Archiv der Kategorie: Feierabend! #09

Die vergessene Rebellion?

Der betriebliche Aufbruch im Herbst 89: die unbekannte Seite der DDR-Revolution.

Zunächst einmal: Der Rezensent ist befangen. Ich lernte einen Teil der hier zu Wort kommenden Akteure im Jahr 1990 kennen – nach dem Mauerfall, aber vor der deutschen „Einigung“. Mich hat damals die Offenheit für Neues und die Diskussionskultur im „gewerkschaftlichen Flügel“ der Bürgerbewegungen fasziniert. Damals war wenig Zeit für Reflexion – auch wenn immer wieder versucht wurde, in selbstorganisierter Bildungsarbeit oder gewerkschaftlich geprägten Seminaren sich mit der politischen und rechtlichen Situation der damals schon vor der Tür stehenden BRD auseinander zu setzen.

Dankenswerter Weise halten Renate Hürtgen und Bernd Gehrke mit diesem Buch die Erinnerung an die Wende in den Betrieben von unten in den Jahren 1989/90 wach. Neben anderen Texten sind im dritten Teil bisher unveröffentlichte Dokumente in großer Zahl (201 Seiten!) zusammen gestellt. Und die Zusammenstellung ist in gutem Sinne parteilich und authentisch, denn sowohl Hürtgen als auch Gehrke waren an unterschiedlichen Orten der DDR-Opposition aktiv.

Der Band gliedert sich auf in drei Teile – sozusagen chronologisch rückwärts gehend: Den ersten Teil bildet der transkribierte Mitschnitt einer Veranstaltung vom Dezember 1999 im Haus der Demokratie (Berlin), auf der die Akteure ihre eigenen Erfahrungen in der Zeit von 1989 und 1990 reflektierten – den „kurzen Herbst der Utopie“, wie es in einer Ausstellung von 1999 genannt wurde. Der zweite Teil besteht aus theoretischen Erläuterungen der HerausgeberInnen zum besseren Verständnis des ersten und dritten Teils. Insbesondere den Thesen von Bernd Gehrke in seinem Aufsatz „Demokratiebewegung und Betriebe in der ‚Wende‘ 1989" kann allerdings nicht in allen Punkten zugestimmt werden. So ist es eine gewagte These, dass die Wende ihren emanzipatorischen und teilweise systemüberwindenden Impetus vor allem in den Betrieben gefunden hat, oder dass diese die Keimzellen der Revolution waren. Die Demos, Blockaden und politischen Aktionen hätten ohne eine Vermittlung in den Betrieben nicht ihre starke Relevanz gehabt, insbesondere da die DDR noch mehr als die damalige BRD eine Arbeitsgesellschaft war, die fast die gesamte Bevölkerung „integrierte“. Aber daraus eine zentrale Stellung der betrieblichen Vorgänge während der Ereignisse abzuleiten, erscheint mir sehr gewagt.

Diese Herangehensweise hat aber auch ihren Vorteil: So wird die Behandlung politischer Probleme (Ausreisewellen, Staatsorgane/Stasi, Bereicherung der Gewerkschaftsfunktionäre u.a.) und ökonomischer Schwächen (Materialbeschaffung, Schichtsysteme, Produktionsmodalitäten, Arbeitszeitproblematik etc.) einmal aus betrieblicher Sicht geschildert, und auch, mit welch mannigfaltigen Vorschlägen die „Arbeiterklasse“ bzw. ihre aktiven Teile diese zu verändern suchten – und dabei all zu oft auf Granit gebissen haben.

Nicht nur diese, viele andere Probleme brannten damals den Akteuren auf den Nägeln: Sollen wir neue Gewerkschaften, Räte oder reine Betriebsräte nach dem westdeutschen Modell gründen? Auch hier hat sich – leider – das bundesdeutsche Modell durchgesetzt, und so wurde zum Beispiel aus der Unabhängigen Betriebsgewerkschaft „Reform“ in Teltow ein Betriebsrat nach dem Betriebsverfassungsgesetz, dasselbe Schicksal ereilte einige Rätegründungen in Oranienburg.

Aber viele Beiträge und Dokumente auch in diesem Buch weisen darauf hin, dass es während der Revolution Spannungen zwischen dem „Arbeiterflügel“ und dem „Intellektuellenflügel“ gab. Beispielhaft sei hier nur auf die Betriebsgruppe des Neuen Forums und auch interne Schwierigkeiten der Initiative für unabhängige Gewerkschaften, aber auch auf die Betriebsarbeit der „Vereinigten Linken“ verwiesen. Unabhängig davon: War es eine Revolution oder doch „nur“ eine Rebellion mit anschließender Annexion?

In solchen durchaus historisch zu nennenden Situationen wie den dokumentierten bewahrheitet sich eine theoretische Grundaussage von E.P. Thompson: „Klasse selbst ist nicht ein Ding, sondern ein Geschehen.“ Kurz gefaßt sind Beispiele für den inneren Ablauf von Selbstorganisation dargestellt, die fast mustergültig sind: Der Widerstand im Betrieb organisierte sich zunächst lokal und regional unabhängig (im Süden öfter als im Norden der DDR), die Akteure benutzten zum Teil alte und bekannte Strukturen wie die BGL (BetriebsGewerkschafts-Leitungen), um neue Verhältnisse und Strukturen zu schaffen, probierten aber auch teilweise ganz neue Strukturen aus. So entstanden die ersten neuen „Räte“ und griffen bewußt oder unbewußt auf frühere oder verwandte Bewegungen zurück (17. Juni 1953 oder die polnische Solidarnosc), interpretierten diese ihren Erfahrungen gemäß und gründeten neue Organisationen, die durch die Beteiligung vieler und durch den Kontakt zu anderen politischen Gruppen mit Leben erfüllt wurden.

Leider ist es auch Teil der Erfahrungen, dass die neuen Strukturen später allzu schnell in das politische System der übermächtigen Bundesrepublik integriert wurden. Dies führte zunächst auch zu großen Enttäuschungen. Sicherlich erlitten freie und unabhängige Betriebs- und Gewerkschaftsgruppen mit der Vereinigung eine Niederlage, aber – und das ist das Positive – die gelebten Erfahrungen des „aufrechten Gangs“ bleiben Bestandteil der individuellen und kollektiven Geschichte.

Hinrich Garms

Hürtgen/Gehrke (Hg.): „Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989: Die unbekannte Seite der DDR-Revolution.“ 9 Euro. Bildungswerk der H.-Böll-Stiftung, Kottbusser Damm 72, 10967 Berlin.

Rezension

Die Großstadtindianer (Folge 8)

Ein Brief

An meine Mutter,

hörst Du noch? Siehst noch? Sprichst? Ich höre Deine Stimme, wie sie zu mir spricht, Deine Augen sehen auf mich herab. Sieh mich nicht an, bitte. Ein Gedanke huscht voller Scham durch meinen Kopf. Ich spreche ihn nicht aus, schreibe ihn nicht auf, ich höre weg … ganz schnell. Nimm die Puppe weg. Sieh mich an! Diese Augen… diese Stimme. Tief in meiner Erinnerung fühle ich ihre Nähe. Ich denke selten daran, während die Welt wie ein tumber Kreisel vor meinen Augen tanzt. Es schmerzt. Immernoch. Vielleicht will ich Dich wiedersehen, Deine Stimme hören … vielleicht. Du fragst Dich sicher, warum ich Dir schreibe, schließlich hast Du nie verstanden, was ich tat. Wie solltest Du auch … Sie übermannte mich unbemerkt, schlich in meine Gedanken, fesselte mein Herz, die Erinnerung – als würde sie dem Vergessen fliehen. Hörst Du noch? Ich spreche … ich schreibe zu Dir, weil ich am Schweigen satt geworden bin. Die erinnerte Nähe treibt mich zu Dir zurück. Warum? Schlußstrich? Neuanfang? Nicht für dieses Mal. Lassen wir es bei dem, was es ist, ein Zwischenspiel.

