Archiv der Kategorie: Feierabend! #54

Editorial FA! #54

Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Weiter so, das war einmal. Phrasenschwein, ich hol dich ein. Doch, was lustig klingt, ist ernst gemeint: Wir sind am Ende. Und da wir keine Wurst sind, die auf zwei Enden verweisen kann, kommt jetzt der große und wahrscheinlich letzte Hilfeschrei:

Wir brauchen aktive Redaktionsmitglieder!

Seit langem schon dümpeln wir (die FA!-Redax) auf ein Unterminimum geschrumpft und mit stecknadelgroßen Zeitlöchern vor uns hin, brauchen fast ein halbes Jahr um ein Heft mit hängen und würgen in den Druck zu kriegen. Ganz zu schweigen vom schleifenden Vertrieb. Und das schlimmste dabei: der Spaß bleibt zunehmend auf der Strecke, denn wir kommen kaum mehr alle zusammen, um in gemütlicher Atmosphäre Texte zu besprechen, zu planen und zu layouten.

Die Zeit heilt keine Wunden mehr, es muss sich jetzt was ändern. Wenn du also den Feierabend! magst und willst, dass er nach einer 13 jährigen Geschichte nicht sang- und klanglos aus der anarchistischen Zeitungslandschaft verschwindet, dann geh doch mal in dich: Hast du nicht Lust, in der Reaktion aktiv zu sein und wahlweise Texte zu schreiben, diese gemeinsam zu besprechen, zu layouten, den Vertrieb zu organisieren? Oder kennst du wen, der darauf Bock hat? Dann schreib uns: feierabendle@riseup.net. Denn davon wird es abhängen, ob ihr noch mal ein weiteres Heft in der Hand halten werdet.

Macht aus uns eine Tofuwurst oder einen anarchistischen Jesus, der wieder aufersteht. Ihr habt es in der Hand. Wann, wenn nicht jetzt …

… und falls ihr dieses Jetzt – entgegen unserer idealistischen Hoffnung – aktionslos zum Morgen werden lasst, dann möchten wir uns an dieser Stelle bei unseren fleißigen Schreiberlingen, all den helfenden Händen, unseren treuen Leser_innen und natürlich bei unserem Drucker für die vielen guten Jahre bedanken.

Eure Feierabend!-Redax

 

P.S.: „Verkaufsstelle des Monats“ ist diesmal der Wilde Heinz.

„Sagt mal – geht‘s noch?!“

… war meine erste Reaktion, als ich von der Selbstjustiz-Aktion einiger Wagenplätzler im April diesen Jahres erfuhr. Die behandelten laut L-IZ zwei mutmaßliche Diebe schlimmer als die Polizei, die herbeizurufen eines alternativen Projekts anscheinend nicht würdig ist. So wurden die Crystal-Junkies alternativ verhört, erkennungsdienstlich behandelt, bei der nachfolgenden Razzia um vermeintliches Diebesgut gebracht und zu guter letzt in einem größeren Email-Verteiler an den Pranger gestellt. Samt Fotos und genauer Wohnortsbeschreibung, versteht sich. Unrecht mit Unrecht zu begegnen kann aus moralischer Sicht nur falsch sein. Es stellen sich spannende Fragen: Ob die Prangernden wiederum an den Pranger zu stellen ebenso falsch wäre, ob Wagenplatzbewohner_innen ob ihrer alternativen Lebensform dennoch Solidarität verdient hätten und ob die Selbstjustiz nur Ausdruck der letztendlichen Bürgerlichkeit, des fehlenden emanzipatorischen Charakters von (Leipziger) Wagenplätzen ist. Was in jedem Fall bleibt ist ein fader Geschmack und die Erkenntnis, dass alternative Wohnformen nicht per se zu besserem Verhalten führen.

[shy]

Ein Dings für Deutschland

Für Deutschland kann gar nicht oft genug demonstriert werden, gerade jetzt, wo es von bärtigen Barbaren überrollt zu werden droht. Das dachte sich wohl auch Silvio Rösler. Nachdem er Mitte Juni 2015 mehr oder weniger freiwillig aus dem LEGIDA-Organisatorenkreis ausgestiegen war, trommelte Rösler einige seiner alten Kumpels aus der Leipziger Hooliganszene zusammen, um künftig sein eigenes Ding zu machen. „Offensive für Deutschland“ nennt sich das Baby, das zwar noch gewisse Artikulationsschwierigkeiten hat, aber immerhin schon laufen kann.

Freilich kam die Offensive schon beim ersten Aufmarsch-Versuch am 26. September ins Stolpern. Nur etwa 350 Nasen fanden sich auf dem Augustusplatz ein, was deutlich zu wenig war, um den fiesen Gutmenschen etwas entgegenzusetzen. Eine antirassistische Demonstration, die vom Rabet aus in die Innenstadt zog, brachte etwa 700 Menschen auf die Straße, insgesamt stellten sich wohl gut 2000 Leute den Faschos entgegen. Deren Marschroute war von der Polizei zwar weiträumig mit Hamburger Gittern umbaut worden, was aber nicht verhinderte, dass einige eher sportlich motivierte Antifas vor dem Neuen Rathaus den Aufmarsch und die Polizei mit Steinen und ähnlichen Wurfgegenständen angriffen. Dabei wurden wohl auch unbeteiligte Gegendemonstrant_innen verletzt*, was tatsächlich mies ist – bei solchen Aktionen sollte mensch besser auf den Sicherheitsabstand achten.

Am 17. Oktober marschierte die „Offensive“ – deutlich geschrumpft auf eine geschätzte Personenzahl von 150 – dann in Grünau auf, wohl in der Hoffnung, in solchen eher abgelegenen Stadtteilen etwas mehr reißen zu können. Das Kalkül ging nicht ganz auf: Durch eine Sitzblockade konnte die Route der Faschos deutlich verkürzt werden. Die Polizei hatte zwar einen Wasserwerfer dabei, aber offenbar keine Lust zu gewaltsamen Maßnahmen. Nach einigem Hin und Her zwischen Plattenbauten wurden die Rösler-Hooligans durch das Allee Center evakuiert.

Damit ist Spuk nun nicht beendet. Am 24.10. folgte z.B. noch ein Aufmarsch in Markleeberg, aber da waren nur noch 50 Kameraden dabei – der Rest musste wohl die wundgelatschten Füße schonen. Zahlenmäßig geht es also in die richtige Richtung, nämlich zügig dem Nullpunkt entgegen. Weiter so!

[justus]

* die nachfolgende linke Debatte kann mensch u.a. bei Indymedia nachlesen: linksunten.indymedia.org/de/node/154205

Vom Zauber des Dranvorbeigehens

Stickerdiskurs im öffentlichen Raum

Kinder sammeln sie manchmal in Alben, Reinigungsfirmen ärgern sich über ihre Rückstände und viele Passanten wundern sich über sie: Sticker laufen einem tagtäglich über den Weg, wenn man selber durch die Stadt läuft.

In Leipzig sind Aufkleber im öffentlichen Raum im Laufe der Nullerjahre zunehmend in Erscheinung getreten. Vermutlich war das in anderen und vor allem größeren europäischen Städten schon eher der Fall. Meiner Erfahrung nach sind Aufkleber in anderen Großstädten vergleichbar präsent – zumindest in Prag, St. Petersburg, Hamburg, Berlin, Halle, Dresden und Chemnitz . Da ‚Subkultur‘, im allgemeinen Sinne von nicht-institutionalisierter und eher ‚freier Kultur‘, ein vorwiegend urbanes Phänomen ist, kann man wohl schließen, dass Sticker mit regionalen Unterschieden in allen europäischen Großstädten auftauchen. In diesem Beitrag versuche ich zuerst, Aufkleber in Abgrenzung zu anderen Formen von ‚Streetart‘ zu bestimmen. Darauf folgen einige Überlegungen zum ‚Stickerdiskurs‘ in Leipzig. Und anschließend stelle ich eine themenbezogene Einteilung der Erscheinungsformen von Stickern/Aufklebern dar. Zwischendurch findet ihr einige Beispiele in Bild und Text. Es ist klar, dass hier kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird: dazu gibt es einfach zu viele verschiedene Sticker und vor allem Leute, die sie wo auch immer hinkleben.

Ursprünge und technische Aspekte

Das Platzieren von Aufklebern im öffentlichen Raum ist einer kleinen und harmlosen anarchischen Aktion näher als dem Straftatbestand des Vandalismus. Die Ursprünge der Sticker sind vielfältig. So haben Spuckies vor allem für Agitation/Präsenz von linken Ideen eine relativ lange Tradition. Für die Jüngeren: Spuckies sind vorgefertigte bedruckte Zettelchen, die nur in Verbindung mit Wasser (Spucke) selbstklebend sind. Für ‚die Linke‘ waren Spuckies mit Sicherheit seit den 60igern in der BRD wichtig, vor dem ersten Weltkrieg wahrscheinlich nicht. Zu dieser Zeit waren eher Anschläge/Plakate Mittel des ‚optischen politischen Kampfes‘ in der Alltagskultur. Bezogen auf den Zweiten Weltkrieg ließen sich seit dem späten Frühjahr 2015 (Tag der Befreiung?) noch von der Antifa an den entsprechenden, nach Widerstandskämpfern benannten Straßen angeklebte Reproduktionen der historischen Originale inklusive Foto-Porträt/Begleitplakat finden: Bspw. in der Georg-Schwarz- und William-Zipperer-Straße. Für die jüngere Zeit ist es plausibel anzunehmen, dass Sticker als Weiterentwicklung von Spuckies als praktische Erweiterung des Taggens (also des ‚öffentlichen Unterschreibens‘ mit Edding/Sprayfarbe) aufkamen. Praktisch weil billig, schnell zu platzieren und strafrechtlich weniger gravierend als Sprayfarbe/Edding. So sieht man etwa öfters Aufkleber der Form ‚Hello my name is …‘, wobei die Leerstelle per Edding um das Tag ergänzt wurde. Oft sind auch zweckentfremdete Paketscheine das Mittel der Wahl, die dann häufig mit Farbe und/oder Schablonen gestaltet werden. In diesem Sinne ist der Ursprung von Stickern auch apolitischer Natur, weil in Zusammenhang mit Graffitti stehend. So wirken z. B. in Leipzig entsprechende Sticker – Fast Drips/ORG bzw. der Schlagring für die RCS/Radicals – flankierend zur typischen optischen Präsenz beider Crews durch die üblichen Graffiti. Und ja, es gibt durchaus politische Motivation für Graffiti – hier ist aber die Rede von ‚dekorativen Graffiti‘, und nicht von Parolen, auch wenn die Grenzen wie so oft verschwimmen.

