Archiv der Kategorie: Feierabend! #02

Die Bewegung der Piqueteros – Blockierer in Argentinien

Einige glauben in den „Piqueteros“ das "neues historisches Subjekt" oder die "neue Avantgarde" zu sehen; andere, in Unkenntnis der Geschichte der Kämpfe und dem Prozess ihrer Entstehung, der seit etlichen Jahren eng mit den Kämpfen des Landes verbunden ist, behaupten, dass das Phänomen der Piqueteros isoliert und völlig spontan sei.

Aus unserer Sicht (der zweier ehemaliger Studenten der Universität Buenos Aires, die seit einigen Monaten in Leipzig leben) hat es die Bewegung der Piqueteros geschafft, eine unbestreitbar führende Rolle in der politischen Szene Argentiniens zu erobern. Trotzdem ist sie, vor allem in Anbetracht der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse des heutigen Argentinien weit davon entfernt, eine Bewegung zu sein, die die Kapazität hätte, einen revolutionären Wechsel hervorzurufen.

Was ist ein “Piquetero“?

In einem unablässigen Kampf kämpfen sie (in der Mehrzahl Arme aus den Elendsvierteln) ums Überleben und für ihre Rechte, bei der Arbeit, im Bildungsbereich, im Gesundheitswesen, ihrer Lebensweise-, die Arbeitslosen in Argentinien. Sie wandelten sich von „Nichtsen“ zu beachteten sozialen Akteuren, die täglich um einen Platz in einer Gesellschaft, die sie ausstößt streiten.

Die "Piquetes" (Blockaden) – abgesperrte öffentliche Wege, Straßen oder Brücken – sind das elementare Kampfmittel der Piqueteros, dadurch werden sie zu Piqueteros. Unter dieser Bezeichnung finden sich diejenigen, in einem Prozess der Teilnahme, Organisierung und Diskussionen, die in der Störung des Verkehrs eine Form gefunden haben, die ihnen Gehör verschafft und es ihnen ermöglicht, das Produktionssystem anzugreifen und somit in ein neues Verhältnis zur Regierung zu treten. Die Piqueteros etablierten sich in den sozial-politischen Szene Argentiniens kraftvoll als ein neuer sozialpolitischer Akteur.

Das allgemeine Problem in diesem Land – sagt der Soziologe Juan Villareal von der Universität Buenos Aires, – ist, dass die Piqueteros viel mehr machen, als nur das Fehlen von Arbeitsplätzen zu beklagen. Das Bild vom Piqueteros ist eng mit dem verzweifelten Aufschrei, der Forderung nach all jenen Rechten, für die der Staat keine Verantwortung übernimmt verbunden. Es ist jedoch logisch, dass er sie nicht übernimmt, denn er verabschiedete sich davon, die Menschen als „Bürger“ zu betrachten, statt dessen gibt es nun nur noch „Konsumenten“.

Es ist bekannt, das an den letzten Blockaden im Großraum Buenos Aires, wo in der Mehrzahl Arme leben, sich nicht nur Arbeitslose beteiligten, ebenso Mütter, die ihre Kinder nicht mehr zu den öffentlichen Küchen schicken können, da diese geschlossen wurden, Greise, die keine medizinische Hilfe erhalten, Kinder, die von den Schulen aufgrund von Mangel an dem einfachsten, wie Tafeln und Sitzbänken, bis hin zu Lehrern, nicht mehr beherbergt werden können. Sie alle versammeln sich an den Barrikaden und unterstützen die Piqueteros. "Es ist eine neue Art ein imaginiertes Kollektiv zu kreieren. Alle sind Teil eines Ganzen, ihre Bedürfnisse und ihr gemeinsames Agieren, vereint sie bei der Straßenblockade. Dort wo es eine Blockade gibt, gibt es sie wegen des Versagen des Staates", fasst Villareal zusammen.

Die Entstehung der Piqueteros-Bewegung

Die ersten, die begannen aufzubegehren, waren die Rentner, die gegen die Willkür, mit der der Staat ihre Bezüge kürzte protestierten. 1993 begannen sie sich jeden Mittwoch vor dem Nationalkongress zu versammeln und blockierten dabei die Zufahrtsstraßen. Angeführt von Norma Plá, kamen etliche Greise, unter denen einige über 70 sind, aus dem Großraum Buenos Aires in die Hauptstadt um zu demonstrieren und der Abgeordneten die Stirn zu bieten, die für die Kürzungen ihrer Rente gestimmt hatten und erläuterten ihre Motive in einfallsreichen öffentlichen Aushängen.

Während eben dieser Jahre nahmen die Probleme der Arbeitslosigkeit zu, da das oft einzige und meist staatliche Unternehmen der Stadt, durch den Verkauf der Betriebe geschlossen wurde. Der erste Zusammenstoß ereignete sich in Cutral Có und Plaza Huincul, in der Provinz von Neuquén, in Patagonien, am Rand der Gebirgskette der Anden. Die Privatisierung des staatlichen Unternehmen Yacimientos Petrolíferos Fiscales (ypf ) durch irreguläre parlamentarische Praktiken, eilig durchgeführt im Wind des Neoliberalismus, welcher mit der Politik des Präsidenten Menem blies, führte dazu, dass die spanische Firma Repsol entschied, die alte argentinische Firmen für unproduktiv zu erklären und damit zahlreiche Arbeitsplätze zu streichen.

Das Fehlen von Arbeitsplätzen ließ den Konsum schrumpfen, die elementarsten wirtschaftlichen Kreisläufe, die zum Überleben nötig sind, brachen zusammen und verursachten interne Migrationen. Die Schließung des Eisenbahnnetzes, angeblich aufgrund von Rentabilitätsproblemen isolierte die Gemeinschaften und verschlimmerten die Umstände weiter. Die Hausfrauen, die mit ansahen wie ihre Männer ihre Arbeit verloren, ihre Kinder nicht mehr zur Schule gehen konnten und die ganze Familie ohne medizinische Versorgung dastand, ergriffen die Initiative. Die Straßen von Cutral Có und Plaza Huincal wurden von den Einwohnern ganzer Städte, die ihre Existenz in Gefahr sahen gesperrt. Sie verlangten Arbeitsplätze oder Alternativen, die es ihnen erlauben würden, in ihrer Stadt oder auf ihrem Land zu bleiben. Der mehr als ein Jahr dauernde Kampf war gekennzeichnet durch gebrochene Versprechen und der Verweigerung der Verantwortlichkeit seitens der nationalen und provinziellen Regierungen. Ähnliches geschah in der nördlichen Provinz von Salta, in den an Öl reichen Bezirken von San Martin, Tartagal und General Mosconi, dort wurden die privatisierten Ölunternehmen von dem spanischen Konzern Repsiol als unrentabel erklärt. Die Massenentlassungen verwandelten die Dörfer in Geisterstädte.

Sofort wurden Blockaden organisiert um gegen das Fehlen von politischen Alternativen zu protestieren und die Regierung präsentierte einige Jahre später den sogenannten "Arbeitsplan", der einen massiven und rapiden Abbau der Arbeitslosigkeit simulierte. Dieser Arbeitsplan enthielt für einige die einmalige Möglichkeit an einer Beschäftigungsmaßnahme, die drei Monate dauert, teilzunehmen und ein Einkommen von 160 Pesos monatlich (weniger als 45 $) zu verdienen.

Schließlich begannen die großen Blockaden unweit der Hauptstadt, besonders in dem Gebiet von "La Matanza". Dort trafen sich zu jeder Demonstration mehr als 10.000 Menschen, die ihr prinzipielles Recht, die das kapitalistische System nicht garantieren konnte einforderten: das tagtägliche Überleben.

