Archiv der Kategorie: Feierabend! #34

Aus für deutschen Luft-Boden-Schießplatz

Wahlkampf hin oder her, das sogenannte „Bombodrom“ in der Kyritz-Ruppiner Heide (Brandenburg) mit einem Areal von 144qkm wird es nicht geben. Zwar lügen Verteidigungsminister schon öfter mal, aber eine Revisionsfrist ist bekanntlich kurz und der juristische Spielraum klein. Au­ßer­dem hatte noch der Bun­destag am 02. Juli einem Antrag des Petitionsaus­schusses stattgegeben. Es dürfte also für den neuen wie alten Minister auch politisch schwierig werden, die Pläne so schnell wieder herbeizuzaubern. Was bleibt? In erster Linie eine riesige Fläche in Bundesbesitz, die nun teilweise touristisch erschlossen werden kann, aber hauptsächlich wohl Naturschutzgebiet werden wird. Die Bundeswehr dagegen muss ihre Luft-Boden-Schießübungen auf etwas kleineren Terrains abhalten, was nicht viel stört, da man sich eh längst auf andere Kriegs­techniken spezialisiert hat. Und die an­sässige Bürgerschaft darf sich illusio­nieren, nach dem fast 17jährigen juristisch-politischen Ringen den Weg freigemacht zu haben für bahnbrechende Neuansiedlungen und phantastische Jobwun­der.

Na ja, ganz so fade fällt das Ergebnis dann doch nicht aus, denn immerhin konnten einige kleinere antimilitaristische Gruppen und Initiativen durch die lange Widerstandszeit hindurch reichlich Aktions- und Organisationserfahrung sammeln, auch im Umgang mit einem breiten bürgerlichen Bündnis. Daran gilt es weiter anzuknüpfen, gerade jetzt, da ein symbolträchtiges Ziel durchgesetzt wurde. Die Parole lautet: Neu orientieren, Kraft mitnehmen, weitermachen. Venceremos!

(clov)

Politische Betätigung im Schatten des Ausländerrechtes

In Grimma im Landkreis Leipzig besetzten vier Familien – 18 Personen, darunter 10 Kinder – am 23. Juni 2009 eine Kirche, um auf die schlechten Bedingungen im Asylbewerberheim Bahren aufmerksam zu machen. Sie forderten die Möglichkeit in eigenen Wohnungen unterzukommen und verweigerten die Rück­kehr ins Heim. Sie nahmen dafür einen unbeheizten Kirchenraum, harte und schmale Kirchenbänke, Verzicht auf warmes Essen und Dusche, böse Blicke, fremdenfeindliche Parolen und die ständige Angst geräumt zu werden in Kauf.

Der öffentliche Druck und der Unwillen der Kirche die ungewollten Gäste zu dulden oder die Aussagen politischer Verantwortungsträger, sich nicht erpressen lassen zu wollen, führten nach zwei Wochen zur Beendigung der Aktion. Drei der Familien kehrten ins AsylbewerberInnenheim in Bahren bei Grimma zurück. Mitt­ler­weile hat die Ausländerbehörde die Anträge auf dezentrale Unterbringung von zwei der beteiligten Familien bewilligt. Für die vierte Familie allerdings, deren Vater als „Rädels- und Wortführer“ für die Besetzungsaktion ausgemacht und mehrfach in der Presse so tituliert wurde, stand weder die Rückkehr nach Bahren, noch eine eigene Wohnung zur Debatte. In Form einer Zuweisungsentscheidung wurde ihnen am 06.07.2009 mitgeteilt, dass sie sich im Asylbewerberheim Plauen einzufinden haben, andernfalls könnten sie mit Freiheits- oder Geldstrafen rechnen. Mittlerweile wurde der Asylantrag der nun in Plauen lebenden Familie abgelehnt. Ihnen droht die Abschiebung.

Bei der Grimmaer Kirchenbesetzung handelte es sich formal nicht um Kirchenasyl, da keinem/r der Besetzenden – zum damaligen Zeitpunkt – eine Abschiebung drohte. Die MigrantInnen, die aus Palästina, dem Libanon und vermutlich Afghanistan und Russland stammen, betätigten sich politisch. Zwei Familien konnten so ihr Ziel erreichen. Ob die Verlegung und nun drohende Abschie­bung der vierten Familie mit der ihnen zugeschriebenen „Rädels­führ­erschaft“ zusammenhängt, bleibt eine Mutmaßung. Zu­min­dest dürften die Schritte vor diesem Hintergrund schneller eingeleitet worden sein als im normal-bürokratischen Regelfall.

Die Rote Hilfe Leipzig nimmt den kurz angerissenen Fall zum Anlass, um zu schauen, wie es um die politischen Rechte von Menschen ohne deutschen Pass steht. Die Hannoveraner Ortsgruppe der Roten Hilfe hat sich auf Basis der bestehenden Gesetze mit eben jener Frage auseinandergesetzt:

 

Für Menschen ohne deutschen Pass gelten Son­dergesetze wie das Aufenthaltsge­setz. Ihre politische Betätigung wird da­durch ein­ge­schränkt. Die Rote Hilfe OG Han­nover hat sich aufgrund der Repression gegen türkische und kurdische Ge­noss­Innen und ver­mehr­ten Anfragen von ju­gendlichen Mi­grant­Innen aufgrund ihrer politischen Arbeit mit den geltenden Rechtsgrundlagen aus­einandergesetzt. Dieser Text ist eine erste Zusammenfassung dieser Recherche. Interessant wäre, konkrete Fälle und Grund­satz­urteile zu analysieren und daraus eine Hand­lungs­empfehlung für den Umgang mit politischen Prozessen und Vor­gehens­weisen gegen die Repression der Ge­noss­­Innen ohne deutschen Pass zu entwickeln.

Allgemeingültige Vorschriften bei Strafverfahren wegen politischer Betätigung

Bei Verfahren wegen politischer Betätigung gelten Rechtsgebiete wie das Strafrecht (festgelegt im StGB) und die Straf­prozess­ordnung (StPO), das Versamm­lungs­recht oder das Ordnungs­widrig­keitengesetz für MigrantInnen ebenso wie für Menschen mit deutschem Pass. In den jeweiligen Gesetzen sind die Strafen für Vergehen gegen definierte Tatbestände festgelegt – sie gelten für alle Betroffenen.

Im Strafgesetzbuch sind Tatbestände definiert, die unter Strafe stehen. Die §§ 80 bis 130 bezeichnen Straftaten von Landesverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates über Straftaten gegen ausländische Staaten oder die Landesverteidigung oder die öffentliche Ordnung, Widerstand gegen die Staatsgewalt etc., die Grundlage für viele politisch motivierte Strafverfahren sind.

Die Strafprozessordnung regelt, wie der Ablauf von Strafverfahren aussieht. Dieser ist auch für alle Betroffenen gleich, egal welchen aufenthaltsrechtlichen Status sie haben. Das bedeutet, dass die dringende Empfehlung, nicht zu polizeilichen Vorladungen zu erscheinen, niemals und unter keinen Umständen Aussagen bei Polizei und Staatsanwaltschaft zu machen unabhängig vom Aufenthaltsstatus gilt. Ebenso die Pflicht, bei Vorladungen durch Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter sowie zum eigenen Prozesstermin zu erscheinen. Beschuldigte haben prinzipiell das Recht, die Aussage zu verweigern.

Ausländerrecht und politische Betätigung

MigrantInnen, die sich politisch betätigen und insbesondere an Demonstrationen teilnehmen, gehen ein doppeltes Risiko ein. Ihnen drohen im Zweifel nicht nur eine strafrechtliche Verurteilung, sondern auch aufenthaltsrechtliche Konsequenzen von Ablehnung einer späteren Einbürgerung bis hin zu einer Ausweisung.

Für Menschen ohne deutschen Pass gelten neben den allgemeingültigen Regelungen wie dem Straf- oder Versammlungsrecht Sondergesetze wie das Aufenthalts­ge­­setz (AufenthG) oder das Asylver­fahrens­ge­setz (AsylVfG). Ihre politische Betätigung wird durch Vorschriften wie § 47 des AufenthG und die Residenzpflicht als Fol­ge der §§ 56 ff. des AsylVfG eingeschränkt.

