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Was sonst noch war…

Die Debatte um „linksextremistische Gewalt“ geht weiter, führte aber bisher nicht zu aufregenden Ergebnissen. In seinem im April 2016 veröffentlichten Jahresbericht stellte der sächsische Verfassungsschutz (wieder mal) fest, dass Leipzig eine „Hochburg der Linksextremisten“ sei. Weiteren Aufschluss soll jetzt eine Studie zu den „Ursachen urbaner Gewalt“ bringen – dies entschied der Leipziger Stadtrat im Juni 2016. Warten wir ab, welche Erkenntnisse da mit Hilfe der modernen Polizeiwissenschaft zu Tage gefördert werden.

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Am 14. Juni zogen rund 60 Menschen durch die Leipziger Innenstadt, um ihre Solidarität mit den Protesten in Frankreich, die sich gegen das geplante Arbeitsgesetz richten, kund zu tun. Aber auch die geplante Verschärfung der deutschen Hartz-IV-Gesetze war ein Thema der Demonstration. Trotz der recht kleinen Teilnehmer_innenzahl war es ein gut gelaunter und – wie sagt man? – kraftvoller Protest, der schließlich vor dem französischen Honorarkonsulat endete.

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Seit dem 4. Juni – zum Redaktionsschluss also schon seit gut einem Monat – ist ein leer stehendes Objekt in der Arno-Nitzsche-Straße besetzt. Das Gelände gehört der Deutschen Bahn, die die Besetzer_innen zum Verlassen der Gebäude aufforderte, aber (bislang) noch keine Schritte zur Räumung unternommen hat. Ein guter Anfang also, aber trotzdem bleibt die Zukunft des Black-Triangle-Squats bis auf weiteres ungewiss. Das Projekt freut sich über eure Unterstützung.

Krawalle für alle

Zu den Ereignissen vom 12. Dezember 2015

Statt dem geplanten „Sternmarsch auf Connewitz“ wurde es doch nur ein müder Spaziergang durch die Südvorstadt. Kein Wunder, denn neben Silvio Rösler mit seiner Offensive für Deutschland und Thügida hatte sich auch der notorische Christian Worch mit seiner Partei Die Rechte angemeldet – und der hat schließlich jahrelange Erfahrung, wie man mit solchen Aufmarschversuchen ordentlich scheitert. Am Ende waren es nur 135 bis 150 Hanseln, die ein paar hundert Meter durch die Südvorstadt latschten, von der Polizei großzügig mit Hamburger Gittern abgeschirmt.

Der Nazi-Aufmarsch selbst war somit nicht weiter beachtenswert. Die damit beabsichtigte Provokation gelang aber durchaus. So waren auch die lokalen Antifa-Sportgruppen an diesem Tag besonders sportlich unterwegs und mühten sich redlich, den guten schlechten Ruf zu verteidigen, den Connewitz sich im Lauf der Jahre erarbeitet hat. Der Krawall gestaltete sich dabei zwar ziemlich flächendeckend, aber eben darum auch wenig zielgenau. Brennende Mülltonnen ergeben zwar hübsche Pressefotos, nützen nur praktisch wenig, wenn sie mehr als einen Kilometer von der Aufmarschroute entfernt sind. Aber so macht mensch das eben, wenn man einerseits hübsch militant sein, sich aber andererseits nicht mit der Polizei ins Gehege kommen will…

Die Polizei ließ sich ihrerseits nicht lumpen und brachte an diesem Tag nicht nur vier Wasserwerfer, sondern auch jede Menge Tränengas zum Einsatz, was in der belebten Südvorstadt natürlich eine total dufte Idee war. So wurden an diesem Tag – mal mehr, mal weniger zielgenau – exakt 78 CS-Gas-Kartuschen verschossen. Ob die Polizei sich damit einen Eintrag im Guinessbuch der Rekorde sichern oder vielleicht auch nur ihre gammeligen Lagerbestände loswerden wollte (1), konnte noch nicht abschließend geklärt werden.

 

Keine Gewalt – sonst knallt´s!

Das Ausmaß an Gewaltbereitschaft (2), das da zu Tage trat, war natürlich schockierend – wobei die Beamten bekanntlich für so was bezahlt werden, also schon per Definition keinerlei „Gewalt“, sondern nur ihren Beruf ausüben. Umso empörter war die bürgerliche Öffentlichkeit über die Ausschreitungen der fiesen Autonomen.