Heutzutage gibt es Blockaden in den meisten Teilen Argentiniens, wobei die Hauptstraßen, Nationalstraßen und den Zugang zur Hauptstadt gesperrt werden. Bei den ersten Aktionen war die grundlegende Forderung der "Streikposten" (Piqueteros) die Umsetzung der sozialen Pläne. Doch mit jeder neuen Eroberung der Straße wuchs die Anzahl der Beteiligten. Dies erlaubte es, die Strukturen der Organisierung zu stärken, wobei in der einen oder anderen Art und Weise, ein Teil der staatlichen Beihilfe aus den Beschäftigungsmaßnahmen an die Organisierung der Piqueteros abgetreten werden muß. Heute stellen die Piqueteros eine Vielzahl von politischeren Forderungen. In der Bewegung der Piqueteros finden sich verschiedene Strömungen, von eher radikalen Positionen wie den Trotzkisten, Marxisten-Leninisten, bis zu den gemäßigteren wie den großen Gewerkschaften CTA und CCC. Das zeigt uns, dass es eine scharfe Trennung im Herzen der Bewegung der Piqueteros gibt: die, die um einen Platz im System kämpfen (um einen Platz in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bitten und um verbesserte soziale Bedingungen) und denen, die für einen fundamentalen Wandel der realen sozialen Existenzbedingungen eintreten.

Im Verlauf der Entwicklungen in Argentinien, als es während des Monats Dezember 2001 in den Straßen zu massiven und generellen Protesten kam, in deren Zuge Präsident Fernando de la Rúa und sein Wirtschaftsminister Domingo Cavallo abtreten mussten, spielten die Piqueteros noch keine bedeutende Rolle. Der entscheidende Faktor bei der Amtsenthebung der Regierung war die Mittelklasse, die mit ihren Protesten in Form von „cacerolazos“ (sogenannte Kochtopfdemonstration) und Pfeifkonzerten die Strassen überschwemmten, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Spontan erhoben sich tausende von empörten Menschen um gegen die Konfiszierung ihrer Vermögen, gegen die steigende Arbeitslosigkeit und die Zunahme der Gewalt in den Städten zu protestieren. Sie verstopften die Verkehrs-Nervenbahnen von Buenos Aires bis in die tiefe Nacht und trafen dann auf dem Plaza de Mayo zusammen um gemeinsam von der Regierung eine Erwiderung zu erzwingen. Die massiven Proteste und die folgende Mobilisation auf dem zentralen Platz, vor dem Regierungsgebäude wurden brutal niedergeschlagen, es gab 48 Tote in ganz Argentinien zu beklagen. Diese Unruhen waren ausschlaggebend für den Sturz der Regierung.

Verantwortlich für den Ausbruch der Revolte im Dezember war also die Mittelklasse und nicht die Bewegung der Piqueteros. Die Ereignisse vom Dezember offenbarten, wie weit die Bewegung der Piqueteros noch davon entfernt ist, ein großes historisches Subjekt zu sein, das die Kapazität hat, einen fundamentalen revolutionären Wandel in Argentinien hervorzurufen.

Juan P. M. & Diego. S. S.

International

Zapatistas ermordet und vertrieben

Dramatische Verschlechterung der Situation in Mexiko

Die Gewalt gegen die zivilen Unterstützerbasen der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee EZLN hat im Juli und August 2002 einen neuen Höhepunkt erreicht. In und um die Region „Montes Azules“ (Bundesstaat Chiapas), die für Regierung und Konzerne wegen ihrer Bodenschätze und Biodiversität äußerst attraktiv ist, ermordeten rechte Paramilitärs mindestens vier EZLN-Unterstützer, verletzten Dutzende und vertrieben Hunderte. Diese Vorfälle stellen endgültig klar, dass vom neuen Präsidenten Fox und vom Gouverneur von Chiapas, Pablo Salazar, kein Schlusstrich unter die Gewalt gezogen wird und die Straflosigkeit weiter anhält. Während Fox weltweit umherreist, um Investoren für sein Modernisierungsvorhaben „Plan Puebla Panama“ anzuwerben, leisten Polizei, Militär und bewaffnete Banden die Terror- und Vertreibungsarbeit gegenüber den Hunderttausenden Zapatistas, die sich vehement gegen jenen kapitalistischen Plan aussprechen und auf ihren Ländereien weiterleben wollen. 1994 hatte sich die EZLN erhoben, um für eine Landreform, Basisdemokratie, indigene Rechte und eine Abkehr von der neoliberalen Wirtschaftspolitik zu kämpfen. Über 50 Organisationen und zahlreiche Einzelpersonen aus der BRD, Österreich und der Schweiz protestierten mit einer Resolution an die mexikanische Regierung gegen die Gewalt im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas. Die Unterzeichner der Resolution solidarisieren sich mit den Zielen der Zapatistas. Auch in vielen anderen Ländern wurde demonstriert.

Oberster Gerichtshof legitimiert skandalöses „Indígena-Gesetz“

Einen herben Rückschlag für die Zapatistas, die Indígena-Bewegung und die linke Opposition bedeutete die am 13. September 2002 geäußerte Weigerung des Obersten Gerichtshofes von Mexiko, die 300 Klagen gegen das umstrittene „Indígena- Gesetz“ zu berücksichtigen.

Rückblick: 1996 hatten Regierung und EZLN ein erstes Teilabkommen über indigene Rechte und Kultur unterzeichnet (Abkommen von San Andrés), das indigene Selbstverwaltung und Bestimmung über die Ländereien garantierte. Die Regierung setzte es nicht um. Auch unter dem neuen Präsident Fox wurde es nicht umgesetzt, sondern nur extrem „verwässert“ verabschiedet, so dass Gemeinden jetzt nur noch „von öffentlichem Interesse“ sind und ihre Rechte nicht kollektiv einklagen können (vgl. GWR 260 – Sommer 2001). Die 300 Klagen waren die letzte Hoffnung, auf friedlichem Wege diese Konflikte zu lösen. Sämtliche progressiven Kräfte Mexikos kritisierten die Entscheidung des Obersten Gerichts scharf und bezeichneten sie als „Tragödie“ oder „Katastrophe“. In Chiapas und Mexiko gab es bereits erste – teils heftige – Proteste, so dass die Situation äußerst gespannt ist.

Gruppe B.A.S.T.A.

aus: graswurzelrevolution 272 – Okt. 2002

International

Die Großstadtindianer (Folge 1)

Eine Heimat, ein Springer und ein paar Gläser I

„Ist das das Buch aus der Bibliothek?“ Kalle war hereingekommen und hatte sich das kleine, schwarze Büchlein vom Tisch geangelt. „Ja, steht aber nicht viel drin, nur die ersten paar Seiten sind bedruckt.“, ich verdrehte etwas die Augen, „Ziemlich mystisch.“. Kalle blätterte nachdenklich durch die rotschimmernden Seiten: „Merkwürdig!?“ „Ja, der Autor wartete wohl auf irgendwelche Helden, die alles Böse für immer vernichten würden.“ „Hmm.“ „Vielleicht wollte er ja ihre Taten aufschreiben, und die Helden sind nicht gekommen.“, ich lächelte Kalle etwas ungläubig zu, „Komische Vorstellungen hatten die damals – ach, wenn das alles so einfach wäre.“ Er brummte wenig überzeugt und vertiefte sich in die wenigen Zeilen.

Ich ließ ihn lesen, ging zum hinteren Fenster und sah hinaus. Von hier konnte man die Ausmaße unseres kleinen Fleckchens Erde nur erahnen. Der Blick fiel geradewegs auf die langsam vor sich hin bröckelnden Ruinen des zusammengesackten Fabrikgebäudes von Gegenüber. Nur die Backsteine erinnerten noch an den einstigen Reichtum. Davor hatten wir mit viel Mühe einen winzigen Acker aufgeschüttet. Es reichte zumindest für das Notwendigste – Kartoffeln, Mohrrüben, ein paar hochgeschoßene Bohnenranken, allerei Gewürze und einiges mehr. Die Vielfalt ließ den Boden gesund bleiben und der eigene Schweiß sorgte für den doppelten Genuß. Wenn man die Nase an dem Fenster nach links plattdrückte, sah man noch geradeso die Verschläge fürs Holz, das Werkzeug und Anderes. Rechts blies der Wind kraftlos in die Wäsche. Die Sonne lachte. Zwischen den Bohnen tauchte kurz ein rot-schwarzer Haarwuschel auf. Mir fiel ein, daß sich Moni ja heute um die Pflanzen kümmern wollte. Ich spähte nach unserem Gartenengel, aber sie war schon wieder zwischen den Pflanzen verschwunden.