Ausweisung

Besonders bedrohlich für politisch Aktive ohne deutschen Pass ist die Mög­lichkeit der Ausländerbehörden, zusätzlich zu Strafen nach allgemeingültigem Recht aufenthaltsrechtliche Sanktionen zu ergreifen.

Im AufenthG sind Gründe für Zwingende Ausweisung, Regelausweisung und Ermessensausweisung definiert. Am schwierigsten ist es, gegen Begründungen für eine Zwingende Ausweisung nach § 53 Auf­enthG vorzugehen. Dies trifft z.B. Menschen, die wegen Landfriedensbruchs zu Strafen ohne Bewährung verurteilt wurden. Am größten ist die Gefahr einer Ausweisung / Abschiebung nach einer Ver­ur­teilung. Auch ohne dass eine Frei­heits­strafe von bestimmter Dauer verhängt wor­den sein muss, gelten Aus­län­der­Innen als „besonders gefährlich“, wenn sie ohne Be­währung wegen Landfriedensbruchs im Rahmen einer verbotenen öf­fent­lichen Versammlung verurteilt wurden.

Die Ausländerbehörde kann aber schon während eines Ermittlungsverfahrens (also vor der Verurteilung) versuchen, politisch aktive MigrantInnen unter dem Vorwurf einer „schweren“ Straftat, z.B. schweren Landfriedensbruchs auszuweisen.

Eine Regelausweisung nach § 54 wird verfügt, wenn sich der/die Betreffende an „Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen“ aus einer Menschenmenge heraus im Rahmen einer verbotenen oder aufgelösten öffentlichen Versammlung beteiligt hat. Eine strafrechtliche Verurteilung ist nicht Bedingung der Ausweisung.

Einbürgerung

Bei dem Antrag auf Einbürgerung werden Behörden und Polizei standardmäßig nach Einwendungen gegen die Einbürgerung gefragt. Auch eine Anfrage beim Verfassungsschutz wird als Regel durchgeführt. Da alle Verfahren an die Ausländerbehörde weitergeleitet und gespeichert werden, besteht hier die Gefahr, dass bekannte politische Betätigung als Hinderungsgrund bei einem Antrag auf Einbürgerung geltend gemacht wird.

Es ist ebenfalls möglich, dass Menschen, deren Einbürgerung noch nicht 3-5 Jahre zurückliegt Schwierigkeiten aufgrund politischer Strafverfahren bekommen und ein Widerrufsverfahren eingeleitet wird.

Was tun?

Bei politischen Prozessen gegen Mi­grant­Innen ist die Unterstützung durch So­li­da­ri­tätsgruppen und AnwältInnen be­son­ders wichtig. Die Frage, wie Prozesse ge­führt werden sollen, ist gut zu überlegen. Es ist unbedingt notwendig, auf Wi­der­spruchsfristen bei aufenthaltsrecht­lichen Fragen zu achten, Verfahren genau zu dokumentieren und rechtzeitig juristisch gegen die Ausweisung / Abschiebung oder sonstige Einschränkungen wie Ab­leh­nung eines Einbürgerungsantrages un­ter Einschaltung einer AnwältIn vorzugehen.

Der Rechtsweg läuft bei Fragen des Aufenthaltsgesetzes über das Verwaltungsrecht und die Verwaltungsgerichte.

Flüchtlinge, deren Asylantrag anerkannt ist oder die eine Duldung wegen drohender Folter oder drohender Todesstrafe haben, werden durch die Europäische Menschen­rechts­- und die Genfer Flücht­lings­kon­ven­tion vor Abschiebung geschützt. Aber: Die politische Zusammenarbeit, z.B. zwischen BRD und Türkischer Republik, führt zu prak­tischen und juristischen Auf­weich­ungen.

Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis sind generell stark bedroht! Deshalb: Sofort nach einer Verhaftung durch die Polizei mit anwaltlicher Hilfe einen (zweiten) Asylantrag stellen, um eine drohende Abschiebung zu verzögern und Zeit für weitere Schritte zu gewinnen.

(Rote Hilfe)

„Jedem Ende wohnt ein Anfang inne …“

Thor-Steinar-Laden in Halle eröffnet

Während viele Leipziger_innen am 30.Juni den erfolgreichen Kampf gegen den Nazi-Laden ‘Tönsberg’ ausgiebig mit „antifaschistischem Festbankett“ und einer Jubeldemo unter dem Motto „Nazizentren zu Tanzschuppen“ feierten, haben die Hallenser_innen noch keinen Grund zur Freude: Denn die Firma ‘MediaTex GmbH’, die die von Nazis beliebte Marke ‘Thor Steinar’ vertreibt und bundesweit derzeit ca. 10 Läden direkt betreibt, hat kurzerhand die Klamotten eingepackt und die Geschäftsstelle in’s 40 km entfernte Halle verlegt. Der neue alte Laden heißt jetzt ‘Oseberg’, befindet sich bahnhofsnah in der Leipziger Straße 70 und erfreut sich zahlreicher Kundschaft aus Halle, Leipzig und Umgebung.

 

Dass Meusel – der ehemalige Geschäftsführer von Media­Tex* und Betreiber des Ladens – auch in Halle keine Ruhe haben wird, zeigte sich bereits bei der Ladeneröffnung am 4. Juni. Denn am Morgen erschienen spontan ca. 150 Menschen, die z.T. mit Transpis und Flyern bestückt ihren Unmut äußerten, Mist vor die Schaufenster kippten und signalisierten, dass auch dort kein Platz sei für eine aussichts­rei­­che Zukunft von Naziläden.

In den darauf folgenden Wochen wurde das Oseberg nicht nur durch Farbbeutel an der Fassade und Risse in den Fensterscheiben „verschönert“, sondern auch strategisch unter die Lupe genommen. Eine Gruppe engagierter Personen und zivilgesellschaftlicher Initiati­ven tauschte Erfahrungen mit Ladenschluss-Kampagnen in Leipzig und Magdeburg aus und gründete daran anlehnend die Aktion Ladenschluss, unter deren Label der Protest nun laufen soll. Seither gibt es jeden ersten und dritten Montag im Monat ein offenes Treffen, bei dem neue Infos ausgetauscht, Ideen gesammelt und geplante Aktionen besprochen werden. Eingeleitet werden die Plena jeweils mit vor dem Ose­berg stattfindenden Picknicks um 18 Uhr, bei denen nicht nur Präsenz gezeigt, sondern auch die Bevölkerung informiert werden soll.

Inzwischen sind mit der Kün­di­gung seitens des Immobi­lien­be­­sit­­zers be­reits rechtliche Schritte eingeleitet worden und eine Reihe von Ak­tions­ide­en – wie vor den Laden platzierte Altkleidercontainer, Straßen­thea­­ter, Workshops und Pla­kat­wett­be­wer­be – in Umsetzung. Um das von Mag­­­de­­burg bekannte „Örtchen-wechsel-dich-Spiel“ einzugrenzen, gibt es außerdem Briefe, die potentielle Vermieter in Halle aufklären und war­­nen sollen. Der Wi­der­stand gegen den Thor-Steinar-Laden in Halle läuft also an – wird sich aber auch verstärken müssen. Denn wie bereits am Fall Leipzig deutlich wurde, scheuen die Betreiber keine langwierigen gerichtlichen Auseinander­set­­zun­­­gen. In Halle dürfte die rechtliche Lage zudem erschwert sein, da der Immobilienei­gen­tü­mer scheinbar nicht „arglistig ge­täuscht“ wurde.

Schade ist jedoch, dass im Gegensatz zum Spektrum des Leipziger Ladenschluss-Aktionsbündnis gegen Nazis das Engagement der Hallenser_innen hauptsächlich von zivilgesellschaftlichen Akteuren, also Vertreter_innen lokaler politischer Organisationen ausgeht und „klassische“ Antifa-Kreise kaum am runden Tisch der Aktion Ladenschluss anzutreffen sind. Dass es an dieser Stelle (noch) so wenig strategische Zusammenarbeit gibt, hat sicher­lich mehrere Ursachen. Aus den Erfahrungen der anderen Kampagnen gegen Thor-Steinar-Läden heraus sollte dies jedoch auch kritisch betrachtet und verändert werden. Denn wie fruchtbar eine Zusam­men­ar­beit durch Zuwachs an aktiven Menschen und vielfältigen Aktionsformen sein kann, wird sich vor allem dann zeigen, wenn der Atem – wie befürchtet – länger sein muss.