Es gibt bestimmt gute Gründe dafür zu glauben, dass Sticker auch ohne Spuckies ihren Weg in den öffentlichen Raum gefunden hätten. Aber immerhin waren Spuckies die ersten unkontrolliert im Stadtbild auftauchenden Zettelchen mit bestimmten Botschaften. Rein technisch gesehen lässt sich ohnehin die Frage stellen, ob eine Unterscheidung zwischen Stickern und Spuckies sinnvoll ist. Beide lassen sich massenhaft reproduzieren und verteilen. Das Internet ist aber relevanter für die flächendeckende Verbreitung von Stickern als für Spuckies, obwohl beides online barrierearm bestellt werden kann. Für die Platzierung von Stickern braucht man – im Unterschied zu Spuckies – eben einfach nichts weiter als a) den Sticker, b) einen geeigneten Untergrund und c) die Abwesenheit von Regen. Daher ist deren Verbreitung höher bzw. zumindest vielgestaltiger als die von Spuckies. An dieser Stelle noch ein Wort zur Unterscheidung von ‚professionellen‘ gegenüber ‚Do-it-yourself‘ (DIY)-Aufklebern: Für mich gehört zum DIY-Prinzip das selbständige ‚handwerkliche‘ Tätigwerden – also das Rumklecksen mit Farbe und Schablone auf Paketscheinen zum Beispiel. Das Designen von Motiven für die Internetbestellung hingegen hat zwar auch Züge davon, ist im strengen DIY-Sinne jedoch schon immer Teil der Aktion, da ja auch hier der Entwurf des Motivs an erster Stelle steht. Insofern ist für mich daher die industrielle Reproduktion von Aufklebern – etwa in professionellen Druckereien – ein Kriterium, was dem DIY-Prinzip widerspricht.

Stickerdiskurs als Reaktion auf Reklame

Sticker sind u. a. eine subkulturelle und oppositionelle Antwort auf die optische Omnipräsenz von Reklame und die damit einhergehende Reizüberflutung im Stadtbild. Diese Eigenschaft läßt sich allen Stickern zuschreiben, denen man im Alltag außerhalb des üblichen Anwendungsbereichs von Aufklebern begegnet. Wobei es eine ‚systemische Ausnahme‘ gibt, nämlich das sogenannte ‚Guerilla-Marketing‘. Ein vergleichsweise ‚sympathisches‘ Beispiel sind Skate/Graffiti-Shops oder Bandsticker. Diese systemische Ausnahme macht sich die ‚street credibility‘ des Mediums zu eigen und versucht so, etwas anderes zu sein als die herkömmliche Reklame. Klappt auch ganz gut. Aber noch sind zumindest meiner Wahrnehmung nach die meisten Sticker subversiver Natur.

Daher misst man sich, unabhängig von der eigentlichen Intention des Rumklebens, nicht nur subkulturell selbstbestimmt innerhalb des öffentlichen Stickerdiskurses, sondern steht gleichzeitig auch in Opposition zur Reklame im öffentlichen Raum. Werbung wird folgerichtig nicht selten unfreiwilliges Medium bzw. unfreiwilliger Gegenstand karikierender oder schlicht destruktiver Aktionen – Stichwort ‚Adbusting‘. Diese Anwendung teilen Sticker demzufolge mit Grafitti und – im Sinne politischer Meinungsäußerung/Agitation besonders hervorzuheben – mit Stencils. (Stencils sind zumeist einfarbige, mit Schablonen angefertigte Graffiti.) Und weiteren Streetartformen, wie z. B. diesen großflächigen und meist gedruckten Papierdingern, Kacheln und was es sonst noch gibt. So wie etwa von den notorisch sichtbaren LE-Sticker-Vandals Sladge&Konjack durchaus auch Fliesen zu bewundern sind und auch Dinge wie Guerilla-Knitting, Styropormotive und anderes im Stadtbild vorkommen.

Modell des Stickerdiskurses als Meinungsstreit

Zurück zum ‚Stickerdiskurs‘: Im Prinzip gibt es zwei modellhafte Kontexte, in denen sich Aufkleber platzieren lassen. Und das im jeweils ‚öffentlichen‘ und ‚halböffentlichen Raum‘ – der private wird hier ignoriert. Mit ‚halböffentlicher Raum‘ sind hier vor allem Kneipen etc. gemeint, deren Sanitärästhetik den subkulturellen Touch häufig aus der Stickerpräsenz bezieht.

Im ersten modellhaften Fall werden Aufkleber in einer bislang aufkleberfreien Umgebung platziert, wie etwa einer von den LSB/JCDecaux-Leuten frischgeputzten Haltestelle oder einem relativ jungfräulichen Verkehrsschild. Das ist dann gewissermaßen der Ausgangspunkt für eine diskursive Auseinandersetzung, indem sich andere Leute zur Präsenz dieses Aufklebers verhalten (müssen).

Zum zweiten kann ein Sticker in genau einer solchen Reaktion in Bezug zu einzelnen oder mehreren bereits angebrachten Aufklebern platziert werden. Er kann dann entweder unterstützend wirken oder als Kontra-Statement dienen. Der erste Fall ist eher theoretischer Natur, wenn auch nicht soo selten. Schließlich ist die mit dem Sticker transportierte Botschaft ja an dieser Stelle bereits präsent. Und auch das Kontra-Statement wird eher direkt auf dem gegnerischen Aufkleber angebracht als daneben. In bester Erinnerung sind da die prototypischen freundlichen Aufkleber mit dem Cartoonmännchen und seiner Sprechblase ‚Ich überdecke einen blöden Nazi-Aufkleber‘. Oder eben doch daneben und der andere Aufkleber wird abgerissen bzw. anderweitig unkenntlich gemacht. Es ist natürlich auch denkbar, dass z. B. politische Sticker einfach von sich gestört fühlenden Bürgern mit Kontrollbedürfnis abgerissen werden, ohne dass die Sticker-Botschaft überhaupt wahrgenommen wird. Ein Beispiel aus dem Meinungsstreit mit Stickern im öffentlichen Raum findet ihr in untenstehendem Kasten, der den politischen Diskurs mit Aufklebern in Merseburg beschreibt. Wie auch immer das im konkreten Fall aussehen mag: Aufkleber dienen der eigenen Meinungsäußerung und damit auch der Auseinandersetzung mit gegnerischen Meinungsäußerungen.

Klingt banal und ist es auch. Deswegen sind Sticker ja auch ein urbanes Massenphänomen. Aber da Banalitäten immer trivial und damit wahr sind, bieten sie auch einen sicheren Ausgangspunkt zum weiteren Nachdenken und Beobachten: Wann sind wo wie viele Sticker präsent? Diese Fakten sagen immerhin etwas zum Stand des lokalen Meinungsaustauschs im öffentlichen Raum. Wie präzise und aussagekräftig diese Fakten sind, sei mal dahingestellt: schließlich ist ja auch denkbar, dass vergleichsweise wenig Leute relativ viele Sticker in einem bestimmten Gebiet über einen längeren Zeitraum immer wieder anbringen. Damit ist dann aber auch klar, dass bei vorausgesetzter Präsenz der Sticker zumindest die Gegenfraktion entweder nicht existiert, ignorant ist oder schlicht zu faul, sich den Stress des Abpulens zu machen. Das sind alles potentiell relevante Schlüsse auf die jeweilige Situation im Meinungsaustausch der verschiedenen Szenen vor Ort. So sind zum Beispiel als Sonderfall die einzeln verblichen noch auffindbaren ‚Fence-Off‘-Sticker im Leipziger Westen (und wahrscheinlich auch anderswo in der Stadt) eine schöne Reminiszenz an den Widerstand gegen die Nazi-Präsenz in der Odermannstraße. Hier befand sich von 2008 bis September 2014 ein sogenanntes NPD-Bürgerbüro, gegen das seinerzeit u. a. mit den ‚Fence-Off‘-Stickern agitiert wurde. Das letztendliche Verschwinden des Nazizentrums aus Lindenau hat sicher viele Ursachen, aber zumindest haben Sticker die Verbreitung des Widerstandes optisch unterstützt.

Thematische Einteilung von Aufklebern

Vom Stickerdiskurs zum Versuch einer thematischen Klassifizierung: Neben den eindeutig politisch motivierten Stickern vor allem von links (Antifa, Refugees Welcome, Linksjugend etc.) existieren vielfältige weitere Formen, wie etwa ‚sportlich‘ motivierte, wobei eine trennscharfe Abgrenzung häufig nicht möglich ist. Überspitzt formuliert: Wo hört z. B. der Ausdruck der Unterstützung des FC Lok auf und wo beginnt rechtsradikale Propaganda? Besonders am Beispiel des Fußballs vermischen sich die Motivationen. (Ein seit einiger Zeit besonders kontrovers diskutiertes Beispiel seht ihr im zweiten Kasten.) So intendiert ein Sticker der BSG Chemie neben dem Support des Vereins auch immer ein politisches Statement gegen rechts – unabhängig davon, ob das dem einzelnen Betrachter/Anbringer des Stickers bewusst ist oder nicht. Oder ob der zufällige Betrachter das erkennt. Deutlicher ist das beim Fußballverein ‚Roter Stern Leipzig‘, wo häufig auch eindeutige politische Statements auf den Aufklebern zu finden sind. Als weiteres Beispiel aus dem Bereich Sport wäre etwa noch der Support des Handballvereins DHFK zu nennen.

Abgesehen davon gibt es viele Formen eher ‚ästhetisch-motivierter‘ Stickertypen, die vermutlich vor allem der ‚unpolitischen‘ Graffitiszene entspringen (LE-Sticker Vandals). Hinzu kommen noch Sonderfälle wie etwa die derzeit präsenten Mandala-Sticker der Lina-Leute, die ich persönlich einer verhipsterten Eso-Richtung zuordnen würde. Und dann gibt es natürlich noch die bereits erwähnten Sticker, die nur Reklame sind. Aber die beiden letztgenannten sind derzeit eher Randphänomene. Prototypisch unterscheiden lassen sich daher: a) politisch, b) sportlich und c) ästhetisch motivierter Sticker. Überschneidungen sind gängige Praxis und die systemische Ausnahme sind Sticker des Guerilla-Marketings.

Aufkleber sind Medium und Spiegelbild eines Meinungsaustauschs. Dabei kann es um Politik, Sport, Musik, künstlerische Freiheit oder einfach darum gehen, die neusten Sneaker im hippsten Store anzupreisen. Dieses Spiegelbild ist häufig unpräzise oder verzerrt – aber dennoch ein konkretes Abbild der gegensätzlichen Meinungsfraktionen in einem begrenzten urbanen Raum. Und außerdem macht es zumindest mir persönlich ein bisschen – zugegeben pubertären – Spaß, immer wieder an selbstplatzierten Stickern vorbeizulaufen. Optische Präsenz ist ein wichtiges Mittel in jedem Meinungsstreit. Also überlegt euch beim nächsten Besuch in einer von euch präferierten Lokalität, die auch Sticker zum Mitnehmen rumliegen hat, ob ihr nicht ein paar von denen mitnehmt und platziert. Und im besten Fall eine Spende dafür da lasst. Falls ihr eigene Beobachtungen zum Thema Aufkleber im öffentlichen Raum oder insbesondere Kritik zu den bisherigen Ausführungen beizusteuern habt, fühlt euch frei, die Feierabendredaktion damit zu behelligen. Die freut sich darüber!

[wasja]

 

* LSB = Leipziger Service Betriebe – u.a. zuständig für die Instandhaltung von Haltestellen; JCDecaux = in Leipzig marktführende Firma für Stadtmöblierung, baut/vermietet u.a. Haltestellen und Werbeflächen.