Kalle räusperte sich in meinem Rücken und ich drehte mich zurück zu ihm. Er hielt das Buch mit einer aufgeschlagenen Seite über eine der Kerzen. Mir fiel es schwer, nicht lauthals loszulachen. Mein Glucksen schien ihn ein wenig zu ärgern. „Man kann ja nie wissen, vielleicht hätte sich irgendein Hinweis versteckt, Wachsstifte waren einmal sehr beliebt!“, rechtfertigte er sich vorwurfsvoll. „Du bist aber auch immer auf Schatzsuche“, ich nahm ihm das Buch aus der Hand, „Das wird mein neues Notizbuch.“ Kalle starrte mich kurz an, aber dann gefiel ihm plötzlich die Idee. „Genau Finn, du wirst unser Chronist. Die Schreiberei lag dir ja schon immer nah. Wir reißen die beschriebenen Seiten einfach raus und schreiben unsere eigenen Taten hinein. Unsere Geschichte …“ Seine Augen blitzten auf und glitten über die sieben Weltmeere seiner Phantasie. „Das wird aber dann keine Piratengeschichte.“ Ich versuchte seine aufkeimende Euphorie ein wenig zu bremsen, weil ich mir über die Idee selbst noch nicht ganz im Klaren war, aber Kalle sah schon die Lagerfeuer vor sich, an denen unsere Taten erzählt würden: „Naja, ein kleinwenig wie Piraten sind wir schon. Los, Finn, die Idee ist gut. Schlag ein!“ Er streckte mir die Hand entgegen. „Ich probier mal ein wenig herum, aber versprochen ist nichts, ok.“ Kalle wollte gerade zu einer seiner fünfminütigen Predigten ansetzen, über die Notwendigkeiten, die Dinge beim Schopfe zu packen, Ideen immer sofort in die Tat umzusetzen, den Zweifel zu überwinden … als Boris in eiligem Schritt durch die Tür trat. „Kalle? Finn? Es ist soweit.“ Sein Atem war noch auf dem Weg zu uns. „Der Buggemüller ist losgefahren – das Tuch – das Tuch hängt am Wagen …“ Er verschnaufte kurz. Wenn Buggemüller das Zeichen gegeben hatte, dann blieb uns noch gut eine Stunde, dachte ich, er würde warten. Sein Ehrgeiz war unersättlich. Ich sah zu Kalle. „Du bist unser Mann für die Springerzange.“ Er grinste. „Kein Problem. Den Buggemüller steck‘ ich noch im Halbschlaf weg.“ „Na dann los, wir nehmen den Wagen, die Kiepen und vielleicht noch ein zwei Leute und dann holen wir uns die Gläser!!“ Über unsere Gesichter huschte ein Hauch von Vorfreude und wir stoben in drei Richtungen auseinander, um alles vorzubereiten.

(Fortsetzung folgt.)

clov

…eine Geschichte

Leipzig: am Wahlsonntag eine „Demokratische Sperrzone“

Dass "wehrhafte Demokratie" sich auch gegen überzeugte "Basisdemokraten" richten kann, davon mußten sich einige Menschen am 22.9. überzeugen. Doch ein riesiges Polizeiaufgebot und eine "demokratische Sperrzone" in der Innenstadt, die die Bürger vor anderen Meinungen als der eigenen schützen sollte, konnten dennoch kreative herrschaftskritische Aktionen nicht ganz verhindern…

Eine erste Aktion begann am Vormittag. Ein junger Mensch mit einem selbst gebastelten Schild, auf dem gut lesbar stand: "Ich habe heute meine Stimme abgegeben." und der sich den Mund mit einem Kreuz aus schwarzem Klebeband "symbolisch" zugeklebt hatte, wandelte am Vormittag und in den Abendstunden durch die Straßen.

Eine weitere Aktion, bestand darin, öffentlich und kollektiv eine Aussage zur Wahl zu treffen. Fünf Studierende trugen Pappschilder, die mit je einem gut sichtbaren Wahlkreuz versehen waren. Passend dazu hatten auch diese fünf den Mund mit Klebeband zugeklebt, um zu verdeutlichen, dass die Wahl nicht die zwischen SPD und CDU ist, sondern die zwischen realer Mitbestimmung und dem Repräsentativsystem, welches Mitbestimmung für weitere vier Jahre verhindert. Zur Abrundung des Erscheinungsbildes, waren alle Beteiligten durch eine Leine miteinander verbunden, die in eine Wahlurne in Form eines Pappkartons endete und von der personalisierten "real existierenden Demokratie" getragen wurde. Akustisch verstärkt wurde dieser Aufzug durch an die Beine gebundene Blechdosen, die lustig auf dem Leipziger Pflaster Krach schlugen, aber bedauerlicherweise schon nach wenigen Metern den Geist aufgaben.

"Kurz nachdem wir uns in Bewegung gesetzt hatten, berichtete ein Aktivist, stoppten uns schon die ersten neugierigen Ordnungshüter – der Lärm der noch vorhandenen Blechdosen hatte sie wohl angelockt. Nach einer Personalienfeststellung und kurzem Filmdreh aus der Ferne erhielten wir einen Platzverweis für die eigens für den Bundeswahlfasching eingerichtete demokratische Sperrzone – fast die gesamte Innenstadt, wie auch obiges Bild zeigt (ein von der Polizei vorbereiteter Zettel, der uns netterweise ausgehändigt wurde).

Auch wurden wir ‚instruiert‘, einen "demokratischen Sicherheitsabstand" von mindestens 20,00 Metern zu Wahllokalen einzuhalten, da es den gemeinen Wähler überfordern würde, am Wahltag selbst, nach monatelanger Propagandaflut, nochmals mit einer eigenständigen Meinung konfrontiert zu werden. Also bewegten wir uns entlang des Grenzstreifens der demokratischen Sperrzone zum Hauptbahnhof. Unterwegs riefen wir einige Aufmerksamkeit unter den vorbeiflanierenden Passanten hervor, die unsere Aufmachung und deren Sinn in der Mehrzahl zu erfassen schienen. Ganz im Gegensatz zu einigen Polizisten, die sich fast schon aufdringlich oft diensteifrig dem Kontrollieren, Durchsuchen, Platzverweisen und Feststellen unserer Personalien widmeten."

faul

Lokales

Worten folgen Taten

Ganz was neues!

Am 18.09.02 beschloss der Leipziger Stadtrat die Ergänzung der Polizeiverordnung über öffentliche Sicherheit und Ordnung. Darin heißt es nun, daß "Jedes Anbringen von Beschriftungen […] oder Plakaten, die weder eine Ankündigung noch eine Anpreisung oder einen Hinweis auf Gewerbe oder Beruf zum Inhalt haben" (Leipziger Amtsblatt, 05.10.02) verboten ist.

Damit ist also von vorneherein schon mal jeder in den illegalen Raum gedrängt, der den öffentlichen Raum zur öffentlichen Kommunikation nutzen will. "Das Verbot gilt nicht für das Beschriften […] bzw. das Plakatieren auf den dafür zugelassenen Plakatträgern […]." der zweite Satz sagt im Grunde auch nicht bedeutend mehr aus, als der erste: wer zahlt, oder von anderen Geld will, darf plakatieren, "Nicht(ver)käufer" werden bestraft. Diese wenigen Zeilen machen eines deutlich: es genügt heute nicht mehr nur Einwohner dieses Landes zu sein, damit mensch sein sog. Bürgerrecht der Meinungsfreiheit auch öffentlich wahrnehmen kann, sondern mensch muß schon Konsument/Verkäufer sein und: mensch ist nicht unbedingt auf das noch nicht ratifizierte GATS (Allgemeines Abkommen über Handel und Dienstleistungen) angewiesen, um wirtschaftliches Engagement gegenüber sozialem, politischem oder künstlerischem zu privilegieren.