(momo)

 

* Die Firma Mediatex wurde Ende letzten Jahres an den arabischen Investor Faysal al Zarooni in Dubai übertragen. Zwar gibt es innerhalb der rechten Szene vereinzelte Forderungen nach Boykott der Marke, der jedoch angesichts der Verbreitung und Identitätsstiftung unter Nazis vorerst zu vernachlässi­gen ist (siehe auch FA!#33). Meusel, der ehemalige Geschäftsführer der Firma versucht weiterhin offensiv bundesweit Geschäftsstellen zu eröffnen und war auch am 04.06. in Halle persönlich zugegen.

„Nach der Besetzung ist vor der Besetzung“

Kampf um ein Libertäres Zentrum in Magdeburg

So schloss der letzte Bericht (#33) des Feierabend! zum „Topf Squat“ in Erfurt, welches am 16.05.09 nach acht Jahren Besetzung martialisch geräumt und anschließend plattgemacht wurde. Gemeint war eine (hoffentlich baldige) Neubesetzung, die der Stadt ihr unverzicht­bares autonomes Zentrum zurück gibt. Doch erstens kommt es anders und zweitens als man denkt:

Nicht nur der Blick der deutschen Squat­terszene richtete sich noch am selben Tag in die sachsen-anhaltinische Landeshaupt­stadt. Von der erst ein paar Wochen zuvor gegründeten Freiraumkampagne Für ein Libertäres Zentrum in Magdeburg wurde prompt am Tag der Erfurter Räumung ein Haus besetzt – die ehemalige „Gruson-Villa“ der SKET-Poliklinik, etwa zwei Kilometer von der Magdeburger Altstadt entfernt, im Stadtteil Buckau. Für Besetzer_in­nen-Verhältnisse sehr idyllisch in einem brachliegenden ehemaligen Industriegebiet gelegen, bot das geräumige Gebäude vielversprechende Möglichkeiten eines zukünftigen Libertären Zentrums. Ja, bot. Denn nach sechs Wochen war die Besetzung erst einmal vorbei.

Aber die Initiative für ein Magdeburger Libertäres Zentrum ist damit noch lange nicht gestorben. Sie wird dieses Haus überleben wie sie auch schon die „Ulrike“ überlebt hat, die zwischen 2000 und 2002 mehr war als nur ein autonomes Zentrum und libertärer Freiraum. Für die zahlen- und engage­mentstarke linksrevolutionäre Szene Mag­de­burgs rund um den Autonomen Zusam­menschlusz war das Ulrike-Meinhof-Haus eine wichtige Station, eine unverzichtbare Basis für die gesamte alternative Szene, wel­che leider im Zuge der Ermittlungen im Rahmen eines 129a-Verfahrens (1) ebenso wie der Zusammen­schlusz zerschlagen wurde. Die Vorstellung des Autonomen/Liber­tä­ren Zentrums aber lebte weiter. Doch was soll diese – ganz unabhängig von den konkreten Räumlichkeiten – eigentlich sein? Die Leute der neuen Freiraumkampagne drücken es so aus: „Das Libertäre Zentrum soll ein Wohn- und Projekthaus sein, in dem wir freiheitlich und selbstbestimmt le­ben können und in dem es genügend Platz für verschiedene kulturelle und politische Projekte gibt.“ So allgemein, so gut. Doch die Aktivist_innen haben nicht nur solche Allgemeinplätze im Programm, sondern durchaus konkrete Vorstellungen. Sie „brauchen Platz für unkommerzielle Kunst und Musik, Selbsthilfe-Werkstätten, einen Umsonstladen, Café und Vokü, politische Bildung unabhängig von Parteien, unterschiedliche Formen des Zu­sam­menlebens und vieles mehr.“ Und diesen Platz fanden sie in der seit Jahren leerstehenden Poliklinik in der Freien Straße und besetzten sie kurzerhand.

Die Polizei war von Beginn der Besetzung an vor Ort, duldete diese jedoch aufgrund un­geklärter Besitzverhältnisse. Es stellte sich recht schnell heraus, daß die Villa der Mitteldeutschen Sanierungs- und Entsor­gungs­gesellschaft mbH (MDSE) gehört und die wiederum zu 100% dem Land Sachsen-Anhalt. Die MDSE signalisierte Ver­hand­lungsbereitschaft, stellte aber sogleich auch Strafantrag wegen Hausfriedensbruch (aufgund dessen eine Räumung möglich ist). Ein Straßenfest am zweiten Tag lockte noch mehr Unterstützer_innen auf das Gelände, schuf in der kritischen ersten Zeit eine personelle Basis. Die Polizei hielt sich zurück und auch in den folgenden Tagen sollte alles recht positiv ver­laufen. Die Besetzer_innen richte­ten sich ein, nahmen Stromaggregate in Be­trieb und begannen mit ersten Instand­set­zungsmaßnahmen, um die Bewohnbarkeit des Hauses herzustellen bzw. zu gewährleisten.

Nach zwei Wochen wurde der Besetze­r_in­­nengruppe von der MDSE in Ver­hand­­lungen ein Ersatzobjekt angeboten. Als Bedingung für weitere Verhandlungen jedoch wurde ein Verlassen der Gruson-Vil­la innerhalb von sechs Stunden gefordert. Dies war freilich nicht durchführ- oder gar hinnehmbar und auch das gleich oberflächlich besichtigte Ersatzobjekt woll­­­te nicht als Katze im Sack gekauft werden. (2) Nach der Ablehnung einer ge­forderten zweitägi­gen Bedenkzeit zeigte sich die MDSE kom­promisslos und kündigte die Räumung durch die Polizei an. Nichts dergleichen ge­schah jedoch, die grö­ßere Feier zum vierwöchigen Bestehen ging glatt über die Büh­ne und andere Kon­­zert-, Film- und Dis­kussionsveranstal­tungen, wie die zum „Konflikt zwischen An­ti­faschist_innen in Mag­deburg“ (dem die Freiraumkampagne stets neutral ge­gen­­über stand), konnten reibungslos verlaufen. Observation durch den Staatsschutz und kleinere Übergriffe und Belei­di­gungen waren dennoch an der Tagesordnung. Die Lage spitzte sich am 30. Juni plötzlich drastisch zu, die Polizei blockierte das Gelände, sprach Platzverweise aus und griff sogar einzelne Leute körperlich an.

Doch es kam nicht zum befürchteten Show­down nach Erfurter Vorbild. Die verbliebenen Besetzer_innen traten in der Nacht zum 2. Juli, von der Polizei unbemerkt, den Rückzug an. Die Kampagne begründete diese Aufgabe damit, daß „durch den physischen und psychischen Druck […] der Betrieb des Libertären Zen­trums im besetzten Haus […] unmöglich gemacht [wurde].“ Daß die Idee eines Libertären Zentrums allerdings nicht an ein bestimmtes Gebäude gebunden ist werden die Kampagnenleute nicht müde zu be­tonen, sie vertraten dies auch lautstark und bunt am 18. Juli in einer Freiraumdemo durch die Magdeburger Innenstadt. Wie aktuell der Slogan „Nach der Besetzung ist vor der Besetzung“ tatsächlich bei den Elbestädtern ist, beweist die erfreuliche Meldung, die uns kurz vor’m FA!-Druck erreichte: „SKET Poliklinik wie­derbesetzt“. Weiter so!