 

Exkurs 1: Sticker-Diskurs am Beispiel Merseburg

Ein etwas breiteres und rein politisches Beispiel für Manifestationen des Stickerdiskurses begegnete mir bei einem (touristisch motivierten) Besuch der Stadt Merseburg (Nähe von Halle, knapp 35.000 Einwohner). Im Stadtbild der Innenstadt finden sich erfreulicherweise ausschließlich Aufkleber politisch linker Gruppierungen (Antifa, Refugees Welcome, Anti-Homophobie-Gruppe), die zur guten Hälfte auch intakt sind. Eine beträchtliche Anzahl (vorsichtige Schätzung nach zwei Stunden Spaziergang durch die Stadt mit offenen Augen: 30-40%) der Sticker wurden beschädigt. Derartige Beobachtungen müssen naturgemäß extrem unpräzise bleiben, zumal einem nicht klar sein kann, wie viele Sticker komplett entfernt wurden und daher gar nicht mehr sichtbar sind. Außerdem lassen sich erkennbare Rückstände meist nicht mehr ihrer ursprünglichen diskursiven Stoßrichtung nach identifizieren. An einigen Stellen waren jedoch überklebte/stark beschädigte Nazisticker (gewohnte rechte Propaganda: ‚Überfremdung stoppen – Heimat schützen‘ inkl. der schwarzen Autonome-Nationalisten-Fahne) erkennbar. Auch in anderer Form ist rechte Meinungsäußerung sichtbar – so zum Beispiel in Gestalt von Eddingschriftzügen, wenn auch nicht übermäßig frequent. Fazit für die derzeitig Situation in Merseburg: linke Gruppierungen sind im Stickerdiskurs derzeit dominant. Es gibt vermutlich deutlich weniger Nazis, die sich dazu am Diskurs eher destruktiv als durch optische Präsenz durch eigene Aufkleber beteiligen.

Exkurs 2: Kritik an RB in Stickerform

Exemplarisch nachvollziehen lässt sich der Stickerdiskurs in seinen vielen Facetten am Beispiel des Umgangs mit dem Fußballverein Red Bull Leipzig. Mittlerweile existiert ein beachtliches Spektrum von Pro-RB-Stickern, vor allem von Fanclubs bzw. -gruppierungen. (Ich habe allerdings noch nie einen DIY-Aufkleber oder Vergleichbares aus diesem Lager gesehen.) Zumindest im Westen von Leipzig halten sich diese Sticker im öffentlichen Raum nicht lang. Derzeit weniger häufig sichtbar sind professionell gefertigte Anti-RB-Sticker. Am häufigsten sieht man noch den ‚Nein-zu-RB-Aufkleber‘. In Halle hingegen fiel mir bei meinem letzten Besuch im Juli diesen Jahres die massive Präsenz von professionell gefertigten Anti-RB-Stickern auf, die sich in ihren Motiven stark von den in Leipzig sichtbaren unterschieden.

Besonders das Logo einer Anti-RB-Facebookgruppe erlangte jedoch (auch in Stickerform) einiges an Aufmerksamkeit, als Herr Schöler als Redakteur des mittlerweile eingestellten Stadtteilmagazins ‚Dreiviertel‘ hier ‚strukturellen Antisemitismus‘ zu identifizieren suchte (http://3viertel.de/Inhalte-Artikel-491). In seinem Artikel kritisiert Schöler, wohl nicht ganz zu Unrecht, die Gestaltung des Logos. Diese stellt eine Parodie auf das RB-Wappen dar: die beiden symmetrischen Stiere sind durch Ratten ersetzt, welche sich an eine Euromünze klammern (s. Bild). Ja, Ratten sind eine antisemitisch vorbelastete Metapher, die insbesondere in Verbindung mit dem negativen Bezug auf Geld die Interpretation des ‚Finanzjudentums‘ heraufbeschwören kann. Andererseits legt aber auch die marketingtaugliche Namenskonstruktion des Vereins ‚Rasenball‘ die Verballhornung zu ‚Rattenball‘ relativ nahe. Dass Kapitalismuskritik auch von Antisemiten argumentativ genutzt wird – geschenkt. Aber die Kritik an einem Marketinginstrument wie RB Leipzig mit unreflektierter Kapitalismuskritik gleichzusetzen und simultan mit ‚strukturellem Antisemitismus‘ zu betiteln, erscheint dann doch ziemlich abstrus. Was genau Herr Schöler mit seinem Artikel auch immer bezwecken wollte – man kann durchaus kritisch gegen den Verein RB Leipzig eingestellt sein und dies auch mit dessen astronomischem Etat begründen, ohne Antisemit zu sein. Dann sollte man aber auch konsequenterweise den gesamten Profifußball mit seinem unrealistischen und unverhältnismäßigem Finanzgebahren in diese Kritik einschließen.

Eine Auswertung der Repression rund um die Proteste gegen LEGIDA in Leipzig

Seit Herbst 2014 veranstaltete das islamfeindliche und rassistische PEGIDA-Bündnis „Spaziergänge“ in Dresden. Mit dem Jahreswechsel 2014/15 sprangen auch Leipziger Rassist*innen auf den Zug auf und haben seit dem 12. Januar 2015 ein knappes Dutzend Demonstrationen in Leipzig durchgeführt.

Im Rahmen der Gegenproteste zu diesen anfangs wöchentlich stattfindenden LEGIDA-Aufmärschen hat die Einrichtung von Kontrollbereichen immens zugenommen: So wurden wiederholt weiträumige Bereiche um die Routen von LEGIDA und der Gegenproteste zum Kontrollbereich erklärt. Begründet sahen die Cops diese Maßnahmen dadurch, dass nur so „Auseinandersetzungen zwischen gewaltbereiten Personen“ zu verhindern seien, da „insbesondere im Internet von der linken Szene zu Blockaden gegen die Versammlung von LEGIDA aufgerufen wurde“ (Kleine Anfrage im Sächsischen Landtag; Drs.-Nr. 6/802). Durch den tatsächlichen Verlauf der Protestkundgebungen sahen die Cops ihre Prognose bestätigt und hielten daher daran fest.

Die Schaffung von Kontrollbereichen bietet rechtliche Grundlage für haufenweise Identitätsfeststellungen und Durchsuchungen potentieller Teilnehmender. Dadurch können sich die Cops mit geringem Aufwand einen weiten Überblick verschaffen, welche Menschen gewillt sind, an den Gegenprotesten teilzunehmen. So wurden nicht nur die Daten von Beschuldigten im Rahmen von Ermittlungsverfahren erfasst, sondern aufgrund der breiten Gegenproteste auch von studentischen und zivilgesellschaftlichen Gruppen. Beispielsweise wurden am 12.01.2015 ein Prozent aller Teilnehmenden auf ihre Identität kontrolliert (Kleine Anfrage im Sächsischen Landtag; Drs.-Nr. 6/693) – das waren namentlich 258 Personen.

Doch auch während der Gegenproteste kam und kommt es wiederholt zu polizeilichen Übergriffen, welche die Teilnahme an Aktionen einschränkt oder gar verunmöglicht und auf die Teilnehmenden abschreckend und kriminalisierend wirkt. So gibt es zum Einen, trotz fehlender Gefahrenlage, eine dauernde videographische Erfassung des gesamten Demonstrationsgeschehens durch Einsatzwägen, Handkameras und Helikopter, welche sich einseitig auf die Geschehnisse der Gegenproteste beschränkt. Weiter wird Teilen der Aktivist*innen regelmäßig die Teilnahme an den angemeldeten Protesten durch weiträumige Absperrung der Zugänge oder Platzverweise unmöglich gemacht. Platzverweise werden aber nicht nur im Vorfeld der Versammlungen oder bei angeblichen Gefahrenlagen erteilt, sondern auch gegenüber Zeug*innen von polizeilichen Maßnahmen, da diese für die Cops zumeist unerwünscht sind.

Schon beim ersten LEGIDA-Marsch am 12. Januar, dem mehrere zehntausend Demonstrant*innen entgegentraten, gab es nahe des Mückenschlösschens im Norden von Leipzig einen Blockadeversuch. Gegen mindestens 60 Betroffene wurde im Zuge dessen wegen einer angeblich unerlaubten Ansammlung ein Verfahren eingeleitet. Mehrere Beschuldigte haben in diesem Ordnungswidrigkeitenverfahren mittlerweile Bußgeldbescheide in Höhe von jeweils etwa 130 € bekommen.

In den folgenden Wochen häufen sich die Berichte von polizeilicher Gewalt: So befanden sich Betroffene von Strafverfolgungsmaßnahmen, beispielsweise unter dem Vorwurf des Landfriedensbruchs, bis zu sechs Stunden in polizeilichem Gewahrsam ohne einem*einer Richter*in vorgeführt worden zu sein, obwohl dies obligatorisch ist. Auch wurden Personen bei der Räumung von Sitzblockaden oder bei Festnahmen beleidigt, ins Gesicht geschlagen, sodass sie zu Boden gingen, aber auch Würgen und die Anwendung von Schmerzgriffen kamen wiederholt vor.

Das gewaltsame Vorgehen der Cops steigerte sich fortlaufend. So erlitt eine Person Berichten zufolge nach der Auseinandersetzung mit diesen ein Schädelhirntrauma, mindestens eine weitere Person musste nach Auseinandersetzungen für mehrere Tage ins Krankenhaus. Bis jetzt erreichte das Vorgehen der Cops seinen Höhepunkt, als Blockaden mit Pfefferspray und durch den Einsatz von Pferden „geräumt“ und Aktivist*innen geschlagen wurden, sodass sie anschließend ärztlich behandelt werden mussten. Andere Personen berichten von Angriffen durch Nazis und dem gleichzeitigen Nichteingreifen der Cops vor Ort. Wiederholt wurden einigen Teilnehmer*innen zudem von LEGIDA-Anhänger*innen und Cops eine Anzeige wegen Körperverletzung angedroht.

Darüber hinaus gab es verschiedene Kessel mit mehreren Dutzend Betroffenen, bei denen Platzverweise ausgesprochen und ED-Behandlungen durchgeführt wurden. Den Aktivist*innen wird hier teilweise Landfriedensbruch vorgeworfen.
Im Rahmen von LEGIDA sind manche der Beschuldigungen von den Cops an Absurdität aber auch kaum mehr zu übertreffen: so gab es ein Verfahren wegen eines ACAB-Schildes, diese Abkürzung stand in diesem Zusammenhang für „All Coulors are beautiful“. Der Vorwurf hier: Beleidigung. Auch wurden uns am Rosenmontag polizeiliche Maßnahmen wegen Faschingsschminke gemeldet, hier lautete der Vorwurf Vermummung. Weiter wurde der Vorwurf der Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole mehrfach angeführt, wenn Teilnehmende ihre Ablehnung gegenüber LEGIDA beispielsweise in Form von durchgestrichenen Hakenkreuzen kundtaten. Mehrere Personen wurden zudem mit der Begründung kontrolliert und durchsucht, weil sie einer Gruppe, die eine Woche vorher Steine geworfen haben soll, ähnlich sähen. Dies wurde insbesondere an der schwarzen Kleidung festgemacht.

Bei vielen der hier dargelegten Verfahren gibt es bisher noch keine Ergebnisse, da die Ereignisse noch nicht so lange zurückliegen. Der EA und die Rote Hilfe Leipzig rechnen insgesamt jedoch bisher mit mehreren hundert Strafverfahren.
Sofern ihr von diesen Repressionen betroffen seid, lasst euch nicht abschrecken, denn genau das wollen die Repressionsorgane damit erreichen. Für alle anderen gilt: Solidarisiert euch mit den Betroffenen! Antirepression kostet Geld: veranstaltet Solipartys oder spendet Geld auf das Sonderkonto der Roten Hilfe Leipzig!