Auch hier zeigte sich wieder das bekannte Fallgesetz des öffentlichen Diskurses: So wie ein fallender Gegenstand umso mehr an Geschwindigkeit gewinnt, je mehr er sich von seinem Ausgangspunkt entfernt, so drehten die Beteiligten der nachfolgenden „Debatte“ umso doller am Rad, je weniger sie von den Krawallen selbst direkt betroffen waren. Der Chef des Café Puschkin zum Beispiel war bei Ereignissen sehr nah dran gewesen (so wurden die Puschkin-Sitzbänke für Barrikadenbauversuche zweckentfremdet). Er äußerte sich in einem Facebook-Kommentar also ziemlich unaufgeregt und sarkastisch: „Wir danken der Stadt Leipzig und dem verantwortlichen Amt in Bautzen für den gestrigen Tag. Durch die Entscheidung eine Gruppe von Vollidioten mit der Androhung unser Stadtteil in Schutt und Asche legen zu wollen, ‚demonstrieren’ zu lassen, hatten wir einen tollen Tag. Ich wollte schon immer mal Wasserwerfer und Panzerwagen vorm Laden sehen, auch wusste ich bisher nicht wie Tränengas schmeckt.“

Umso aufgeregter waren dagegen viele Leser_innen des Leipziger Zentralorgans LVZ, die von dem Geschehen selbst nichts mitbekommen hatten und nun, aufgrund der nachfolgenden Berichterstattung, vermutlich meinten, von der Südvorstadt sei nach den Krawallen nur noch ein rauchender Krater zurückgeblieben. So wurde in einer LVZ-„Leserdebatte“ vom 18. Dezember 2015 gar nicht groß debattiert, vielmehr waren sich im Prinzip alle einig, ganz nach dem Motto: Schlimm, diese Kriminalität – die sollte man wirklich verbieten!

Ein Leserbriefschreiber machte z.B. folgenden glorreichen Vorschlag: „Woher stammt die Angst der Verantwortlichen, einen ‚Ausweis für Gewaltlosigkeit’ einzuführen, den jeder, der demonstrieren will, vorher zu unterschreiben hat? Tut er es nicht, verliert er so lange das Recht auf Demonstration, wie er diese Unterschrift verweigert.“ (3) Der gute Mann hat vermutlich noch nie an einer Demonstration teilgenommen – wer demonstriert, will ja immer irgendwas geändert haben, was schon mal mangelnde Staatstreue anzeigt und deswegen verdächtig ist. So kennt sich unser Leserbriefverfasser mit den Abläufen bei Demonstrationen wahrscheinlich nicht so aus und kann darum natürlich auch nicht wissen, dass dort bereits heute schon ein generelles Steineschmeißverbot herrscht. Und dass es Leute gibt, die sich trotzdem nicht dran halten, das dürfte für ihn schlicht unfassbar sein, denn: Wenn etwas verboten ist, dann darf man das doch nicht machen!

Ein anderer Leserbriefschreiber dekretierte: „Bürger, die den Staat bekämpfen, haben das Recht verwirkt, die Vorteile des Staates zu nutzen. Milde ist gegen derartige Bürger keinesfalls gerechtfertigt.“ Der Mann fühlte sich durch die begangenen Rechtsverletzungen offenbar so dolle in seinem Empfinden verletzt, dass er den Rechtsstaat sofort über den Haufen werfen wollte. Das wirft dann aber allerlei verzwickte Fragen auf: Haben „derartige Bürger“ nun auch das Recht auf eine ordentliche Beweisaufnahme und ein Gerichtsverfahren verloren? Falls ja: Wie entscheidet man dann, wer zu den „Derartigen“ dazugehört? Frei nach Lust und Laune? Und nach welchen Rechtsgrundsätzen soll man die Leute überhaupt noch verurteilen, wenn sie doch alle Rechte „verwirkt“ haben? Hoffen wir mal, dass Polizei und Staatsanwaltschaft auf solche Sonderwünsche aus der Bevölkerung keine Rücksicht nehmen…

Empört war offenbar auch der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung: „Diese Gewalt von Anarchisten und sogenannten Autonomen ist schockierend. Hier waren Kriminelle am Werk, die vor nichts zurückschrecken. Das ist offener Straßenterror“, äußerte er sich in einer Pressemitteilung (4). Wahrscheinlich weiß Burkhard Jung gar nicht genau, was „Anarchisten“ sind. Er hat aber im Lexikon nachgeguckt und konnte somit der LVZ nähere Auskunft geben: „Hier steht uns eine Gruppe gegenüber, die diesen Staat abschaffen will.“ (5) Gegen die müsse man mit rechtsstaatlichen Mitteln „mit aller Härte“ vorgehen.

Genau. Anarchisten wollen den Staat abschaffen – das ist aber eine ganz klar politische Zielsetzung, was Jungs gleichzeitig geäußerter Meinung, man hätte es mit schlichten Kriminellen zu tun, sehr deutlich widerspricht. Ansonsten mag die Einschätzung des OBMs richtig sein oder nicht – in jedem Fall sind die möglicherweise gehegten langfristigen Ziele mancher Beteiligter kein geeigneter Maßstab, um das Geschehen zu beurteilen. Der 12.12. war eben kein Auftakt zur Weltrevolution, sondern nur der erfolglose Versuch, eine zahlenmäßig unbedeutende Nazidemo zu verhindern. So wurden zwar diverse Mülltonnen sowie einiges anderes kaputtgemacht, der Fortbestand des deutschen Staates war an diesem Nachmittag aber zu keiner Sekunde ernsthaft bedroht – falls doch, müssten wir auch über das Mülltonnenanzünden noch mal neu diskutieren.