Die direkten Folgen daraus: 1) die teils sexistischen Papierfetzen eines "Getränkemarktes" können weiterhin legal "wild plakatiert" werden, da sie einen "Hinweis auf Gewerbe" beinhalten; 2) wer nicht eine Geldstrafe zwischen 5 und 1.000 Euro riskieren will, soll wohl auf Werbetafeln und Litfaßsäulen plakatieren … und begeht eine Sachbeschädigung. Aber der Gesetzgeber – hier der Stadtrat – läßt ja keine Wahl, die war nämlich am 22. September. Hier zeigt sich eine schon bekannte Systematik: die Verordnung richtet sich zwar nicht explizit gegen politisches Engagement an sich (das widerspräche ja dem GG ;), untersagt aber die de facto einzige Möglichkeit öffentlicher Kommunikation. Denn wer kann und will – in dieser Richtung aktiv – das Geld aufbringen, sich einen Platz im öffentlichen Raum zu erkaufen? Vielleicht sollte mensch sich auf die Suche nach Sponsoren machen … Ganz einfach also ist es, progressive politische Aktivität und nonkonformen Ausdruck zu kriminalisieren. Und dafür stehen auch in Zeiten, da "alle" den Gürtel enger schnallen müßten, glatt 70.000 Euro zu Verfügung.

A.E.

Lokales

Da is‘ was im Burger

Manchmal findet sich im Internet doch Interessanteres als im Telephonbuch (1). Worum’s geht? Am 16. Oktober sollen bei der Fastfoodkette McD. weltweit die Milchshakes etwas zäher fliessen und die Fritten etwas länger brutzeln. So zumindest wünscht es sich das Netzwerk McDonald’s Workers‘ Resistance (MWR, Widerstand der McDonald’s ArbeiterInnen). MWR ist eine inoffizielle Selbstorganisation von Leuten, die bei McD. arbeiten und sich mit den Zuständen in den Filialen nicht abfinden wollen. Die stärkste Basis besteht wohl in Großbritannien, aber auch in zahlreichen anderen Ländern (vor allem in der EU, in den USA und in Rußland) engagieren sich Angestellte unter dem Label MWR. In dem erwähnten Aufruf werden nicht nur die Angestellten der Restaurants, sondern auch die ArbeiterInnen in den Zulieferbetrieben aufgefordert, ihren Teil zu der Aktion beizutragen … und da das der je eigene Beitrag sein soll, die je eigenen Möglichkeiten sehr unterschiedlich sind, kann das auch ganz verschiedene Formen annehmen: "das musz nichts spektakulaeres sein: Du könntest Dich krank melden, […] den Strom abschalten, […] ‚Dienst nach Vorschrift‘ machen, […] nicht lächeln". Und es wird ja auch Zeit, dasz die modernen Schwitzbuden von innen heraus angegriffen werden … eigentlich ist es eher verwunderlich, dasz noch immer so viele der allzeit bereit stehenden, dabei aber mies bezahlten Servicekräfte ihr Lächeln nicht abgesetzt haben.

„Unregierbar“?

Doch wozu der ganze Terz?! Es geht den AktivistInnen schlicht und einfach um die Durchsetzung der Koalitions- und Informationsfreiheit am Arbeitsplatz – diese Forderung steht von Anfang an und für alle Filialen des internationalen Konzerns. Denn Versuche, ein MWR ins Leben zu rufen gab es in Großbritannien schon vor einigen Jahren … sie scheiterten an der Repression des Unternehmens. Doch die Initiative war ergriffen, die direkte Auseinandersetzung begonnen und vorerst verloren. Immerhin blieb eine Rechtsberatungsstelle für Mc-ArbeiterInnen bestehen – und die Idee, die schlieszlich auch realisiert wurde und wird. Das Projekt steckt noch in den Kinderschuhen, vereint kaum mehr als ein paar hundert ArbeiterInnen … dasz eine solche Initiative jedoch bitter nötig ist, erfuhren auch die Angestellten einer Wiesbadener Filiale.

Besagtes Restaurant, dessen Belegschaft zu 80 Prozent in einer DGB-Gewerkschaft organisiert war, wurde kurzerhand geschlossen – ungeachtet der schwarzen Zahlen, die dort geschrieben wurden, schlieszlich mache eine Gewerkschaft den Betrieb "unregierbar". Das Kalkül ging auf: die GewerkschafterInnen zogen vor Gericht, verzichteten auf direktes Eingreifen, und ein halbes Jahr später wurde die Filiale mit neuer, nicht organisierter Belegschaft wieder eröffnet. Begünstigt wird ein solcher Verlauf sicherlich von der relativ hohen Fluktuation der Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor. Mögen die Gechassten auch Recht gesprochen bekommen – ist die Behinderung oder Sanktionierung gewerkschaftlicher Aktivität doch ein klarer Verfassungsbruch –, der Ofen ist aus.

Gewerkschaft braucht Bewegung

Es bleibt also zu hoffen, dasz sich möglichst viele Beschäftigte von McD. dieser Initiative anschliessen und unmittelbar aktiv werden. Schlieszlich zeigt sich alltäglich, und in diesem Falle hier besonders eklatant, dasz es keine Sozialpartnerschaft gibt. Zwangsläufig – das heißt, um Dynamik und Kontinuität zu entwickeln und Erfahrungen nicht dem Vergessen anheim zu geben – stellt sich dann auch die Frage nach Organisierung. Bei der Beantwortung sollte nicht vergessen werden: wer beispielsweise in der Hartz-Kommission an der Verschärfung der Ausbeutungsbedingungen mitwirkt, vertritt keineswegs die Interessen der eigenen Basis, sondern zementiert allenfalls eine gesellschaftliche Alternativlosigkeit. Glasklar, nur die Basis selbst tritt am besten für ihre Interessen ein. Was anderes also als das Maß an lokaler Autonomie und solidarischer Zusammenarbeit sollte uns Ratgeber bei dieser wichtigen Frage sein? Zeit für Taten.

A.E.

(1) siehe im Internet die beiden Seiten: www.fau.org/neu/htm/arc/akt_1610.html und mwr.org.uk/proposal.htm
(2) vgl. „junge Welt“, 23.02. & 9.8.2001

International

Christoph Spehr

„Gleicher als Andere – eine Grundlegung der freien Kooperationen“

Wie in der letzten Ausgabe angekündigt, wollen wir mit diese Doppelseite in regelmäßiger Folge Raum für theoretische Überlegungen bieten. Dabei soll es jedoch nicht darum gehen, Definitionen, „heiligen“ Sätzen oder ewigen ‘wahren‘ Werten zum Ausdruck zu verhelfen, sondern vor allem konkreten Gedanken, deren Geltung freilich durch das zur Sprache kommende, reflektierende Bewußtsein begrenzt ist. Dem möglichen Vorwurf des theoretischen Minimalismus gilt es dabei mutig ins Auge zu sehen, schließlich wird in einer Welt, in der man hoch stapelt, der Held der kleinen Schritte gering, zu gering geschätzt.