[Ermittlungsausschuss Leipzig und Rote Hilfe Leipzig, 30. Juni 2015]

 

Sprechstunde: Jeden 1. Freitag im Monat, 17:30 – 18:30 (Linxxnet)

Spendenkonto: Rote Hilfe e.V. Leipzig
IBAN: DE88 4306 0967 4007 2383 05
BIC: GENODEM1GLS
Verwendungszweck: „Montag”

Ein ganz normaler Tag bei NoLegida

FALLSCHILDERUNG:

Die folgende Zusammenfassung einer betroffenen Person zeigt, wie Gegendemonstrant*innen im Umfeld von LEGIDA schikaniert und verunsichert werden sollen, um damit das Fernbleiben von Gegenprotesten zu erzielen:

Die betroffene Person (S.) wurde am Tag der LEGIDA-Demonstration Ende Januar 2015 von einem zivilen Tatbeobachter angeblich bei einer Straftat beobachtet. Im Folgenden soll S. deswegen über eine Stunde ununterbrochen von diesem und einem weiteren zivilen Tatbeobachter observiert worden sein. Nach etwa einer Stunde folgte eine Festnahme durch die Bundespolizei, welche die Person zunächst intensiv durchsuchte und während der gesamten Maßnahme filmte. Hierbei wurde ihr vorgeworfen, einen Autospiegel beschädigt zu haben. Fast alle mitgeführten Dinge wurden abgefilmt und beschlagnahmt, u.a. ein Handy und zwei Kameras samt Akku und Ladekabel, wogegen die betroffene Person noch vor Ort Widerspruch einlegte. Als S. in Geleit von über zehn Cops in eine Tiefgarage abgeführt wurde, verwehrte die Polizei eine*r Zeug*in, welche*r die Festnahme beobachten wollte, die Beobachtung. Sie*er konnte jedoch erkennen, dass S. zwischen mehreren Polizeiautos umringt von Cops stand und dort weiter abgefilmt und geblendet wurde. Dabei wurde S. aufgefordert in die Kamera zu schauen. Als S. erwiderte, dass das Licht blende, wurde der Kopf kurzerhand gewaltsam durch die Cops in Richtung der filmenden Kamera gedreht. Abermals wurde der*dem Zeug*in seitens der Polizei verbal und durch Abdrängen klar gemacht, dass Außenstehende unerwünscht seien. Die festgenommene Person wurde indes nach der PIN des beschlagnahmten Handys gefragt, worauf diese keine Angaben machte. Dabei wurde seitens der Cops auch untersagt, den Akku zu entfernen oder das Gerät auszuschalten. Eine Liste der beschlagnahmten Dinge, auf der ein Akku sowie ein Ladekabel fehlten, wurde der beschuldigten Person vorgelegt, um diese zu unterschrieben. Dies lehnte S. konsequenterweise ab.
Dieser Vorfall zeigt, dass kleinste Vorwürfe genutzt werden, um fast sämtliche Gegenstände einer Person zu beschlagnahmen, zu durchleuchten und möglicherweise auszuwerten. Erst nach mehreren Monaten ist mit der Rückgabe mancher Sachen zu rechnen. Weiter muss davon ausgegangen werden, dass zurückgegebene Sachen seitens der Polizei und des Staatsschutzes zur Aufzeichnung und Verfolgung manipuliert wurden. Daher raten wir vor allem bei technischen Geräten unbedingt von einer weiteren Nutzung ab.

[Rote Hilfe Leipzig]

15. Januar 2015: Braustraßenkessel

Aktuell verschicken die Cops Anhörungsbögen für das Strafverfahren wegen dem Braustraßenkessel vom 15.01.2015. Schickt die Anhörungsbögen nicht zurück! Auch der Bogen mit den Pflichtangaben muss NICHT! zurückgeschickt werden, da die Cops die Daten eh haben.

Nach unseren Erfahrungen werden Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruch oft eingestellt, weil den später vor Ort (d.h. hier: im Kessel) festgestellten Personen keine “Tathandlung” nachgewiesen werden kann.

Es kommt also darauf an, ob die Cops Anhaltspunkte dafür haben, dass ihr euch an den Ausschreitungen beteiligt habt. Wenn ihr nicht einfach abwarten wollt und euch das zutraut, findet ihr das durch eine Einsicht in die Ermittlungsakte heraus, die ihr auch selbst beantragen könnt (Muster am Ende des Artikels). Die Einsicht in die Akte steht euch zu und darf nicht verwehrt werden. Nehmt euch Papier und Stift mit, um die interessanten Sachen rauszuschreiben.

Achtung: Beim Termin der Akteneinsicht können die Cops versuchen, euch in Gespräche zu verwickeln, oder sonst wie an Aussagen von euch zu kommen. Macht von eurem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch! Ihr seid nur dort, um Einsicht in die Ermittlungsakte zu nehmen, sonst nichts. Es ist schon vorgekommen, dass nur aufgrund der eigenen Angaben Anklage erhoben wurde. Also redet nicht mit Cops oder Justiz! Es kann auch sein, dass ihr beim Lesen der Akte beobachtet werdet und eure Reaktionen von geschultem Personal registriert werden.

Wenn ihr Fragen rund um die Akteneinsicht habt, könnt ihr gerne zur Sprechstunde vorbeikommen.

[Rote Hilfe Leipzig]

https://antirepression.noblogs.org/post/2015/08/13/braustrassenkessel-vom-15-januar-2015-2/

 

Musterantrag auf Erteilung der Einsicht in die Ermittlungsakte:

Anna Arthur Trotz

Revoluzzergasse 1

1312 Stadt

 

An: Polizeidirektion Leipzig / Dez. 5

Postfach 100661

04006 Leipzig

In dem Ermittlungsverfahren gegen mich – Vorgangsnummer: (steht im Anhörungsbogen oben rechts) – beantrage ich mir zunächst Akteneinsicht gemäß § 147 Abs. 7 StPO zu gewähren und bitte um Mitteilung wann und wo ich Einblick in meine Akten bekomme.

Bis dahin mache ich von meinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch.

MfG

Anna Arthur Trotz (unterschreiben!)

Januar 2015 – ein Erfahrungsbericht aus Dresden

[Der Autor des folgenden Textes, Mohamed Okasha, ist Beauftragter für ausländische Studierende an der Universität Leipzig. In dieser Eigenschaft wurde er am 14. Januar 2015 von Sachsens Ministerpräsident Tillich zum Neujahresempfang unter dem Titel „Aus aller Welt – zu Hause in Sachsen“ ins Dresdner Albertinum eingeladen (http://www.medienservice.sachsen.de/medien/news/196257). Am 13. Januar 2015 geschah in Dresden der Mord an Khaled Bahray, einem Asylbewerber aus Eritrea. Durch die Fehlannahmen der Polizei, es handele sich um einen Todesfall ohne Fremdeinwirkung, begann die Spurensicherung viel zu spät. Der Fall verursachte internationale Resonanz und die Dresdner Polizei geriet unter starke Kritik. Im folgenden Beitrag gibt der Autor einen subjektiven Erfahrungsbericht im Klima dieser Ereignisse.]

Ein Asylbewerber wurde getötet… Ich gehöre nicht hierher:

Zurück aus Dresden… aus einer der schönsten Städte Deutschlands.. jedoch aber eines der schlimmsten Völker Deutschlands.. Ich habe eine Einladung vom Ministerpräsident von Sachsen bekommen, als Vertreter der ausländischen Studenten der Uni Leipzig. Ich war sehr glücklich und dachte, der Mann wollte wissen, was wir brauchen, oder wie können wir das Problem von Pegida überwinden, oder wie kann man den Integrationsprozess fördern, oder wie sieht es aus mit den Problemen der Flüchtlinge, ausgegangen davon, dass ich mich mit diesem Thema gut auskenne…

Zwei Szenen:

Die erste Szene: Durchaus schöne Halle, geschmückt, am Eingang stehen schöne Frauen mit Gläsern Wein, Saft und Wasser… Alles kostenlos.. Rechts gibt es ein offenes Buffet… Die Halle ist voll von sehr schicken Persönlichkeiten, Leiter von Parteien, VIPs … Eine Tafel mit dem Titel „Sachsen für alle Zuhause“ oder so, der Satz ist auf allen Sprachen geschrieben außer der Arabischen… mmm… nicht schlimm, kein Problem… .. Klassische Live Musik, eine Band aus zehn verschiedenen Nationalitäten.. eine Werbung, in der Schüler aus verschiedenen Nationalitäten zusammen basteln. Der Ministerpräsident bestätigt in seiner Rede, dass er sich für alle Bürger interessiert… Dann taucht eine Tanzgruppe auf, die schöne Bewegungen macht… Ich: Dafür bin ich aus Leipzig gekommen?? Ist das alles?!! Eine draußen rauchen ist besser…

Die zweite Szene:

Vor dem Haupteingang der Halle… Eine Gruppe von armen Menschen, nicht mir fremd, Asylbewerber.. Ich: „Warum demonstrieren sie?“ Ein schicker Mann: „eine Spontan-Demo, nicht gemeldet?“ „Aber wozu?“ „Ein Ausländer wurde gestern abend getötet?“… Ich gehe zu ihnen, ungefähr ein Hundert Asylbewerber,… eine alte Frau jammert… die Verwandte des Toten… ungefähr sieben Deutsche, die mitdemonstrieren, und eine Rede halten, aber auf Deutsch… die Asylbewerber verstehen nicht… einer fragt mich ob ich Arabisch sprechen kann.. ich übersetze die Rede, und ich verstehe nix, was ist los? was ist gestern passiert? wie wurde dieser Typ getötet?… Die Demonstranten wollen mit dem Ministerpräsident reden… ich gehe um ihn darum zu bitten, mit ihnen zu reden,… zufälligerweise finde ich die Integrationsministerin, eine alte nette Frau… sie redet mit ihnen und ich übersetze… Zum ersten Mal hier in Deutschland sehe ich diese Angst… sie können nicht einkaufen gehen, sie können nicht auf der Straße laufen… Ihre Heime werden täglich angegriffen… kein Sicherheitsdienst… die alte Frau hat kein Essen zuhause, da sie Angst hat, auszugehen um einzukaufen.. Die Leute spucken ihnen ins Gesicht… sie fühlen überhaupt keine Sicherheit… sie wollen weg von hier… sie wollen ihre Pässe wieder damit sie von hier weggehen können… sie sind geflohen um sicher zu leben… aber leider keine Sicherheit… sie wollen kein Geld, sie wollen nur Sicherheit…
Die Ministerpräsidentin spricht ihr Beileid aus, verspricht, sich mit den Betroffenen diese Woche zu treffen, um praktische Lösungen zu finden…

Ich gehe zurück zu meinem Treffen… eine völlig andere Welt, die nicht spürt, was draußen passiert… Geräusche der Gläser statt der Rufe… Lachen statt Weinen… Lächeln statt Tränen… Das ist nicht mein Platz… ich gehöre nicht hierher… ich packe meine Sachen ein und gehe zu den Demonstranten… zu meinen Leuten.

[Mohamed Okasha]

Öko-Blockupy im Jahre 2015: Kohlebagger blockieren!

Erlebnisbericht Ende Gelände

Mit über tausend Menschen Kohlebagger zu blockieren, um der Klimakatastrophe vorbei an den Parlamenten etwas entgegenzusetzen, klang für mich gleich nach einer reizvollen Idee. Dass wir dabei noch ein altes „linkes Dogma“ brechen würden, welches uns neue Freiheiten ermöglichen könnte, ahnte ich vorerst nicht. Aber von vorne…

 

Warum gegen Kohleabbau?

