet wird die Zwangsumsiedlung vor allem mit den seit Jahren rückläufigen „Asylbewerber-Zuweisungszahlen“ (1) und diesen entsprechend sinkt auch die Zahl der in Heimen unterzubringenden Asylbewerber_innen in Leipzig. Zum 15.04.09 waren dies nur noch 284 Personen in den beiden Leipziger Heimen – dagegen 485 dezentrale Unterbringungen (Familien sind schon länger aus „humanitären wie auch wirtschaftlichen Gründen“ in normalen Wohnungen untergebracht). Diese schon länger erfolgreiche Praxis sollte zeigen, dass es nur ein kleiner Schritt zu einer angemessenen Unter­bringung aller Asylsuchenden in Leipzig wäre. Um diesen Spielraum zu eröffnen, be­dürfte es allerdings zuerst einmal einer An­tragstellung der Stadt an das Land Sach­sen; die allerdings bisher nicht erfolgte, woran der nicht vorhandene politische Wille klar erkennbar ist. Offizielles Haupt­argument für die Zusammenlegung der Heime in der Lilienstein- und Tor­gauer Straße ist dann auch die Un­wirt­schaftlichkeit durch diese sehr geringe Auslastung – nur noch gut die Hälfte der Plätze sind belegt und so „ergibt sich für die Unterbringung der heimunterge­brachten Asylbewerber ein durchschnittlicher Kostenaufwand von 3.095 €/Jahr. Unter Einbeziehung der weiteren Leis­tungs­ansprüche der Asylbewerber (Leistungen für Verpflegung, Hygiene, Bekleidung sowie Taschengeld und Kranken­hilfe­kosten) wird die vom Freistaat gewährte Pauschale in Höhe von 4.500 € je Asylbewerber und Jahr deutlich überschritten.“ (2) Und das geht ja mal gar nicht!

So gab es Überlegungen, das im Grünauer Wohngebiet liegende Heim Lilienstein­straße zu schließen und die dort Untergebrachten in die Torgauer Straße zu verfrachten. Dies sollte zunächst gar nicht an der Kostenfrage scheitern: Angeblich müsse das Gebäude zwar aufwendig für über eine Mio. Euro saniert werden, was jedoch mit einer schrittweisen Sanierung „haushaltsneutral“ im Rahmen der Asylbewerberpauschale geschehen könne. Allerdings meldete pünktlich zum Auslaufen des Betreibervertrages des Heims Torgauer Straße zum 30.09.09 das Dezernat Wirtschaft und Arbeit unmittelbaren Bedarf an – ein Investor wolle die Gewerbefläche zur Erweiterung ansässiger Firmen und zur Ansiedlung anderer Firmen nutzen, womit selbstredend die Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen gesichert würde. Zusätzlich erhofft sich die Stadt von der Veräußerung etwa 500.000 Euro. Daß sich dem Fetisch und Allheilsbringer Arbeit alles unterzuordnen hat, wird in der Vorlage der Stadt schön auf den Punkt gebracht: „Da die Schaffung von Arbeitsplätzen oberste Priorität für die Stadt Leipzig hat, ist die diesbezügliche Verwendung der Flächen nötig.“

Für die Errichtung des abgelegenen Containerlagers und gegen eine Zusammenlegung in die Liliensteinstraße werden hingegen Gründe herangezogen, die andere nicht ganz zu Unrecht kritisieren: „ Die in dem Heim Torgauer Straße vorhandenen vielfältigen sozialen Problemlagen in ein Wohngebiet zu verlagern, ist keine Handlungsoption. Die Ab­ge­grenzt­heit des Heimes […] bietet bessere Umgangsmöglichkeiten mit diesem Problem.“ (3) Die oftmals durch Heimunter­bringung erst produzierten Probleme sollen als Begründung für noch mehr Ausgrenzung und Desintegration herhalten, so die parlamentarische Logik. Dass die Stadtoberen die Wurzeln dieser Probleme eher woanders vermuten – nämlich in der Herkunft der Asylbewerber_innen – ist offensichtlich (rassistisch).

Der größte Hammer der Begründung der Stadt Leipzig ist aber folgender:

„Die Erfahrungen der Stadt Leipzig mit der Containerunterkunft im Zeitraum 2000 – 2006 waren sowohl hinsichtlich der Wohnqualität als auch bezüglich des Betreiberkonzeptes positiv.“

Ganz vergessen haben sie wohl die Vorkommnisse im früheren Containerbaulager in der Wodanstraße – die Überlastung der zuständigen Psychologen, die Drogenprobleme und Gewalt der Asyl­be­wer­ber_innen untereinander und schließ­lich sogar geradezu revolteähnliche Zustände, bei denen fast komplette Einrichtungen aus den Fenstern flogen. Diese Verhältnisse und offenen „Un­muts­be­kun­dungen“ führten zur Schließung des umstri­ttenen Lagers, welches nun auf den verscharrten Erkenntnissen seiner selbst wieder errichtet werden soll.

Der Umzug ist beschlossen, das Gelände in der Torgauer Straße Gerüchten zufolge sogar schon verkauft und zu­min­dest der Auszug so kaum noch zu verhindern. Da halfen leider auch die 877 Unterschriften nicht, die dem Leipziger OBM Burkhart Jung am 7. Juli bei einer offenen Bürgersprechstunde überreicht wurden. Konfrontiert mit unbequemen Fragen schwafelte der dort nur, daß er auch schon 2003 gesagt hätte, daß Asylbewerber sich in Leipzig zu Hause fühlen sollen. Um im nächsten Satz zur Kenntnis zu geben, daß er den Beschluss zur Errichtung des abgelegenen Containerlagers mit all seinen bekannten Nachteilen für alternativlos hält.

