Fünf Jahre selbstorganisiertes Projekt
„Zuerst waren wir ganz wenige und haben uns privat getroffen. Die Ortsgruppe der FAU hatte sich gerade erst gegründet und suchte nach einem Raum, um die Gruppenarbeit leichter in die Öffentlichkeit zu tragen. Die FAUist@s haben den Prozess deshalb am meisten getrieben“, so charakterisiert einer der Aktiven die Entstehungsphase des Ladens in der Kolonnadenstraße nahe der Leipziger Innenstadt.
Mitte Juni 2008 feierte das Ladenprojekt Libelle seinen fünften Geburtstag. Anlass für uns, einige Nutzer_innen nach ihrem vorläufigen Resümee zu befragen. Gründungsmitglieder und Späteinsteiger_innen, Workaholics und Nutznießer_innen zogen für uns hier Bilanz aus einem halben Jahrzehnt (versucht) selbstorganisierter libertärer Struktur.
Nach ihrer Motivation aus der Gründungszeit befragt, ging es den Veteran_innen „von Anfang an mehr um die Möglichkeiten, Leute in den Laden zu ziehen und mit anarchistischen und kommunistischen Ideen vertraut zu machen“ beziehungsweise „die Idee war, eine Schnittstelle für ganz ‚normale‘ Leute zu schaffen, um diese an linke Politik heranzuführen“. Was auch einer der Gründe war, nicht in eines der üblichen Szeneviertel wie Connewitz zu gehen.
„Das Interesse an einem Freiraum und auch die Vorstellung einer anarchistischen Organisation des Raumes nach den Prinzipien der Gegenseitigkeit und Selbstbestimmung waren eher akademischen Ursprungs als das Produkt der Erfahrungen und Diskurse der Szene.“
Die Schnittmenge mit Leuten aus der eingesessenen Szene war deshalb zunächst eher gering. Dennoch kam es aufgrund ähnlicher Inhalte schnell zu vielen Synergieeffekten. Der Laden bot einen offenen Raum für Menschen und Gruppen, die sich bereits engagierten oder erst neue Projekte starteten: „Wir wussten gar nicht, wie wir die ganzen regelmäßigen Plena-Termine der Gruppen und die Veranstaltungen unter einen Hut bringen sollten. Freie Arbeiter/innen-Union, Feierabend!, Linke StudentInnengruppe (LSG), die Schachgruppe des Roten Stern Leipzig, die Engagierten WissenschaftlerInnen und so manche Gruppe, die nur eine kurze Blütephase hatten, wie das Bühne-Kollektiv oder die ‚Burschenschaft‘ Fäkalia“. Später kamen unter anderem die Umtauschinitiative, die Gruppe LUST, Ya Basta!, Antispe Leipzig und die Erwerbsloseninitiative Leipzig hinzu.
Die Frage der Offenheit
Zum Selbstverständnis gehörte, zuerst einmal für alle offen zu sein. So sollte der Laden ein „Anlaufpunkt für Menschen [sein], die sich einbringen wollen, die sich unabhängig von Staatszugehörigkeit, Konfessionen, Gender oder Bildungshintergrund eine bessere Welt vorstellen können und sich dafür engagieren“. Doch auch in der Libelle kennt die Aufgeschlossenheit Grenzen, gemäß der Weisheit „wer für alles offen ist, ist nicht mehr ganz dicht“ mussten auch schon mal Personen wegen sexistischen oder rassistischen Äußerungen des Raumes verwiesen werden. „Letztlich kann man das aber nur am Einzelfall entscheiden, und das finde ich einen offenen Umgang miteinander. Dagegen zum Beispiel einfach zu sagen: Du trägst ein Pali-Tuch, Du kommst hier nicht rein! – das ist das genaue Gegenteil einer offenen Politik.“
Neben solchen „inhaltlichen“ Gründen, war die Auseinandersetzung mit sogenannten Außenseitern der Gesellschaft (Menschen mit argen psychosozialen Problemen) ein häufiger Diskussionspunkt. „Viele vergessen bei ihrem Anspruch auf Offenheit oft, dass die Libelle weder über den Raum noch über die Möglichkeiten einer sozialtherapeutischen Station verfügt“. Wie mit solchen Konflikten umzugehen sei, wurde letztlich nicht festgeschrieben, aber mit Kontakten zu Beratungsstellen eine Handlungsoption geschaffen.
Was lief, läuft und geht
Von Anfang an wurde dazu aufgerufen, sich mit Ideen und Kreativkraft einzubringen, wie schon der erste Veranstaltungsflyer zeigt: „Das (…) Ladenlokal ist eine Welt der Möglichkeiten, kein fertiges Angebot, kein Freizeitpark Belantis und keine ‚Leipziger Freiheit‘ der Einkaufsmeile.“ Getreu dem Motto „wir sind Riesen, die von Zwergen zu Zwergen erzogen wurden“, werden Menschen angeregt, über sich selbst hinauszuwachsen. Dies fand in den ersten Jahren vor allem bei Studistreiks, den Montagsdemonstrationen gegen Hartz IV und auch bei Antifa-Demos seinen Ausdruck.