Seit den relativen Erfolgen der Anti-AKW-Bewegung erwuchs in den letzten Jahren ein neues Aktionsfeld zu einem immer akuteren Problem: Während die Klimakatastrophe (verharmlosend auch Klimawandel genannt) sich nun auch hierzulande immer deutlicher bemerkbar macht, wird entschieden, von Atomenergie auf Kohlekraft zurückzuschwenken. Die in der Energiegewinnung durch Kohle entstehenden CO2-Schadstoffe machen mit 30% den größten Anteil der klimaschädlichen Abgase aus. Die Kohletagebaugruben im Rheinland bei Köln, mit den darum angeordneten Kohlekraftwerken, sind die größte CO2-Schleudern Europas – und das mitten in Deutschland. Der Energiekonzern RWE ließ hier von seinen Arbeiter_innen für den Tagebau Löcher graben, die eine Gesamtfläche von 84 km² zur öden Mondlandschaft machen und bis zu 400m tief sind. Wälder, Wiesen, Äcker und ganze Dörfer fielen dem Bagger schon zum Opfer; die menschlichen Bewohner_innen wurden umgesiedelt, die Autobahn verlegt (was natürlich mit Steuergeldern finanziert wurde).

Genug Gründe also, um auch hier ähnliche Massenaktionen zu starten, wie sie gegen die Atomkraft seit Jahrzehnten üblich sind. Zudem, und dieser Aspekt sollte nicht vergessen werden, handelt es sich hierbei um einen der vielen Widersprüche, die der Kapitalismus hervorbringt: Das Profitinteresse der Konzerneigner/-anteilhaber steht gegen das Lebensinteresse der Menschen. Heute schon sterben Hunderttausende an Wüstenbildung und dem steigenden Meeresspiegel. Also spielte auch die antikapitalistische Motivation für viele eine Rolle.

Die basisdemokratische Zeltstadt

Ich war ohne großen Zusammenhang (Gruppe oder Organisation) mit meinem Mitbewohner am Donnerstag Abend, den 13. August 2015, auf das Klimacamp gefahren, von wo es losgehen sollte. Die Aktion „Ende Gelände“ war von Freitag den 14. bis Sonntag den 16. angekündigt. Das Klimacamp überzeugte schon bei der Ankunft um 10 Uhr abends mit seinem Flair: eine kleine Zeltstadt mit großen Zirkuszelten für Plena bei Hitze oder Regen und viele kleinere Zelte für die Küche, Infozelt, Pressezelt, Kinderzelt usw., sanft beleuchtet durch Feuer und viele kleine Strahler.

Empfangen wurden wir nicht nur durch einen netten Aktivisten, der uns das nötigste erklärte und noch Vokü-Reste (1) gab, sondern vor allem durch die Livemusik des anarchistischen Violinisten Klaus der Geiger. Die vielen hundert Menschen, die ihre Campingzelte auf dem in Barrios aufgeteilten Zeltplatz stehen hatten, ließen uns erahnen, was wir die letzten Tage verpasst hatten: Bereits seit dem 7. August fand hier das Klimacamp 2015 statt, eine noch recht junge Tradition (2) von Aktions-Camps gegen die Klimakatastrophe. Zusätzlich fand auf diesem Camp dieses Jahr seit dem 9. August die Degrowth-Sommerschule statt. Dort wurde mit hunderten internationalen Teilnehmenden die Wachstumsfrage diskutiert. Wir ließen den Abend mit all diesen Menschen, wovon die meisten zwischen 20 und 40, einige aber auch einiges älter waren, bei einem Ska-Konzert ausklingen.

Vorbereitungstag

Den Freitag nahmen wir als mehr oder weniger reinen Vorbereitungstag wahr. An diesem Tag fanden vier Bezugsgruppen-Findungstreffen statt, damit auch alle Einzelgänger_innen und Kleinstgruppen sich in der Organisierung einfinden konnten. Die Bezugsgruppen sind schließlich nicht nur dafür da, sich auf ein Aktionslevel zu einigen und auf der Aktion nacheinander zu schauen, sondern auch, um mithilfe von Deli-Plena (3) vor und während der Aktion eine Basisdemokratie wirklich werden zu lassen. Dieser basisdemokratische Anspruch wurde nicht „nur“ aus politischer Überzeugung aufgestellt, sondern, so sollte es sich später zeigen, spielt eine wichtige Rolle, um eine solche Aktion überhaupt in dieser Breite umsetzen zu können.

Auf dem Aktionstraining wurden Erfahrungen und Überlegungen für die Aktion geteilt und besprochen, schließlich ging es nicht um eine einfache Demo, sondern darum, Polizeiketten zu „durchfließen“ (4) und in ein von Kohlestaub verseuchtes Loch hinabzusteigen.

Neu und besonders interessant für mich war eine Idee, die häufig angesprochen und diskutiert wurde: auf die Aktion keinen Ausweis mitnehmen und auch bei einer Ingewahrsamnahme den Namen nicht preisgeben. Dies war sehr neu für mich, war es doch zu einer Art „Dogma“ geworden, seinen Ausweis bei jeder Aktion mitzunehmen, um der Ingewahrsamnahme durch die Polizei zu entkommen. Hier wurde als Gegenargument genannt, dass ein solches Handeln das Vorgehen der Polizei enorm beschleunigt und wir, wenn wir uns in großer Zahl weigerten mitzuspielen (also unsere Identität nicht preisgäben): für die Polizei eine solche Belastung sein könnten, dass sie uns ziehenlassen müsste, ohne unsere Identitäten zu kennen. Schließlich darf die Polizei, wie es hieß, in NRW die Aktivist_innen maximal 12 Stunden festhalten und würde mit über tausend Gesetzesübertreter_innen auf einmal völlig überfordert sein.

Demgegenüber lag natürlich die Möglichkeit, dass unsere Rechnung nicht aufgehen und die Polizei die Verweigerer_innen besonderen Schikanen aussetzen könnte. Auf den Plena entschied sich die Mehrheit für das Zuhauselassen des Ausweises, aber akzeptierte natürlich, dass eine nicht unerhebliche Minderheit sich dagegen entschied und den Ausweis mitnehmen wollte.

Im Laufe kamen ständig immer mehr Leute dazu, die wie wir extra für die Aktion angereist kamen. Jeweils über hundert kamen aus den Niederlanden, Frankreich und Großbritannien. Aber auch viele Sprachen aus fast allen anderen Ländern Europas konnten an allen Ecken und Enden gehört werden. Einige hatten zum Teil noch sehr kleine Kinder dabei, schließlich war die Aktion für sehr breite Beteiligung konzipiert. Die Küche, das erfahrene Aktionskoch-Team Rampenplan aus den Niederlanden, war diesem Ansturm aber gewachsen und präsentierte zu jeder Mahlzeit ein außerordentlich leckeres veganes Gericht, abends schon fast ein Menü mit Salat.

Diesen Abend beendeten wir mit einem großen Plenum und der Spannung: Morgen früh geht’s los… Wird das wohl klappen? Werden wir Knüppel, Tränengas und Gefangenensammelstelle umgehen können?

Im Frühtau zur Grube wir ziehn…

Außer einem Hubschrauber, der uns nachts weckte, schliefen wir gut bis zur Megaphon-Durchsage um 6 Uhr, die alle Zelte weckte. Es war Müsli futtern, in die Kaffeeschlange stellen und Schutzanzug anziehen, der die Haut und Kleider vor Kohlestaub schützen sollte, angesagt. Dazu bekamen alle auch Atemmasken und Wasserflaschen gestellt; wir fühlten uns durch die gute Organisierung also gut vorbereitet. In vier Finger aufgeteilt, marschierten wir mit Transparenten, Strohsäcken und bemalten Regenschirmen „bewaffnet“ los. Einige neue Parolen und Lieder, die sich um Bagger, Grube und Klima drehten, wurden angestimmt, auch bekannte Anticapitalista- und ähnliche Parolen gehörten dazu, bis sich unsere „Finger“ trennten und wir mit einer Gruppe von ca. 250 Leuten einen Feldweg einschlugen. Das erste und vielleicht größte Hindernis war die Autobahn, die uns von der Kohlegrube trennte und deren wenige Unterführungen von der Polizei gut bewacht wurden. Als wir unsere erste sehr enge Unterführung durchwandern wollten, kamen wir durch die Polizeikette am anderen Ende des Tunnels nicht durch und mussten umkehren. Auch an einer zweiten Stelle blieben wir erfolglos. Die anderen Finger waren, so wurde es über Lautsprecher durchgesagt, schon in der Grube. Um in einem Deli-Plenum das weitere Vorgehen zu besprechen, hielten wir an.

Als schon die wildesten Ideen zu sprießen begannen, wie wir die Autobahn überwinden könnten, kam plötzlich eine Durchsage, dass Kletterer sich von Autobahnbrücken abgeseilt hätten und die Polizei deshalb nun die Autobahn sperren müsste. Also stellten wir uns an die Böschung und stiegen beim vereinbarten Signal zur Autobahn herab, um dieses landschaftszerschneidende Monster endlich zu überwinden.

Nicht zu sehr rennen! Keine Hektik! Über die Mittelplanke – die Autobahn ist tatsächlich wie leergefegt – und auf der anderen Seite wieder durchs Gestrüpp in mehreren Reihen hochklettern. Geschafft! Endlich, nachdem die Bezugsgruppen sich wieder geordnet hatten, ging es mit neuem Euphoriegefühl auf zur Grube!

 

Bagger sind zum Spielen da!“ (Parole einer sehr jungen Aktivistin auf einem Transparent)

Von der Autobahn bis zur Grube war es nicht mehr weit. Am Loch angekommen, sahen wir das beeindruckende und doch auch schauerliche Schauspiel: Viele Kilometer lang und breit erstreckt sich vor uns die Kohlegrube, eine in mehreren Schichten abgetragene, geebnete Landschaft. Durchzogen war sie von pfeilgraden, riesigen Förderbändern, auf die die größten Maschinen der Welt, die Schaufelradbagger, Kohlesand schleuderten, den sie mit ihren riesigen Rädern von der Grubenwand schabten; am Horizont einige Kraftwerke, die ihre Abgase und Abwärme zu beachtlichen Wolken in die Atmosphäre pusteten.

Wir liefen ein wenig am Loch entlang, bis zu angemessenen Abstiegsmöglichkeiten. Einige ältere Aktive oder welche mit Kindern blieben an den Rändern stehen, um dem Rest Mut zuzurufen. Während wir abstiegen, überholten uns einige Polizist_innen Typ „Robocop“ und stießen uns grob zur Seite: Ganz klar wollten diese verhindern, dass wir den Abstieg vollendeten. Wie wir in der Vorbereitung besprochen hatten, versuchten wir uns kurz vor Ankunft an der Ebene aber nicht durch diese durchzuzwängen: Wir gingen stattdessen so lange an der Schräge entlang, bis sich die Polizeikette so weit auseinandergezogen hatte, dass sie keine Chance mehr hatte und wir alle unbehelligt „durchfließen“ konnten.

Unten angelangt und im Jogging-Tempo unter einem Fließband durchgerannt, versuchte die Polizei uns erneut zu überholen und zu kesseln. Das gelang ihr dann schließlich auch viele hundert Meter später. RWE-Fahrzeuge, die uns auf gefährlich-wütende Weise überholt und fast angefahren hatten, dienten der Polizei als Verstärkung des Kessels. Wie ich später hörte, hatten die Polizeifahrzeuge im kohlesandigen Loch Schwierigkeiten gehabt und sind teilweise stecken geblieben.