Über meine Kindheit

Ich hasse Puppen, ein für alle Mal! Diese toten Stoffleiber, denen selbst die unkonkreteste Phantasie kein Leben einhauchen konnte. Du hast es mir nie nachgesehen, wenn ich ihnen die Arme, Beine zuweilen auch den Kopf abriß. Wie solltest Du auch, sie waren ja Dein Ersatz für mich. Daß Kinder durch ihre Puppen die Welt entdecken, daran konntest Du noch glauben, Deiner Mutter dann, die von wichtigen frühen Rollenerfahrungen sprach, nicht mehr. Im Übrigen mit dem gleichen Recht, wie ich Deine Puppen zerriß. Als Du mich das erste Mal fragtest, woran ich glaube, hätte ich Dir die Antwort schon diktieren können. Auch ich hatte Fragen, soviele Fragen, Du keinen Reiz, mir zu antworten. Was soll’s, ich ging ja irgendwann zur Schule. Dort lernte ich nicht nur, die richtigen Antworten zu den richtigen Fragen zu sortieren, sondern auch Kratzen, Beißen, Spucken – gegen die lästernden Rotzlöffel half nur die geballte Faust. Du hast Dich nie gefragt, sicher, Du hättest antworten müssen. So sehr ich Deiner Nähe entstieg, nach welcher ich durch das Puppengrab griff, so sehr verzehrte sich mein erwachendes Herz nach jener Stimme, jenem Augenpaar. Gehört und gesehen, so oft. Ich glaube, Mutter und Kind wachsen voneinander weg, sobald sich der Nabel für jeden verschließt. Woran das Kind gesundet, krankt die Mutter – Erfahrung, die sich nicht von selbst versteht. Mein Weg führte geradeheraus aus Deinen Ansichten, Vorstellungen, Überzeugungen, Gewohnheiten. Heraus aus der Welt Deiner Notwendigkeiten in die Weiten meiner Möglichkeiten. Daß Du mich nur eine kurze Weile noch begleiten konntest, lag an Deinem Horizont, meiner Eile. Die Geister, die Du angebetet hast, kamen mir vor wie die nächtlichen Schatten trauernder Weiden, so fremd und übermächtig, so fern und ohne Halt. Du konntest mich halten, kurz, so kurz. Als ich das erste Mal darüber weinte, war ich kein Kind mehr. Aber wie solltest Du – wie soll das eine Mutter verstehen.

Über die Jugend

Wer ist ein Vater? Der Mann, mit dem Du damals geschlafen hast? Der, mit dem Du heute schläfst? Diese lästigen Blicke, Dein Neid. Ich glaube, ich hatte keinen. Nur frühe Freunde, die mir weis machen wollten, Rock und Knicks wären anständig, Prügeleien nichts für Mädchen und ihr Schwanz die letzte Granate vorm Pazifismus. Du hast nicht verstanden, warum ich so selten daheim war. Der Freiheit seltenes Glück. Ich schweifte umher, probierte mich an Drogen und dem Küssen von Mädchen, prügelte und litt, jauchzte und war betrübt. Du hast immer daran geglaubt, daß Dein rosa Gefängnis mir als sich’rer Hort erschien. Wie solltest Du auch anders. Schließlich lagen alle Deine Hoffnungen dort begraben. Nein, der Verführer lauerte nicht im dunklen Busch am See, er war überall, lockte mich weg mit all dem, von dem Du hättest lesen können, wenn Du gelesen hättest. Mit den Wünschen und Träumen, die in Deinem engen Heim erstickt wären. Mit betörenden Düften, betäubendem Lärm, mit dem flotten Schritt einer Walzerdrehung. Ich habe damals alles umschlungen, was versprach, mich davonzutreiben, hinaus aus den in Stein gegossenen Wänden Deiner Phantasie. Weg, nur weg. Von Dir? Nein, sooft ich der Nähe erinnerte, warf mich der Gedanke zu Boden, eingekauert in der Ecke einer Diskothek, zitternd auf der nächtlichen Bank, die Knie mit meinen Lippen liebkosend oder mit weitausgestreckten Beinen auf dem Bürgersteig, während das Erbrochene meiner Brüder und Schwestern unter meinen Schenkeln Rinnsale bildete. Manchmal meinte ich, Deine Stimme zu hören, wenn sich mein Mund bewegte, traf mich vom Spiegel her Dein Blick. Ich lief und lief, lief und lief, sah mich nicht mehr um, lief und lief. Bist Du mir gefolgt? Wie solltest … wie konntest Du. In der Jugend schließlich bleiben die Mütter als erste auf der Strecke. Bei Dir zumindest war es so.

Über das Altern

Wenn ich mich heute frage, ob hinter der ausgewachsenen Brust ein Mutterherz schlägt oder immer noch das unstete Zittern jugendlichen Überschwangs, sehe ich anstelle einer Antwort Deine Blicke, höre den sanften Ton Deiner Stimme. Ein wenig Angst kommt mir dabei. Doch beruhigt es mich zu wissen, daß nicht jeder Baum dem anderen gleicht, die Geschichte keine Kreisel zieht, weil jeder von uns sie mitbestimmt, mancher Apfel weit vom Stamm getragen wird, Männer sich bisweilen Jungfrauen nennen und nicht jede Frau gleich eine Mutter ist. Heute weiß ich, nicht jedes Zuhause ist ein Gefängnis, zwischen Leben und Leiden liegt das Glück, so wie ich damals, zwischen Dir und einem Mann. Ich weiß, daß ein Kind weder Mutter noch Vater braucht, sondern Menschen, die sich sorgen, lieben, wünschen, träumen. Altern bedeutet doch nicht, in seinen Rollen zu erstarren, aufzugeben, zu verlieren, sondern nach den Träumen zu greifen, sich die Wünsche zu erfüllen, deren unerbittliches Drängen Dich aus der Jugend befreit. Mein Trauern ist mit Dir, weil Du Dich schon so früh von Deinen Möglichkeiten verabschiedet hast. Aber wie solltest … wie konntest Du auch anders, hast Du doch an fast alles geglaubt, was man Dir erzählte. An den Mythos vom Kampf der Geschlechter, an die bürgerliche Beschränktheit im Wünschen und Träumen, an die einzige wahre Liebe, die Dir immer wieder mißriet, die zwischen Mann und Frau; und dabei hast Du all zu oft vergessen, wie nah Dein Glück bei Dir weilte, wenn auch kurz, so doch zum Greifen nah, wie sehr mein Herz Deiner Nähe sehnte. Bitte Mutter, vergiß mich nicht, solange ich Deine sanfte Stimme höre, das Leuchten in Deinen Augen spüre, erinnere ich mich an das, was ich für Dich war, Dein Kind. Moni

(Fortsetzung folgt.)

(clov)

…eine Geschichte

Gewerkschaft 2010 (Teil 1)

Zur Lage und Funktionsweise der Gewerkschaften in der BRD heute

 

Die mit der Hartz/Agenda 2010 einhergehenden Diskussionen um Sozialabbau, Sozialdemokratie und Sozialismus, zeugen vom mangelnden politischen Bewußtsein in weiten Teilen der Bevölkerung, die sich politische Aktion nur nach als Stimmkreuzchen vorstellen kann. Deshalb soll hier und im folgenden Heft ein etwas ausführlicherer Exkurs in die Geschichte und Problematik der Gewerkschaften – ehemals wirkungsmächtige Institutionen politischer Aktionen – gegeben werden.

1. Gewerkschaft 2010 – ein Schritt vor, zwei zurück

In diesem Artikel geht es um ganz allgemeine Betrachtungen zur Lage der Gewerkschaften, besonders in der BRD. Es geht nicht so sehr um den einzelnen engagierten Gewerkschaftler oder die berechtigten Interessen der Lohnarbeitenden. Hier geht es um die prinzipielle und wissenschaftliche Einordnung der Gewerkschaften an Hand von Phänomenen, die jedem alltäglich einsichtig sind. Es soll nicht moralisiert, sondern nüchtern der Gang der Dinge analysiert und ausgewertet werden. An Hand unserer Betrachtungen können wir auch die Wurzel vieler Mißverständnisse und Fehlanalysen aufdecken, wenn es um die Interessen von Menschen geht. Etwas, was zu verstehen ja ganz viele Leute vorgeben – und vor allem besser wissen wollen, was für uns alle gut ist, als wir selbst. Das reicht von linksradikalen Sekten bis zum Bundestag, der ja rechtskräftig unsere Interessen beschließt. Als wichtiges Mittel stellt sich im Folgenden die scheidende Betrachtung der Menschen einerseits als Bürger und andererseits als Arbeiter dar. Wir betreiben also hier eine Analyse der verschiedenen Charaktermasken derselben Menschen. So haben Bürger und Arbeiter gleiche, aber auch völlig unterschiedliche, sich widersprechende Interessen. Diese lassen sich nun in Grundzügen besonders gut an Hand ihrer institutionalisierten Interessenvertreter, der Gewerkschaften, zeigen.

1.1. Gewerkschaft der Lohnabhängigen

Von Seiten des (Lohn)Arbeiters hat die Gewerkschaft eine klare Funktion. Sie ist Ausdruck des gemeinsamen Interesses der Arbeiter an Arbeitsbedingungen auf Höhe der Zeit (z.B. Arbeits- und Kündigungsschutz) und einer irgendwie als “gerecht” empfundenen Entlohnung, also Arbeitszeit und Lohnhöhe. Diese Rahmenbedingungen werden in Gesetze gegossen, bzw. in Verträgen zwischen den Gewerkschaften und den Körperschaften des gemeinsamen Interesses der Unternehmer für eine bestimmte Zeit fixiert (Tarifvertrag). Für den ordnungsgemäßen Ablauf von Auseinandersetzungen der beiden Parteien in diesem Spiel gibt es eine Fülle von gesetzlichen Regelungen, bis in die Statuten der Gewerkschaften hinein.

Was sind nun die Grundlagen, auf denen dieses Modell funktioniert? Wenn ich Hoffnung auf einen Anteil auf gesellschaftlichen Reichtum habe, dann muß es:

1. ein Recht auf privates Eigentum (eigener Hände Arbeit) geben und

2. das Recht, einen Vertrag zu schließen (Vertragsfreiheit).