Ob der Umzug so reibungslos verlaufen wird, wie die Planer_innen sich das denken, oder ob Aktionen wie das „Asyl im Asyl“ (4) populärer werden, wird die Zukunft zeigen.

(bop)

 

*Auch lesenswert im Zusammenhang: „Einbli­cke ins Lagerleben“ FA! #25

*Internet-Petition gegen die Containerunterkunft: www.ipetitions.com/petition/containerunterkunft/

(1) Der Stadt Leipzig vom Land Sachsen (und dem wiederum vom Bundesministerium des Innern) zugewiesenen Asylbewerber_innen. Die Rückläufigkeit der Zahlen liegt zuallererst an der restriktiven Asylpolitik Deutschland und Europas, bspw. durch die sog. Dublin-II-Verordnung. (siehe auch FA! #32 „Endlich Bargeld“)

(2) Vorlage der Stadt Leipzig zur Unterbringung von Asylbewerbern: linke-bueros.de/linxx_dokumente/1245068655.pdf

(3) ebenda

(4) wie mehrere Familien ob ihrer desolaten Unterbringungssituation kürzlich in einer Grimmaer Kirche (siehe S.14)

„Militante Gruppe (mg) aufgelöst!“

So oder so ähnlich jubilierte die bürgerliche Presse ob der letzten Zuwort­meldung der Gruppe in der aktuellen radikal #161. Konnte man dort doch den Satz lesen: „Wir lösen uns heute und hier mit diesem Beitrag als (mg) auf! Von nun an ist die (mg) in die Widerstandsgeschichte der revolutionären Linke in der BRD eingegangen. Es gibt von nun an nur noch eine ex-(mg).“ Recht einleuchtend für die frohlockende Journaille, die dabei jedoch übersah, dass die Gruppe gleichzeitig von einem „scheinbaren Widerspruch“ schrieb, der sich hinter dieser Formulierung verberge. Die Nichtidentität der Identität der mg ist nämlich: die ex-mg!

Im Rückspiegel: 2001 war die militante gruppe erstmalig in Erscheinung getreten. Im Zusammenhang mit der Debatte um die NS-Zwangsarbeiterentschädigungen hatte sie scharfe Patronen per Post an die führenden Vertreter (Gibowski, Gentz und Lamsdorff) der Stiftungsini­tiative Erinnerung, Verantwortung, Zukunft der deutschen Wirtschaft verschickt, die sich für einen Klagestopp und finanziellen Schlußstrich einsetzte. Das dazugehörige Bekennungs- und Erläu­terungs­schreiben wurde in der interim #529 veröffentlicht. Darin heißt es: „Unsere Aufgabe als linksradikale Akti­vistIn­nen ist es, den Akteuren dieser perfiden Politik ihre Selbstzufriedenheit und Selbstsicherheit zu nehmen.“, und weiter unten: „Wir müssen die Ebene der reinen Proklamation von ‚revolutionären Ansprüchen‘ verlassen, wenn unsere militante Politik zu einem wirkungsvollen Faktor in der Konfrontation bspw. mit der Stif­tungs­ini­tiative werden soll.“ (1)

Seitdem gingen bis zum 26.02.2009 zwischen 30 und 40 „militante Angriffe“ auf das Konto der mg. Brandanschläge auf Bun­deswehrfahrzeuge und Polizeikraft­wagen, Sozial-, Arbeits- und Finanzämter, auf eine LIDL-Geschäftsstelle, auf das Deutsche Institut für Wirt­schafts­for­schung (DIW) und einiges mehr. Die Aktionen wa­ren immer gut geplant und richteten sich nach aktuellen politischen Themen, nie kam ein Mensch zu Schaden und im­mer veröffentlichte die mg ausführliche Erklärungen zu den Aktionen. Doch auch die Gegenseite schlief nicht. Schon 2001 lei­tete die Generalbundesan­wal­tschaft ein BKA-Ermittlungsverfahren gegen die Grup­pe ein, das sich bis zuletzt zu einer fieberhaften bundesweiten Fahndung nach Mitgliedern des klandestinen Zusammenhangs um die mg ausweitete. Der Vor­wurf: „Bildung einer terroristischen Ver­einigung“ nach §129a StGB. Bisher konnte jedoch kein Mitglied der mg beweiskräftig überführt werden. Von den ins­gesamt minde­stens vier Verfahren läuft derzeit offiziell nur noch eines. Die drei fest­genommenen Personen, die 2007 in Bran­­den­burg (Havel) beim Brandsatzlegen unter einen Bundeswehr-LKW beobachtet worden sein sollen und aktuell vor Gericht stehen (2), gehören aber nach Angaben der mg nicht zu ihrem Organisa­tions­zu­sam­men­hang. Dort frotzelt man eher über die verkrampften Bemühungen der Bundesbehörden, den drei Aktivisten der antimilitaristischen Szene die Mit­glied­schaft in der militanten gruppe unterschieben zu wollen, denn „… dann wäre unser Verständnis (der mg) von politischer Gefangenschaft und einer offensiven politischen Prozessfüh­rung als revo­lu­tionäre Kom­mu­nistInnen für alle Interessierten unverkennbar und unüberhör­bar zum Ausdruck gekommen.“