 

Der kleine Aufstand zwischendurch

Nun überschätzt aber nicht nur der Oberbürgermeister die Randalierer, sondern scheinbar auch die Randalierer sich selbst. Diesen Eindruck erweckte jedenfalls ein Text, der u.a. bei Indymedia verbreitet wurde und mit „Insurrektionalistische Linke / Undogmatische Gruppen“ unterzeichnet war. (6) Die anonymen Verfasser_innen freuten sich, weil an diesem Tag soviel an Zeug kaputtgegangen war: „Wir gratulieren zu den Angriffen auf die Sparkasse und den Rewe am Connewitzer Kreuz, auf das großflächige Zerklimpern der Bundesbank, den etlichen zerschepperten Werbetafeln, den vielen in Brand gesteckten Mülltonnen, die zu Barrikadenzwecken auf die Straße gezogen wurden, zu dem Zerstören der LVB-Haltestellen, der Sabotage der Eisenbahnschienen, zu jedem einzelnen Reifen, der auf die Straße gezogen und in Brand gesteckt wurde, zu jeder eingedellten Bullenkarre“… Und so weiter. Wie man sieht, wurde an diesem Tag eine ganze Latte an unterdrückerischen Einrichtungen zerschlagen.

Es folgte ein bissel Manöverkritik, die inhaltlich aber auch nicht weiter bemerkenswert war: „Wir bekommen es nicht hin, richtig gute Barrikaden zu bauen, und wir bekommen es auch nicht hin, den Bullen so richtig zuzusetzen.“ Ähnlich tiefschürfend die folgende Bemerkung: „Was uns aufgefallen ist: Es scheint so eine gewisse Scheu davor zu geben, sich eine Hassi anzuziehen. Aber gerade für das Gesicht ist sie das A und O der Vermummung. Mütze und Schlauchtuch sind nichts dagegen.“ Das wirft immerhin spannende Fragen auf. Zum Beispiel die Frage, an welchen Körperteilen man sich denn sonst noch mit einer Hasskappe vermummen könnte, wenn man sie zur Abwechslung mal nicht „gerade für das Gesicht“ benutzen will – am Knie vielleicht?

Aber lassen wir die blöden Witze. Denn im Anschluss wird es richtig ernst und grimmig, wenn sich die Verfasser_innen von der unsolidarischen Linken distanzieren, die „sich immer und immer wieder distanziert“. Denn merke: „Wer die Möglichkeit zum Krawall abgibt, hat seine Untertänigkeit bereits bewiesen. Von ihm/ihr ist kein Widerstand mehr zu erwarten. Ihr steht auf der Seite der Herrschenden und bettelt um ein Stückchen Macht. Ihr und wir gehören nicht zusammen. Ihr müsst nicht mitmachen und könnt einfach eure Aktionen machen, wir hindern euch nicht und distanzieren uns nicht, aber wenn ihr nicht solidarisch seid, sondern euch distanziert, dann gehört ihr zur SPD, den Grünen und zur Linkspartei. Bitte lasst uns in Ruhe.“

Man merkt, diese aufständischen Linken sind zwar nach außen hart, aber innen doch ganz weich. Wenn andere Linke sie kritisieren, dann kümmert das unsere Flugblattschreiber_innen einerseits überhaupt nicht, aber insgeheim fühlen sie sich doch davon verletzt. Da schreibt mensch sich schnell in Rage und textet flugs eine Menge Unsinn zusammen.

Erstens kommen eventuelle Distanzierungen ja immer erst hinterher, wenn der eigentliche Krawall schon vorbei ist. Es ist also schlicht dummes Gejammer, dass man selbst keine Aktionen mehr machen könnte, wenn andere Leute sich nachträglich davon distanzieren. Zweitens geht es den Verfasser_innen auch gar nicht um die bloße „Möglichkeit zum Krawall“, weil sie die Möglichkeit, dass ein Krawall in manchen Momenten auch mal nicht sinnvoll sein könnte, gar nicht in Betracht ziehen. Die Frage lautet für sie nicht etwa: „Krawall oder nicht?“, sondern nur noch: „Wickeltuch oder Hasskappe?“ Krawall gilt ihnen in jedem Fall als das richtige, weil angeblich wirkungsvollste Mittel. Wer den Krawall im konkreten Moment für sinnlos hält oder einfach persönlich keine Lust hat, sich mit der Polizei zu kloppen (bzw. sich von dieser verkloppen zu lassen), hat eben nicht kapiert, was die richtige revolutionäre Strategie ist und damit dann direkt seine „Untertänigkeit“ bewiesen. Im Gegenzug stellt jede kaputte Schaufensterscheibe einen Auftakt zum kommenden Aufstand dar.

Distanzieren muss man sich davon tatsächlich nicht, weil einerseits für die jeweiligen Aktionen ohnehin nur diejenigen verantwortlich sind, die daran teilnehmen, und andererseits, weil der moralisch erhobene Zeigefinger auch nur ein schlechter Ersatz für inhaltliche Kritik ist (7). Wenn es das Hauptziel der Verfasser_innen ist, „den Bullen so richtig zuzusetzen“, kann man ihnen dabei nur Glück und gute Besserung wünschen. Um alles Weitere kümmern sich Polizei und Staatsanwaltschaft dann schon im Rahmen ihrer Berufsausübung, womit bei allem Krawall doch alles in der hübsch gewohnten Ordnung bleibt.