Also habe ich die Freiheit das Unternehmen zu wählen, für das ich arbeiten will, und kann die Bedingungen aushandeln, zu denen ich arbeite. Der Lohn und alles, was sich daraus machen läßt, ist mein Privateigentum, über das ich frei verfügen kann und dessen Schutz gewährleistet ist. Diese Freiheiten haben wir alle und das sind die bürgerlichen Freiheiten, wie sie nicht zuletzt im Grundgesetz verankert sind. Es sind z.B. keine Freiheiten des Feudaladels, welcher nach Gutdünken auf seinem Stück Land Recht sprechen konnte, das ist vorbei. Also Bürger sein heißt hier einerseits Staatsbürger und Rechtssubjekt, andererseits auch Anerkennung der bürgerlichen, demokratischen Spielregeln. Diese Spielregeln werden zu den eigenen gemacht und sie werden als die natürlichen und notwendigen vertreten. Man hat ein Selbstbewußtsein als Bürger, mit Rechtssicherheit und dem Schutz vor Willkür. Das ist in diesem Bezugssystem auch richtig. Der Arbeiter ist so gesehen ein Bürger, wie jeder andere auch, mit seinen Rechten und Pflichten. Wessen Interessen vertritt denn nun die Gewerkschaft? Das sieht man am besten, wenn man in der Geschichte zurückgeht und sich die einfachen Formen ansieht.

1.2. Kurz zur Geschichte

Wie der Name ‘Gewerkschaft’ schon sagt, vertraten diese Vereinigungen im Deutschen Kaiserreich vornehmlich Interessen der Meister, Handwerker, der proletarisierten Handwerker bzw. der Facharbeiter. Sie war also bestimmt durch die Interessen einer privilegierten Schicht innerhalb der Arbeiterschaft. Am Anfang durften auch keine einfachen Arbeiter in die Gewerkschaften eintreten. Im Gegensatz dazu sagt der Name ‘Trade Union’, wie die Gewerkschaften im angelsächsischen Raum heißen, dass diese Art Differenzierung so nicht gegeben war. Man muss allerdings bemerken, dass in den USA z.B. die Gewerkschaften eine völlig andere Entwicklung genommen haben, als in Europa, von Asien ganz zu schweigen. Hier gibt es erhebliche Unterschiede. Auf jeden Fall ist zu sagen, dass die Gewerkschaft als solches einen gewaltigen Fortschritt für die Arbeiter darstellte. Da sie erstmals zusammen mit der Arbeiterpartei den Interessen der Arbeiter eine gesellschaftsweite Organisationsform gab, die in der Folgezeit immer stärker politische Relevanz bekommen sollte. Im Deutschen Reich also vertraten die Gewerkschaften die sehr spezielle Interessen der Besser- und Bestqualifizierten. Bis heute ist es ebenfalls so, dass nichtarbeitende Arbeiter keine Vertretung in der Gewerkschaft hatten und haben.

Das heißt, dass die Parzellierung mit der Borniertheit, Beschränkung auf die eigenen Interessen, ein Grundmoment in den deutschen Gewerkschaften ist und damit die Konkurrenz innerhalb der Arbeiterschichten ausdrückt. Sie schleppt somit den Keim der alten feudalen Kleinteiligkeit der unterentwickelten deutschen Verhältnisse mit sich. Die anfängliche Zusammensetzung der Gewerkschaftler bedeutet aber auch, dass der Handwerkerstolz, und überhaupt der Stolz auf die eigene Arbeit ein konstituierendes Moment darstellen. Das biblische ‘Du sollst das Brot im Schweiße Deines Angesichts brechen’ ähnelt nur zu sehr dem gewerkschaftlichen ‘Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen’. Aber dieser Aspekt gerade der deutschen Arbeitsmoral, und überhaupt des Nationalstolzes bis Patriotismus als Teil gewerkschaftlichen Selbstverständnisses ist eine andere Ebene. Dies bricht erst im Ersten Weltkrieg als offener Widerspruch auf.

Wie aber sahen nun die Interessen aus, die die Gewerkschaften zu vertreten hatten? Zuerst einmal ging es, zusammen mit den Arbeiterparteien, um ganz grundsätzliche demokratische, also bürgerliche, Rechte, wie freies, allgemeines und gleiches Wahlrecht, gegenüber dem feudalen Ständewahlrecht. Das ist grundsätzlich gegenüber der damaligen hinterwäldlerischen Entwicklung im Deutschen Kaiserreich ein Fortschritt. Es ging um den Sonntag als freien Tag, Pausen, Einschränkung von Frauen- und Kinderarbeit, Festlegung von Obergrenzen für die Arbeitszeit. Allgemeine Nothilfeorganisationen hingegen für Arbeiter setzen sich nicht durch. Dagegen gab es wohl solche, deren Hilfe an die Betriebszugehörigkeit gebunden blieb und damit als Disziplinierungsmittel diente. Die Arbeitsbedingungen in der Industrie waren teilweise katastrophal und unterlagen keinerlei gesetzlicher Regelung und Kontrolle. Der Unternehmer war absoluter Herrscher in seinem Privateigentum, der Fabrik, über sein Privateigentum, weil bezahlt, die Arbeiter. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (1863) Lasalles z.B. wollte seinen Verbündeten lieber im preußischen Obrigkeitsstaat sehen, als im liberalen Bürgertum. Politisch gesehen kann man sagen, dass die Gewerkschaften teilweise eine sehr unrühmliche Rolle gespielt haben. Gerade die ‘Freien Gewerkschaften’ waren von ihrer Ausrichtung her streng konservativ. Ihre Ausrichtung war, wie sie heute noch ist, dem Arbeiter einen erträglichen Platz in der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft zu verschaffen, nicht diese abzuschaffen. Es war doch das Vaterland, um das es ging. Man war doch kein ‘vaterlandsloser Gesell’. (Natürlich ist der Proletarier ökonomisch betrachtet vaterlandslos.)

Wie auch heute lag damals ein Hauptaugenmerk auf den Gewerkschaftskassen, welche ja jeden Arbeitskampf und die Nothilfemaßnahmen, das Unterstützungswesen zu finanzieren hatten. Richard Müller sagte dazu:

Die Gewerkschaftsführer mußten den Inhalt ihrer Kassenschränke bei jedem Kampfe berücksichtigen. Sie gingen aber weit darüber hinaus und verlegten den ganzen Schwerpunkt ihrer Entscheidung auf diese Stelle. Wesen und Inhalt der Gewerkschaftsbewegung wurde dadurch bestimmt.“

(Richard Müller ‘Vom Kaiserreich zur Republik’, S. 19)

Politische Fragen durften von den einfachen Gewerkschaftsmitgliedern im Gegensatz zu den Gewerkschaftsführern nicht diskutiert werden. Die Führungen hatten immer Angst, dass ihnen das Heft aus der Hand gleiten könnte und die Mitglieder nicht mehr unter ihrer Kontrolle wären. Ihr Einfluß auf die Sozialdemokratie war immer ein mäßigender, z.B. 1906 beim Abwenden politischer Massenstreiks auf dem Mannheimer Parteitag. Es wäre noch eine Menge über Streikverbote, Burgfrieden und den revisionistischen Einfluß auf die sozialdemokratische Reichstagsfraktion dieser Zeit zu sagen. Aber das ist die Aufgabe einer anderen Arbeit. Hier ging es nur darum, ein kurzes Schlaglicht zu geben.

1.3. Zwischen Klientel, Eigeninteresse und Gemeinwohl

Kommen wir nun zu den unterschiedlichen Interessen, welche die Gewerkschaften vertreten. Betrachten wir sie dazu unter jeweils verschiedenem Blickwinkel. Es gibt für verschiedene Branchen verschiedene Gewerkschaften. Diese sind nun die Funktionsträger der dortigen Arbeiter. Schon auf organisatorischer Ebene findet eine Trennung statt und die gemeinsamen Interessen der Arbeiter äußern sich nur in ihren brancheneigenen Forderungen. Weiterhin existiert in der BRD ein Verbot solidarischer Streiks von Arbeitern in verschiedenen Branchen füreinander. Generalstreik ist natürlich ebenso verboten. Denn Generalstreik gilt als politischer Streik und nicht mehr als einer für die vom Staat anerkannten Interessen der Lohnabhängigen. Welche Arbeiter in welcher Gewerkschaft in Vertretung stehen, ist ebenso rechtlich genau geregelt. IG-Metall-Vize Peters [jetzt Vorsitzender, Anm. d. Red.] im ZDF: „Fernwirkungen von Streiks sind nicht das Ziel, aber auch manchmal nicht zu vermeiden“ in der Diskussion um den gerade verlorenen Metallerstreik.