Solche Drohungen klingen dann doch etwas hohl, zumal sie aus dem oben er­wähn­ten Auflösungspapier stammen. Schein­bar ein weiterer Widerspruch? Nicht unbedingt, denn das Ende der mg, bedeutet ja den Anfang der ex-mg, wie wir von den dialektikelnden Ge­nossInnen lernen. Diese jedoch wollen in Zukunft weniger mili­tant auftreten. Die Gruppe begründet diese Abkehr mit einem langen Prozeß der Selbstkritik und internen Spannungen. Das Ziel des Aufbaues eines Netzwer­kes militanter Kerne hätte man verfehlt. Außerdem ist wohl auch die mangelnde Basis in der sozialen Klasse, für deren Interessen man ja kämpferisch antreten wollte, augenscheinlich geworden. Zwar könne man militante Aktionen aus der Spontanität und einer gewissen revolutionären Ungeduld begründen, als politische Mittel würden solche Aktionen aber nur dann wirkungsvoll sein, wenn sie mit den Interessen einer breiteren politischen Bewegung auch organisatorisch zusammentreffen. Demnach wolle die ex-mg ihr Gewicht nach dem Vorbild der italienischen Kommunistischen Partei politisch-militärisch (PC p-m) stärker auf Fragen des Politisch-Or­ga­nisatorischen verschieben, also versuchen „… aus der Enge der Fragestellung um Militanz herauszukommen, d.h. die Ebe­ne eines ‚militanten Reformismus‘ bzw. ‚Militantismus‘ zu verlassen und eine De­batte um eine klassenspezifisch-proletarische Organisierung und eine daraus resultierende Organisation aufzunehmen.“

Fast ist mensch versucht zu spotten: Willkommen im 21. Jahrhundert! Aber so modern fallen die Einlassungen der mg/ex-mg zur Organsations­frage dann doch nicht aus. Es wird über die Notwendigkeiten der „Par­tei-Form“ fabuliert, eine Menge Marx, Marcuse, Lukacs, Lenin und auch Mao zitiert. Und am Ende stellt man fest, die ex-mg steht wirklich am Anfang. Zwar „… ausgestattet mit einem umfangreichen inhaltlich-ideologischem Rüstzeug (inklusive aller Widersprüche und Leerstellen), einer langen Kette von militanten Ak­tions­­erfah­rungen und verschiedenen orga­ni­satorischen Versuchen des Strukturaufbaus und der entsprechenden reprodukti­ven Absicherung“, aber inhaltlich zu deutlich verstrickt in die theoretisch-abstrakten Fragestellungen eines untergegangenen Jahrhunderts und zu wenig konkret hinsichtlich erfolgsverspre­chenden emanzipatorischen Organisa­tions­modellen. Das Ge­rede von der Parteiform, die den in­ner­sten Kern einer Bewegung zusammenhalten soll, verkleistert dabei nur den klaren Blick auf ihre aktuellen Organisa­tions­probleme. Es ist ein ideologischer Ana­chro­nismus, um die enorme Spannung und Entfernung zur Blütezeit der kommunistischen Bewegung vor 90 Jahren überhaupt auszuhalten. Ein Blick auf die politische Kultur und Geschichte der „Partei“ jedoch genügt, um eine „Partei-Form“ prinzipiell in Frage zu stellen. Dies ist ein vertei­digenswertes Erbe schon des frühen Anarchismus. Wenn die ex-mg sich nach eigenen Worten also zwischen Kommunismus und Anarchismus ernsthaft positionieren will, ist den Genoss_innen nach der vorgezogenen Lektion in Sachen Aktionismus nun dringend auch eine Portion Organisations- und Herrschaftskritik anzuraten.

Zum Schluss: Dass mensch als militante gruppe zu einseitig auf militante Aktionen setzte, war unüberlegt, voreilig, aber verständlich bei der Wut, dem Unmut und der Resignation, die mensch zuweilen verspürt. Sich selbstkritisch zu besinnen, aus den Erfahrungen zu lernen und „quicklebendig“ weitermachen zu wollen, ist gut und das Bemühen um Fragen der Organisation richtig. Denn inwieweit gelangt mensch über eine offene und transparente, partizi­pa­torische und dezentrale Orga­ni­sierung zu subversiven und im letzten Schritt auch militanten Aktionen, um effektiv gemeinsame Ziele zu erreichen? Die Perspektive einer gesellschaftlichen Veränderung im besten anarcho-kommunistischen Sinne hängt von dieser Frage ab. Bleibt also zu hoffen, dass sich die Ge­noss_innen der ex-mg auf diesem neuen Terrain ebenso hartnäckig schlagen werden, wie die Ge­noss_innen der mg es auf dem Terrain der Militanz taten. Die mg ist tot, es lebe die ex-mg!

(clov)

 

(1) Die gesamte Stellungnahme unter: mirror.so36.net/home.arcor.de/dokumentationX/

(2) siehe hierzu auch FA!#27, Wie bilde ich eine terroristische Vereinigung?, Seite 1/22-24)

Alle anderen Zitate aus dem in der radikal #161 veröffentlichten Interview mit der mg. U.a. hier nachzulesen: www.einstellung.so36.net

Bitte nicht kritisieren!

NS-Symbolik beim Wave-Gotik-Treffen

Kritik an der Programmpolitik des Wave-Gotik-Treffens hat es immer wieder einmal gegeben (siehe FA! # 33). Derzeit schlagen die Wellen aber ein wenig höher als gewöhnlich. Unmittelbarer Anlass ist die Gestaltung der sogenannten Obsorgekarte, die zur Nutzung des Zeltplatzes auf dem AGRA-Gelände berechtigt. Auf dieser war in diesem Jahr u.a. eine „Schwarze Sonne“ abgebildet. Dieses an das Hakenkreuz angelehnte Symbol erfreut sich in rechten Teilen der Schwarzen Szene großer Beliebtheit. Die auf der Karte verwendete, aus 12 Sig-Runen bestehende Variante des Symbols geht auf ein Bodenornament im SS-Schulungszentrum Wewelsburg zurück.