Überhaupt lässt sich darüber streiten, ob die üblichen Krawalltaktiken nun wirklich dermaßen wirkungsvoll sind – wie sich beobachten lässt, sind die Beteiligten die meiste Zeit über mit Weglaufen beschäftigt. Vollends sinnlos ist es, den „Aufstand“ als rein taktisches Problem zu behandeln, wie die Verfasser_innen es tun. Ein wirklicher Aufstand müsste schon etwas mehr bewirken als kaputte Mülltonnen und Fensterscheiben, nämlich grundsätzlich neue, auch längerfristig veränderte zwischenmenschliche Beziehungen herstellen. Das ist durch exemplarische Kleingruppen-Action nicht zu leisten. Auch der vermehrte Einsatz von Hasskappen wird da wenig weiterhelfen.

justus

 

(1) www.lvz.de/Specials/Themenspecials/Legida-und-Proteste/Legida/Bei-Dezember-Krawallen-in-Leipzig-wurde-abgelaufenes-Reizgas-eingesetzt

(2) vgl. demobeobachtung.noblogs.org/post/2015/12/13/pressemitteilung-der-demonstrationsbeobachtung-leipzig-zum-12-12-2015/

(3) dokumentiert unter linksunten.indymedia.org/de/node/162684

(4) www.leipzig.de/news/news/oberbuergermeister-burkhard-jung-zu-den-ausschreitungen-am-12-dezember-2015-in-leipzig/ (5) siehe www.lvz.de/Leipzig/Lokales/Krawalle-in-Leipzig-Jeder-wusste-was-kommt

(6) linksunten.indymedia.org/de/node/167216

(7) Kritik und allgemeine Solidarität schließen sich natürlich nicht aus, bzw. würde unsolidarische Kritik noch mal ganz anders ausschauen. So würde ich z.B. Neonazis nicht ausgerechnet für ihre taktischen Fehler kritisieren – davon können die gern so viele machen, wie sie wollen.

Vernetzung im Stadtteil

Gespräch zwischen „Soziale Kampfbaustelle“ und „Vernetzungstreffen Ost“

Im April trafen wir uns mit zwei Vertreter_innen lokaler Initiativen, bei welchen wir ähnliche Vorgehensweisen zu entdecken meinten. Die einen, Soziale Kampfbaustelle (SoKaBa), im Leipziger Westen, wollen eine solidarische Struktur zwischen den bestehenden linken Projekten und darüber hinaus anregen und ins Leben rufen. Die anderen, NetzOst, im Leipziger Osten, wollen ein solidarisches Miteinander und eine Organisation von unten aller Menschen in der Nachbarschaft. Gemeinsam schien uns die Zielsetzung, in den Stadtteil hineinzuwirken und von links eine Lösung für alltägliche Konflikte wieder zu entdecken oder zu verstärken.

 

SoKaBa: Die Idee ist vor ein paar Monaten entstanden aus einer allgemeinen Debatte darüber, was eigentlich gerade in Plagwitz und Lindenau passiert. Wir haben festgestellt, dass es mächtig rund geht, viel wird erneuert und gebaut, gleichzeitig haben wir viele Krisenphänomene. Leute haben viel Ärger mit dem Arbeitsamt, werden aus ihren Wohnungen und Vierteln verdrängt und es gibt darüber wenig Austausch in linken Kreisen. Uns geht es um eine Vernetzung, damit wir uns gegenseitig kennenlernen und tätig werden, und gleichzeitig um eine Auseinandersetzung und Debatten, in denen wir eine Perspektive entwickeln können, wie wir damit umgehen wollen. Wir wollen also nicht auf einen Schlag mit dem dicken Hammer, den wir wahrscheinlich nicht besitzen, dagegen vorgehen, sondern Strategien für den Alltag entwerfen.

NetzOst: Unsere Ziele sind relativ ähnlich. Die Idee vom Vernetzungstreffen entstand aus dem Ostarm der Sterndemo gegen Legida. Die Demo ist dann allerdings ausgefallen und wir haben dann eben dieses Treffen veranstaltet. Am Anfang ging es vor allem um Legida und kreativen Protest, welche – vielleicht neuen – Strategien wir entwickeln können. Ein anderes Thema war, wie wir Leute im Kiez willkommen heißen können, die geflüchtet sind. Im Verlauf der Treffen, die einmal monatlich stattfinden, haben wir unseren Fokus verändert und auch verbreitert. Wir hatten verschiedene Themen, öfters solche, die sich auf Geflüchtete beziehen und auch Gentrifizierungsthemen. Meistens beziehen wir uns damit eben auf den Stadtteil. Das nächste Treffen (24. April 2016) wird sich vor allem mit solidarischen Strukturen auseinandersetzen. Die Organisierenden kommen alle mehr oder weniger aus einem zeckigen Milieu und darum haben wir Kontakt zu politischen Gruppen, die verschiedene Themenfelder bedienen. Das Vernetzungstreffen versteht sich als Struktur, welche Leuten offen steht, die ein Thema haben und das mit anderen teilen wollen. Dafür haben wir auf jedem Treffen auch die AG-Slots, wir übernehmen die Moderation, die Leute gestalten dann den Rest. Bisher gehen allerdings eher wir auf Leute zu. Dass unser Ansatz stadtteilbezogen ist, liegt auch daran, dass wir einfach nicht größer sind und nicht die Kapazitäten haben, über den Leipziger Osten und unsere Kontakte vor Ort hinauszuwirken.