In diese Parzellierung fällt auch das Gerede von ‘ungerechten’ und ‘unsolidarischen Streiks’, bei denen Firmen betroffen sind, deren Belegschaft gar nicht streikt. Zum Beispiel der Cockpit-Streik (er brachte gut 20% Lohnerhöhung für diese Piloten) hat eine wahre Flut von Empörung ausgelöst, ohne dass auch nur die Idee erschien, gleichlautende Forderungen an den eigenen Unternehmer zu stellen. Diese Empörung war einfach nur die Wut und Enttäuschung über sich selbst und seinen eigenen Gewerkschaftsapparat im Deckmantel eines herbeihalluzinierten Gemeinwohles. Das Bewußtsein gemeinsamer Interessen aller Arbeiter über alle Branchengrenzen hinweg, ist so außer Reichweite gehalten. Ihren Köpfen nach sind sie z.B. vorrangig nicht Arbeiter, vielleicht Metaller, aber bestimmt BWM-Mitarbeiter, die Stolz auf “ihren” Betrieb sind. Diese anerzogene und ständig bestärkte Beschränktheit findet Ausdruck in der eigenen Wahrnehmung der eigenen Interessen. Diese Parzellierung ist sowohl organisatorisch, als auch in den Köpfen verwirklicht. Bürger haben zu Recht nur die gemeinsamen Interessen ihres Eigentums der Vertragsfreiheit sowie gesicherter Existenz. Aber mehr noch: Die Parzellierung der Gewerkschaften ist die Institution gewordene Konkurrenz unter den Arbeitern. Nur so und mit der Angst läßt sich erklären, weshalb man sich nicht für andere freut, wenn sie mehr Lohn erkämpft haben und es dann selbst als Ansporn nimmt, dies seinerseits zu fordern. Sie benehmen sich halt wie die Bürger, die ihre Privatinteressen für sich selbst vertreten, z.B. einen Zaun um ihren in Privatbesitz befindlichen Garten zu ziehen. Freiheit, Gleichheit und Konkurrenz sind nicht trennbare Bestandteile der Bürgerlichkeit. Jeder kämpft gegen jeden und nur, wenn es nicht anders geht, findet man sich zum Arbeitskampf zusammen. Solange aber hofft man, dass es einen selbst nicht trifft. Dies beinhaltet aber, dass es jemand anders treffen muss, da man aus Erfahrung weiß, wie der Hase läuft. Man zittert um seinen eigenen, als seinen Besitz betrachteten Arbeitsplatz, weil er das einzige unter den heutigen Bedingungen ist, was die bürgerliche Existenz sichern kann.

Laut Telekolleg (1) ‚Volkswirtschaftslehre‘ ist die Aufgabe der Gewerkschaften auch die, die konkreten Interessen der Arbeitenden zu vertreten. Damit sind die Gewerkschaften in ihrem Tun, die Löhne, Absicherungen zu erhöhen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern, genau den Interessen der Arbeitslosen entgegengesetzt. Der Grund ist schlicht, dass damit die Kosten von auch neu zu schaffenden Arbeitsplätzen sich erhöhen und deswegen die Unternehmen keine schaffen würden. Also ist das Interesse der Arbeitslosen im Wesentlichen darauf begrenzt, einen Arbeitsplatz zu erhalten.

In dieser ganzen Konstruktion sehen wir ein weiteres Dilemma. Nicht nur werden die Arbeiter in Brancheninteressen parzelliert gehalten, sondern auch von den keinen Arbeitsplatz habenden Arbeitern, die nun Arbeitslose heißen, getrennt. Diese haben überhaupt keine Vertretung eines gemeinsamen Interesses. In Wirklichkeit haben natürlich die Arbeiter als Bürger immer das gemeinsame Interesse nach einem guten Arbeitsplatz, ob sie gerade arbeiten oder arbeitslos sind. Die Arbeitslosen wollen genauso gute Arbeitsplätze erhalten wie alle anderen auch. Nur wird durch den Druck auf sie erreicht, dass sie immer schlechtere in Kauf nehmen (müssen). Das ist eine Spirale nach unten, da sie hiermit ihrerseits unfreiwillig Druck auf die anderen Arbeitsplatzbedingungen (z.B. Billiglohnsektor) nach unten ausüben. Also strukturell geht hier die Reise mittelfristig nach unten, im Interesse des Kapitals selbstverständlich. Damit sinken auch wirklich die Kosten der Arbeitsplätze tendenziell und damit steigt dies bezüglich der Profit. Man sieht ganz klar in wessen Interesse diese Einteilung der Arbeiter ist.

An dieser Stelle tritt auch wieder die Konkurrenz unter den Arbeitern, als Konkurrenz um den eigenen Arbeitsplatz, also die eigene bürgerliche Existenz, an die Oberfläche. ‘Es geht doch um MEINEN Arbeitsplatz.’ Aber ebenso klar ist, dass die meisten nicht Lohnarbeiten wollen würden, wenn sie nicht müssten. Sie brauchen keinen Arbeitsplatz, sondern unter den heutigen Bedingungen einfach das Geld, um ordentlich leben zu können. Die Kapitalseite weiß das und fordert darum das Abstandsgebot zwischen Grundversorgung und geringstem Lohn. Der Abstand soll so hergestellt werden, dass die Grundversorgung (Sozialhilfe) abgesenkt und nicht der geringste Einstiegslohn erhöht wird. Nicht Arbeit soll sich wieder lohnen, sondern Arbeitslosigkeit soll sich nicht lohnen.

Wie wir also gesehen haben, ist die branchenartige Teilung der Gewerkschaften nicht nur Ausdruck der wirklich unterschiedlichen Interessen von z.B. Chemiearbeiter und Bürokraft. Sie zementiert gleichzeitig die Trennung in den Köpfen und nicht zu vergessen die Trennung in den realen Arbeitskämpfen. Letztere ist sogar juristisch verbürgt. Sie fungiert in der Konkurrenz der Arbeiter untereinander. In anderen Ländern z.B. Frankreich oder Italien sind solidarische Streiks Normalität. Dort herrscht auch auf Grund der Geschichte aber insbesondere der anderen Praxis im Streik selbst, ein anderes Bewußtsein der Zusammengehörigkeit. Wie man am Beispiel Ver.di sieht, schließen sich Gewerkschaften unter dem stärker werdenden Druck, wie andere Unternehmen auch zusammen, fusionieren. Hier wird es dann wieder schwerer, die Aktionen und Interessen so zu teilen, dass dies den Arbeitern plausibel ist, wenn sie schon in der selben Gewerkschaft sind. Ebenso kann jeder sehen, dass er sehr schnell selbst arbeitslos werden kann. Dies führt aber im Allgemeinen zu einer Verschärfung der Konkurrenz unter den Arbeitern und fast nie zu einer Solidarisierung.

Wie bei jeder größeren Organisationsform gibt es auch hier ein wichtiges Eigeninteresse des Apparates. Das Interesse des Führungsstabes der Gewerkschaft ist ganz klar Führungsstab zu bleiben und sich somit an diesem exklusiven und besserbezahlten Arbeitsplatz zu halten. Sie haben da keine große Lust auf Veränderungen. Wie die Realität zeigt, gibt es große Differenzen zwischen den Forderungen der sogenannten Basis, also den Arbeitern selbst und dem, was schließlich in offizieller rechtlicher Form, von den Verhandlungsführern der Gewerkschaften als Forderungen der Arbeiter ausgegeben wird. Die Gewerkschaftsführung ist ein nicht zu vernachlässigender Faktor mit Einfluß und rechtlich abgesichertem Vertretungsanspruch. Sie haben als Führungsschicht, wie jede andere Führungsschicht auch, mehr zu verlieren als diejenigen, die zu vertreten sie vorgeben. Die Gewerkschaften müssen selbst nach betriebswirtschaftlicher Weise handeln, haben innere Hierarchien und Lohnverhältnisse. So kann man sie durchaus als ein Unternehmen betrachten, welches mit bestimmten Interessen handelt und in einem abgegrenzten und verrechtlichtem Gebiet operiert. Der Widerspruch wird eklatant, wenn die Gewerkschaft selbst Leute entlässt.

Dann gibt es noch das Interesse der Gewerkschaft als solcher, an ihrer erfolgreichen Weiterexistenz. Das Bewußtsein dieses Interesses führt dazu, dass die Forderungen der Basis schon einmal gebrochen und gefiltert werden. Wer will schon einen teuren Arbeitskampf riskieren, ohne die Aussicht auf Erfolg zu haben? Da könnte eine Menge Prestige verloren gehen. Außerdem steht für viele in Lohnabhängigkeit bei der Gewerkschaft selbst die Existenz auf dem Spiel, das heißt die Existenz ihres Unternehmens, Arbeitgebers. Aber auch die Geschichte (2) hat z.B. im Ersten Weltkrieg gezeigt, dass den deutschen Gewerkschaften die Gewerkschaftskasse oftmals näher war, als sich in Konfrontation mit dem Kaiserstaat zu begeben. Es gibt in der BRD, wie in vielen Ländern ein Verbot sogenannter wilder Streiks, dass heißt solcher, die im wesentlichen ohne die Gewerkschaft stattfinden, von den Arbeitern selbst ausgehen. Gerade als einzigste Großorganisation kann sie in der Organisierung viel Gegengewicht einbringen. Die Gewerkschaft ist somit nicht an der Selbstorganisation nicht nur nicht interessiert, sondern untergräbt sie systematisch. Jede Selbstorganisation oder eigene, direktere Formen den Arbeiterinteressen Ausdruck zu verleihen, stellt nämlich den Vertretungsanspruch der Gewerkschaft als Gewerkschaft selbst in Frage. Dies gefährdet ihre komfortable Weiterexistenz.