Die Verwendung dieses Symbols sorgt also nicht umsonst für Kritik. Eine öffentliche Stellungnahme zu den Gründen für die Verwendung der „Schwarzen Sonne“ forderte u.a. die Band ASP in einem Brief an die für die Organisation des WGT zuständige Treffen & Festspielgesellschaft für Mitteldeutschland mbH. Statt der eigentlichen Adressaten antworteten die beiden Geschäftsführer der Chemnitzer Veran­staltungsagentur In Move. Auf die klar formulierte Frage gaben auch diese nur eine ausweichende Antwort: Bei der Gestaltung der Karte hätte es einen historischen Bezug zum 2000jährigen Jubiläum der Schlacht im Teuto­burger Wald gegeben, die „Symbolstrukturen, gespiegelt in der Iris des Auges“ würden ein „uraltes Symbol der Sonnenfinsternis“ reflektieren, welches „von den Germanen als ´Inneres Licht´“ verehrt worden sei.

Mit diesen nebulösen Ausführungen gab sich die Band zu Recht nicht zufrieden und erklärte: „Unsere Frage, warum das – unserer Meinung nach hochpolitisch belastete – Symbol der ´Schwarzen Sonne´ benutzt wurde, wurde leider nicht beantwortet.“ Eine Verbindung zwischen der erwähnten „Hermannsschlacht“ und dem Symbol sei leider nur darin zu erkennen, „dass beide Themen in neofaschistischen Gruppen einen hohen Stellenwert einnehmen.“ Die Band schloss: „Wir hatten eine klare Stellungnahme der Treffen & Festspielgesellschaft für Mitteldeutschland mbH erwartet. Zunächst unabhängig davon, ob die Benutzung des (…) Motivs aus Unkenntnis, mangelnder Recherche, aus Versehen, aus Provokation zu Mar­ketingzwecken, in voller politischer Absicht oder aus einem anderen Grund geschah. Solange wir von den Verantwortlichen darüber keine klare Aussage erhalten, müssen wir Euch mit Bedauern mitteilen, dass wir in Zukunft weder als Besucher auf dem Wave-Gotik-Treffen zu Gast sein werden, noch als Teil des Musikprogramms dort zur Verfügung stehen werden“ (1).

Auch einige Besucher_innen des Festivals zeigten sich beunruhigt und veröffentlichten im Internet-Forum des WGT einen offenem Brief (2), in dem sie u.a. forderten, auf die Verwendung der „Schwar­­­­zen Sonne“ und ähnlicher Symbole künftig zu verzichten. Auch die Präsenz eines Ver­kaufsstand des VAWS (Verlag und Agentur Werner Symanek) auf dem Festi­val­ge­lände wurde kritisiert.

Der VAWS übernimmt eine Scharnierfunktion zwischen rechtsoffenen Teilen der Schwar­­zen Szene und neo­nazistischen Gruppen. Eine Zeitlang war der VAWS u.a. für Druck und Vertrieb der Unabhängigen Nachrichten zuständig, einer Zeitschrift, die seit 1969 von den Unabhängigen Freundeskreisen (UFK) herausgegeben wird. Diese orientieren sich ideologisch am „nationalrevolutionären“ Flügel der NSDAP und propagieren einen „völkischen Sozialismus“ (siehe auch FA! # 28). Sie waren anfangs im Umfeld der 1952 verbotenen Sozialistischen Reichspartei zugange, später pflegten sie enge Kontakte zu Michael Kühnens FAP und zur NPD. Seit 1986 wirkte Werner Symanek als Autor bei den Unabhängigen Nachrichten mit.

Schon bald nach der Gründung des Verlags im Jahr 1991 versuchte er auch, in der Dark-Wave-Szene Fuß zu fassen. Dafür wurde u.a. das Mailorderprogramm durch Tonträger ergänzt, eine Zeitlang gab der VAWS auch ein eigenes Musikmagazin heraus und versuchte, den Verlag als Musiklabel zu etablieren – so brachte der VAWS u.a. CD-Compilations zu Ehren Leni Riefenstahls und des Nazi-Bildhauers Josef Thoraks heraus. Eine ähnliche Strategie, durch gezielte Pro­pagandaarbeit im „vorpolitischen“ kulturellen Bereich an Boden zu gewinnen, verfolgten zur selben Zeit auch die völkischen Nationalisten der Jungen Freiheit. Für eine solche Unterwanderungsstrategie braucht es aber immer noch Leute, die solcher „Unterwanderung“ aufgeschlossen gegenüberstehen. Schützenhilfe aus der Schwarzen Szene kam vor allem von dem Musiker Josef Klumb, der nicht nur beim VAWS mitarbeitete, sondern auch gute Kontakte zur Jungen Freiheit pflegte.

Mit seiner Band Weissglut schaffte es Klumb 1998 sogar, einen Vertrag mit dem Majorlabel Sony zu ergattern – dieser wurde jedoch wieder aufgelöst, als Klumbs Verbindungen zur rechten Szene öffentlich wurden. Anlass dafür war u.a. ein Interview Klumbs mit dem Szenemagazin Gothic, in dem der Musiker sich positiv auf den Verschwörungstheoretiker Jan Van Helsing (alias Jan Udo Holey) bezog und in antisemitischer Manier gegen „Hochfinanz“ und „Zionismus“ wetterte. Seit dem Scheitern seiner Karrierepläne hat sich Klumb immer mehr in ein Privatuniversum aus verschwörungstheo­retischem Verfolgungswahn, Zahlenmystik und Übermen­schen­phan­tasien zurückgezogen. Er pflegt immer noch gute Kontakte zum VAWS, wo u.a. die Veröffentlichungen seines Projekts Von Thron­stahl erscheinen. Von Thronstahl traten nicht nur 2000 beim WGT auf, auch für die Betreuung des VAWS-Standes auf dem Festivalgelände war Klumb zeitweise zuständig (3).