 

Aus dem Kessel, aus der Grube

Da waren wir nun eingekesselt, weit entfernt vom nächsten Bagger. Dennoch hatten zwei Finger es bis zum Bagger geschafft und alle Bagger mussten aus Sicherheitsgründen angehalten werden. Diese Nachricht und der Erfolg stimmten uns trotz der gekesselten Lage positiv. Per Deli-Plenum wurden noch verschiedene symbolische Aktionen für Photos im Kessel entschieden und, nach Einholen der Stimmung aller Gekesselten, über Ausbruchsversuche diskutiert. Letztlich verzichteten die nicht wenigen, die Ausbruchsversuche wagen wollten, darauf, um dem Wunsch einiger Anderer entgegenzukommen, die eine Eskalation der Situation dadurch befürchteten. Hier zeigte sich, wie wichtig basisdemokratische Entscheidungen waren, damit auch die Bedürfnisse derer mit weniger Risikobereitschaft berücksichtigt werden konnten.

Nach einigen Stunden holte die Polizei zwei Personentransportfahrzeuge, um uns abzutransportieren. Die Androhung der Polizei, wer nicht kooperiere würde gewaltsam geräumt und das Versprechen, wer seine Identität preisgäbe, käme mit einem Platzverweis und ohne Ingewahrsamnahme davon, führten in vielen Gruppen zu erneuter Diskussion. Doch wir blieben bei unserem Vorhaben, unsere Namen nicht herauszugeben.

Wenige ließen sich freiwillig mitnehmen, die meisten ließen sich wegtragen, und über das Deli-Plenum wussten wir auch, dass die meisten die Identitätspreisgabe verweigerten. Die Polizei steckte uns – je nachdem, ob wir einen Ausweis hatten oder nicht – in zwei verschiedene dieser Personentransporter. Als wir jedoch Parolen grölend im Fahrzeug das Loch verließen, blieben beide Fahrzeuge an der Landstraße stehen: Auch die Namenlosen und Ausweislosen wurden mit einem mündlich ausgesprochenen Platzverweis einfach entlassen, ohne eine Möglichkeit (5) die von RWE gestellte Strafanzeige auch durchzusetzen. Ein Freudenausbruch bei den meisten von uns begann, die ganz Frechen begannen „Aus dem Kessel, in die Grube“ zu skandieren – da wir aber total fertig waren und teilweise auch Pfefferspray abbekommen hatten, war das wohl aber mehr Provokation als Ernst. Es ärgerten sich natürlich die, die ihren Ausweis dabei hatten oder gar sich nur spontan dazu entschieden hatten, ihre Identität preiszugeben. Die Lehre ist immer wieder dieselbe: Glaube den Bullen nicht, sie lügen dir ins Gesicht, wenn sie etwas davon haben. Auch ihre Einschüchterungsversuche solltest du nicht so ernst nehmen!

 

Entlassungen

Unser Finger war der letzte in der Grube, und wir hörten, dass nicht alle dasselbe Glück gehabt hatten. Über 300 Menschen wurden in Gewahrsam genommen, teilweise bis nach Aachen gebracht. Aber auch dort mussten viele ohne Identitätsfeststellung freigelassen werden. Das Camp konzentrierte sich bis in die Nacht darauf, die Rückkömmlinge von der Gefangenensammelstelle abzuholen, sie wie Held_innen zu empfangen (Jubel über das ganze Camp), ihre Wunden zu versorgen (ich sah eine üble Platzwunde am Kopf, wohl durch Schlagstockeinsatz, sonst aber hauptsächlich das relativ harmlose und doch schmerzhafte Pfefferspray), mit leckerem Essen, Bier, Kartoffelchips zu verwöhnen. An diesem Abend waren wir sehr müde, teilweise von Pfefferspray gebrannt, leicht enttäuscht, dass wir die Bagger nicht selbst blockieren konnten, und doch sehr zufrieden.

[knoti]

(1) Ich überlasse ungern Begriffe den Rechten und benutze deshalb bewusst Begriffe wie Volksküche, um den plebejischen Volksbegriff (die Masse, das Fußvolk, der „Pöbel“, wie pueblo, people oder peuple, also alle, die nicht Herrschende sind) gegenüber dem ethnischen (diese dumme Idee, auf die Nazis so abfahren, es könnte ein „Volk“ von einem anderen unterschieden werden, dabei gibt es nur das Volk) wieder stark zu machen!

(2) Das erste „camp for climate action“ fand 2006 in North Yorkshire, England, statt. In Deutschland war das Klima/Antira-Camp im Hamburg 2008 das erste, welches sich mit der Klimaproblematik intensiv befasste.

(3) Abkürzung für Delegiertenplenum für basisdemokratische Organisierung: Jede Bezugsgruppe bestimmt bei jeder Entscheidung eine_n Delegierten, die dann eine Plenum mit allen anderen Delegierten abhalten und, nachdem mögliche Entscheidungen vorher zurück in den Bezugsgruppen diskutiert wurden, Entscheidungen Treffen können.

(4) „Durchfließen“ nennt sich die Technik, Polizeiketten nicht als Block zu durchbrechen, sondern sich kurz vor der Polizeikette zu zerstreuen und entstehende Lücken in der Kette zu nutzen um „einzeln“ hindurchzukommen. Dabei kommen dann meistens alle durch. Dies hat sich im Anti-Castor-Protest entwickelt und wird seither bei Blockupy und vielen weiteren Aktionen angewendet.

(5) Außer wenn die Polizei inzwischen Bilderkennungssoftware einsetzt, um über biometrische Ausweisbilder die Identität über die Fotos zu ermitteln, die bei der Räumung von jeder_m gemacht wurden, einsetzen könnten und dürften. Das Neue Deutschland berichtete, dass 800 Strafanzeigen gestellt wurden, zumeist gegen Unbekannt.

 

Kasten: Ende Gelände – Eine Aktion nur für Umweltgruppen?

Es waren nicht nur betroffene Anwohner_innen, Öko- und Anti-AKW-Gruppen bei Ende Gelände aktiv, sondern auch viele linke und linksradikale Zusammenhänge. So waren einige Gruppen der Linksjugend Solid, der zugehörigen Partei und der Interventionistischen Linken, aber auch das zu Migration und Migrationsursachen arbeitende Netzwerk Afrique-Europe-Interact (die Wüstenbildung durch die Klimaerwärmung in Afrika ist vermehrt eine Fluchtursache), mehrere No-Lager-Gruppen und auch Tierbefreiungsgruppen mit dabei. Die Vorarbeit für Ende Gelände leistete aber wohl vor allem die Kampagne AusgeCO2hlt und die Waldbesetzer_innen im Hambacher Forst (der ebenfalls für das Kohleloch abgeholzt werden soll), die mit einigen anderen Initiativen schon seit Jahren gegen die finsteren Taten RWEs im Rheinland kämpfen (siehe ausgeco2hlt.de und hambacherforst.blogsport.de)

Ein Interview zur Gemeinsamen Ökonomie

Ich denke, Menschen sind eher dafür gemacht in Gemeinschaft zu leben, als alleine.“

Immer mehr Menschen träumen von einem Leben in Gemeinschaft mit gegenseitiger solidarischer Unterstützung. Einige davon leben diesen Traum, bspw. in Haus- oder Kommuneprojekten. Allerdings hat selbst dort die gegenseitige Hilfe oftmals ihre Grenzen im finanziellen Bereich – nur wenige betreiben auch gemeinsame Einkommens- und Vermögensökonomie. Ein Leipziger Beispiel dafür ist die Luftschlosserei, eine Kommune die zwar noch keinen gemeinsamen Hof besitzt, dennoch seit März 2014 gemeinsam wirtschaftet und ihre gesamten Einnahmen solidarisch miteinander teilt. Aktuell besteht sie aus sieben Kommunard_innen, die zum Teil in einer WG zusammenleben. Welche Erfahrungen sie bisher mit gemeinsamer Ökonomie gemacht haben und wie sie mit dem Spannungsfeld von individuellen Bedürfnissen und Gruppenverantwortung umgehen, ist Gegenstand des folgenden Interviews mit zwei der Kommunard_innen.

FA!: Ihr teilt euer Einkommen, wie funktioniert das in der Praxis?

A: Also einige von uns verdienen Geld, das landet erst mal auf den Konten von den Leuten und wir haben eine gemeinsame Kasse im Haushalt, wo man sich Geld rausnehmen kann. Wir führen darüber Buch: Wieviel hab ich mir rausgenommen und was hab ich verdient diesen Monat und was ist so von Konten abgegangen? Wir versuchen uns einmal im Monat gemeinsam einen Überblick zu verschaffen und fangen jetzt auch an, uns monatlich zusammenzusetzen, um über unsere finanzielle Situation zu sprechen und zu gucken, wo wir Prioritäten setzen müssen. Es gibt bei uns Leute, die weniger arbeiten aber dafür ihre Arbeitszeit der Gruppe zur Verfügung stellen, weil wir gerade dadurch, dass wir einen Hof kaufen wollen, ganz viel Organisationsarbeit haben. Eine Person haben wir dafür sogar freigestellt, d.h. sie muss nicht mehr lohnarbeiten gehen. Das bin ich. Und parallel unterstützen wir mit unserer Arbeitskraft auch noch das KGB-Getränkekollektiv (1).

Wir haben uns quasi noch mal ein soziales Sicherungsnetz geschaffen, was nicht auf die soziale Sicherung Hartz4 angewiesen ist. Das muss dir aber auch erst mal bewusst sein. Diese Existenzangst ist ja nicht einfach weg, du musst dir immer wieder selbst sagen: Es gibt diese Gruppe und wir stehen füreinander finanziell ein im Alltag und du fällst nicht ins Bodenlose, wenn jetzt mal ein Auftrag wegbricht als Freiberufler. Oder bei einem der befristete Job zu Ende geht.

FA!: Plant ihr die Gesamtarbeitszeiten für Gruppe und Lohnarbeit oder funktioniert das eher spontan und organisch?

A: Wir rechnen die Arbeitsstunden nicht gegeneinander auf, sondern gucken, wie sich jeder wohlfühlt mit den Vereinbarungen, die getroffen wurden. In letzter Zeit hatten wir einige längere Treffen, die sich aber spontan aus der aktuellen Situation heraus ergeben haben, als sich die berufliche Situation geändert hat. Da haben wir auch die Entscheidung getroffen zu sagen: Du machst jetzt mehr Arbeit für die Gruppe und versuchst jetzt nicht noch, dir einen neuen Job zu suchen. In Zukunft wollen wir das verstetigen, uns 1x im Monat zusammenzusetzen. Wir haben ja auch Leute in der Gruppe, die in Ausbildung sind, die weder groß Geld einbringen, noch Kapazitäten haben, viel nebenbei zu machen. Und es gibt eine Person, die jetzt vor einer beruflichen Umbruchphase steht und überlegt, eine Ausbildung anzufangen. Das ist sehr stark mit den Zielen der Gruppe verknüpft, so dass wir sagen: Du kannst noch eine Lehre als Elektriker machen, das können wir später mal auf dem Hof sehr gut gebrauchen.

Auf jeden Fall stehen wir noch am Anfang und sind eine sehr kleine Gruppe, was finanziell aktuell herausfordernd ist. Wir versuchen gerade krampfhaft 10% dessen, was wir einnehmen, zu sparen, um den Hofkauf zu ermöglichen. Das ist schwierig im Vergleich zu anderen Kommunen, die es schon länger gibt und die auch Gelder für sechs Monate vorrätig haben. Die wirft so schnell nichts aus der Bahn.

FA!: Kann sich jeder aus eurer Kasse so viel rausnehmen, wie er oder sie will, oder gibt es da finanzielle Grenzen, wo die Gruppe gefragt werden muss?