Alleine schon durch die Form der Organisierung und der verschiedenen Interessenschichtungen wird klar, dass es von der Forderung zum Streik ein langer Weg durch die Instanzen ist. Jeder Arbeiter sieht sich seinem Interessenunternehmer Gewerkschaft genauso abstrakt vereinzelt gegenüber, wie dem eigentlichen Unternehmen, gegen welches ihm die Gewerkschaft beistehen soll. Die unterste Schicht der Gewerkschaftsfunktionäre, welche gerade die mit dem härtesten Job sind in der Hierarchie, müssen dies oftmals ausbaden, wenn die Kollegen kommen. So gesehen ist die Gewerkschaft auch ein Mittel und Garant der Stabilität, weicher Forderungen und kurzer Arbeitskampfmaßnahmen.

Was also der Betriebsrat im Kleinen ist die Gewerkschaft im Großen: ein Ausgleich der Interessen der formal gleichen Vertragspartner der Arbeitsverträge: Unternehmer und Arbeiter. Sehen wir uns die Argumentationen der Gewerkschaften an, so findet man Formulierungen wie ‘kostenneutral’ oder ‘den Produktivitätssteigerungen angemessen’. Was das Argumenteschmieden hervorbringt ist, dass man den Unternehmen mit den Argumenten der Wirtschaftswissenschaften und der Statistik vorrechnet, dass die gestellten Forderungen nicht weh tun, oder bezüglich bestimmter ökonomischer Parameter “gerecht” oder “angemessen” wären. Da bleibt die eigene Forderung in einem Wust an Berechenbarkeit und Statistik stecken und man muß sich vielleicht sagen lassen, dass die eigenen Interessen unrealistisch seien. Gerecht ist also ein bestimmter mathematischer Faktor bezüglich einer durchschnittlichen wirtschaftswissenschaftlichen Bezugsgröße. So die Realität. Spätestens hier, an der Oberfläche der wirklich gestellten Forderungen und durchgesetzten Prozente sollte einem klar werden, dass wohl nicht die Interessen der Arbeiter alleinig vertreten werden.

(TEIL 2 folgt im nächsten Heft)

(1) www.telekolleg.de im Kurs Volkswirtschaftslehre bekommt man sehr einfach die Sicht der offziellen politischen Ökonomie geboten und kann sie in all ihrer Schlichtheit bewundern.
(2) Richard Müller : “Vom Kaiserreich zur Republik, 1925, Band I” kann man eine Menge geschichtlicher Fakten bezüglich dem reaktionären Verhalten der Gewerkschaften nachlesen: „ Von SPD und Gewerkschaftsapparat im Stich gelassen, setzen die proletarischen Massen zwangsläufig auf selbstständige Organisierung.“
* Zum Thema „Gewerkschaften“ von Seiten linker Gewerkschaftler: ‘www.labournet.de’.

Theorie & Praxis

Der Wasserplan in Spanien

Die Umleitung des Ebro und der Nationale Wasserplan stellen eine beispiellose Gefahr für Menschen, Flüsse und Täler, Flora und Fauna der iberischen Halbinsel dar.

Der staatliche Plan sieht vor, die 16 existierenden Dämme zu vergrößern, das Wasser in Becken (in Tagus, Guadiana, Piedras, Odiel, Guadalquivir, South und Jucar) und den Fluss Ebro umzuleiten. Das Anfangsbudget für alle Arbeiten, die bei der Verwirklichung der sogenannten Bekken-Pläne anfallen, beläuft sich auf mehr als 60.101 Millionen Euro – anders formuliert: mehr als 6,010 Euro pro Familie. In dieser Rechnung sind die Provisionen für Budgetänderungen noch nicht einbezogen; solche Änderung sind normal und können die Summe leicht verdoppeln.

Wenn sie gebaut werden, würden diese Dämme nicht nur viele Dörfer überschwemmen, sondern auch einzigartige Naturlandschaften – wie den letzten unverschmutzten Teil der Pyrenäen –, einige große und fruchtbare Anbaugebiete und einige Naturschätze zerstören. Auf diese Weise gefährdeten die Dämme das Leben tausender Menschen und zerstörten deren Zukunft.

Das Herzstück des staatlichen Plans ist die Umleitung des Ebro. Die Umleitung, die Wasser aus dem Fluss zur Mittelmeerküste ablenken soll, umfasst 850 km Wasserweg. Dieser würde verschiedene Naturschutzgebiete kreuzen sowie einige „Stätten des kommunalen Interesses“. Die Auswirkungen wären katastrophal! Das hieße nämlich, entlang der Küste eine riesige künstliche Barriere zu errichten – ähnlich einer Begrenzungsmauer an der Autobahn. Schlamm und Ausgrabungen würden ein Gebiet betreffen, das schon jetzt extrem durch Feuer, Brandstiftung und aufgrund von Eigentumsspekulationen abgeforstet ist. Außerdem würde die Umleitung des Ebros den Bau mehrerer Dämme, Spenderbecken – geplant für die Flussregulation, z.B. in Itoiz – und Auffangbecken erfordern, um eine Regulation des Flusses zu ermöglichen.

Das Ebro-Delta ist ein Gebiet des weltweiten Interesses, als Zufluchtsort für Vögel und als Naturpark. Im Moment ist diese Region bereits aufgrund der reduzierten Wassermenge und Flussbecken in einer schwierigen Situation. Wenn das Dammprojekt fortgesetzt wird, verschwindet das Delta. Meerwasser würde schließlich die Stadt Tortosa, mehr als 40 km von der Mündung entfernt, erreichen. Dieser unsolide Wasserplan wird ein Ungleichgewicht zwischen verschiedenen Regionen schaffen. Dieser Plan verursacht die Verseuchung von Ressourcen in den verarmten Regionen im Landesinnern, um die bereits wassergesättigten Gebiete der Mittelmeerküste weiterhin zu entwickeln. Es wird zu sozialen Konflikten zwischen den Regionen und zu einer Verknappung der dringend benötigten Ressourcen in trockenen Gebieten kommen.

Wasserumleitungen haben andere Auswirkungen: die Auffangbecken. Sie schaffen unbegrenzte Investitionsmöglichkeiten, z.B. in neues, illegal bewässertes Land. Die Erfahrungen, die mit der Umleitung des Flusses Tagus-Segura gemacht wurden, geben beredtes Beispiel. Innerhalb kurzer Zeit entstanden neue kultivierte Gebiete, die mehr Wasser verlangten, als umgeleitet wird. Die Situation erforderte neue Brunnen, die die Region austrockneten und kleine landwirtschaftliche Betriebe unwirtschaftlich werden ließen.

Es heißt, dass 44 Prozent des umgeleiteten Wassers für den städtischen Verbrauch bestimmt sei. Diese Wassermenge würde ausreichen, um eine 16-20 Millionenstadt im Sommer zu versorgen. Zu erwarten ist in der Folge der Bau von Themenparks, Golfplätzen und Ferienparks für den Massentourismus, die die Küstenregion überziehen werden. Es ist klar, dass der angenommene städtische Bedarf übertrieben hoch angesetzt wurde, um die Bedürfnisse anderer Interessen zu verdecken. Sogar der Staat gibt zu, dass das Bevölkerungswachstum in den nächsten Jahren niedrig sein wird. Außerdem haben viele Untersuchungen die Annahmen über die Wassermengen des Ebro als manipuliert zurückgewiesen. Das gegenwärtige Volumen ist viel niedriger, als es die staatlichen Zahlen behaupten – und es gibt keine Hinweise darauf, dass das Volumen ansteigen wird.

Ein großes Versäumnis des Planes ist es, nichts gegen die großen Verluste in Spaniens Wassernetz zu tun: Insgesamt gehen 40-60 Prozent des Wassers verloren! Man könnte fragen, warum lecke Pipelines nicht repariert werden, wenn dies billiger und effizienter wäre, als Dämme und Umleitungen zu bauen? Die Umleitung des Ebros wurde zur intensiven Entwicklung der Mittelmeerregion erarbeitet. Es ist berechtigt zu sagen, dass diese extrem teuren Arbeiten, die sich nie auszahlen werden, auf den Interessen von Eigentumsspekulanten und Wasserkonzernen gründen.

Wir werden bald mit den Problemen zu kämpfen haben, die durch die Wasserverknappung aufgrund des Klimawandels entstehen. Die Umleitung wird die Situation noch verschlimmern und unumkehrbar machen. Währenddessen hoffen der Staat und die Finanzlobbies, die den Plan unterstützen, auf ein unsinniges, aber profitables Geschäft mit einem unschätzbaren und knappen Gut: dem Wasser. Wir alle zusammen können diesen schrecklichen Angriff stoppen.