FA!: Habt ihr Fragen aneinander an diesem Punkt?

SoKaBa: Ich frage mich, ob das für alle offen ist, also, sind die kompletten Leute aus der Nachbarschaft eingeladen? Weil das ist etwas was uns sehr wichtig ist, denn wir wollen auch mit der Öffentlichkeit arbeiten und mit politischen Leuten, die bereits gegen Staat, Nation und Kapital aktiv sind. Mir geht es nicht darum, eine alternative Radwerkstatt einzurichten, wo die Leute hingehen, um Zeit und Geld zu sparen und kaufen sich dann von der Kohle die übrig bleibt ne Playstation und verbringen ihre gesparte Zeit damit. Ich möchte, dass unsere Arbeit weiterführende Effekte hat, dass die Leute dadurch mehr Zeit, mehr Mut, mehr Kraft entwickeln und einfach mehr Kohl haben, um sich gegen Dinge zu wehren. Es soll ein kleiner Schritt sein in der kleinsten Organisationseinheit, der eigenen Nachbarschaft, für ein sich stetig ausweitendes revolutionäres Konzept. Hier anfangen, hier das Viertel widerständiger machen, weil dann weiß ich, dass ich rausgehen kann und besser arbeiten, weil ich weniger Angst haben muss.

NetzOst: Wir haben den Fokus ein Stück weiter unten. Wir sind nicht so niedrigschwellig wie andere Orte, wo coole Dinge wie zusammen malen oder Sozialberatung stattfinden, aber sind auch nicht so stark politisiert. Niedrigschwelligkeit ist auf jeden Fall ein Punkt, der uns sehr wichtig ist. Wir bieten Übersetzungen auf Englisch und Arabisch an, haben aber leider nicht die Heterogenität des Publikums, die wir uns wünschen und haben zur Zeit vor allem ein linkes, weißes Studimilieu. Wir versuchen mit der Gestaltung der Brachfläche auf der Eisenbahnstraße woanders anzusetzen und fragen: was seht ihr in der Brache? Außerdem wollen wir ein Stadtteilfest im September organisieren, weil es erstmal darum geht, in Kontakt miteinander zu kommen. Wir haben viele Gruppen im Osten, die parallel nebeneinander herleben und wir alle sind Teil und betroffen von Gentrifizierung, und das müssen wir zusammen angehen. Man kann nicht mit allen über stark politische Themen sprechen, aber mit einer Pluralität von Themen kann man eben verschiedene Menschen an verschiedenen Stellen erreichen. Solidarität im Stadtteil kann Gentrifizierung nachhaltig etwas entgegensetzen! Wie ist es bei euch im Westen? Du hast ja auch schon erwähnt, dass viele Leute nicht im Kontakt stehen, ihr euch das aber wünschen würdet…

SoKaBa: Das gibts tatsächlich in vielen Stadtteilen, dass die Initiativen nebeneinander her existieren und klar das ist okay, weil die meisten eh schon so wenige sind und dann auch noch vernetzen, Struktur zieht immer Energie und Zeit und auch Geld. Die linke Szene hat bestimmte Strukturen, die sie sehr lange hat und die auch unglaublich hilfreich sind, solche Sachen wie die Rote Hilfe oder das Anarchist Black Cross, die ungemein helfen weil ich dann weiß, ich werde nicht in den finanziellen Ruin getrieben, nur weil ich mich was getraut habe. Wenn man sich mit älteren Genossen unterhält, dann erfährt man, dass es sowas früher auch für den Reproduktionsbereich gab, palettenweise Sachen mitnehmen und dann verteilen, oder Kampfkassen gegen das Jobcenter. Das ist mein Traum, eine materielle Infrastruktur herzustellen, die es Menschen ermöglicht, existentielle Ängste grade an so Schwellen wie Übergang zur Lohnarbeit, Kinderkriegen etc. zu überwinden, nicht rauszufallen und weiterzumachen. Aus der eigenen Betroffenheit, der ersten Person heraus die Dinge angehen, Freiräume erkämpfen und von da weiterzumachen, damit irgendwann der nächste Aneignungsschritt passieren kann. Wir sind enorm wenige, auch wenn das in Leipzig oft anders aussieht.