Dies könnte den WGT-Veranstalter_in­nen durchaus bekannt sein. Nicht um­sonst verweisen die Verfasser_innen des offenen Briefes darauf, dass es bereits seit Jahren Beschwerden von Gästen wegen des VAWS-Verkaufsstandes gab. An einer wirklichen Auseinandersetzung mit sachlicher Kritik scheinen die Verantwortlichen aber leider kein Interesse zu haben. Während sie die kritischen Nachfragen im einen Fall einfach ignorierten, fiel die Reaktion auf den im WGT-Forum veröffentlichten offenen Brief noch etwas deutlicher aus: Die entsprechenden Einträge wurden kurz darauf gelöscht und erklärt, politische Diskussionen seien dort künftig nicht mehr erwünscht.

Auch indem sie in dieser Weise dringend notwendige Debatten zu unterbinden versuchen, unterstützen die Veranstal­ter_innen des WGT Ansätze zu einer politischen Verein­nahmung der Schwarzen Szene von rechts – dass ihnen dies nicht bewusst wäre, erscheint mehr als zweifelhaft. Bleibt nur zu hoffen, dass die Auseinandersetzung nicht so schnell wieder im Sande verläuft. Wenn sachliche Argumente nichts bewirken, dann könnten viel­leicht größere finanzielle Einbußen die Veranstalter_innen dazu bringen, ihre Position noch einmal zu überdenken.

(justus)

(1) www.thetalesofasp.com/de/wgtstate­ment.html

(2) www.labellos.de/forum/viewtopic/wgt-die-politik-und-das-verbot-der-freien-meinung-5.html

(3) einen guten Überblick zum VAWS und zu Klumb liefert z.B. Schobert/Dietzsch/Kellershohn: „Jugend im Visier – Geschichte, Umfeld und Ausstrahlung der Unabhängigen Nachrichten“, DISS, Duisburg 2002.

Schwarzseher in roten Roben

Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über den EU-Grundlagenvertrag von Lissabon

Heil der obersten Richterschaft, so denken hierzulande viele, was wäre Deutsch­land bloß ohne den nüchternen Patriotismus des Bundesverfassungsgerichts? Das arme Deutschland wäre den grotesken Spielchen korrupter Politiker_innen vollends aus­ge­setzt, eine ganz gewöhnliche Bananenrepu­b­lik ohne durchgreifendes Rechtsstaatsprin­zip. Aber gottlob, es gibt das Grundgesetz, wenn auch nur als Quasi-Verfassung, und li­be­rale Justizbeamt_innen, die über die ver­bürg­ten Grundrechte aufmerksam wachen, denkt sich der gemeine Patriot und heimliche Deutsch­landfan. Es ist sicher nicht zuviel gesagt, dass in Deutschland viele Leu­te lieber das Bundesverfassungsgericht wäh­len würden, als die Kanaillen des Deutschen Bundestages. Und nicht ganz zu un­recht. Denn weit wirksamer als das Auf und Ab parteiischer Gesetzgebung hat die kontinuierliche Rechtspflege dieses unabhängigen obersten Gerichtes die bun­desdeut­sche Rechtsgeschichte seit 1951 geprägt. In beinahe 7000 Einzel­entschei­dungen und über 133.000 Kam­merbeschlüssen wurden Gesetze aus dem Parlament und Bundesrat und deren Auslegung beeinflusst – bestätigt, für nichtig erklärt oder außer Kraft gesetzt. Durch die besondere Stellung des Gerichtes, allein, einzig und ein­zelinstanzlich über die Auslegung des Grund­­­gesetz­tex­tes zu verfügen, der wiederum al­le anderen deut­­schen Rechtstexte fol­gend bindet, kommt den Urteilen des Bundesverfassungsgerichtes eine einzigartige Auslegungsvormacht zu, wenn es um den Ein­fluss auf den weit verzweigten juristischen Instanzenzug vom kleinsten Kreisgericht bis zum Bundesgerichtshof geht. Kaum ein_e Richter_in noch Politiker_in wür­de es derzeit wagen, die Urteile dieser obersten Richterschaft in Frage zu stellen.

Von dieser einzigartigen Machtbasis aus, die eine wohlwollende liberale Öffentlichkeit nur noch verstärkt, ist das Bundesverfassungsgericht integraler Bestandteil des deutschen Staates. Und aus dieser zentralen Funktion wird auch verständlich, warum dem Urteil des Gerichtes im Zusammenhang mit der Zustimmung zum Vertrag von Lissabon (EU-Grundlagenvertrag bzw. -reformvertrag) (1) soviel Bedeutung zukommen musste, dass selbst der Bundespräsident zögerte, die deutschen Zustimmungsgesetze zur längst getätigten Ratifikation zu unterzeichnen.