A: Erstmal kannst du dir nach Selbsteinschätzung Geld rausnehmen und gibst einen allgemeinen Zweck an, wofür es ausgegeben wird, z.B. Lebensmittel oder Mobilität oder Kultur. So, dass wir uns einen Überblick verschaffen können, für was wir Geld ausgeben. Da sehen wir aktuell, dass über die Hälfte für diese klassischen Sachen wie Miete, Strom, GEZ, Krankenkassenbeiträge rausgeht. Und vom anderen Teil geht mindestens die Hälfte für Lebensmittel drauf und der Rest für kleinere Sachen. Und wenn du jetzt eine Einzelausgabe machen willst, also für eine einzelne Sache, die über 150 € kostet, dann haben wir die Regel, dass du das 7 Tage vorher ankündigst, so dass die anderen dich in der Zeit darauf ansprechen können. Da geht es nicht darum, das zu verbieten, sondern in Dialog zu treten. Also wenn du dir jetzt z.B. überlegst, ein Fahrrad zu kaufen, kann man dann überlegen: Hat noch wer ein Fahrrad, was er gerade nicht braucht, oder kennt jemand jemanden, der das preisgünstiger hat. Oder kann man gleich eine größere Gruppenlösung finden, wie z.B. eine Monatskarte. Haben wir relativ selten, diese Einzelausgaben über 150 €. Aber wenn es dann vorkommt, sprechen wir es gemeinsam ab.

Unser Konzept, was wir uns damals erarbeitet haben, haben wir auch nicht einfach übernommen, sondern selbst geschaffen, haben uns die Regeln von anderen angeguckt und überdacht.

 

FA!: Und habt ihr ein Veto-Recht, also wenn jemand beharrt und sagt: Nee ich möchte aber dieses eine Mountainbike für 500 € und da lass ich mich jetzt nicht abbringen?

A: Jein. Also natürlich kann die Gruppe eine Entscheidung treffen und sagen: das können wir jetzt so nicht machen. Das ist aber bei uns kein Veto, sondern wir haben ein Konsens-System ohne Veto. Wir versuchen eher festzustellen, welcher Vorschlag den größtmöglichen Zustimmungsgrad in der Gruppe hat. Und das kann auch ein Vorschlag sein, der bedeutet, diese Ausgabe nicht zu machen. Ist ein bisschen differenzierter, als ein einzelnes Veto.

 

FA!: Ich nehme mal an, das Reden über Geld nimmt viel Raum bei euch aufgrund des Konzepts ein, oder? Wie empfindet ihr das?

A: Ja und Nein. Ich kann jetzt auch nicht sagen, ob es mehr ist, als normalerweise. Also diese Debatten um die Idee der gemeinsamen Ökonomie, die führen wir natürlich regelmäßig. Was vielleicht so zentrale Erkenntnisse für mich sind, ist, dass es oft weniger die Auseinandersetzung ist: Bringst du genug Geld ein oder nicht, sondern eher diese: Sehe ich insgesamt, wenn ich alles zusammenrechne, deinen Beitrag gleichwertig mit meinem Beitrag? Das kann auch anderes sein, Arbeit im Haushalt oder so. Und was hast du überhaupt für einen Anspruch, wie viel Arbeit du am Tag erledigst? Wo wir auch sehr viele Debatten geführt haben, ist die Situation, dauerhaft eher Nehmer oder Geber zu sein. Es ist beides nicht leicht. Wir machen ja auch regelmäßig bei unserem Treffen Sozialplenum und da war das schon oft Thema. Wenn du dauerhaft in dieser Nehmerrolle bist, fühlen sich die Leute oft schlecht und trauen sich nicht mehr, etwas rauszunehmen, obwohl das ja eigentlich keine Rolle spielen soll. Und andersherum, derjenige der mehr reingibt, muss auch lernen, dass dieses eine dauerhafte Geberrolle ist, die jetzt nicht irgendwas Gönnerhaftes hat oder eine besondere Position bringt, sondern einfach normal ist irgendwann. Ich hab dann nicht mehr zu sagen oder mir steht dann kein größeres Stück Pizza zu oder so was. Davon wegzukommen, ist schon nicht einfach.

Als ich eingestiegen bin in die Gruppe, war ich z.B. in einer guten Geberposition – bis mein guter Auftrag zu Ende war. Mir fällt das auch nicht leicht vom Selbstbild her, nicht in so einer gönnerhaften Geberposition zu sein. Und manchen fällt das ganz schwer jetzt in einer Ausbildung zu sein und auf lange Sicht auf die Gruppe angewiesen zu sein. Damit musst du dich dann auseinandersetzen. Aber durch unsere Gespräche ist viel geklärt und jeder weiß, wo der andere steht. Wenn keine Hirngespinste mehr da sind, es könnte jetzt jemand Neid haben oder komisch finden, z.B. dass ich jetzt nicht mehr extern, sondern für die Gruppe arbeite, dann stellt sich auch ein ganz großes Gefühl von Freiheit ein. Denn ich mache was Sinnvolles, ohne mir um Essen und Wohnen Gedanken machen zu müssen. Aber man muss es sich halt immer wieder sagen, es ist nichts, was sich von alleine so anfühlt. Und es hat sich erst eingestellt, als es mit der Gruppe besprochen war.

B: Das eigentliche Ziel der gemeinsamen Ökonomie ist ja, dass das Thema Geld möglichst weniger Stellenwert im Leben bekommt. Das ist der Grund, warum ich das mache. So dass diese Determination der eigenen Persönlichkeit durch Geld aufhört, diese Ungleichheit, die von Geburt mitgegeben wird. Zur Zeit sind wir noch an einem Schritt, wo wir uns eher ein bisschen mehr mit dem Thema auseinandersetzen müssen, als es mir lieb ist. Hoffentlich nur vorübergehend. Und es soll ja nicht dauerhaft aufgerechnet werden, wie viel Geld oder Zeit man in das Projekt steckt oder wie viel man im Haushalt hilft. Auch andere Sachen sollen eine Rolle spielen, z.B. wie viel man die Gemeinschaft bereichert, wie viel Lebensfreude man reingibt. Da gibt es auch viele gar nicht so berechenbare Sachen. Das wäre auch so ein Ideal.

A: Das ist auch interessant, auch ein Spannungsfeld: Für den einen ist die monatliche Abrechnung ein Mehr an Bürokratie zu dem, was wir vorher gelebt haben. Und für andere ist die Beschäftigung mit dem eigenen Konsumverhalten ganz neu und ein Erkenntnisgewinn, der Spaß machen kann.

 

FA!: Was hat denn dieses eine Jahr Erfahrung mit gemeinsamer Ökonomie mit euch gemacht, in eurem persönlichen Umgang mit Geld? Hat sich da im Lebensstil und im Bewusstsein was verändert?

A: Es gibt zum einen ganz schöne Erfahrungen, z.B. war es am Anfang für uns immer wieder ganz spannend zu entdecken, dass es egal ist, wer was bezahlt wenn du in der Gruppe unterwegs bist. Dann gibt es so einige Themen, mit denen wir sonst anders umgehen würden z.B. sorgfältiger Umgang mit Sachen. Also wenn ich jetzt bei dir zu Besuch bin und deine Stereoanlage runterschmeiße, dann wirst du sagen: Bezahl mir das. Wenn jetzt aber jemand von uns die Lieblingsstereoanlage runterschmeißt, dann zahlen wir das alle. Und das macht schon eine andere Verantwortlichkeit, wenn es diesen individuellen Sanktionsmechanismus nicht gibt.

An einem Nachmittag haben wir mal eine Frage bearbeitet: Wie kann ich es ertragen, dass andere Leute Geld für Scheiß ausgeben? Und da geht es um ganz kleine Sachen. Also wenn du abends zum Späti gehst und dir für 1,80€ eine Limo holst. Wenn ein Teil der Gruppe sich jeden Abend 3-4 Limos holt, dann ist das ein ganz schöner Posten. Und dann zu gucken: Ist diese Limo wirklich wichtig? Für andere ist das totaler Scheiß. Da war eben festzustellen: du kannst da kein Maßband anlegen, was gut und was schlecht ist. Aber du bist schon selber stärker am Überlegen,: Ist das jetzt sinnvoll, brauch ich das? Bis hin, dass manche Anschaffungen auch nachhaltiger sind.

Eine andere Sache ist, dass wir zwischendurch auch einen harten Ausstieg hatten, mit jemandem, wo wir dachten, auch eine gute Freundschaft zu haben. Diese Person war nicht bereit, Transparenz über ihre Zahlen herzustellen und hat auch falsche Angaben gemacht. Das war schon ziemlich hart und auch nicht reibungsfrei.

B: Dass die Anfangszeit sehr schön war, mit dem sich gegenseitig einladen, da kann ich beipflichten. Und diese Haltung, anderen bei Engpässen weiterzuhelfen, hat sich weitergetragen und verstärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Schwierig ist aber, dass man eben nicht mehr für sich selber was sparen kann. Neben Kommune gibt es vielleicht noch ein paar andere Ziele, die man so im Leben hat, vielleicht Auslandsaufenthalte machen oder beruflich weiterkommen oder was anderes. Und das ist gerade jetzt in dieser Zeit, wo der Hof gekauft werden soll, schwierig mit den Gemeinschaftsinteressen zu vereinbaren.

 

FA!: Heißt das du steckst dann deine persönlichen Ziele für die gemeinsamen Ziele zurück? Oder wie gehst du damit um?

B: Ich glaube es kommt drauf an, an welchem Punkt man im Leben steht. Und wie wichtig es einem gerade ist, diesen Hof zu kaufen. Ich persönlich möchte gerade die persönliche Seite nicht zu kurz kommen lassen, weil da so viele Fragezeichen sind, die für mich geklärt werden müssen, unabhängig von der Tatsache, dass ich in einer Kommune leben will. Da stehen noch ein paar andere Sachen im Leben an. Denn irgendwie habe ich mich selbst in den letzten Jahren voller WG-Leben völlig vergessen und gar nicht gecheckt, wie sehr ich andere Stränge, wie z.B. meine berufliche Selbstfindung komplett schleifen gelassen habe.

FA!: Und wie gehst du oder ihr als Gruppe damit um, in dem Spannungsfeld zwischen individuellen Zielen, Plänen und Wünschen und der Verantwortung der Gemeinschaft gegenüber?

B: Zur Zeit ist es eben so, dass ich eine Pause mache von der gemeinsamen Ökonomie, weil ein paar persönliche Sachen jetzt Priorität bei mir haben. Danach entscheide ich, ob ich wieder einsteige. Aber das ist jetzt eine individuelle Lösung, da gibt es sicher auch noch eine ganze Palette an anderen Sachen, die man machen kann.

A: Ich denke, dass in der Gründungsgeneration in der Kommune, wo der Hof noch nicht da ist, von uns sehr viel abverlangt wird, Zeit oder Geld in die Gruppe zu stecken, und da wenig Ressourcen für andere Sachen sind. Solche individuellen Geschichten, wie ein Jahr ins Ausland gehen und Geld dafür zurücklegen, ist dann schon schwierig. Natürlich müssen wir da auch gucken, ist das für uns stimmig, was wir auch machen.

Speziell bei B war das finanziell ziemlich herausfordernd. Wir haben dann gemeinsam beschlossen, dass es einfacher ist, wenn B erst einmal aus der gemeinsamen Ökonomie aussteigt. Unsere Lösung ist aber aus meiner Sicht sehr am Solidargedanken orientiert, weil wir gesagt haben: Du steigst jetzt sofort aus dieser gemeinsamen Ökonomie aus, aber wir bezahlen dir noch für drei Monate das Zimmer in der Wohnung und die Verpflegung, wenn du hier mit isst. So dass du diese Auszeit hast, aber wir besser rechnen können als Gruppe.