Der Septemberaufsatz über „anarchistische Haltungen im Alltag“ sollte in diesem Sinne eine Einleitung bieten; einen Weg jenseits solcherlei Wesensfragen wie: „Was ist …?“ öffnen. Der vorgestellte Gedankengang behauptete mit dem Begriff der ‘Haltung‘ einen direkten Zusammenhang zwischen Handeln und Ideen konkreter Individuen. Dabei wurde die spezifisch anarchistische Haltung in ihrer historischen wie in ihrer aktuellen Bedeutung beleuchtet, sehr unterbelichtet zwar, aber immerhin waren einige Umrisse erkennbar. Daß diese Perspektive eine individuelle war, bedeutet aber nicht notwendig eine Entwertung derselben. Im Gegenteil – so die These – geben gerade anarchistische Ideen begründeten Anlaß zu der Skepsis gegenüber kollektiven oder konventionell rationalen Perspektiven. Die sprachkritischen Überlegungen von Landauer oder auch Stirner bieten hier einigen Stoff für weitere Diskussionen. Eine der Konsequenzen die zum Ende des Aufsatzes gezogen wurden, hieß die Aufgabe des Glaubens an eine konsistente, anarchistische Weltanschauung und damit auch Welterklärung – der es schließlich gelänge, alle Phänomene unserer Lebenswelt in einen systematischen, gleichförmig abgeleiteten Zusammenhang zu bringen – und damit auch die Kampfansage an solcherlei theoretische Versuche, gleich welchem Lager sie entspringen. Den Aufsatz beendete die Hoffnung auf eine wachsende Bedeutung anarchistischer Ideen. Und genau hier, im Spannungsfeld von wachsender Bedeutung trotz lückenreicher weil menschlicher Welterklärung, soll im Weiteren geschrieben, kritisiert, diskutiert, gestritten werden. Die Karten auf den Tisch zu legen, bedeutet ja nicht: sie als sakrosankt und unabänderlich erklären. Im individuellen Bewußtsein sind alle Begriffe problematisch und als solche kritisierbar. Solcherlei Kritik ist nicht nur wünschenswert und notwendig sondern auch außerordentlich fruchtbar. Deshalb sei jedem mit Lust und Laune freundschaftlich in die Seite geknufft mitzutun, der Redaktion zu schreiben, mit uns zu diskutieren.

Wir selbst haben nur eine vage Vorstellung vom weiteren Fortgang speziell dieser Seiten. Fürs erste schwebt uns eine wechselseitig ablösende Herangehensweise vor. Sowohl ein geschichtlicher Zugang als auch ein aktueller Bezug zu anarchistischen Ideen soll so jeweils möglich werden. Diesen Überlegungen geschuldet, entschlossen wir uns, mit einem aktuellen Bezug zu beginnen. Wer vielleicht doch den angekündigten Proudhon-Text erwartete, sei auf die nächste Aufgabe vertröstet. Dann wird die Reihe der geschichtlichen Exkurse ‘hoffentlich‘ (man kann ja nie wissen) mit Proudhon eröffnet.

Auf der Suche nach alternativen Vergesellschaftungsformen, bietet die Lektüre des relativ kurzen Textes „Gleicher als Andere“ von Christoph Spehr einen interessanten Einstieg. Einige Kernpunkte sollen im Folgenden kritisch beleuchtet werden.

(clov)

„Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit miteinander vereinbar?“ – von Christoph Spehrs Beantwortung dieser Frage der PDS-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigte sich nicht nur die Jury beeindruckt, welche dem Werk den ersten Preis hierfür zuerkannte, auch in Teilen der radikaleren Linken wurde sein Text mit einiger Begeisterung aufgenommen.

Ohne Zweifel ist „Gleicher als Andere“ aufgrund von Spehrs schriftstellerischen Fähigkeiten angenehm zu lesen, was es schon einmal von so manch anderem linken Theoriewerk wohltuend abhebt. Auch die zahlreichen Zitate aus Sciencefiction, Popkultur und linker (v.a. Feministischer) Debatte mögen ihren Reiz haben.

Im Mittelpunkt des Textes stehen aber wesentlich die theoretischen Überlegungen Spehrs zu spezifischen Fragen menschlichen Zusammenlebens. Dabei beantwortet Spehr die von der Stiftung aufgeworfene Frage damit, daß in seinem Konzept der „freien Kooperationen“ politische Freiheit und soziale Gleichheit zusammenfallen. Zum Verständnis dessen ist es wichtig, festzuhalten, daß für Spehr sämtliche Beziehungen von Menschen Kooperationen im sozioökonomischen Sinne darstellen. Um zwischen freien und unfreien Kooperationen zu unterscheiden, stellt Spehr zwei Hauptkriterien auf:

1.) daß alle vorgefundenen Regeln und Verhältnisse innerhalb der Kooperationen real veränderbar sein müssen;

2.) daß alle Beteiligten die Möglichkeit haben müssen, jederzeit die Kooperation zu einem „vergleichbaren und vertretbaren Preis“ zu verlassen oder unter Einschränkungen und Bedingungen zu stellen.

Damit eine Kooperation eine freie ist, muß also jedeR an ihr Beteiligte die grundsätzliche Möglichkeit haben, über alle Bedingungen dieser verhandeln zu können. Wenn dies auf eine Kooperation zutrifft, so mag sie Außenstehenden auch noch so seltsam erscheinen – sie haben kein Recht, diese als „falsch“ zu verurteilen, weil es dafür keinen objektiven Maßstab gibt. Nach der Aufstellung dieses Ideals sucht Spehr nach praktischen Anschlußmöglichkeiten für dessen Verwirklichung. Zwar analysiert er die bestehenden Verhältnisse als herrschaftlich und von „unfreien Kooperationen“ gekennzeichnet, sieht aber die Möglichkeit ihrer „Abwicklung“ darin, daß seine LeserInnen damit anfangen, ihre Kooperationen in „freie“ umzuwandeln und somit „gleicher als andere“ zu werden. Dadurch bleibt er aber letztendlich in dem Konflikt stecken, die prinzipielle Machbarkeit von „freien Kooperationen“ innerhalb kapitalistischer Produktionsverhältnisse begründen zu müssen. Doch Spehrs Glaube, von aktuell-dominanten unfreien Kooperationen innerhalb unserer gesellschaftlichen Strukturen zu idealen (im Sinne seiner Prämissen), freien zu kommen, geht all zu unkritisch mit Institutionen wie Staat und Markt um.

Denn die von ihm skizzierten „freien Kooperationen“ bleiben innerhalb der allgemein geltenden Prinzipien von Privateigentum und Tausch problematisch. Gerade diese Prinzipien haben ja über Jahre die sozioökonomischen Verhältnisse der Menschen als unfreie oder herrschaftliche etabliert. Aus diesen folgt aber logischerweise auch, dass mensch selbst lebensnotwendige Bedürfnisse nur gegen eine Gegenleistung befriedigt bekommt. Daß dieses Leistungsverhältnis im Widerspruch zu dem „vertretbaren Preis“ steht, mit dem eine Kooperation verlassen oder eingeschränkt werden kann, ist auch Spehr bewußt. Die denkbar einfachste Lösung – nämlich daß sich jedeR vom gesellschaftlichen Reichtum nehmen kann, was er.sie.es gerade braucht – hat er sich aber selbst verbaut. So heißt die von ihm ersatzweise präsentierte Lösung dieses Dilemmas „Existenzgeld“ (1). Wieso aber der(bürgerliche) Staat ein solches in ausreichendem Maß zahlen sollte, bleibt unklar. Schließlich würde es seiner Kernaufgabe – der Sicherung kapitalistischer Verhältnisse – schon entgegenlaufen, wenn die Menschen, die keine Produktionsmittel besitzen und daher ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, dies plötzlich nicht mehr nötig hätten. Spehrs Antwort (2), daß dies alles nur eine Frage der „richtigen Regierung“ (als könne es so etwas überhaupt geben!) sei, kann ich daher nicht teilen. Auch Spehrs Kooperationen sind also nur frei innerhalb bestimmter Rahmensetzungen, die politisch erst zu ‚besorgen‘ wären. Da bietet sich ja eine stiftungsnahe Partei geradezu an …