Sechs Klagen gegen den Vertragsschluss waren anhängig, die das Bundesverfassungsgericht für entschei­dungswürdig erachtete. Nicht ganz uneigennützig, wenn man bedenkt, dass der Vertrag von Lissabon in der ursprünglichen Form eine Quasi-Verfassung für Europa werden sollte und damit faktisch eine Relativierung des deutschen Grundgesetzes als obersten Rechtstext bedeutete, also direkt die Machtbasis des Bundesverfassunsgerichtes betraf, es geradezu in verstärkte Konkurrenz zum Europäischen Gerichtshof setzte. Und dementsprechend trocken und konservativ fiel das Urteil am 30. Juni dann auch aus. Einig Europa? Von wegen! Zwar sehe das Grundgesetz nach Artikel 23 einen europäischen Integrationsprozess vor, was es Deutsch­land prinzipiell erlaube, zwischenstaatliche Verträge in dieser Form abzuschließen. Aber das Übertragen von Hoheitsrechten, welche unmittelbar die Souveränität der Bundesrepublik beträfen, könne nur in Form der vertraglich gebundenen Einzelermächtigung stattfinden und müsse jeweils in deutsche Gesetze überführt werden. Dabei sehen die Richter durchaus einen, wenn auch bloß summarischen, Zugewinn an Demokratie über die neuen Einspruchsrechte der einzelnen Mitgliedsstaaten. Nicht jedoch ein Europäisches Parlament, dass über freie und gleiche Wahlen zustande käme und so eine „Unionsbürgerschaft“ begründen könne, die als neue Legitimationsbasis den Volkssouverän der einzelnen Staaten ersetzen würde. Insbesondere die vereinfachten Ent­scheidungsverfahren, welche der neue Vertrag vorsieht, sind den Richter_innen dabei ein Dorn im Auge.

Durch die Abschaffung des Kon­sens­prinzips könne es zu Übertragung von „Kompetenz-Kompetenz“ kommen, sprich zu einer nachträglichen Ver­än­derung der Vertragsbasis ohne die jeweilige Zustimmung jedes Mitglieds­staa­tes. Deshalb sei es erforderlich, sich als Ver­­tragspartner aktiv über die diversen Ein­spruchsrechte einzubringen. Dafür wie­­derum können in der Bundesrepublik nach Ansicht der Richter_innen, nur die demo­kra­­tischen Organe Bundestag und Bun­des­rat in Frage kommen. Das Bundes­ver­fassungsgericht leitet also aus dem europäischen Demokratiedefizit und der Gefahr der Kompetenz-Kompetenz-Übertragung eine erhöhte Aktivität der hierzu­lan­de gewählten Vertreter ab. Das bereits verabschiedete Zustimmungsgesetz und die dazugehörigen Begleitgesetze, die das deut­sche Recht an den neuen Vertrag anpassen sollten, erklärt es gar für nichtig, weil sie diesen weitreichenden Aufgaben nicht gerecht würden.

Am Ende des ellenlangen Urteilstextes ge­langt man schließlich zu der Einsicht, dass die obersten Verfassungsrichter_innen kei­nes­wegs zu den Europa-Euphorikern zählen. Stattdessen nutzte das Gericht die Gelegenheit um klarzustellen, dass es sich in seiner Zu­ständigkeit nicht so einfach beschneiden lasse und im Rahmen der Wahrung der „Ver­fassungsidentität“ den deutschen Volks­souverän auch weiterhin gegen jede fremde Einflussnahme verteidigen werde. Der implizite Vorwurf an Bundestag und -rat, diese Aufgabe durch die schlecht gearbeiteten Zustimmungs- und Be­gleitge­setze zu vernachlässigen, ist offensichtlich, wiedermal. Und die Bundes­re­gierung muss nachsitzen, wiedermal. Es wurde auch schon eine Sitzung Ende August, in­mitten des großen Wahlschattens, anberaumt. Am Ende wird mehr Bürokratie und Arbeit für die Parlamen­ta­rie­r_in­nen stehen und die Erkenntnis, dass die konservative deutsche Richterschaft auch in Zukunft da­rüber wachen wird, dass die Verhältnisse in Deutschland bleiben, wie sie sind. Mehr noch, den politischen Vertretern droht ein juri­stischer Nackenschlag, sollten sie allzu forsch die nationalstaatliche Basis untergraben. Wie es indes in der Vorstel­lungswelt dieses Gerichtes wi­der­spruchslos zusammenpasst, dass eine nicht durch freie und gleiche Wahlen legitimierte, sondern völlig intransparent ernannte Judika­tive (2) gleichzeitig dem Souverän in der Form seiner legitimierten Volksver­treter_innen die Verhältnisse diktieren kann – diesen de­mokra­tie­theoretischen Widerspruch halten die Verfas­sungs­pa­trio­ten locker aus. Wer fragt schon nach dem Zustandekommen der Macht, wenn man sie erstmal hat. Da sind sich dann selbst die feinsinnigen Jurist_innen nicht zu schade, einem ganz gewöhnlichen Nationalismus das Wort zu reden. Und mensch fragt sich, ob die Herren und Damen Zustands­be­wah­­rer unter ihren vor Patriotismus rotgülden schimmernden Roben noch immer das mehr als 150 Jahre alte, muffig deutsch-preußische Korsett tragen. Von dieser staatlichen Institution deshalb eine substanzielle Veränderung der deutschen Zustände zu erwarten, ist nicht nur eine idealistische Illusion, es ist geradezu blau­äugig. Im Gegenteil: Wer hierzulande wirklich etwas bewegen will, wird sich auf kurz oder lang dem Bundesverfassungsgericht gegenüber sehen, bereit den angeblichen und völlig abstrakten Volkssouverän noch gegen jede_n einzelne_n Bürger_in auszuspielen. Zu­min­dest das lernen wir aus Europa: Wer diese deutschen Richter_innen wählen will, wird die Reaktion ernten.