SoKaBa: Das Spannende ist gar nicht unbedingt das Camp, das wir dann im Sommer vorhaben, sondern schon die Treffen davor. Dass Leute zusammenkommen, über ihre eigene Betroffenheit reden und zusammen an Ideen arbeiten, wie man Probleme sozial und politisch angehen kann und zwar so, dass es nicht einfach nur eine Beratungsstruktur ist. Ich musste das auch erst lernen, es ist besser, wenn ich bestimmte Dinge nicht alleine mache. Ich kenne das aus der Autonomen Erwerbsloseninitiative, ich habe auf einmal nicht mehr soviel Angst, da sitzen 15 Leute, die solidarisch mit mir sind. Das hat was von sozialer und emotionaler Arbeit zusammen und dann auch politischer, wenn ich mir mit den anderen überlege, wie man sich wehren kann und das dann auch tue. Diese Erfahrungen bereitzustellen wollen wir hinkriegen.

NetzOst: Man kann Menschen erreichen, die schon organisiert sind und das machen wir auch. Es gibt verschiedene Anlaufstellen im Osten, das Seniorencafé, eine Anlaufstelle für Straßenkinder oder andere, die schon organisiert sind. Wir haben vor hinzugehen und mit den Leuten zu quatschen, ob sie nicht Lust haben, einen Stand beim Stadtfest zu machen oder ähnliches. Das ist dann der Punkt, wo das Gespräch beginnt und man in einen Austausch tritt. Es ist nicht unser primäres Ziel und ich halte es auch für schwierig, Menschen zu politisieren. Es ist schön, wenn sich Leute in einem solidarischen Miteinander zusammentun und Lösungen entwickeln für geteilte Probleme. Die Art, wie mit der Öffentlichkeit umgegangen wird ist eine andere wie bei einer Partei, die die Kohle für Stände und so weiter hat und mit deren Struktur die Leute vertraut sind oder im Gegensatz dazu versucht, das eher in einem Miteinander zu lösen. Also nicht so: Hier sind die Infos und jetzt wählt uns doch!, sondern indem man Dialoge schafft.

SoKaBa: Zum Unterschied dazu ist, was zum Beispiel jetzt an rechten Massenbewegungen in Deutschland entsteht. Das wird ja nicht durch tatsächliche Betroffenheit gebildet, sondern durch ein vorgestelltes Bedrohungsgefühl, das vollkommen an den Haaren herbeigezogen ist. Die Leute haben in der Realität ganz andere Probleme und die wissen das eigentlich auch. Da kommt auch der Punkt rein, dass es eine Kommunikation über eigene Betroffenheit braucht und nicht über Dinge, die nur in der Vorstellung der Leute stattfindet. Uns geht es darum, nicht exklusiv zu sein, denn umso mehr wir sind, umso stärker sind wir. Alleine machen sie dich ein, und wenn du Privilegien nur für eine Gruppe willst, begibst du dich in irgendwelche komischen und gewaltsamen Wettbewerbe rein, die ich grundsätzlich ablehne. Die Hoffnung ist ja, dass Leute erkennen, wieviel Kraft darin liegt, den eigenen Alltag gegen die kapitalistischen Widersprüche stark zu machen und das für alle zu öffnen, irgendwann. Das ist ein politischer Prozess, der erstmal mit den Widersprüchen umgehen muss, und dann stößt man auch auf die Frage: Wer ist denn das, alle?

NetzOst: Wir würden nicht sagen, wir machen das für Menschen, die politisch sind und erweitern dann den Kreis. Wir versuchen gleichzeitig auf verschiedene Weisen zu wirken. Wir wollen durch eine Solidarität im Stadtteil wirken, bei der gleich alle da sind. Wir haben natürlich Veranstaltungen, die ein politisch linkes Milieu bedienen und sich dadurch auch das Netzwerk verdichtet und so werden wir auch effektiver, auch wenn das ein blödes Wort ist, und wir treiben die Reflexion und den Austausch, der fehlt, voran. Gleichzeitig geht es aber auch darum, Menschen zu vernetzen, die gar keine politische Anlaufstelle haben, entweder weil sie nicht politisiert sind oder neu in der Stadt. Alle zu erreichen, ist schwierig, wer sind diese alle, und alle haben vielleicht auch keinen Bock. Da muss man auch schauen, welche Räumlichkeiten man wählt. Wir haben auch keinen Bock auf Parteien, trotzdem haben wir gesagt, dass wir die Anfangsveranstaltung im Linken-Büro von Peter Hans Franz Sodann, wie auch immer der heißt, weil es einfach ein Raum ist, der nicht zugetaggt ist. Leute haben einfach Angst, bestimmte Schwellen zu übertreten, grade zu linken Szeneläden. Wir sehen uns autonom gegenüber Strukturen, die Hierarchie reproduzieren, dennoch ist es etwas Vertrautes zu sagen, man geht jetzt bei der Linken ins Büro.

sam

Ein Dings für Deutschland

Für Deutschland kann gar nicht oft genug demonstriert werden, gerade jetzt, wo es von bärtigen Barbaren überrollt zu werden droht. Das dachte sich wohl auch Silvio Rösler. Nachdem er Mitte Juni 2015 mehr oder weniger freiwillig aus dem LEGIDA-Organisatorenkreis ausgestiegen war, trommelte Rösler einige seiner alten Kumpels aus der Leipziger Hooliganszene zusammen, um künftig sein eigenes Ding zu machen. „Offensive für Deutschland“ nennt sich das Baby, das zwar noch gewisse Artikulationsschwierigkeiten hat, aber immerhin schon laufen kann.