(bop)

 

(1) siehe auch FA! #27 S.22: „Wie bilde ich eine terroristische Vereinigung?“

(2) Kritik an den und Diskussion um die gescheiterten Verhandlungen: nkotb. blogsport.de/2009/06/08/voll-gegen-die-wand/

Pause beim Studiprotest

Nach 58 Tagen wurde die Besetzung des Neuen Seminargebäudes der Universität Leipzig (siehe FA!# 33) am 12. Juni beendet. Die Gründe sind vielfältig: Die mangelnde Resonanz aus weiten Teilen der Studierendenschaft führte zu dem Gefühl, in eine Sackgasse geraten zu sein, von außen nur noch als geschlossene Gruppe wahrgenommen zu werden, die für Neueinsteiger_innen wenig offen ist. Hinzu kamen interne Widersprüche, unterschiedliche Ansichten zu Aktionsformen und Zielen des Protestes, die die tatsächliche Heterogenität des Bündnisses zwischen Linksradikalen und Linksliberalen, Aktionist_innen und Theoreti­ker_innen widerspiegeln. Zudem setzte sich zunehmend die Ansicht durch, die Aufrechterhaltung der Besetzung würde zu viele Kapazitäten binden, die mensch künftig lieber anderweitig nutzen will.

Ein Neustart soll also raus aus der Sackgasse führen. Dabei sollen sich auch die Organisationsstrukturen ändern, vom Bündnis (mit dem damit einhergehenden Zwang zum Konsens, der die Protestierenden in vieler Hinsicht lähmte) zu einem Netzwerk weitgehend autonomer, aber sich untereinander koordinierender Arbeitsgruppen. Eine davon ist der AK Freiraum, der sich, anknüpfend an die bei der Besetzung des NSG gemachten Erfahrungen, die Schaffung legaler selbstverwalteter Räume an der Uni zum Ziel gesetzt hat. Diese sollen für alternative Bildungsveranstaltungen, Workshops usw. offen stehen. Ein genaueres Konzept wird derzeit erarbeitet.

Interessierte können bei den alle zwei Wochen im Clara-Zetkin-Park stattfindenden Treffen der Leipziger Bildungsstreik-Gruppe vorbeischauen (1), die auch von den ehemaligen Mitwirkenden des Protesttage-Bündnisses als Treffpunkt für Beratungen und Koordination genutzt werden. Aktionen finden der Semesterferien wegen erst einmal nicht statt. Für Ende September ist aber ein Protestcamp auf dem Unigelände in der Jahnallee geplant. Dieses soll den Auftakt bilden für eine weitergehende Mobilisierung und Aktionen zu Beginn des nächsten Semesters. Der Protest wird also hoffentlich weitergehen – Gründe dafür liefert das deutsche wie das gesamteuropäische Bildungssystem nach wie vor genug.

(justus)

(1) Genaue Termine und Ortsangabe findet ihr unter dokumen­tation-bildungsdis­kurs.pbworks.com/Zeitplan-Workshops

Editorial FA! #34

„Pack die Badehose ein, nimm das Feierabend!-lein und dann nichts wie raus zum Cossi…“ Die Sonne lacht und die Redax schwitzt – weniger wegen der Hitze, sondern vielmehr, um den anberaumten Er­schei­nungstermin halten zu können, damit Ihr, liebe Feierabend!-Leser_innen, erfri­schen­­de Lektüre für die warme Jahreszeit habt.

Auf die warmen Tage werden wieder kalte folgen – da ist ein Dach über dem Kopf un­um­gänglich, am Besten ein selbstbestimm­tes: So bemühen sich Menschen in der Arnie26 um ein Hausprojekt (S.10f), in Magde­burg Besetzer_innen um ein Libertäres Zentrum (S.13), die G16 um einen dauerhaften legalen Besitzstatus (S.9) und die Asylbe­wer­ber_innen in Leipzig um die Abwendung der Abschiebung ins Containerlager (S.1/4).

Unter dem Dach des Feierabend! ist auch noch Platz für Schreiberlinge. Gerade jetzt, wo es auch in Halle zwei neue Verkaufsstellen (la carot, VL) gibt, suchen wir Hallenser Redakteure. Den Auftakt einer hoffentlich dauerhaften Halle-Seite macht ein Bericht über den Protest gegen den Thor-Steinar-Laden (S.12).

Diesmal hoffen wir übrigens auf einen super-sonder-mega-scharf-Druck des Heftes, um Euch ein wenig für die letzte Ausgabe zu entschädigen. Sorry, das war so nicht gewollt!

Zu guter Letzt: die Verkaufsstelle des Monats ist die Schatzinsel, ein sympathischer Späti im Leipziger Westen, wo es seit Neuestem auch den Feierabend! gibt.

Eure Feierabend!-Redax

Wirkungsloser High-Tech-Schrott

Ein Jahr sollte die Testphase für die beiden Drohnen dauern, die die sächsische Polizei seit Februar 2008 einsetzt. Diese ferngesteuerten, mit Kameras bestückten Kleinstflugkörper sollten vor allem der Überwachung der Fanmassen bei Fußballspielen und Demonstrationen dienen. Die Drohnen kamen nach Angaben der Landesregierung im Jahr 2008 in 11 Fällen zum Einsatz – nicht nur bei Fußballspielen, sondern auch bei einer Fahndung nach Einbrechern in der Sächsischen Schweiz und in Leipzig bei den Ermittlungen im „Fall Michelle“ (siehe FA! # 30).

Der Nutzen der neuen High-Tech-Geräte ist nach der langen Erpro­bungs­phase zweifelhaft, wie der sächsische Innenminister Albrecht Buttolo in der Ant­wort auf eine Anfrage der Grünen (1) zugab. So hätte die „bisherige Anwendungserprobung (…) nicht zu straf­recht­lich verwertbaren Aufnahmen“ geführt. Die von den Droh­nen gelieferten Bil­der taugen also scheinbar nicht zur Iden­tifizierung einzelner Personen – es wä­re aber auch möglich, dass Buttolo mit die­ser Erklärung nur heikle Datenschutzdebatten vermeiden wollte. Über die von ihm behauptete präventive Wirkung der Überwachung mit Drohnen konnte oder wollte Buttolo ebensowenig Angaben ma­chen wie dazu, in welcher Relation der Nut­zen der Geräte zu den laufenden Kosten von etwa 76.000 Euro im Jahr steht.

Ob­wohl es also bisher scheinbar keine Kontrolle der mit den Drohnen erzielten Erfolge gab, will die Landesregierung das Pi­lotprojekt um ein Jahr verlängern. Eine weitere Drohne wurde angemietet, um so „die Einsatzmöglichkeiten eines Nachfol­ge­modells unter verschiedenen Wit­te­rungs­bedingungen“ testen zu können. Im Klar­text: Die alten Droh­nen haben nichts gebracht, mal sehen, was die neuen so können.

Ein erster Test hat mög­li­cher­weise am 1. Mai in Leip­zig stattgefunden – jedenfalls sollen dort nach Angaben von Teil­nehmer_innen der an diesem Tag stattfindenden arbeitskritischen Demonstration (siehe FA! #33) Drohnen eingesetzt worden sein. Eine diesbezügliche Anfrage der Linken läuft zur Zeit. Wir werden euch auf dem Laufenden halten.

(justus)

 

(1) www.gruene-fraktion-sachsen.de/fileadmin/user_upload/Kleine_Anfragen/4_Drs_15653_-1_1_3_.pdf

(2) www.gruene-fraktion-sachsen.de/fileadmin/user_upload/Kleine_Anfragen/4_Drs_13892_-1_1_3_.pdf

Holocaustleugnerin gescheitert

Eine juristische Schlappe musste Ursula Haverbeck-Wetzel, Leiterin des Collegium Humanum e.V. am 5. August vor dem Bundesverwaltungsgericht einstecken. Sowohl der Collegium Humanum e.V. als auch dessen Teilorganisationen Bauernhilfe e.V. und der Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten waren im Mai 2008 verboten worden. Der Collegium Humanum e.V. betrieb u.a. ein Schulungszentrum in Vlotho (Nordrhein-Westfalen), zudem ist Haverbeck-Wetzel auch die Vorsitzende des Trägervereins der 2007 in Borna eröffneten „Gedächtnisstätte“ (siehe FA!# 27). Haverbeck-Wetzel legte umgehend Widerspruch gegen das Verbot ein.