Entgegen seiner Ankündigung, daß „in dieser Abhandlung […] auch vertreten [wird], daß Freiheit und Gleichheit nicht durch eine Rahmensetzung von oben gewährt oder verwirklicht werden können“ (3), greift Spehr aber auch an anderen Punkten auf den Staat zurück. So schreibt er bspw. zum Thema „affirmative action“ (4): „Zu prüfen ist allenfalls, ob es aus Sicht der freien Kooperation legitim ist, daß eine übergeordnete Kooperation (in diesem Fall die nationale Gesellschaft) untergeordneten Kooperationen Vorschriften darüber machen kann, wie sie sich zusammenzusetzen haben. Dies ist zu bejahen für entsprechende Gesetze, die sich auf den öffentlichen Sektor und größere Kooperationen beziehen. Da die Gesellschaft größeren Kooperationen faktisch einen nicht unerheblichen Teil des gesellschaftlichen Kapitals überläßt, kann sie dies an die Bedingung knüpfen, allen gesellschaftlichen Gruppen real gleichen Zugang zu diesen Kooperationen zu ermöglichen und sie angemessen in ihren Entscheidungsstrukturen zu repräsentieren“ (5). Die „nationale Gesellschaft“ – übrigens schon an sich eine recht fragwürdige Konstruktion – erläßt also Gesetze? Das mag meinetwegen in diesem Fall auf „bessere“ Herrschaft hinauslaufen; mit Herrschaftsfreiheit hat das jedoch niX zu schaffen!

Allerdings sollten derlei Schwächen nicht von der Lektüre von „Gleicher als Andere“ abhalten. Die große Stärke des Werkes liegt m.E. schließlich woanders. Es gelingt Spehr, recht eindrucksvoll aufzuzeigen, wie herrschaftsförmig auch die oft als „völlig normal“ empfundenen Verhältnisse – an denen wir teils als „HerrscherInnen“, teils als „Beherrschte“ teilhaben – sind. Die Konzentration auf eine kritische Beschreibung menschlicher Beziehungen als unfreie oder zu befreiende Kooperationen, hätte jedoch nicht nur ein wesentlich präziseres theoretisches Werkzeug zur Verfügung gestellt, sondern es hätte auch die Beantwortung der Frage: „Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit miteinander vereinbar?“ dorthin verwiesen, wo sie schließlich einzig und allein relevant ist, in den Bereich individueller Haltungen jedes Einzelnen. Hier stiften die Einzelnen die Bedingungen freier Kooperation selbst, und die Freiheit derselben wird nicht durch ein ideales Modell des Zusammenlebens begründet, sondern durch das konkrete Handeln involvierter Menschen.

m.

Christoph Spehr, „Gleicher als Andere – Eine Grundlegung der freien Kooperationen“, 85 Seiten, unveröff., zu beziehen über die Redaktion oder online zum Herunterladen unter: www.rosaluxemburgstiftung.de/Einzel/Preis/rlspreis.pdf
(1) Oft auch unter dem Begriff der ‘negativen Einkommenssteuer‘
(2) geäußert bei einer Veranstaltung in Leipzig
(3) Gleicher als Andere“, S. 13
(4) „Affirmative action“ bedeutet die aktive Bevorzugung von Menschen aus bisher benachteiligten Gruppen, da eine formale Gleichstellung nicht ausreicht, um die bisherigen Ungerechtigkeiten auszugleichen und eine tatsächliche Gleichstellung zu erreichen.
(5) „Gleicher als Andere“, S. 65

Theorie & Praxis

Aus dem Leben eines ganz normalen „Helden“

Rückblick eines Helfers beim Hochwassereinsatz

Alles begann damit, daß Sven (Name geändert – ist der Redaktion bekannt), während große Teile Ostdeutschlands unter Wasser standen, nicht untätig zu Hause rumsitzen und zuschauen wollte.

Er schloß sich einem Freund, der schon länger in einer Hilfsorganisation aktiv ist, an, um selber mit anzupacken. So fuhren sie in einer kleinen Gruppe, die sich relativ spontan zusammengefunden hatte, ausgerüstet mit Spaten und Schubkarre, am 16. August 2002 nach Döbeln. Da das Technische Hilfswerk, welches dort im Einsatz war, für sie keine Aufgaben hatte, sprachen sie einfach Leute auf der Straße an und organisierten sich so ihren ersten Einsatz selbst. Die Menschen, deren Wohnung sie vom Schlamm befreiten, freuten sich grenzenlos. Der Schlamm ist eines der größten Probleme bei einer Flutkatastrophe, denn wenn er fest wird, ist er hart wie Beton.

Nach diesem Einsatz hatte Sven sozusagen "Blut geleckt" und wollte sich weiter an Hilfseinsätzen beteiligen. Deshalb schloß er sich für die nächsten zwei Wochen einer Hilfsorganisation an und stieg später ganz dort ein. Der nächste Einsatzort war Stendal, wo Sven, nun im Auftrag einer Hilfsorganisation unterwegs, mit einigen anderen Helfern von mittags bis in die Nacht hinein auf einen "Einsatzbefehl" warten musste. Denn nun war es, zumindest, was die Organisation der Hilfseinsätze betraf, vorbei mit den eigenmächtigen Entscheidungen. In Stendal stellten sie fest, daß dieses untätige Warten nicht nur sie betraf, sondern fast "Helferalltag" war: Einige andere saßen seit 36 Stunden "arbeitslos" herum. Sven und seine Gruppe beschwerten sich schließlich bei der zentralen "Einsatzstelle" über ihre erzwungene Untätigkeit, obwohl ihnen und gewiß auch der "Zentrale" bekannt war, daß es rund um Leipzig einiges zu tun gab. Die Zeit bis zur Nacht vertrieben sie damit, sich eine Wagenburg aus Einsatzfahrzeugen zu bauen, um wenigstens eine Übernachtungsmöglichkeit zu haben. Es gab zwar eine Halle, in der mensch, auf zu wenigen Liegen für alle, hätte schlafen können, allerdings wäre dort kein Funkempfang möglich gewesen, der für die Helfer, die ja dort waren, um zu "Einsatzorten" gerufen zu werden, wichtig war. Es ging auch das Gerücht um, daß von den Hilfsorganisationen teilweise Helfer an Sammelstellen gesammelt wurden, diese aber vor Ort nicht gebraucht wurden. Und dem Wahlkampf hat es schließlich nicht geschadet, daß die Helfer untätig in den "Bereitstellungsräumen" saßen – immerhin waren sie im Einsatz, und Presse und Öffentlichkeit erfuhren nur dieses und konnten also stolz sein auf die Tausenden, die ihre Regierung für sie mobilisiert hatte.

Da sie sich nun tagsüber über mangelnde Arbeit beklagt hatten, bekamen sie dann doch ohne jede Vorwarnung, gegen halb zwei in der Nacht, einen Einsatzbefehl. Dieser war jedoch eine planmäßige Ablösung beim Deichverstärken und kein Notfall. Die anderen Gruppen, die zu den Deichen an die Mulde gerufen wurden, wußten davon schon etliche Stunden im Vorhinein. In der folgenden Nacht, die sie wieder in Stendal verbrachten, schliefen etliche unter ihren Autos, und die Gruppe um Sven campierte unter einer Zeltplane. Ein eigenmächtiges "Abrücken" der Gruppe war von oberster Stelle untersagt. So begannen sie, sich zur Abkühlung einen Swimmingpool aus Gerätschaften zu konstruieren. Insgesamt hielt sich die Gruppe drei bis vier Tage in diesem Ort auf, um ein einziges Mal für wenige Stunden auszurücken.

Es kursierte das Gerücht, daß ein Helferverband eigenmächtig beschlossen hatte, Stendal zu verlassen. Diese Menschen wurden angeblich auf der Autobahn angehalten und das Einsatzfahrzeug sei konfisziert worden, da es Eigentum des Bundes ist und nur auf Befehl "von oben" genutzt werden darf.