CNT-AIT, 4. Juni 2003

im Netz unter: www.cnt.es/tarragona

Nachbarn

Entschlossen heilsamen Druck erzeugen

Viel Aufhebens wurde um den Bologna-Prozess nicht gemacht, obwohl er einigen Konfliktstoff birgt – oder gerade deswegen? Vom 18. bis 19. September fanden in Berlin die Bildungsministerkonferenz und das European Education Forum statt …

Schlecht besucht war das erste Europäische Bildungsforum (EEF). Keine 400 Menschen hatten sich versammelt, um „eine offene Diskussion über europäische Bildungspolitik“ (EEF) zu führen. Gewiss lag das auch an der Mobilisierung, die offensichtlich kaum über’s Internet hinaus kam. Die rar platzierten Plakate des Forums schmückten nur Universitätsgebäude, die Bildungssyndikate in der FAU verzichteten ganz auf solch „antiquierte“ Formen der Kommunikation.

Jene, die sich doch versammelt hatten, verloren sich schier im weitläufigen Gelände der Humboldt-Universität. Dass es kaum gemeinsame Ansätze zwischen den Anwesenden gab, verstärkte diese geographischen Impulse. Das Spektrum der „Workshops“ reichte von der romantischen „Studentenrevolte 68“ über eine abstrakte „Alternative europäische Gewerkschaftsbewegung im Bildungssektor“ bis zum mikrokosmischen „neuen Numerus Clausus an Berliner Hochschulen“. Auch in der Haltung zum Bologna-Prozess selbst taten sich in der Opposition beachtliche Gräben auf – divergierende Interessen.

Vor allem die TeilnehmerInnen aus Frankreich (SUD Education) und Italien (UNICOBAS Scuola) stellten sich gegen den Bologna-Prozess und wollen das Hochschulwesen nicht allzu eng angebunden wissen an die „Bedürfnisse“ der Wirtschaft. Währenddessen zeigten andere – darunter Mitglieder von Attac und Jusos – durchaus „Dialogbereitschaft“. Die gar nicht so radikale SUD war von diesen seichten Tönen wohl ziemlich überrascht – und enttäuscht. Die Basis, von der die Gegenaktivitäten ausgingen, war und ist noch allzu schmal. Deshalb waren die meisten „Workshops“ auch eher Vorträge als internationale Planung und Kooperation. Aufgrund der mangelnden Mobilisierung fanden diese Vorträge zudem noch wenig Publikum – nicht anders erging es den Bildungssyndikaten aus Berlin und Leipzig.

Dabei sind die Vorhaben der Oberen gar nicht ohne: wie bereits in Feierabend! #8 dargelegt, geht es um die striktere Ausrichtung und weitgehendere Integration der Hochschulen am Arbeitsmarkt und in die direkte wirtschaftliche Verwertung. Die Zweiteilung des Studiums will man „noch energischer vorantreiben“ (E. Bulmahn). Der erste Zirkel, Bachelor (BA), soll den Zugang zum zweiten (Master, MA) sichern, logisch. Aber nur der limitierte MA eröffnet die akademische Laufbahn – Regelabschluß soll der beruflich orientierte Bachelor werden. Binnen zweier Jahre sollen BA/MA flächendeckend eingerichtet sein – endgültiger Torschluss ist 2010. Das muss ein grandioses Jahr werden … universale Agenda, neue Rente, moderne Bildung, effiziente Gesundheit, besiegte Arbeitslosigkeit und und und!

Etwas verschwommen noch, preisen die Minister BA/MA als angemessen für Forschung und Arbeitsmarkt – doppelter Nutzen in einem Konzept, wie praktisch! Diese Kombination verbessere die Fähigkeit „Europa[s] zu Spitzenleistungen in Forschung und Innovation“ – damit dabei auch alle (Studierende, Profs, Unis) mitmachen, werden bis 2005 umfassende „Evaluationsverfahren“ (man kennt das aus der Schule: Zensuren) und eine europaweite Hierarchisierung (ENQA) etabliert. „Das erzeugt den heilsamen Druck, der helfen wird, das Ziel in 2010 zu erreichen.“ Gleichzeitig betonen die Minister die breite Basis, auf der ihre Initiative gründet: Rektoren, Universitäten, Studierende, Wirtschaft, Staaten weit über die EU hinaus, … Druck und Basis, kein Widerspruch? Ein Sprichwort: Bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt – und wenn es administrative Gewalt ist. Wenn sich die Zahl der BA-Studierenden seit 1999 auch vervielfacht hat, so reicht das nach Einschätzung des Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) noch nicht aus. „Solange es das Nebeneinander in ganzer Breite gibt, wird es uns nicht gelingen, die europäischen Abschlüsse […] zu vermitteln“ – nun geht es darum, Alternativlosigkeit zu schaffen. So funktioniert Politik! Klare Signale, wie HRK-Präsident Gaethgens sie fordert, tun ein übriges: Hochschulausgaben hätten als Investitionen, nicht als Konsum zu gelten. Die erfolgreiche Umdeutung von Bildung zu Kapital in Form des „Akkumulierungssystem[s]“ ECTS, der gesamte „Bologna-Prozess steht und fällt mit der Qualitätssicherung“. Ebenso unverblümt äußert sich der Bund der Deutschen Industrie (BDI) auf seiner Konferenz in Berlin (22.9.): Ziel moderner Bildungspolitik müsse die »Ökonomisierung des Wissens“ sein … und das habe sich die EU mit dem Bologna- Prozess gesteckt. Das European Credit Transfer System (ECTS) stellt den Bildungsgang in Punkten dar, die man sammeln, akkumulieren kann. Durch diese Formalisierung wird „Bildung“ nicht nur enger angebunden an eine zeitnahe Verwertung, sie wird dem Geld auch immer ähnlicher.

Sowohl EEF als auch EU entbehren einer aktiven gesellschaftlichen Basis, und müsssen daher auf politischen Mechanismen setzen, um die Gesellschaft zu beeinflussen. Aber Passivität und Politik bilden einen Kreislauf, den es zu durchbrechen gilt!

A.E.

Bildung

Studierende leben nicht vom Brot allein

Aber von Brot leben sie eben auch. Deshalb lenkten Mitglieder des Bildungssyndikats Leipzig die Aufmerksamkeit beim EEF auf einen Aspekt abseits der hochschulpolitischen Debatte … auf die Alltagsmühen, den Broterwerb.

Wenn die Politik auch danach trachtet, Bildung weiter zu formalisieren und zu kanalisieren … gelingen wird das nie. Denn Bildung hat andere Dimensionen, die nicht administrativ zu zügeln sind. Letztlich ist die Kommunikation unter Menschen, der Austausch über Perspektiven und Methoden, das, was Bildung ausmacht – dazu braucht man keinen Minister und keine Präsidenten. Früher oder später wird der Bologna-Prozess fallen, denn er orientiert sich nicht an Bildungsbestrebungen. Die Reformen werden zweifelsohne den „gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken“, aber vielleicht auf andere Weise, als sich das die Minister ausmalen dürften.

Tatsächlich ist – darauf wiesen die Bildungssyndikate in ihrem Vortrag beim EEF hin – der Bedarf an qualifizierter Arbeit steigend. Um diese Nachfrage der Wirtschaft zu decken, muss es auch eine „Ökonomisierung des Wissens“ geben, wie sie der Bund der Deutschen Industrie fordert. Dabei wirken BA/MA-Studiengänge genauso mit wie die „autonome“ Universität, die als Forschungs- oder Lehrunternehmen auftritt. Mit der Verwissenschaftlichung der Lohnarbeit geht die Proletarisierung der Studierten einher.

Dieser langfristige, gesellschaftliche Prozess – seit Anfang der 1960er hat sich die „Akademikerquote“ in der Erwerbsbevölkerung fast versechsfacht, auf 16,5 Prozent – setzt individuell nicht erst nach dem Studium ein. Vielmehr schlagen sich ein Drittel der Studierenden mit gelegentlichem, und ein weiteres Drittel mit permanentem Jobben durch. Ein Viertel der Teilzeitkräfte, also 600.000 Menschen, rekrutiert sich aus dem Hochschulbereich. Da Studierende kaum organisiert ihre Interessen vertreten, unterschreiten sie regelmäßig gängige Standards – und beeinflussen damit auch den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Studentische Beschäftigungsverhältnisse unterscheiden sich zwar formal, sind aber allesamt als prekär zu bezeichnen. In der Telefonzentrale von emnid (Göttingen) beispielsweise arbeiten SchülerInnen und Studis als „freie Mitarbeiter“ auf Honorarbasis (1). Nicht selten liegt der Stundenlohn bei fünf, oder sechs Euro … manchmal gibt es gar keinen schriftlichen Arbeitsvertrag. Äußerst selten hingegen sind Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, bezahlter Urlaub, Kündigungsschutz etc. An den Universitäten sieht es nicht anders aus, und „studentische Hilfskräfte“ sind in der Regel befristet eingestellt. Immer mehr Festangestellte müssen sich im Zuge gegenwärtiger Sparmaßnahmen seitens „autonomer“ Hochschulen auf befristete Verträge einlassen – die Befristung war zuerst bei Studierenden durchgesetzt. Teilweise werden sie sogar durch studentische Beschäftigte ersetzt.