Ohne Erfolg: Auch die Bemühungen ihres Anwalts, der Frau Wetzels Leugnung des Holocaust aus ihrer anthroposophischen Weltanschauung heraus zu rechtfertigen versuchte, konnte das Gericht nicht überzeugen. Es bestätigte das Verbot in allen Punkten. Und obwohl Verbote neonazistische Ideologien nicht aus der Welt schaffen, wie die zeitgleich zur Verhandlung auf dem Vorplatz des Gerichtsgebäudes demonstrierenden Antifa­schist_in­nen zu Recht anmerkten, muss mensch sich in diesem Fall bestimmt nicht darüber aufregen.

(justus)

Hier zu Hartz 4 – Die Ecke mit Tipps und Tricks für ein entspannt(er)es Leben

Heute: Termin verpasst, was ist zu tun?

Wer kennt das nicht. Mensch war zwei drei Wochen in der Sonne Spaniens, hat verschiedene nette und nicht so nette Kommuneprojekte besucht und ist voll mit libertären Ideen, die es gilt möglichst bald zu verwirklichen. Doch kaum zu Hause angekommen, holt einen die schnöde, graue Realität ein, denn ein Brief der ARGE mit einer Meldeaufforderung wartet bereits im Briefkasten. Alles halb so schlimm, wäre der Termin nicht vor drei Tagen gewesen…

Im Falle eines versäumten Meldetermins droht gemäß § 31 Absatz 2 SGB II die Kürzung der Regelleistung in Höhe von 10% sowie der Wegfall des Zuschlages für die Menschen, die zuvor Arbeitslosengeld I bezogen haben. Die Kürzung gilt normalerweise drei Monate, § 31 Absatz 6 Satz 2 SGB II.Allerdings nur, wenn die Meldeaufforderung eine schriftliche Belehrung über die Rechtsfolgen des Fernbleibens enthält und der Hilfebedürftige keinen Grund für sein Fernbleiben darlegen kann, § 31 Absatz 2 SGB II.

Hit-Tipp: Nur mündlich erteilten Meldeaufforderungen braucht Ihr nicht nachzukommen!

Daraus ergibt sich zum Einen, dass nur telefonisch mit­geteil­te Mel­deaufforderungen ruhigen Gewissens ohne finanzielle Nach­tei­le versäumt werden können. Ansonsten muss ein wichtiger Grund für die Terminversäumnis vom Hilfebedürftigen dargelegt wer­den.

Wichtig! Eine Entschuldigung ist nur bei attestierter Krankheit als Grund für Terminversäumnis sinnvoll!

Der wichtige Grund wird von den Sachbearbeitern der ARGE sehr eng ausgelegt. Die Pflege kranker Eltern in einer anderen Stadt wird zum Beispiel für nicht ausreichend angesehen. Daher ist grundsätzlich von Entschuldigungsversuchen abzuraten! Eine Ausnahme bildet hier nur die eigene Krankheit oder die von den Kindern, welche ärztlich attestiert ist.

Wichtig! Wird im Rahmen der Entschuldigung ein Aufenthalt außerhalb angegeben, droht für die Zeit der Ortsabwesenheit der völlige Entzug der SGB-II-Leistungen.

Die Pflege der kranken Eltern in einer anderen Stadt hat schon so manchen für die Zeit des Aufenthalts in der anderen Stadt um die gesamten SGB-II-Leistungen gebracht.

Hit-Tipp: Erwähnt den versäumen Termin nicht! Ist der Brief mit der Meldeaufforderung nicht angekommen gibt’s auch keine Leistungskürzungen.

Für den Zugang der Meldeaufforderung ist nicht der Hilfeempfänger, sondern die ARGE beweispflichtig. Die Meldeaufforderungen werden aber fast immer mit einfacher Post durch Pin, TNT, Citypost, Deutsche Post etc. versandt, wodurch die ARGE den Zugang beim Hilfeempfänger nicht beweisen kann. Ein solcher Beweis könnte der ARGE nur gelingen, wenn die ARGE Mitarbeiter die Meldeaufforderung selbst vorbeigebracht hätten, etwa bei einem „Vor Orts Termin“ oder die Meldeaufforderung „zugestellt“ wurde. Die Zustellung ist regelmäßig erkennbar an dem Vermerk des Zustellungszeitpunkts der Postzustellerin auf dem Briefumschlag.

Wichtig! Ihr habt die Meldeaufforderung gar nicht erhalten! Sagt nicht, der Brief mit der Meldeaufforderung sei zu spät angekommen.

Denn nur dafür, ob die Meldeaufforderung zugegangen ist, ist die ARGE beweispflichtig, wenn der Hilfebedürftige angibt er habe den Brief erhalten nur zu spät, muss er den Zeitpunkt des Zugangs beweisen. Die Meldeaufforderung gilt ansonsten als drei Tage nach Aufgabe zur Post als dem Hilfebedürftigem zugegangen.

Übrigens haben auch Arbeitslose einen Anspruch auf Urlaub. Ihr müsst ihn vorher beantragen. Einige SachbearbeiterInnen lassen sich für die Bearbeitung solcher Anträge jedoch viel Zeit. Zudem bekommt mensch meist kurz vor und nach dem Urlaub eine Meldeaufforderung. Also immer den Briefkasten im Auge behalten.

Wichtig! Urlaub rechtzeitig beantragen (ca. 2 Monate vorher). Mit Meldeaufforderungen kurz vor und kurz nach dem Urlaub rechnen!

Dr. Flaschenbier

Im Unterholz der Moderne (2)

Ein Beitrag zur Kritik des esoterischen Denkens

Religion und Herrschaft waren historisch schon immer eng verbunden. Die ältesten Staatswesen waren Theokratien. Der Herrscher war zugleich oberster Priester, ein Mittler zwischen den Welten der Menschen und der Götter, oft genug galt er selbst als (halb-)göttliches Wesen. Seine Aufgabe war es, die stets vom Chaos bedrohte kosmische Ordnung im Gleichgewicht zu halten. Die soziale Ordnung wurde also als mikrokosmische Widerspiegelung einer makrokosmischen göttlichen Ordnung gesehen, aus der sich die Legitimation der Herrschaft ableitet. Die Herrschaft erschien gleichsam als im Ursprung der Welt, der ewigen Ordnung der Dinge verankert (1). Das altgriechische Wort „arche“ etwa bedeutet nicht umsonst sowohl „Ursprung“, „Prinzip/Regel“ als auch „Herrschaft“. Dieses etymologische Beispiel ist auch ein Indiz dafür, wie tiefgreifend die eben skizzierte Kosmologie Weltwahrnehmung und -interpretation strukturiert: Herrschaft reproduziert sich, indem sie von den Beherrschten als in der Natur der Dinge liegend akzeptiert wird.

Mit dem Übergang vom Feudalismus zum mo­dernen Kapitalismus und zur parla­men­tarisch-demokratischen Staatsform hat die (christliche) Religion zwar viel von ihrer früheren Bedeutung eingebüßt. Mit der bürgerlichen Revolution ist die Herrschaft aber bekanntlich nicht verschwunden. Mit den inneren Widersprüchen und Konflikten, die jedes Herrschaftssystem notwendig produziert, reproduziert sich auch die Mythologie, bis heute wirkt sie (in säkularisierter Form) fort. Etwas überspitzt ließe sich sagen, dass mittlerweile die Natur die Stelle Gottes als höchste Berufungsinstanz eingenommen hat.

Mythologischer Kreisverkehr

Das heißt nicht, dass man künftig auf den Begriff der Natur verzichten müsste. Die Frage ist eher, von welcher Vorstellung von Natur mitunter die Rede ist. Die Feststellung, dass der Mensch einen Körper hat, also auch ein biologisches Wesen ist und darum z.B. essen muss, um nicht tot umzufallen, ist an sich unproblematisch. Nur ist das in den meisten Fällen eben nicht gemeint, wenn von der „Natur des Menschen“ geredet wird. Vielmehr versteckt sich dahinter oft die Idee einer höheren Macht, die unser soziales Handeln bestimmt. Selbst der Vernunftsbegriff lässt sich als Teil einer Mythologie verwenden. „Vernunft“ bezeichnet in diesem Rahmen dann die Erkenntnis der vermeintlichen göttlichen oder natürlichen Gesetze und die Unterordnung unter dieselben – der Begriff markiert dann genau die Stelle, an der der Denkprozess abgebrochen wurde, eine nicht mehr hinterfragbare Wahrheit behauptet wird. Dagegen gilt es, an den inneren Widersprüchen anzusetzen, die so verdeckt werden sollen, am vernünftigen Denken festzuhalten und die angeblichen Selbstverständlichkeiten kritisch zu hinterfragen.