(clov)

 

(1) Der Vertrag ist die mittlerweile dritte modifizierte Version des ursprünglichen „Vertrages für eine Verfassung für Europa“ – der bekanntlich 2005 durch die negativen Ergebnisse der Volksbefragungen in Frankreich und in den Niederlanden scheiterte – und soll die schon 2000 beschlossenen Übergangsverträge von Nizza endlich ersetzen.

(2) Die Verfassungsrichter_innen werden für 12 Jahre abwechselnd von Bundestag und Bundesrat ernannt. SPD und CDU einigen sich seit Anbeginn der Bundesrepublik in geheimen Absprachen über die jeweilige Ernennung. Erstmalig gelang es einer kleinen Partei (GRÜNE/Bündnis 90) 2001 über eine Koalitionsabsprache mit der SPD einen eigenen Verfas­sungs­richter zu bestimmen.

Das ganze Urteil unter:

www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/es20090630_2bve000208.html

Probleme erfolgreich verdrängen

Notizen zur Leipziger Drogenpolitik

15. Juni. Ortstermin im neu eröff­ne­ten Wächterhaus in der Eisen­bahn­straße 109. Im ersten Stock drängen sich rund 40 Menschen, auf dem Programm steht eine Diskussionsrunde zur für Ende Juli geplanten Installation einer Polizeikamera an der Kreuzung Eisen­bahnstraße/Hermann-Liebmann-Straße. Das Viertel hat sich in den letzten Jahren zu einem wichtigen Anlaufpunkt für die Leipziger Drogenszene entwickelt, die soll nun mit Hilfe der Überwachung verdrängt werden. Auf dem Podium sitzen neben Polizeipräsident Wawrzinsky auch ein Jurist, ein Sozialarbeiter, ein Vertreter der über­wachungskritischen Initiative Leipziger Kamera und einige Lokalpolitiker, die sich angesichts der kurz bevorstehenden Kommunalwahlen diese Möglichkeit zur Selbstdarstellung nicht entgehen lassen wollen.

Die Fronten der Diskussion sind nach wenigen Minuten klar. Wawrzynski ist für die Kamera, weil diese helfe, die Drogenszene aus dem Viertel zu verdrängen. Zudem ließe sich so das subjektive Sicherheitsgefühl der Anwohner_innen stärken. Der Vertreter der Bürgervereini­gung Lo(c)kmeile (einem Zusammenschluss örtlicher Geschäftsleute) steigt mit dem Klassikerzitat aller Über­wachungs­befürworter_innen in die Debatte ein: „Wer nichts zu verbergen hat, den stört auch keine Kamera“. Dem Treiben der Dealer müsse ein rigoroser Riegel vorgeschoben werden. Außer Schilderungen der üblen Zustände im Viertel hat er aber im weiteren Verlauf wenig zur Debatte beizutragen.

Der Vertreter des Neuen Forums dagegen hält die Kamera für reine „Symbolpolitik“; Jürgen Kasek von den Grünen zitiert verschiedene Studien, die zum Ergebnis kommen, dass Überwachung weder Kriminalität reduziere noch das Si­cherheitsempfinden verbessere. In der Tat scheint es zweifelhaft, ob die Leute sich sicherer fühlen, wenn ein bestimmter Ort durch Videoüberwachung und erhöhte Polizeipräsenz als „Kriminalitätsschwer­punkt“ gekennzeichnet wird. Was der Herr von der FDP meint, bleibt unklar.

Uwe-Dietmar Berlit (Richter und Juraprofessor) hingegen gefällt sich in der Rolle des Politikberaters: Natürlich, so doziert er, würde Videoüberwachung die Drogenszene nur verdrängen – aber wenn man denn verdrängen wolle, seien Kameras ein geeignetes Mittel zum Zweck. Zusätzlich bräuchte es natürlich flankierende Maßnahmen, um eine „1-zu-1-Verdrängung“ zu vermeiden, d.h. die Zahl der Abhängigen tatsächlich zu reduzieren. Kameras für die Verdrängung, „flankierende Maßnahmen“ zu Lösung des Problems. So kann mensch es auch ausdrücken, dass Überwachung nichts bringt.

Ganz unabhängig von den Ratschlägen des Professors ist die Verdrängungspolitik ohnehin seit langem die Leitlinie der Leipziger Polizei. Im Suchtbericht der Stadt Leipzig von 2008 heißt es dazu: „Die Polizeidirektion Leipzig verfolgt das Ziel, die Anbieter- bzw. Konsumentenszene durch permanente polizeiliche Einsatzmaßnahmen unter Kontrolle zu halten. Durch einen hohen Verfolgungsdruck sollen der Handel und der Konsum von Betäubungsmitteln sowie Ansammlungen betäubungsmittelabhängiger Personen im öffentlichen Raum, insbesondere der Innenstadt, an touristischen Zielen, in Wohngebieten sowie im Umfeld von Schuleinrichtungen konsequent unterbunden werden“ (1).

Bereits die Installation der ersten Polizeikamera am Bahnhofsvorplatz 1996 diente dazu, die Drogenszene in andere Bereiche abzudrängen. Eine Lösung des Dro­gen­problems war dabei nur ein nach­rangiges Ziel, vielmehr bestimmten harte Geschäftsinteressen das Vorgehen. Der gerade zur Shoppingmall umgebaute Hauptbahnhof und die Innenstadt sollten für Tourismus und Konsum attraktiver gemacht werden – die Drogenabhängigen passten dabei nicht ins Bild. In einer gemeinsamen Einsatzgruppe „Bahnhof-Zentrum“ arbeiten Polizei, Bundespolizei und Ordnungsamt zusammen, um die Innenstadt „sauber“ zu halten.