Freilich kam die Offensive schon beim ersten Aufmarsch-Versuch am 26. September ins Stolpern. Nur etwa 350 Nasen fanden sich auf dem Augustusplatz ein, was deutlich zu wenig war, um den fiesen Gutmenschen etwas entgegenzusetzen. Eine antirassistische Demonstration, die vom Rabet aus in die Innenstadt zog, brachte etwa 700 Menschen auf die Straße, insgesamt stellten sich wohl gut 2000 Leute den Faschos entgegen. Deren Marschroute war von der Polizei zwar weiträumig mit Hamburger Gittern umbaut worden, was aber nicht verhinderte, dass einige eher sportlich motivierte Antifas vor dem Neuen Rathaus den Aufmarsch und die Polizei mit Steinen und ähnlichen Wurfgegenständen angriffen. Dabei wurden wohl auch unbeteiligte Gegendemonstrant_innen verletzt*, was tatsächlich mies ist – bei solchen Aktionen sollte mensch besser auf den Sicherheitsabstand achten.

Am 17. Oktober marschierte die „Offensive“ – deutlich geschrumpft auf eine geschätzte Personenzahl von 150 – dann in Grünau auf, wohl in der Hoffnung, in solchen eher abgelegenen Stadtteilen etwas mehr reißen zu können. Das Kalkül ging nicht ganz auf: Durch eine Sitzblockade konnte die Route der Faschos deutlich verkürzt werden. Die Polizei hatte zwar einen Wasserwerfer dabei, aber offenbar keine Lust zu gewaltsamen Maßnahmen. Nach einigem Hin und Her zwischen Plattenbauten wurden die Rösler-Hooligans durch das Allee Center evakuiert.

Damit ist Spuk nun nicht beendet. Am 24.10. folgte z.B. noch ein Aufmarsch in Markleeberg, aber da waren nur noch 50 Kameraden dabei – der Rest musste wohl die wundgelatschten Füße schonen. Zahlenmäßig geht es also in die richtige Richtung, nämlich zügig dem Nullpunkt entgegen. Weiter so!

[justus]

* die nachfolgende linke Debatte kann mensch u.a. bei Indymedia nachlesen: linksunten.indymedia.org/de/node/154205

Vom Zauber des Dranvorbeigehens

Stickerdiskurs im öffentlichen Raum

Kinder sammeln sie manchmal in Alben, Reinigungsfirmen ärgern sich über ihre Rückstände und viele Passanten wundern sich über sie: Sticker laufen einem tagtäglich über den Weg, wenn man selber durch die Stadt läuft.

In Leipzig sind Aufkleber im öffentlichen Raum im Laufe der Nullerjahre zunehmend in Erscheinung getreten. Vermutlich war das in anderen und vor allem größeren europäischen Städten schon eher der Fall. Meiner Erfahrung nach sind Aufkleber in anderen Großstädten vergleichbar präsent – zumindest in Prag, St. Petersburg, Hamburg, Berlin, Halle, Dresden und Chemnitz . Da ‚Subkultur‘, im allgemeinen Sinne von nicht-institutionalisierter und eher ‚freier Kultur‘, ein vorwiegend urbanes Phänomen ist, kann man wohl schließen, dass Sticker mit regionalen Unterschieden in allen europäischen Großstädten auftauchen. In diesem Beitrag versuche ich zuerst, Aufkleber in Abgrenzung zu anderen Formen von ‚Streetart‘ zu bestimmen. Darauf folgen einige Überlegungen zum ‚Stickerdiskurs‘ in Leipzig. Und anschließend stelle ich eine themenbezogene Einteilung der Erscheinungsformen von Stickern/Aufklebern dar. Zwischendurch findet ihr einige Beispiele in Bild und Text. Es ist klar, dass hier kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird: dazu gibt es einfach zu viele verschiedene Sticker und vor allem Leute, die sie wo auch immer hinkleben.