Denn eben diese Setzung einer starren Norm ist ein wichtiger Bestandteil der gesellschaftlichen Mythologie. Das grundlegende Muster ist simpel: Vom zu erklärenden Phänomen wird eine jenseitige „Ursache“ abgeleitet, und von dem so konstruierten Fixpunkt her dann wie­derum das diesseitige Phänomen interpretiert. Die Welt ist eben so, weil Gott sie so eingerichtet hat; Herrschaft gibt es, weil die Menschen „von Natur aus“ nach Macht streben (und weil bestimmte Menschen von Natur aus minderwertig sind und einfach beherrscht werden müssen). Im Kern lassen sich alle Formen mythologischen Denkens also auf einen simplen Zirkelschluss reduzieren. Statt z.B. auf die „menschliche Natur“ zu verweisen, könnte man auch einfach sagen: „Menschen sind halt so“. In der Realität verstecken sich die Zirkelschlüsse allerdings oft im Kern ausgeklügelter theologischer, philosophischer und sogar wissenschaftlicher Theoriegebäude.

Dabei sind die so konstruierten „ewigen Wahrheiten“ selbst geschichtlich geformt. Das mythologische Weltbild erscheint nur deshalb plausibel, weil der jenseitige Fixpunkt (der göttliche Wille oder die Ordnung der Natur) jeweils eben so konstruiert wird, dass er als „Ursache“ zu den zur Debatte stehenden diesseitigen „Wirkungen“ passt. Da sich aber die Phänomene, die so erklärt und gerechtfertigt werden sollen, historisch verändern, müssen sich auch die „ewigen Wahrheiten“ entsprechend anpassen. Wenn z.B. die Existenz von Dinosauriern eine allgemein anerkannte Tatsache ist, wirkt die naive biblische Schöpfungsgeschichte eben nur noch bedingt überzeugend, der Schöpfungsglauben muss andere Formen annehmen, um die christliche Lehre mit den weltlichen Fakten in Einklang zu bringen.

Obwohl die Mythologien also fortwährend der materiellen Realität angepasst werden müssen, sind sie doch mehr als bloße ideologische „Anhängsel“ derselben. Ideologie und materieller „Unterbau“ stützen sich vielmehr in einem komplexen Rückkopplungsverhältnis gegenseitig. So haben rassistische und sexistische Denkmuster einen großen Anteil daran, den Zugang zu Ressourcen und Machtpositionen zu reglementieren, die Diskriminierung erzeugt eine materielle Realität, die wiederum der Ideologie scheinbare Plausibilität verleiht. Aus dieser wechselseitigen Entsprechung von Ideologie und materieller Realität lässt sich aber auch ein Erkenntnisgewinn ziehen: Eine Analyse der heute vorherrschenden Formen der Mythologie erlaubt auch Rückschlüsse auf die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Konflikte und Widersprüche. Als Anschauungsobjekt soll uns hier die heutige Esoterik dienen.

Archetypischer Nonsens

Dabei erscheint es ratsam, einige Eigenheiten des esoterischen Denkens anhand eines Beispiels zu verdeutlichen. Beobachten wir den Zirkelschluss also einmal „in freier Wildbahn“, in der Archetypenlehre des Freud-Schülers und Tiefenpsycholo­gen Carl Gustav Jung. Jung bietet sich nicht nur deshalb an, weil er ein wichtiger Vordenker und „wissenschaftlicher Gewährsmann“ der heutigen Esoterikszene ist, sondern auch weil er immer noch eine gewisse Reputation als Wissenschaftler hat. Seine Mittlerstellung zwischen Wissenschaft und Esoterik hat auch den Vorteil, dass er im Gegensatz zu anderen Esoterikern nicht nur Behauptungen aufstellt, sondern auch versucht, diese sachlich zu begründen. Es ist aufschlussreich, in welche Widersprüche er sich dabei verwickelt.

Jung will den religiösen Vorstellungen mit Hilfe der Psychologie eine empirische Basis verschaffen und sie zugleich rechtfertigen, indem er sie in der Natur des Menschen, in einem mysteriösen „kollektiven Unterbewussten“ verankert. Basis der Religion sind Jung zufolge die Archetypen, „geistige Formen, deren Vorhan­densein nicht durch persönliche Erfahrung erklärt werden kann und die urtümliche, angeborene und ererbte Formen des menschlichen Geistes darstellen“ (2). Diese symbolischen Formen“ treten u.a. spontan in Träumen auf. Jung verlegt also das „Göttliche“ in die Tiefen der menschlichen Psyche. Damit liefert er u.a. die theo­retische Grundlage für die Vermischung unterschiedlichster religiöser Traditionen, einen Synkretismus, der für die heutige Esoterik typisch ist. Wie die meisten Esoteriker_innen glaubt Jung, eine ewige Wahrheit entdeckt zu haben, die bruchstückhaft in allen Religionen zu finden ist. Das Universum wird als Entäußerung eines göttlichen Geistes interpretiert. Das individuelle Bewusstsein ist ein Teil dieses „Geistes“. Eine reichlich konservative Weltsicht: Jung sieht den Menschen in eine ewige Ordnung der Welt eingebettet, die sein Handeln und Denken bestimmt.

Wenn der „Geist“ im Mittelpunkt der Welt steht, ist es nur logisch, alle Erscheinungen der Welt als bloße Zeichen zu betrachten, die auf diesen „ursprünglichen“ Geist zurückverweisen – als Archetypen eben. Der Wissenschaftler Jung verfällt einem vorwissenschaftlichen Denken, er konstruiert einen symbolischen Kosmos, der sich nach dem Muster der Analogie strukturiert. In dem Vortrag „Das Irrationale gestern und heute“ (3) charakterisiert Umberto Eco die Logik dieses Weltbildes so: „Eine Pflanze wird nicht anhand ihrer morphologischen und funktionalen Eigentümlichkeiten definiert, sondern anhand ihrer Ähnlichkeit (…) mit einem anderen Teil des Kosmos. Ähnelt sie vage einem Teil des menschlichen Körpers, so hat sie Sinn, weil sie auf den Körper verweist. Aber der betreffende Teil des Körpers hat Sinn, weil er auf einen Stern verweist, und dieser hat Sinn, weil er auf eine Tonleiter verweist, und diese wie­de­rum, weil sie auf eine Hierarchie von Engeln verweist, usw. ad infinitum.“

Während Jung in diesen endlosen Kreuz- und Querverweisen eine verborgene Wahrheit zu finden meint, benennt Eco die Konsequenz mit dankenswerter Klarheit: „Jedesmal, wenn man glaubt, ein Geheimnis aufgedeckt zu haben, ist es ein solches nur, wenn es auf ein anderes Geheimnis verweist, und das immer weiter bis zu einem letzten Geheimnis. (…) Das letzte Geheimnis (…) ist, dass alles Geheimnis ist.“ Ein solches Denken „verwandelt die ganze Bühne der Welt zum Sprachphänomen, und zugleich entzieht es der Sprache jede kommunikative Macht.“ Die ewige Wahrheit ist ziemlich nichtssagend, die Querverweise führen nirgends hin.

Jung reduziert die äußere materielle Realität nicht nur zum Hirngespinst: Um die grundlegende Behauptung seiner Theorie plausibel zu machen, muss er die Außenwelt komplett ausblenden. Um behaupten zu können, dass die archetypischen Bilder „nicht durch persönliche Erfahrung erklärt werden“ können, also angeboren sein müssen, muss Jung die Existenz der Gesellschaft ebenso ignorieren wie den Fakt, dass Menschen mitei­nander kommunizieren.