Neben praktischer Kritik an der Tagespolitik wurde der anarchistische Ansatz der Libelle mit der ersten inhaltlichen Veranstaltung verdeutlicht. Abel Paz, der über seine Erlebnisse aus dem Spanischen Bürgerkrieg berichtete, zog über 70 Leute an, die nur auf Bierbänken in dem winzigen Raum unterzubringen waren. Außer Vorträgen, Filmvorführungen und Infoveranstaltungen gab es Lesungen, Spieleabende, Workshops bis hin zu Rockkonzerten. Kreative Energie wurde in Puppentheater, cocktaillastigen Soli-Theken oder Zwischendeckendämmungsmaßnahmen umgesetzt. Einen besonderen Raum für Diskussionen bieten die wöchentlichen Voküs, wo unbefangen über Politik und Gesellschaft debattiert werden kann. Für politisches Engagement ist heutzutage der Anschluss an das Computerzeitalter unabdingbar. Die PC-Arbeitsplätze ermöglichen nicht nur die virtuelle Kontaktpflege, sondern auch die Gestaltung und Verbreitung von Informationen.
Wie kommt mensch rein?
„Das erste Mal bin ich vor zwei Jahren zur Veranstaltung „Venezuela – Sozialismus des 21. Jahrhunderts?“ in die Libelle gekommen – das Thema war gerade mal wieder en vogue“, sagt einer, der über einen E-Mail-Verteiler aufmerksam wurde. „Und wie es halt so ist, diskutierten wir noch bis zum Morgengrauen über Chavez und Anarchist_innen in Venezuela“.
Ein anderer meint: „Ich bin durch Anregung eines Freundes eines Samstags mit zur VoKü gegangen, dort bin ich auf Leute getroffen, die mich gefragt haben, ob ich Interesse hätte, mich auch persönlich einzubringen. So hab ich mir die verschiedenen Gruppen und ihre Tätigkeitsfelder angesehen und bei Gelegenheit hier und da mal mitgemacht“.
Aber auch politische Gruppen brachten Zulauf. So meinte jemand: „Ich habe durch die LSG zur Libelle gefunden. Vorher trafen wir uns immer in der Uni, aber die Libelle machte die wöchentlichen Plenas erst zu einer gemütlichen und intensiven Zeit“.
Häufig waren es unmittelbar Bekannte, die im Gespräch auf diese Plattform hingewiesen wurden, doch mitunter gelang es auch durch Proteste auf der Straße: „Ich bin durch die Anti-Hartz-IV-Demos in die Libelle gekommen. Einige Leute aus dem Laden waren da sehr aktiv, und deren u.a. durch Redebeiträge und Flugblätter vermittelten Inhalte waren mir sehr sympathisch. Ein Großteil der Demo und das organisierende Sozialforum gingen doch sehr stark in so eine „Wir-wollen-Arbeit!“-Richtung, als ob Lohnarbeit nun nicht nur eine Möglichkeit wäre, über die Runden zu kommen, sondern wer weiß was Gutes… Auch waren die Libellistas fast die einzigen, die sich gegen die BüSo-Leute engagierten, die mit ihren wirren Verschwörungstheorien zu der Zeit massiv versuchten, Einfluss bei den Demos zu gewinnen“. Eines der Gründungsmitglieder bestätigt: „Zu der Zeit war die Libelle ein wertvoller Ausgangsort für Aktionen. Darüber sind auch viele Leute, vor allem Studis politisiert worden bzw. in das Projekt rein gezogen worden. Heute – und hier spreche ich schon aus der beobachtenden und nicht mehr aktiven Perspektive – kommen vor allem junge Leute aus der Antispe- und Tierrechtsbewegung in die Libelle.“
Zwischenstand
Es war natürlich unvermeidlich, dass sich mit den Aktiven auch der Laden im Lauf der letzten fünf Jahre geändert hat, was nicht ohne Reibungsverlust vonstatten ging. „Folge ist sicher ein Schwinden des gemeinsamen politischen Profils, da sich viele eben nur als Einzelpersonen in der Libelle engagieren (ohne diese Menschen dafür jetzt kritisieren zu wollen). Ein gemeinsamer Grundkonsens ist sicher da, wird aber zu selten diskutiert und sicher auch zu wenig nach außen getragen.“
Die Finanzierung dieses selbstorganisierten Projektes gestaltete sich schon immer schwierig, „obwohl die finanzielle Lage nach wie vor (und wieder mal) prekär ist. Aber es sind auch positive Entwicklungen zu sehen. So läuft seit einem knappen Jahr der Veranstaltungsdienstag, wobei einige ebenso inhaltlich gute wie gut besuchte Veranstaltungen dabei waren. Die Außenwirkung ist derzeit also wohl um einiges besser als noch vor einem Jahr. Wünschenswert wäre es, sich künftig noch stärker in innerlinke Diskussionen in Leipzig einzubringen, eigene Akzente zu setzen und dabei auch immer noch bestehende Vorurteile gegen die Libelle (vor allem im ‚antideutschen‘ Spektrum) abbauen zu können. Dass andere Leute andere Meinungen und Schwerpunkte haben, ist okay, aber es wäre schön, nicht von vornherein, d.h. vor einer wirklichen Auseinandersetzung mit den von ‚uns‘ vertretenen Inhalten, in eine Schublade gesteckt zu werden.“
Obwohl die Situation also nicht unbedingt als „rosig“ beschrieben werden kann, wurde nach einem halben Jahrzehnt eine Menge erreicht; politische und kulturelle Initiativen wurden gegründet, Augen für die unzähligen kritikwürdigen Verhältnisse in der kapitalistischen Gesellschaft geöffnet und konkreten Bedürfnissen mit praktischer Unterstützung begegnet.
Das Team des Feierabend! wünscht auf dem weiteren Weg alles Gute für die nächsten fünf Jahre!