Als Tage später die Erlaubnis zum "Abrücken" kam, fuhren sie in ein anderes Dorf an der Mulde und reinigten dort Bachbetten. Anschließend ging es nach Dippoldiswalde, jedoch aufgrund eines recht lückenhaften "Einsatzbefehls". Die Helfer hatten keine Informationen, was wie lange dort getan werden sollte und wo der Ort eigentlich genau liegt. In dem Dorf blieben sie dann eine ganze Woche und hatten erneut vor allem mit Schlamm zu kämpfen, da ein erneutes Unwetter dafür sorgte, daß ein sonst friedliches Bächlein auf acht Meter anschwoll. Außerdem inspizierten sie Brücken auf ihre Widerstandskraft und stützten diese gegebenenfalls ab.

Während der drei Wochen, die er mit den anderen Helfern im Einsatz verbrachte, war die Stimmung innerhalb der Gruppe kollegial, darüber hinaus sind Katastrophenschutz-Einsätze nicht nur dann nötig, wenn die gesamte Presse und Politik sich damit beschäftigen. Deshalb beschloß Sven trotz der Widrigkeiten, die ihm während der Hochwassereinsätze begegnet waren, sich der Organisation auf Dauer anzuschließen.

lotte B.

Lokales

Das Spiel mit der Statistik

Statistik ist immer eine Frage des Standpunktes. „Mit Statistik läßt sich alles beweisen“, lautet eine moderne Weisheit. Statistik drückt keine unabhängige Wahrheit aus, sondern blickt auf die Welt durch die Augen, die von den Verfasser/innen gewollt ist. Das Problem bei einer Umfrage oder Wahl liegt darin, daß viele tausend Einzelmeinungen zu sehr wenigen Meinungen zusammengefasst werden. Dazu werden sowohl Fragen mit einer gewissen Absicht gestellt, als auch die Antwortmöglichkeiten eingeschränkt. So mag die Frage zur Bundestagswahl etwa so gelautet haben: „Welche der unten aufgeführten Parteien soll das Land regieren?“ Eine Antwort „keine von denen“ oder „ich will nicht regiert werden“ war nicht möglich. Im Grunde liegt aber der Bundestagswahl keinerlei konkrete Frage zu Grunde. Nicht mal die: „Durch welche Partei willst Du im Bundestag vertreten sein“. Die politisch interessierten Wähler/innen versuchen vielmehr durch „geschicktes“ verteilen ihrer beiden Stimmen das kleinste Übel zu erreichen. So waren etwa vor der Wahl mit „verhindert Stoiber“ zu lesen. Doch von Geschick kann keine Rede sein. Wenn jemand Stoiber nicht wollte, so war ihre Wahl schon auf zwei eingeschränkt. Niemand kann ernsthaft behaupten, das über 80 Millionen Menschen so derart armselig sind, das sie sich auf „Schröder gegen Stoiber“ reduzieren lassen.

Eine Bundestagswahl soll die Plätze im Plenarsaal des Reichstages füllen. Und das hat sie: 251 Sitze für die SPD, das sind etwa 41,6% der insgesamt 603 Abgeordneten, 190 für die CDU (31%), 58 für die CSU (9,6%), 55 für die Grünen (9,1%), 47 für die FDP (7,8%) und 2 für die PDS (0,3%). Das ist im oberen Tortendiagramm zusammengestellt. Zusammen stellt also Rotgrün 306 der 603 Abgeordneten. Man könnte nun meinen, Rotgrün würde die Mehrheit der Menschen in der Bundesrepublik repräsentieren. Weit gefehlt! Niemand weiß genau warum die Leute Rotgrün gewählt haben. Denn auf dem Wahlzettel durfte man nur zwei Kreuze machen, als könne man nicht lesen und schreiben. Und zum anderen hat Rotgrün gar nicht die Mehrheit der „Wähler“ (dieses Wort ist derart widerlich, das man es nur mit der Kneifzange anfassen möchte; der „Wähler“ hat entschieden, wer auch immer das sein mag). Spielen wir ein bißchen mit der Statistik.

In der zweiten Torte hat Rotgrün schon keine Mehrheit mehr. Die 5%-Hürde hat bereits über 5% der gültigen abgegeben Stimmen weggeschnitten. Praktisch, oder? Und das ist noch die Ebene, auf der sich Leute im Sinne der Wahl entschieden haben. Ihre Stimmen werden nicht berücksichtigt. In der dritten Torte sind die abgegeben Stimmen aufgeführt. Leute die der Meinung waren „keine von denen“ haben ihren Wahlzettel vielleicht ungültig gemacht. 586-Tausend Stimmen unberücksichtigt. Über 10 Millionen Menschen die das Recht hatten zur Wahl zu gehen, haben es nicht getan (vierte Torte). Aus welchen Gründen auch immer. Sicher sind welche darunter, die der Meinung sind „ich will nicht regiert werden“. Ihre Stimmen wurden nicht berücksichtigt. Täte man dies, hätte nur eine „große Koalition“ eine Mehrheit. Von 61 Millionen Wahlberechtigten haben 22,6 Millionen Rotgrün gewählt. Auf dem Territorium der Bundesrepublik leben ca. 82 Millionen Menschen. 75 Millionen davon Staatsbürger der BRD. Gemessen an diesen 82 Millionen hätte nicht mal eine große Koalition eine Mehrheit. Von all den im Parlament vertretenen Parteien könnte gerade mal eine der kleinen nicht in der Regierung sein, damit diese eine Mehrheit hätte. Rotgrün hat nicht über 50%, sondern gerade 27% dieser Stimmen. So ist das mit der Statistik.

v.sc.d

Quelle: statistisches Bundesamt

Wahl

Im Namen des Standorts

Rück- und Ausblick auf rot-grüne Hochschulpolitik

Rot-Grün hat es noch einmal geschafft, trotz Kriege, neoliberaler Politik, verstärkter Selektion, Abbau bürgerlicher Freiheiten etc. Das heißt für die Menschen, die sich in den gesellschaftlichen Funktionen SchülerIn, StudentIn, WissenschaftlerIn und Beschäftigte befinden, weitere vier Jahre rot-grüne Bildungspolitik. Wie diese womöglich aussehen könnten, darauf möchte ich am Ende eingehen. Wichtige Voraussetzung dafür ist zunächst eine Betrachtung der vergangenen vier Jahre.

Auf den ersten Blick scheint die Bilanz positiv auszufallen: die Erhöhung der Bildungsausgaben um 20 und der Anzahl der BAFÖG-Empfänger um 16 Prozent, das Studiengebührenverbot und die Reformierung verkrusteter Universitätslaufbahnen durch Juniorprofessuren.

Auf den zweiten Blick zeigen sich die Haken an der Sache: So wurde eine Verdoppelung der Bildungsausgaben und eine Grundförderung von 200 Euro für jeden Studenten versprochen. Dass die Bildungsausgaben überhaupt erhöht werden konnten, war eigentlich auch nur dem Glücksfall der Versteigerung der UMTS-Lizenzen geschuldet.

Nun ist es nicht schlimm, mehr BAFÖG zu bekommen, im Gegenteil, ich würde mich nicht dagegen sträuben. Es ist aber schlimm bzw. normal, dass diese ganzen „Verbesserungen“ einer Ideologie folgen, dass sie nicht aus Menschenfreundlichkeit umgesetzt wurden, sondern um den Standort Deutschland im internationalen Wettbewerb zu stärken, deshalb muß, ich zitiere: „Deutschland eine Ideenfabrik werden“. Wissen ist die zentrale Ressource des 21.Jahrhunderts. So gesehen ist das rot-grüne Projekt ein Modernisierungsprojekt für Deutschland. Der Konkurrenzdruck des Weltmarkts wird nach unten weitergegeben bzw. wird das Konkurrenz-. Leistungs- und Wachstumsprinzip in alle gesellschaftlichen Bereiche integriert. In diesem Kontext sind die Reformen zu sehen.

Die BAFÖG-Erhöhung soll die „Humanressourcen“ ausschöpfen. Die Dienstrechtsreform mit 25 % Gehalt nach Leistung und Juniorprofessur soll die Effizienz und Leistung und die Einführung von Studienkonten den Druck erhöhen, schneller, effizienter und arbeitsmarktorientierter zu studieren; und Bildung abrechenbar zu machen, sie in eine Ware zu transformieren.