An diesen Bedingungen wird sich solange nichts ändern, bis aus dem Studentenmilieu eine selbstbestimmte Organisierung erwächst, die sich auch mit anderen prekär Beschäftigten in Kontakt setzt und alltägliche Grenzen überwindet. Dazu wollen die Bildungssyndikate mit einem Fragebogen beitragen (2). Zum einen wird so die Problematik an der Uni thematisiert. Zum anderen ist eine eigenständige Untersuchung vor Ort notwendig, weil praktisch alle Daten zur sozialen Situation der Studierenden aus nur einer Quelle, den Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerks, stammen.

Die soziale Situation während des Studiums hat prägenden Einfluß: wenn sie zunehmend durch prekäre Fünf-Euro-pro-Stunde-Jobs charakterisiert ist, kann ein qualifizierter Arbeitsplatz freilich als Karriere erscheinen. Andererseits besteht die Möglichkeit, sich selbst einzusetzen für die eigenen Belange und Erfahrungen zu sammeln, die sich als wichtig heraus stellen werden. In gemeinsamen Kämpfen kann in der Tat ein neuer sozialer Zusammenhalt entstehen, der berufsständische Egoismen überwindet, sich gegenseitig bestärkt und sich nicht mehr zufrieden gibt mit einigen materiellen Zugeständnissen und Wahlversprechen: Eine soziale Bewegung, die sich selbst – der Gesellschaft – den materiellen Reichtum und die Kultur zurückerstattet, die ihr heute noch vorbehalten bleiben.

A.E.

(1) Infos dazu bei www.callcenteroffensive.de
(2) Kontakt & Infos: fau-leipzig@gmx.de

Bildung

Zum Zug kommen!

Voraussichtlich für die zweite Novemberwoche hat das „Bundesamt für Strahlenschutz“ (BfS) den nächsten CASTOR-Transport ins wendländische Gorleben angesetzt und wieder einmal heißt das: Ausnahmezustand. X-Tausende AtomkraftgegnerInnen werden zumeist gewaltfrei versuchen, den Transport zum Stehen zu bringen und 18.000 Einsatzkräfte werden mit Gewalt und aller zur Verfügung stehenden Technik versuchen, dies zu verhindern.

Im Wendland werden Lager errichtet: Kräne stapeln Container aufeinander, Leitungen werden verlegt und außenrum kommt ein Zaun. Kein Ort um sich wohl zu fühlen. Aber darum geht es bei Lagern ja auch nicht. 18.000 Menschen sollen hier wochenlang auf engstem Raum zusammengepfercht leben und die meiste Zeit auch noch mit harter Arbeit in den umliegenden Wäldern und Landstraßen verbringen. Fast können sie einem Leid tun, die vielen Mitglieder des Bundesgrenzschutz, der Bereitschaftspolizei, der SEK’s (Sonder-Einsatzkommandos), der BFE’s (Beweis-Festnahme-Einheiten) und der vielen anderen Exekutivorgane die im November wieder einmal im Wendland zusammengezogen werden um die Staatsinteressen im Sinne der „wehrhaften Demokratie“ zu verteidigen.

Die Internierungslager für Demonstrierende, die Platz für bis zu 2000 Leute bieten sollen, sind sogar noch unkomfortabler. Nach der Neuauflage des „Niedersächsischen Gefahrenabwehrgesetzes“ (NGefAG) durch die rechte Koalition können unliebsame PassantInnen nun bis zu zehn Tage weggesperrt werden.

Auf juristischer Ebene ist die derzeitige Polizeipraxis der Massenverhaftungen auf Verdacht aber durchaus problematisch. „Ein Freiheitsentzug stelle die letzte Stufe einer Polizeimaßnahme dar“, sagt XTausendmal-Quer-Rechtsanwalt Plener. Während der Castor-Tage stehe sie jedoch an erster Stelle. Und das alles könne nur passieren, weil die Gerichte nicht funktionieren – „oder nicht funktionieren wollen“. Denn „unverzüglich“ seien Gefangene einem Richter vorzuführen, der darüber entscheiden müsse, ob der Freiheitsentzug auch gerechtfertigt sei. Doch zum einen „blockiert die Polizei das Verfahren“, zum anderen seien nicht genügend Richter vorhanden. Folge: DemonstrantInnen werden unrechtmäßig stunden- oder tagelang weggesperrt. Für rechtswidrig hält Plener auch, dass Castor-Gegner wegen bloßer Verdächtigungen inhaftiert würden. Die Polizei müsse nämlich die Straftat benennen, die durch den Freiheitsentzug verhindert werden sollte. Plener: „Mir ist kein Fall bekannt, in dem die Polizei die Ingewahrsamnahmen begründet hätte.“ Hoffnung saugen die Castor-GegnerInnen nun aus mehreren Gerichtsentscheidungen. Folge daraus: Jederzeit, rund um die Uhr, müssten Richter beim Castor-Transport erreichbar sein. „Die Gerichte müssen schneller ran“, sagte Plener. Und „die Polizei muss dafür sorgen, dass das auch passiert“.

Nach den Erfahrungen der letzten Transporte erscheint es allerdings illusorisch zu glauben, Polizeigewalt lasse sich durch Gerichte zügeln – im Zweifelsfall zählt eben das Recht des Stärkeren. Welche Seite dies aber nun ist, lässt sich im Fall des Castor-Widerstands allerdings nicht zweifelsfrei sagen, immer wieder gelang es Menschen während der letzten Transporte zum Zug zu kommen. Durch Kreativität, Phantasie und „kriminelle“ Energie jedes/-r Einzelnen kann es immer wieder klappen, die hochgerüstete Polizeiarmee auszutricksen, die durch ihr starres Kommandosystem viel schwerfälliger ist. O-Ton eines Beamten beim letzten Transport: „Wir sind zwar stärker, aber irgendwie ganz schön blöd.“ Und so rufen auch diesmal Kreativ-Gruppen wie der „Verein für Weichtierkunde“ zum heiteren Widerstand auf:

Es könne „nicht ausgeschlossen werden, dass es aufgrund der nervlichen Anspannung ausgerechnet auf vielbefahrenen Strecken zu ungeschickten Rangiermanövern, zum versehentlichen Verlust von Ladung infolge von Fahrfehlern oder zu Kollateralschäden beim Ausbringen von Mist und Gülle“ komme. X-Tausendmal-Quer bereitet wieder eine Großblockade vor und viele autonome Grüppchen werden versuchen das ihrige zum diesjährigen Novemberspektakel beizutragen. Also: Das Wendland ruft!

soja

www.castor.de

Die Atommüllberge wachsen . . .

– Bleibt es bei den jetzigen Restlaufzeiten, wird sich die tödlich strahlende Atommüllmenge seit dem Stillhalte-Atomkonsensvertrag noch verdreifachen.

– Weltweit gibt es kein sicheres Endlager, das auch nur annähernd dazu in der Lage wäre den Strahlenmüll für Millionen von Jahren von der Biosphäre abzuschließen.

– Bereits durch den Uranabbau entstehen strahlende Abraumhalden und verseuchen und zerstören die Lebensgrundlagen rechtloser indigener Gemeinschaften.

– Bei der Wiederaufarbeitung deutscher Brennelemente in den Plutoniumfabriken La Hague (F) und Sellafield (GB) wird Strahlenmüll ins Meer gepumpt und über Kamine in die Umgebung geblasen.

– Für die Französische Regierung ist die Anti-AKW-Bewegung mittlerweile so gefährlich, dass sie CASTOR-Transporttermine seit dem 9.August als „Militärisches Sicherheitsgeheimnis“ einstuft. Bei Bekanntmachung drohen 5 Jahre Gefängnis.

Bewegung

Freiheit für Marco, Daniel und Carsten!

Politische Repression in Magdeburg

Seit einiger Zeit ermittelt die Bundesanwaltschaft (BAW) in Magdeburg nach dem Gesinnungsparagraphen §129a (Bildung einer terroristischen Vereinigung). Ein Jahr sind Daniel und Marco unter diesem Vorwurf nun schon in Haft. Und da die BAW und das LKA auch nach fünf Monaten keine glaubwürdigen Beweise vorlegen konnten, wurde im April 2003 Carsten, aktiv in der Unterstützungsarbeit für die Beiden, verhaftet – denn nur zu dritt ist man eine terroristische Vereinigung, und nur so konnte die Haftfortdauer aufrecht erhalten werden.

Am 21. Oktober soll ihnen in Halle der Prozess gemacht werden. Für sie ist klar, daß es sich „um einen staatlichen Angriff rein politischer Natur handelt, dem auch entsprechend entgegengetreten werden muß“ (Daniel).