Es ist schon so, dass wir durch die gemeinsame Ökonomie eine Einstehensgemeinschaft sind. Und ich kann jetzt nicht einfach sagen: Ich nehm mich zurück und arbeite mal ein Jahr nicht. Denn andere Leute haben dann die Konsequenzen zu tragen. Verantwortung bedeutet halt schon, dass du immer dran denkst, dass der andere mit dranhängt. Für mich fühlt sich das relativ selbstverständlich an, deswegen will ich in einer Kommune sein, weil mir das guttut und ich das gern mache. Und für Andere ist das was, wo sie sagen: Das würde ich nur in einer Beziehung mit Kind geben, oder wo ich mich jetzt noch nicht so weit fühle.

B: Ich bin da wahrscheinlich eher in der anderen Position, und würde sagen, dass es leichter ist, das in einer überschaubareren Beziehung zu machen, also in einer Partnerschaft mit Kind oder so. Wenn man selber noch auf der Suche ist, was man eigentlich im Leben will und dann aber Leute hat, die auf einen angewiesen sind, obwohl man selbst noch gar nicht seinen Platz endgültig gefunden hat, ist es natürlich schwierig. Insofern verlangt es von allen ab, dass sie irgendwie wissen, wo sie hinwollen.

Und grundsätzlich ist es schwierig, wenn jemand mit besonderen Bedürfnissen in der Gemeinschaft ist und vielleicht angeschlagen ist und man viel geben muss. Denn gleichzeitig hat man ja selbst auch ganz viele Ideen, was man selber machen will. Zumindest geht es mir so. Und das kann einem schon ziemlich schnell über den Kopf wachsen. Deswegen fühlt es sich für mich jetzt ganz befreiend an, diese Ruhepause zu haben. Und danach zu gucken, was passiert.

Aber grundsätzlich finde ich es total richtig, füreinander da zu sein. Aber man muss auch irgendwo eine Grenze setzen, man kann nicht alle Menschen retten oder für alle immer da sein. Klar, die Gruppe ist mir insofern wichtig, weil es eine ähnliche politische Grundeinstellung gibt, eine ähnliche Sozialisierung und gemeinsame Anknüpfungspunkte durch Politerfahrungen oder andere Lebenserfahrungen, und irgendwie ein bisschen die Verknüpfung von anarchistischen Idealen und dem Streben nach einem besseren Leben, sowohl materiell als auch ideell, was die Verwirklichung von Idealen angeht, als auch kulturell oder vielleicht auch spirituell im weitesten Sinne. So was zu verknüpfen eben, dieses Anarchistische mit dem Wunsch nach etwas Aufstrebendem. Und ein bisschen die Ordnung ohne Herrschaft zu realisieren, das kann die Gruppe auch ganz gut. Das ist so einer der großen Pluspunkte, Sachen die dafür sprechen hier meine Kraft zu investieren.

 

FA!: Ganz ehrlich, ich stell es mir schwieriger vor als kleine Gruppe in gemeinsamer Ökonomie zu leben, als in einer großen Gruppe wie z.B. der Kommune Niederkaufungen, wo 60 Erwachsene leben, weil im kleinen Kreis vielleicht auch dieser soziale Druck stärker ist und die Verantwortung im Kopf präsenter, so dass vielleicht individuelle Wünsche zeitweise auf der Strecke bleiben, aber dann als Konfliktthema zurückkehren. Oder andere zwischenmenschliche Konflikte über die gemeinsame Ökonomie ausgetragen werden, indem man z.B. dem anderen den Klamottenkauf für 80€ missgönnt. Seht ihr denn die Anzahl der Leute als Faktor für das Funktionieren des Konzeptes?

A: Über die Anzahl der Leute haben wir uns schon viele Gedanken gemacht und sind der Meinung, dass so 12 Leute eine Mindestanzahl ist. Da hast du eine Stabilität, wo auch mal 1-2 Leute wegbrechen können und es immer noch funktioniert. Die haben wir noch nicht erreicht. Aktuell ist es so, dass wir, wenn eine Person wegbricht, gucken müssen, wie es funktioniert. Bisher klappt es und ich habe den Eindruck, dass es uns auch mehr zusammengeschweißt hat. Unsere Optimalzahl liegt so zwischen 12 und 24 Leuten plus Kinder.

Ich habe es aber noch nicht erlebt, dass Konflikte über die gemeinsame Ökonomie ausgetragen werden. Alle Leute haben klar, dass sie anderen keine Basalbedürfnisse verweigern, nur weil sie gerade mit einem nicht können. Wir haben vielleicht aus der gemeinsamen Ökonomie heraus Konflikte miteinander gehabt, aber nicht, dass wir andere Konflikte über die gemeinsame Ökonomie ausgetragen haben. Das würde auch gar nicht funktionieren, wie will man dem anderen verwehren, dass er sich Geld herausnimmt?

Wir kriegen uns halt sehr intensiv mit, aber ich habe nicht erlebt, dass das besonders spannungsreich ist.Wenn mir was nicht passt, sprech ich das auch an, statt Bilder im Kopf zu haben oder es einfach laufen zu lassen. Das hat aber nichts mit Bewertungen zu tun, sondern auch mit positiver Anerkennung dem gegenüber, was der andere macht.

Ich denke auch, wenn du eine Kommune machen willst, dann ist es eine Voraussetzung, eine Mitte zwischen gelebter solidarischer Gemeinschaft und individueller Selbstverwirklichung zu finden. Du kannst weder dich komplett für eine Gruppe aufopfern und dich dabei vergessen. Das tut dir nicht gut, das hältst du nicht lang durch. Noch kannst du in so einer Gruppe sein und nur an dich denken und dich selbst verwirklichen, dann wird dir die Gruppe ziemlich schnell auf den Sack gehen.

Aber es ist nicht eine endliche Menge, wo du was wegnimmst, also Gruppe oder Individualität. Sondern du kannst schon, wenn du das selber gut in Einklang bringen kannst, bei beiden Sachen mehr haben. Du kannst ganz viel mehr Gruppe und Gemeinschaft haben und ganz viel mehr individuelle Selbstverwirklichung in der Kommune. Aber du musst selbst die Kompetenz mitbringen, dir das zu schaffen. Und dann ist das ganze übersummativ, also die Summe mehr als die Teile.

 

FA!: Was müssen denn eurer Meinung nach Leute an Grundverständnis und Idealen mitbringen, um in so einem Projekt wie eurem glücklich zu werden?

A: Das ist ganz schwierig zu beantworten. Es gibt so einen Spruch zum Thema: Wenn du in eine Gemeinschaft gehst, solltest du eher jemand sein, der geben kann, als darauf angewiesen sein zu nehmen. Du solltest Verantwortung übernehmen können für andere. Und du brauchst eine gewisse Affinität mit Gruppen umzugehen. Also dich selber zu vertreten, dich selber auch klar zu haben, zu wissen was du möchtest, es artikulieren zu können. Ich sag mal diese ganzen sozialen Fähigkeiten. Wir haben auch öfter Diskussionen darüber, wir wollen ja so offen wie möglich sein, trotzdem sind das Sachen, die du brauchst, wie sich immer wieder zeigt.

B: Ja und so eine Art Freude am Lernen durch die Interaktion mit den konkreten Menschen in der Gruppe. Was ein ganz anderes Lernen ist, als aus Büchern.

A: Ja, das ist auch persönliches Wachstum, eines unserer gemeinsamen Ziele. Und das passiert auf jeden Fall. Du wirst herausgefordert durch so eine Gruppe und du entwickelst dich auch weiter.

Und was sich immer wieder zeigt, bei allen von uns: Egal wieviel du reingibst, dass du dir mehr rausnimmst, als du reingegeben hast, das fällt allen unheimlich schwer. Geld für irgendwas ausgeben ist wesentlich herausfordernder in einer gemeinsamen Ökonomie, als wenn du da alleine für verantwortlich bist.

Was wir auf jeden Fall irgendwann auch haben wollen, so 5 Jahre nachdem wir einen Hof gekauft haben, ist für Rentenansprüche zu sorgen. Sodass, wenn du mal rausgehst, die Lebenszeit nicht „verloren“ ist, weil ja in der Kommune auch für dich gesorgt worden wäre. Aber gerade jetzt in der ersten Zeit ist es schon ein Projekt, wo du auch Lust haben musst, Zeit und Geld reinzustecken, was aufzubauen. Und das ist schon so die Frage, ob das gut ist oder nicht, wenn es wirklich die produktivsten Jahre deines Lebens sind. Das sollte man sich gut überlegen. Das ist auch was, was uns immer wieder beschäftigt, gerade wenn wir Kennnenlernentreffen machen.

FA!: Was ist so euer Fazit nach einem Jahr gelebter gemeinsamer Ökonomie?

B: Ich bin da eher der Falsche der quakt, eigentlich sollte ich zuhören. Also mein Fazit ist, eher noch mal ein Stück zurück rudern und überlegen, mit wem und wie vielen Leuten so was gehen kann. Und v.a., wie kann es auch gehen, ohne dass es organisatorisch sehr viel Zeit und Gedankenkapazität wegnimmt, die man auch für was anderes gebrauchen kann. Weil, Muße ist auch ein Wert, der auch zu kurz kommt, wenn man als Kommune sehr viel Wert auf das Ökonomische legt. Auf der anderen Seite sind mir aber viele spirituelle Kommunen auch zu diffus. Muße wäre aber auch für mich was Wichtiges, wo ich bisher noch keinen Weg gefunden habe, wie es sich vereinbaren lässt. Aber grundsätzlich im Leben ist es natürlich ganz wichtig zu teilen. Da will ich auch hin.

A: Wir haben gemeinsame Ökonomie ja gestartet auf dem Weg zur Kommune. Und ich musste irgendwann realisieren: Eigentlich sind wir ja schon eine Kommune. Wir entscheiden basisdemokratisch und teilen unser Geld. Wir sind ja jetzt auch Mitglied im kommuja-Netzwerk, dem Netzwerk der politischen Kommunen in Deutschland. Aber für mich ist es gefühlt immer noch ein „auf dem Weg sein“. Deshalb ist es auch schwierig ein Fazit zu ziehen. Was ich merke: es erfüllen sich immer mehr Aspekte und ich begreife immer mehr. Aber was mir natürlich noch fehlt, ist dieses Bleibende zu schaffen, der Hofkauf wäre so ein Schritt. Das gemeinsame Arbeiten und die gemeinsame Ökonomie bringt eine Pflanze hervor, die wächst. Das ist was, was mir Spaß macht. Ziel ist es, irgendwann Kollektivbetriebe aufbauen und einen Hof haben, den wir ausbauen, so dass das Gemeinsame etwas hervorbringt, was größer ist als die Gruppe. Wenn wir irgendwann mal aufhören Miete zu bezahlen, sondern einen Kredit abbezahlen und mit der gemeinsamen Anstrengung jeden Monat was schaffen, das würde sich noch besser anfühlen. Insofern fühlt es sich für mich immer noch wie eine Übergangsphase an, zu dem, was wir eigentlich wollen. Obwohl wir schon eine Kommune sind.

FA!: Danke für das Interview!

[momo]

 

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(1) KGB-Getränkekollektiv: http://kgb-leipzig.blogspot.de