Die viel näherliegende Möglichkeit, dass religiöse Vorstellungen (und Ideen über­haupt) nicht genetisch vererbt, sondern kulturell tradiert werden, will Jung nicht sehen. Kritiker_innen hält er entgegen: „Sie versäumen (…) zu berücksichtigen, dass, wenn die Archetypen (…) vom Bewusstsein erworbene Vorstellungen wären, man sie selbstverständlich begreifen (…) würde, wenn sie in unserem Bewusstsein auftauchen. Ich kann mich sehr wohl aller jener erinnern, die mich, durch ihre eigenen Träume (…) befremdet, zu Rate zogen: Sie tappten hinsichtlich ihrer Bedeutung völlig im Dunkeln“, weil „die Träume Bilder enthielten, die auf nichts ihnen Erinnerliches zurückgeführt werden konnten.“ Kaum zu glauben. Schließ­lich wimmelt es in der schnöden Außenwelt geradezu von Archetypen. Ja, wie Jung selbst ein paar Seiten weiter erklärt, sind diese geradezu „allgegenwärtig“. Das Bild einer Schlange oder eines Baumes kann ebenso einen „Archetyp“ darstellen wie eine Mutter mit Kind – es ist sicher kein Wunder, dass solche Symbole in allen Kulturen (und ab und an auch in Träumen) auftauchen.

Noch absurder wird es, wenn Jung mit diesem theoretischen Instrumentarium politische Zeiterscheinungen angeht. So waren seiner Meinung nach nicht etwa die Nazis für das 3. Reich verantwortlich, sondern vielmehr ein Archetyp: der germanische Gott Wotan. Welche Motive diesen dabei trieben, bleibt leider unklar. Aber das kommt dabei raus, wenn mensch die Realität im Lichte „ewiger Wahrheiten“ interpretiert. Von einer wirklichen Analyse z.B. der Bedingungen, unter denen nationalistische oder antisemitische Ideologien entstehen und sich ausbreiten, ist man damit weit entfernt. Dass Jung selbst gelegentlich zu rassistischen und antisemitischen Ausfällen neigte, ist an­­ge­sichts der seiner The­orie zugrundeliegenden biologis­tischen Kurzschlüsse nicht verwunderlich (4).

Esoterische Nabelschau

Trotzdem hat Jungs Denken in der heutigen Esoterik Schule gemacht. Schauen wir uns die dabei wirkenden Faktoren mal etwas genauer an, die Widersprüche und Konflikte, auf die das esoterische Denken eine Antwort liefern soll. Denn trotz ihrer Berufung auf alte Traditionen ist die Esoterik ein sehr modernes Phänomen – erst unter den Bedingungen einer weitgehenden Säkularisierung, der Auflösung traditioneller Milieus und einer damit einhergehenden Pluralisierung der Religiosität wird die Idee einer in allen Religionen verborgenen Wahrheit überhaupt denkbar. Dass die Esoterik ein spezifisch modernes Phänomen ist, ist aber noch zu ungenau. Präziser gesagt ist die Esoterik die Religiosität der postfordistischen Marktwirtschaft, sie hat ihre besondere Form erst nach dem 2. Weltkrieg annehmen können.

Auch wenn sie ihre weltanschaulichen Vorläufer im Okkultismus des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts hat, so beruht sie doch auf einer viel breiteren so­zia­len Basis als dieser, der weitgehend eine Sache des gehobenen Bürgertums und des Adels war. (Die Angehörigen anderer Schichten waren damals viel zu sehr da­mit beschäftigt, ihr Auskommen zu sichern, um sich diesen Luxus der Kom­mu­­­­nikation mit „höheren Mächten“ leisten zu können.) Erst die sozialstaatlich gestützte Ausweitung des Kon­sum­sektors in der fordistischen Wirtschaft der Nachkriegsjahre, die dadurch wachsende Rolle der Freizeit als Ort der Identitätsfindung und die damit einhergehende wachsende Bedeutung postmaterialistischer“ Einstellungen schuf die Bedingungen für eine weitere Ausbreitung des esoterischen Den­kens. Die­se Veränderung ihrer sozialen Basis hatte auch Aus­wir­kungen auf die theoretische und praktische Ausprägung der heutigen Esoterik.

Was die Esoterik von älteren Formen der Religiosität unterscheidet, ist die Bedeutung, die sie dem einzelnen Individuum und dem „Selbst“ zuweist. Galt im Christentum noch das Credo „Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil“, war dort also die Mitgliedschaft im Verein der Gläubigen entscheidend, ist die Suche nach dem Seelenheil heute zur Privatsache geworden. Die Gruppenzugehörigkeit verliert an Bedeutung, die Religiosität wird zunehmend „Ich-zentriert“. Damit entsteht eine „patchwork-Religion“, die je nach Belieben zusammengeschustert wird.

Darin teilt sich keine ewige Wahrheit mit, sondern eher die subjektive Befindlichkeit des modernen Individuums, des den Zufällen des Marktes ausgesetzten Konkur­renz­subjekts. Die Tendenz zur Individualisierung war dem Prozess der kapitalistischen Modernisierung von Anfang an zu eigen. Mehr noch ist das „Individuum“ geradezu eine Erfindung der Moderne. Als seine erste theoretische Darstellung lässt sich Descartes´ reines Vernunftssubjekt sehen, das nach dem Motto „Ich denke, also bin ich“ nur die eigene Existenz zweifelsfrei gelten lässt. Die Leibniz´sche „Monade“ gehört ebenso in diese philosophische Traditionslinie wie Adam Smiths Vorstellung einer Gesellschaft von freien Marktsubjekten, die in Konkurrenz miteinander und in der Verfolgung ihres egoistischen Eigeninteresses bestmöglich das Allgemeinwohl fördern. Marx und Engels haben bei Gelegenheit sehr richtig auf den illusorischen Charakter der liberalen Theorie hingewiesen: „Das egoistische Individuum der bürgerlichen Gesellschaft mag sich in seiner (…) Vorstellung (…) zum Atom aufblähen, d.h. zu einem beziehungslosen, selbstgenügsamen, bedürfnislosen (…) Wesen. Die unselige sinnliche Wirklichkeit kümmert sich nicht um seine Einbildung“, gerade die Loslösung des Individuums aus der traditionellen Großfamilie, die Befreiung aus der Leibeigenschaft und der feudalen Ständeordnung schafft die Bedingungen für den Siegeszug des Kapitalismus, der das Individuum nun dem unpersönlichen Zwang des Marktes unterwirft (5).

Möge die Macht mit euch sein

Die Angebote der Esoterik entsprechen perfekt dem Bedürfnis, trotz aller aus dieser Unterwerfung unter die Marktgesetze fol­­gender Unsicherheiten an der Illusion fest­­zuhalten, man hätte alles unter Kontrolle. Dass diese Angebote auf eine entsprechende Nachfrage treffen, ist nicht zu­letzt eine Folge des vorläufigen Schei­terns des Versuches, durch solidarisches Handeln reale Veränderungen zu erreichen, ins­besondere also der gescheiterten Revolte von 1968. Ebenso fällt der große Esoterik-Boom, der Ende der 70er Jahre einsetzte, wohl nicht ganz zufällig zeitlich mit dem Übergang zum Postfordismus zusammen. Mit dem damals einsetzenden Nie­der­gang der Schwerindustrie (dank der billigeren Konkurrenz aus Fernost) verschwindet auch der industrielle „Massenarbeiter“. Die Dynamik des Marktes untergräbt auch die Fundamente, auf die sie sich ursprünglich stützte. Gegenüber der Schwerindustrie gewinnen andere Bereiche, Mikroelektronik und Dienstleistungen an Bedeutung. Das hat auch Auswirkungen auf andere Lebensbereiche. So verliert die bürgerliche Kleinfamilie als normatives Modell zunehmend an Bedeutung. Aus der wachsenden Pluralisierung und Segmentierung des Arbeitsmarktes und der privaten Lebenswelten folgt ein Verlust tradierter Orientierungen, den damit stetig anwachsenden Entschei­dungs­möglichkeiten und -zwängen entspricht ein ebensolches Wachstum realer und vermeintlicher Lebensrisiken.