Für den 25.10. 2003 um 14 Uhr ist deshalb am Bahnhof in Magdeburg eine bundesweite Demo angesetzt. Ihr Motto: „Freiheit für Daniel, Marco + Carsten! Weg mit dem Paragraf 129a/b!“

mehr Infos: www.soligruppe.de

Bewegung

Schill ist weg – Bambule comes back

Schill muss weg! – mit dieser Parole zogen im vergangenem Jahr Tausende Menschen über Monate mehrmals pro Woche durch Hamburg um den Fortbestand des beliebten Wagenplatzes Bambule zu fordern – mithin das Recht aller Menschen, so zu leben, wie sie wollen. Der Senat ließ mit Knüppeln und Wasserwerfern antworten. Schill ist weg! hieß die triumphierende Parole, am Abend des 19.08.2003. Die Polizei reagierte mit Knüppeln und Wasserwerfern.

Ihr letzter Gruß galt dem Mann, der vor zwei Jahren angetreten war die Stadt zu säubern: von Chaoten, Obdachlosen, Verbrechern, Dealern, DrogenkonsumentInnen, Bettlern, gewalttätigen Jugendlichen. Verlässlich produzierte dieser Innensenator Schlagzeilen, von denen man nicht immer wusste, ob sie einen erschrecken oder amüsieren sollten. Deshalb ist es kein Wunder, dass man den rechten Politnarren irgendwann fallen ließ und er nur wenige Wochen nach seinem Rausschmiss bereits vergessen ist.

Am 27.9. besetzten die Bambulistas jetzt einen neuen Platz in der Harkortstraße. 300 Leute zogen daraufhin durch die Innenstadt und forderten Freiraum für alle und den Sturz des Senats im allgemeinen. Natürlich kam es zu Polizeikesseln und die Gefängnisse waren wieder überfüllt. – Und es geht weiter. Erwarten wir in Hamburg einen heißen Herbst – und hoffentlich nicht nur dort!

soja

www.bambule.de, de.indymedia.org

Urlaub mit Kriminellen

Wir trauern. Sommer 2003. Um dich. Viel zu früh gingst du von uns, just im Zenit deiner Jugend… Doch wir trauern nicht nur wegen lauer Sommernächte, Badeseen und Tofuwürstchen, sondern auch, weil die heiße Zeit der politischen Sommercamps und -gipfel vorbei ist. Schade, schade… und weil’s so schön war, lassen wir einige Highlights noch einmal Revue passieren.

Manch einer mag sich fragen, was jetzt eigentlich ein Camp ist. Vielleicht ein Jugendferienlager mit Betreuern und festen Ess- und Schlafzeiten? Oder ein Rekrutierungspool obskurer Politsekten? Es wird gemunkelt, die Camps seien mehr ein „Urlaub mit Freunden“, ein „linker Freizeitspaß“ und mensch könne genauso gut auf ein Festival fahren. Aber bei näherem Hinsehen verbirgt sich hinter all der Camping- und Gemeinschaftsduschidylle eine ernste politische Aussage. Politische Camps, als relativ neue Aktionsform im Katalog der Sub-Politik, drehen sich laut Selbstdefinition um verschiedene Themen. Mal wird Antirassismus und die Abschaffung von Grenzen, mal Umweltschutz, mal selbstbestimmte Kultur in den Vordergrund gestellt. Dass es letzten Endes um das Erreichen einer befreiten Gesellschaft gehen soll, wird erst auf den zweiten Blick deutlich. Das dort entstehende solidarische Miteinander ist praktisch eine gelebte Utopie – aber was wäre eine Utopie ohne …setzt bitte ein was ihr wollt…? Wo bliebe die Attraktivität politischen Handelns ohne den Slogan „Schöner leben jetzt!“? So wird Herrschaftsfreiheit nicht nur gefordert sondern soweit es eben geht vorgelebt – mit hierarchiefreien (oder zumindest -armen) Entscheidungsstrukturen (Plenum), gemeinsamer Versorgung (Volxküche), vielen Workshops, Gesprächsrunden, Musik, Kultur und gänzlich autonomer Entscheidungsfreiheit jeder/-s Einzelnen.

Teilweise dominierte der Aspekt, der herrschenden Politik, die ja in eine gänzlich andere Richtung geht, direkt in den Arm zu fallen (wie bei den Gipfel- und NoBorder-Camps). Teilweise stand die Vernetzung und eben auch die Nestwärme im Vordergrund, die eine Gruppe Gleichgesinnter nun mal ausmacht. So waren das A-Camp auf der Burg Lutter und das Wendland-Sommer-Camp dieses Jahr eher interne Veranstaltungen für AnarchistInnen und den Anti-AKW-Widerstand.

Das mit Abstand meistbesuchte Spektakel war unbestritten der G8-Gipfel in Evian am Genfer See (siehe FA! #7) mit bis zu hunderttausend TeilnehmerInnen in verschiedenen Groß-Camps und auf Demonstrationen. Gegen die neoliberale Verelendungspolitik („Globalisierung“) wurde hier im Juni ein deutliches Zeichen gesetzt. Ähnlich wie bei vorangegangenen Gipfeln wurde der Widerstand mit einem bombastischen Polizeiaufgebot konfrontiert. Die Gewalteskalation, die von den Medien immer gern bei den DemonstrantInnen („Chaoten“) gesucht wird, ist hier eindeutig auf Seiten der „Ordnungshüter“ zu finden, was die verletzten GlobalisierungskritikerInnen in den überfüllten Krankenhäusern beweisen. So riskierte die Polizei bewusst den Tod von angeseilten AktivistInnen, als sie diese einfach los schnitt (Resultat war ein Schwerverletzter) und setzte, wie schon in Davos (IWF-Gipfel im Januar mit massiven Protesten) neuartige Schockgranaten ein. Diese und andere „non-lethal weapons“ sind als nicht tödlich deklariert, sorgen aber mindestens für schwere Verletzungen. Erneut zeigt sich, dass herrschende Politik auf offene Kritik nur die Antwort der Gewalt kennt – und die wächst mit der Intensität der Proteste. Praktisch alle politischen Sommerevents waren massiver Polizeirepression ausgesetzt, die von Räumung und Kriminalisierung des Kölner Grenzcamps (siehe FA! #8) mit hunderten Verhafteten bis hin zur umfassenden Überwachung einer Kultur-Floßfahrt reichte.

Die auf den ersten Blick verrückte Idee, auf Brettern und Fässern die Elbe runter zu fahren, wurde praktisch umgesetzt, um gegen die Vorstellung anzugehen, „Flüsse wie Autobahnen auszubauen und zu zu betonieren“ sei wichtig für den ‚Standort‘, so die OrganisatorInnen-Gruppe. Hier wird deutlich, dass Widerstand vielfältige Formen annehmen kann und keineswegs Steine schmeißen bedeuten muss. Manchmal heißt Widerstand auch, „…auf der Elbe zu fahren, auf einem Floß zu liegen, und eben dieses Vehikel zu nutzen, um Aufmerksamkeit zu bekommen und kulturelle Inhalte zu transportieren.“

Auf solch unkonventionelle Ideen reagiert die Staatsmacht im Allgemeinen argwöhnisch: Bei Nichteinhaltung der diversen Auflagenkataloge wird gewaltfreie, kulturelle Politarbeit einfach verboten. Zu sehen auch an der Fahrrad-Karawane, die sich im April Richtung Thessaloniki (Nordgriechenland) zum EU-Gipfel auf den Weg machte um in drei Monaten fünf Grenzen zu überqueren und sich den Protesten anzuschließen. Neben Erfahrungsaustausch und Vernetzung mit anarchistischen Gruppen in Osteuropa und dem grandiosen, oft „anstrengenden“ (Zitat Teilnehmer) Reiseerlebnis fühlten die RadlerInnen mal ganz direkt, was geschlossene Grenzen bedeuten und wie wichtig es ist, gerade diese als Kernpunkt staatlicher Macht zu thematisieren um sie irgendwann einmal abzuschaffen.

So sehen die Einen Sommeraktionen als einen Weg an, „den Aufstand zu proben“, um die Obrigkeit immer wieder aufs Neue herauszufordern. Anderen ist die Vernetzung wichtig, nicht nur für politische Arbeit sondern auch um selbstbestimmtes, solidarisches Miteinander auch im restlichen Jahr über leben zu können. Und für viele mag es eben auch der „Urlaub mit Freunden“ sein, der im Vordergrund steht. Mit Inspiration und der Bestätigung, das viele, viele Menschen woanders auch so denken wie sie, kehren die „Kriminellen“ (Polizei), „Chaoten“ und „Krawallbrüder“ (BILD), „Störer“ (Express) und das „unappetitliche Pack“ (Ex-Minister Kanther) also zurück in ihre Winterquartiere um dort die „Sommerpause“ zu beenden und lokal aktiv zu bleiben.

Camps machen Mut weiter zu machen – bis zur Befreiung, vielleicht mal irgendwo, irgendwann. Oder bis zum nächsten „Urlaub mit Freunden“.

soja und wanst