Mit zweifelhaftem Erfolg: Stefan Kuhtz vom Integrativen Bürgerverein Volkmarsdorf trifft den wunden Punkt, als er in der Diskussion darauf hinweist, dass gerade die Verdrängung aus der Innenstadt dafür verantwortlich ist, dass der Leipziger Osten sich seit 2007 zum Anlaufpunkt für die Drogenszene entwickelt hat. Jetzt will man sie dort wieder wegkriegen. Schon 2008 wurde der Leipziger Osten von der Polizei zum „Kontrollschwerpunkt“ erklärt und wird seitdem verstärkt bestreift. Im Rabet, einer Parkanlage in unmittelbarer Nähe zur Eisenbahnstraße, wurden die Büsche auf Hüfthöhe gestutzt, um „Dealern“ keine möglichen Verstecke zu liefern. Auch an der Eisenbahnstraße gelegene Lokale würden verstärkt kontrolliert, erklärt Wawrzynski. Die Antwort des Polizeipräsidenten auf die Frage eines Gastes, wohin er denn die Leipziger Drogenszene jetzt verdrängen wolle, ist symptomatisch: „Aus der Stadt“, entgegnet Wawrzynski. Das Gelächter des Publikums ignoriert er mit stoischer Miene.

Nach einer Weile dreht sich die Diskussion nur noch im Kreis. Als Polizeipräsident bleibt Wawrzynski der üblichen Polizeilogik verpflichtet. Der Herr von der FDP möch­te sich lieber auf solide Handarbeit als auf die Technik verlassen und plädiert für verstärkte Polizeistreifen im Viertel, Sozial­arbeiter Kuhtz dagegen fordert mehr bür­gerschaftliches Engagement. In der Pro­blem­de­fi­nition ist mensch sich also weit­ge­hend einig, nur in der Wahl der geeigneten Gegenmittel streitet man sich.

Schön, dass im Publikum ein paar Men­­­schen mitden­ken und darauf hinweisen, dass das zur Debatte stehende Problem erst durch die repressive Drogenpolitik produziert wird: Erst die Kriminalisierung bestimmter Substanzen und ihrer Konsu­ment_innen macht die Abhängigkeit zu dem garstigen Komplex von Beschaffungskriminalität, Prostitution, Verelendung und gesundheitlichen Schäden, mit dem anschließend weitere repressive Maßnahmen gerechtfertigt werden – getreu dem Motto: „Wenn das, was wir tun, keine Wirkung zeigt, haben wir noch nicht genug getan“.

Lösen lässt sich das Problem so nicht, es wird eher noch verschärft. Der Handel mit harten Drogen wie Heroin ist bekanntlich ein einträgliches Geschäft – schließlich trifft in diesem Bereich eine relativ stabile Nachfrage auf ein durch staatliche Eingriffe künstlich verknapptes Angebot. Die Kriminalisierung verhindert auch eine Qua­litätskontrolle des zum Verkauf stehenden „Stoffs“ (auch wenn Inititativen wie die DrugScouts diese Lücke zu schließen versuchen). Gesundheitsschäden durch gefährliche Inhaltsstoffe wie Strychnin (Rattengift) oder zer­mahlenes Glas sind ebenso eine mögliche Folge wie der Tod durch Überdosierung.

An solchen Ursache-Wirkungs-Analysen ist Wawr­zyns­ki nicht interessiert. Lieber gibt er die üblichen Elends­stories von sich prostituierenden 13jährigen Mädchen und von sogar aus Magdeburg zum Einkauf anreisenden Junkies zum Besten. Viel mehr als Repression kann die Polizei ohnehin nicht leisten – für alles andere sind die Sozial­arbeiter_innen zuständig. Dabei gestaltet sich das Verhältnis zwischen polizeilichen Verdrängungsbe­mühungen und sozialer Betreuung nicht ganz so wider­spruchsfrei, wie es in den behördlichen Strategiepapieren konzipiert wird. Um den Abhängigen helfen zu können, müssen die Streetworker sie schließ­lich erst einmal finden. Die Strategie der Polizei, mit der sie die Herausbildung einer „offenen Anbieter- bzw. Konsumen­ten­szene“ verhindern will, steht dem genau ent­gegen. Damit die Streetworker in diesem Wettlauf mit der Polizei mithalten können, wird demnächst ein „Drogenmobil“ für die Betreuung des Leipziger Ostens im Einsatz sein. Zusätzlich soll die Zahl der momentan in der Eisenbahnstraße ansässigen Sozialarbei­ter_innen von zwei auf vier erhöht werden.

Derweil streiten sich Polizeipräsident Wawrzynski und der Kandidat der FDP darüber, ob die Zahl der Polizisten in Leipzig nun eher sinkt oder steigt. Während der Herr von der FDP meint, sie würde eher sinken, verweist Wawrzynski darauf, dass erst im Herbst 2008 300 neue Beamte eingestellt worden seien, im Laufe des Jahres 2009 sollten noch einmal 300 dazukommen. Mal sehen, ob sich mit deren Hilfe das Problem endlich in den Griff bekommen lässt. In jedem Fall war es gut, mal drüber gesprochen zu haben, auch wenn die meiste Zeit aneinander vorbeigeredet wurde. Wenn die polizeiliche Verdrängungspolitik Erfolg hat, dürften ähnliche Diskussionsrunden demnächst vermutlich in Plagwitz oder Lindenau stattfinden.

(justus)

(1) www.leipzig.de/imperia/md/con­tent/53_gesundheitsamt/suchtbericht2008.pdf