Die Esoterik ist ein Mittel, diese Risiken vermeintlich handhabbar zu machen, indem der realen Ohnmacht eine imaginäre Allmacht entgegengestellt wird. Das entsprechende Denkmuster lässt sich etwa so zusammenfassen: Die menschliche Seele ist Teil einer geistigen „kosmischen Energie“. Da er so einen direkten Draht zum „Göttlichen“ hat, kann der Mensch dessen Wesen, die Regeln dieser ewigen Ordnung des Kosmos direkt erfassen – nicht mittels des Verstandes, sondern durch intuitive unmittelbare Erkenntnis. Indem er sich dieser Ordnung unterwirft, wird er selbst der göttlichen Macht teilhaftig, die Vereinzelung ist aufgehoben, die Kontrolle über das eigene Schicksal wiederhergestellt.

Diese Denkfigur lässt sich in unzähligen Vari­anten wiederfinden. Während die Sata­nist_innen der Church Of Satan in sozialdarwinistischer Manier die Regeln der kapitalistischen Ökonomie verinnerlicht haben und sich als auserwählte Elite im „Kampf aller gegen alle“ imaginieren, leugnen andere schlicht die äußere Realität. Eine populäre Variante dieser Strategie ist das Positive Denken, wie es von Dale Carnegie und ähnlichen Au­tor_in­nen propagiert wird. Es geht dabei nicht um simplen Optimismus. Auch hier steht im Hin­tergrund die Idee einer jenseitigen Macht, die durch die Kraft der Ge­­danken beeinflusst wird: „Alles wird gut, wenn du nur fest genug dran glaubst.“ Ora­keltechniken wie Tarot, Pendeln, Astrologie oder das fernöstliche I Ging versprechen Sicherheit, indem sie scheinbar die Folgen möglicher Entscheidungen voraus­sagen, während magische Praktiken die Ergebnisse selbst zu beeinflussen versprechen. Man könnte darin auch ein Symp­tom enormer Orien­tierungslosigkeit sehen.

In dem Maße, in dem esoterische Praktiken und Denkmuster sich verbreiten, ist auch eine Abkopplung von einem entsprechenden Milieu zu beobachten. Die Praktiken individiualisieren sich, Esoterik entwickelt sich mehr und mehr zur „Klien­tenreligion“. Entsprechend der bewährten Verfahrensweise der kapitalistischen Ökonomie, auch aus der Beseitigung der von ihr selbst angerichteten Schäden noch Profit zu schlagen, boomen die psychologischen Hilfsangebote. Dabei geht es oft weniger um die Linderung konkreter psychischer Leiden, vielmehr wird (ähnlich wie bei Jung) die Psychologie selbst zum Religionsersatz, indem sie z.B. eine „ganzheitliche“, umfassende Entwicklung der Persönlichkeit und ähnliche Hilfestellun­gen bei der Sinnsuche verspricht.

Wie anhand der Jungschen Theorie schon gezeigt (Wotan und die Nazis!), führt die Ignoranz des esoterische Denkens gegenüber gesellschaftlichen Strukturen und den sich aus diesen ergebenden Sachzwängen mit schöner Logik zur Verschwö­rungstheorie. Die Idee einer im Hintergrund wirkenden bösen Macht kann dabei in relativ „rationalistischen“ Varianten (das Böse als eine Gruppe von Menschen, Freimaurer, Illuminaten, Juden usw.) auftreten, aber auch geradezu kosmische Aus­­maße annehmen. Die Über­­gänge sind fließend. So landet der Autor William C. Gray am Ende eines Buches über ma­gische Prak­tiken (6) bei der Vi­sion einer kos­mischen Schlacht, in der die Mächte der Ordnung mit den Mächten des Chaos kämpfen. Das Wirken der letzteren findet Gray in allerlei irdischen Erscheinungen (von der modernen Kunst bis zur Atombombe) wieder. Der bei Neonazis und Esoterikfans beliebte Jan Udo Holey (siehe auch hier in diesem Heft) dagegen weitet im Laufe seines dreibändigen Machwerks „Ge­heim­ge­sell­schaf­ten“ die Verschwörung der anfangs noch recht menschlich anmutenden „Illuminaten“ (die Holey recht unverhohlen mit den Juden identifiziert) in immer gigantischere Dimensionen aus.

Auch die Idee einer im Geheimen wirkenden feindlichen Macht dient in scheinbar paradoxer Weise der Bewältigung von Ängsten. Das „allmächtige Selbst“ nimmt hier die Gestalt des „Eingeweihten“ an, der die Lügengespinste der Weltverschwörer durchschaut. Die Verschwörungstheorie schafft Orientierung, indem sie eine Ursache für alle Probleme annimmt und die Welt sauber in ein dualistisches „Gut-böse“-Schema sortiert. Sie liefert so eine irrationale Antwort auf sehr reale Ängste. Wirkliche Kritik z.B. der Marktgesetze dagegen würde ja gerade die eigene „Markttauglichkeit“ gefährden. Die Beschäftigung mit der Herkunft bestimmter Ängste scheitert oft daran, dass diese durch das Infragestellen der gesellschaftlichen „Normalität“ noch verstärkt werden. Die Angst davor, von der Gesellschaft als „überflüssig“ aussortiert zu werden, treibt zur Konformität, wird handhabbar gemacht, indem man sich zumindest symbolisch der eigenen Zugehörigkeit versichert. Durch das Konstrukt einer „fremden“, von außen kommenden Macht lassen sich die negativen Folgen der kapitalistischen Ökonomie scheinbar erklären, ohne sich in Opposition zu den realen Verhältnissen zu stellen (7).

Gerade in ihrer inhaltlichen Beliebigkeit, ihrer scheinbaren Abkoppelung von jeglicher äußeren Realität ist die Esoterik also ein sehr sensibler Seismograph sozialer Widersprüche. Dass dabei auch rassistische und antisemitische Denkmuster oder antiquierte Geschlech­ter­rollen reproduziert werden, ist nicht verwunderlich. In der „Offenbarung“, der „Intuition“ als vermeintlich unmittelbarer Form der Erkenntnis tauchen die unhinterfragt übernommenen gesellschaftlichen „Selbstverständlichkeiten“ wieder auf. Ganz intuitiv kann man so z.B. zu der furchtbar tiefgreifenden Erkenntnis kommen, das „Schwule“ eben doch irgendwie abartig oder Frauen „von Natur aus“ anders als Männer seien. Dass sie ein Teil dieser Gesellschaft sind, ist den Esoteriker_innen nicht vorzuwerfen – wohl aber, dass sie sich mit dem freiwilligen Verzicht auf den Verstand als Werkzeug kritischen Denkens dümmer machen, als sie sein müssten. Illusionen mögen vielleicht entlastend wirken, helfen tun sie sicher nicht, wenn es darum geht, reale Probleme zu lösen.

(justus)

 

(1) siehe Norman Cohn, „Die Erwartung der Endzeit – Vom Ursprung der Apokalypse“, Insel Verlag, Frankfurt 1997.

(2) alle Zitate soweit nicht anders angezeigt aus C.G. Jung, „Symbole und Traumdeutung“, in „Traum und Traumdeutung“, Deutscher Taschenbuchverlag 2001, Seite 50 -59, Hervorhebungen von mir.

(3) zu finden in Umberto Eco, „Im Labyrinth der Vernunft“, Reclam Leipzig 1999, S. 376-390.

(4) siehe Micha Brumlik, „C.G. Jung zur Einführung“, Junius Verlag 1993, S. 44 bzw. 126.

(5) Karl Marx/Friedrich Engels, „Die Heilige Familie – Kritik der kritischen Kritik“, in MEW Bd. 2, Dietz Verlag Berlin, 1976. Siehe dazu auch Gabriel Kuhn, „Jenseits von Individuum und Staat – Individualität und autonome Politik“, Unrast 2007.

(6) William C. Gray, „Magie. Das Praxisbuch der magischen Rituale“, Goldmann Verlag, München 1994.

(7) siehe z.B. Gugenberger/Schweidlenka/Petri, „Weltverschwörungstheorien. Die neue Gefahr von rechts“, Deuticke Verlag Wien/München 1998.