Denn das Studiengebührenverbot ist nicht mehr als eine Farce. Genau heißt es in der 6. Novelle des Hochschulrahmengesetzes, dass seit dem 15.8.2002 gültig ist: „Dem § 27 wird folgender Absatz 4 angefügt: (4) Das Studium bis zum ersten berufsqualifizierenden und das Studium in einem konsekutiven Studiengang, der zu einem weiteren berufsqualifizierenden Abschluss führt, ist studiengebührenfrei. In besonderen Fällen kann das Landesrecht Ausnahmen vorsehen.“

Also sind Studiengebühren theoretisch ab dem ersten Semester erlaubt. Aber auch wenn man annimmt, dass es „Ausnahmen“ bleiben, dann sind dennoch Zweitstudium, „Langzeitstudium“ und Seniorenstudium gebührenbedroht. Dabei hieß es doch noch im rot-grünen Koalitionsvertrag: „Wir werden das Hochschulrahmengesetz im Einvernehmen mit dem Bundesrat weiterentwickeln und dabei die Erhebung von Studiengebühren ausschließen.“

Begründet wird das zumindest teilweise Verbot mit dem Standort, denn „Deutschland braucht mehr und noch besser ausgebildete Fachkräfte mit akademischen Abschlüssen. Wir wollen die Zahl der Studienanfänger von heute 28 % auf das OECD-Niveau von etwa 40 % steigern. Deshalb“, nicht etwa aus Menschenfreundlichkeit oder ähnlichen Sentimentalitäten, „muss der Zugang zu unseren Hochschulen offen und in ganz Deutschland muß Studiengebührenfreiheit [fürs Erststudium] bestehen bleiben.“

Der Studiengebührenbegriff von Rot-grün ist allerdings recht seltsam, denn Bulmahn will folgendes schaffen: „die Grundlage für neue Modelle wie Studienkonten und Bildungsgutscheine.“ Und diese Modelle sollen dann Studierenden und Hochschulen gleichermaßen zugute kommen.

Studienkonten sind jedoch leider selbst Studiengebühren, die nur für eine bestimmte Zeit erlassen werden, sozusagen verschärfte Langzeitstudiengebühren, mit flexibler Studienzeiteinteilung.

Der Druck wird weiter steigen, wie er in den letzten Jahrzehnten beständig gestiegen ist. Zur Erinnerung: Es gab mal, ohne diese verklären zu wollen, eine Zeit ohne Zwischenprüfung. Diese Verschärfung von Selektion, Konkurrenz- und Leistungsdruck ist eine allgemeine Tendenz, man nehme sich nur mal das Hartz-Papier zur Hand.

Dieses Studienkontenmodell als sozial anzukündigen ist ebenso eine Unverschämtheit. Denn es ist genauso wie beim BAFÖG: Wer genug Geld von den Eltern oder geerbt hat, der braucht sich nicht um die Regelstudienzeit zu scheren. Wer allerdings aufs BAFÖG angewiesen ist, steht unter dem Druck in dieser Zeit fertig zu werden. Und genauso wird das mit Studienkonten sein. Wer Geld hat um die 35 Euro für die Semesterwochenstunde zu bezahlen (wie es in einem Papier der rheinland-pfälzischen Landesregierung angedacht ist) braucht sich nicht um sein Studienkonto zu kümmern, wer nichts hat, beeilt sich entweder oder hat Pech gehabt.

Reinhard Loske von den Grünen wollte dazu aber auch noch was sagen: „Es [das Studienkontenmodell] konkurriert im politischen Raum mit dem Modell der Langzeitstudiengebühren. Etwa bei den Modellen in Rheinland-Pfalz, NRW und Schleswig- Holstein hat man eine große Ausstattung mit staatlich finanzierten Bildungsgutscheinen. Das stärkt die Position der Studierenden und gibt ihnen ein Anspruchsrecht. Das übt Qualitätsdruck auf die Hochschulen aus. Das schafft bei den Studierenden – was durchaus wichtig ist – ein Ressourcenbewusstsein, ein Bewusstsein dafür, dass man mit der Ressource Bildung schonend umgeht.“

Bildung als knappes Gut zu verstehen, ist schon eine Frechheit, das zeugt von einem ziemlich ökonomistischen Bildungsverständnis. Denn wo werden nach der derzeitigen Betriebswirtschaftslehre knappe Güter gehandelt? Auf dem Markt. Das bedeutet, Bildung als Ware zu verstehen, deren Preis durch Angebot und Nachfrage reguliert wird. Die starke Position der Studierenden ist die des Nachfragers. Doch das hat nichts mehr mit selbstbestimmter Bildung, mit der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit zu tun.

Bildung als Ware, bedeutet Universitäten als Unternehmen. Und genauso läuft es auch, immer mehr Unternehmensaspekte werden auf die Universitäten übertragen: Straffung der Hierarchien, verstärkter Einfluss der Wirtschaft, verstärkte Drittmitteleinwerbung, Konkurrenz in und zwischen den Hochschulen. Und dieser Prozess läuft unterschiedlich schnell auf Länder- und Hochschulebene.

Dabei gibt es jedoch keinen Grund die jetzige Universität zu verteidigen, da auch sie kaum einen anderen Zweck hat als Eliten auf den Arbeitsmarkt und für wichtige Stellungen in Unternehmen, Zivilgesellschaft und Staat vorzubereiten und somit mitnichten, die Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentwicklung, sondern vielmehr die Reduktion der Menschen auf bestimmte Funktionen fördert.

Nach diesem sicherlich notwendigen Abschweifen auf allgemeine Betrachtungen, zurück zu rot-grüner Regierungspolitik. Auf was müssen wir uns womöglich die nächsten Jahre einstellen? Sicherlich auf eine weitere Erhöhung von Konkurrenz- und Leistungsdruck im Namen des Standorts, im Namen der Nation. Die SPD fordert in ihrem Wahlprogramm eine stärkere Profilierung der Hochschulen, um „Wettbewerbsposition[en] behaupten zu können“ und die engere Verzahnung von Wissenschaft und Wirtschaft. Sie möchte „Exzellenzzentren“ an den Hochschulen, in denen sich „die Spitzenforschung konzentrieren“ müsse und „Ausgründungen von jungen, innovativen Unternehmen“. Des weiteren soll „Ökonomisches Grundwissen und die Fähigkeit, einen Geschäftsplan zu erstellen, […] zum gewohnten und vertrauten Handwerkzeug werden“. Die SPD will „Lehrstühle für Existenzgründungen an allen Hochschulen“ gründen. Menschen werden als Material begriffen: „Die Köpfe, das Wissen, die Kompetenz und die Kreativität der Menschen sind unsere wichtigste Ressource“ und „Deutschland braucht gut ausgebildete Menschen und eine starke wettbewerbsfähige Forschung.“

Besser könnte man den Entfremdungscharakter dieser Bildung nicht ausdrücken. Für die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands werden die Menschen unter ein Leistungsregime gestellt und mit ökonomisch-formalem Fachwissen vollgepfropft. Dies liegt nicht allein an Rot-Grün , jede andere Regierung hätte diese Entwicklung nur wenig anders, höchstens langsamer durchsetzen können. Es ist der kapitalistische Grundcharakter lokal wie global und dessen Entwicklung, der dem Bildungssystem die Grenzen setzt. Trotzdem ist eine solche Entwicklung nicht einfach so hinnehmbar, es ist wichtig sich gegen diese Steigerung des Leistungsdrucks zur Wehr zu setzen und gegen Zwänge in Form von Scheinen und Prüfungen zu kämpfen. Schließlich geht es auch darum, halbwegs gut leben zu können. Und dazu braucht man freie Zeit und so wenig äußere Zwänge wie möglich.

kater murr

Bildung