Ursprünge und technische Aspekte

Das Platzieren von Aufklebern im öffentlichen Raum ist einer kleinen und harmlosen anarchischen Aktion näher als dem Straftatbestand des Vandalismus. Die Ursprünge der Sticker sind vielfältig. So haben Spuckies vor allem für Agitation/Präsenz von linken Ideen eine relativ lange Tradition. Für die Jüngeren: Spuckies sind vorgefertigte bedruckte Zettelchen, die nur in Verbindung mit Wasser (Spucke) selbstklebend sind. Für ‚die Linke‘ waren Spuckies mit Sicherheit seit den 60igern in der BRD wichtig, vor dem ersten Weltkrieg wahrscheinlich nicht. Zu dieser Zeit waren eher Anschläge/Plakate Mittel des ‚optischen politischen Kampfes‘ in der Alltagskultur. Bezogen auf den Zweiten Weltkrieg ließen sich seit dem späten Frühjahr 2015 (Tag der Befreiung?) noch von der Antifa an den entsprechenden, nach Widerstandskämpfern benannten Straßen angeklebte Reproduktionen der historischen Originale inklusive Foto-Porträt/Begleitplakat finden: Bspw. in der Georg-Schwarz- und William-Zipperer-Straße. Für die jüngere Zeit ist es plausibel anzunehmen, dass Sticker als Weiterentwicklung von Spuckies als praktische Erweiterung des Taggens (also des ‚öffentlichen Unterschreibens‘ mit Edding/Sprayfarbe) aufkamen. Praktisch weil billig, schnell zu platzieren und strafrechtlich weniger gravierend als Sprayfarbe/Edding. So sieht man etwa öfters Aufkleber der Form ‚Hello my name is …‘, wobei die Leerstelle per Edding um das Tag ergänzt wurde. Oft sind auch zweckentfremdete Paketscheine das Mittel der Wahl, die dann häufig mit Farbe und/oder Schablonen gestaltet werden. In diesem Sinne ist der Ursprung von Stickern auch apolitischer Natur, weil in Zusammenhang mit Graffitti stehend. So wirken z. B. in Leipzig entsprechende Sticker – Fast Drips/ORG bzw. der Schlagring für die RCS/Radicals – flankierend zur typischen optischen Präsenz beider Crews durch die üblichen Graffiti. Und ja, es gibt durchaus politische Motivation für Graffiti – hier ist aber die Rede von ‚dekorativen Graffiti‘, und nicht von Parolen, auch wenn die Grenzen wie so oft verschwimmen.

Es gibt bestimmt gute Gründe dafür zu glauben, dass Sticker auch ohne Spuckies ihren Weg in den öffentlichen Raum gefunden hätten. Aber immerhin waren Spuckies die ersten unkontrolliert im Stadtbild auftauchenden Zettelchen mit bestimmten Botschaften. Rein technisch gesehen lässt sich ohnehin die Frage stellen, ob eine Unterscheidung zwischen Stickern und Spuckies sinnvoll ist. Beide lassen sich massenhaft reproduzieren und verteilen. Das Internet ist aber relevanter für die flächendeckende Verbreitung von Stickern als für Spuckies, obwohl beides online barrierearm bestellt werden kann. Für die Platzierung von Stickern braucht man – im Unterschied zu Spuckies – eben einfach nichts weiter als a) den Sticker, b) einen geeigneten Untergrund und c) die Abwesenheit von Regen. Daher ist deren Verbreitung höher bzw. zumindest vielgestaltiger als die von Spuckies. An dieser Stelle noch ein Wort zur Unterscheidung von ‚professionellen‘ gegenüber ‚Do-it-yourself‘ (DIY)-Aufklebern: Für mich gehört zum DIY-Prinzip das selbständige ‚handwerkliche‘ Tätigwerden – also das Rumklecksen mit Farbe und Schablone auf Paketscheinen zum Beispiel. Das Designen von Motiven für die Internetbestellung hingegen hat zwar auch Züge davon, ist im strengen DIY-Sinne jedoch schon immer Teil der Aktion, da ja auch hier der Entwurf des Motivs an erster Stelle steht. Insofern ist für mich daher die industrielle Reproduktion von Aufklebern – etwa in professionellen Druckereien – ein Kriterium, was dem DIY-Prinzip widerspricht.

Stickerdiskurs als Reaktion auf Reklame

Sticker sind u. a. eine subkulturelle und oppositionelle Antwort auf die optische Omnipräsenz von Reklame und die damit einhergehende Reizüberflutung im Stadtbild. Diese Eigenschaft läßt sich allen Stickern zuschreiben, denen man im Alltag außerhalb des üblichen Anwendungsbereichs von Aufklebern begegnet. Wobei es eine ‚systemische Ausnahme‘ gibt, nämlich das sogenannte ‚Guerilla-Marketing‘. Ein vergleichsweise ‚sympathisches‘ Beispiel sind Skate/Graffiti-Shops oder Bandsticker. Diese systemische Ausnahme macht sich die ‚street credibility‘ des Mediums zu eigen und versucht so, etwas anderes zu sein als die herkömmliche Reklame. Klappt auch ganz gut. Aber noch sind zumindest meiner Wahrnehmung nach die meisten Sticker subversiver Natur.

Daher misst man sich, unabhängig von der eigentlichen Intention des Rumklebens, nicht nur subkulturell selbstbestimmt innerhalb des öffentlichen Stickerdiskurses, sondern steht gleichzeitig auch in Opposition zur Reklame im öffentlichen Raum. Werbung wird folgerichtig nicht selten unfreiwilliges Medium bzw. unfreiwilliger Gegenstand karikierender oder schlicht destruktiver Aktionen – Stichwort ‚Adbusting‘. Diese Anwendung teilen Sticker demzufolge mit Grafitti und – im Sinne politischer Meinungsäußerung/Agitation besonders hervorzuheben – mit Stencils. (Stencils sind zumeist einfarbige, mit Schablonen angefertigte Graffiti.) Und weiteren Streetartformen, wie z. B. diesen großflächigen und meist gedruckten Papierdingern, Kacheln und was es sonst noch gibt. So wie etwa von den notorisch sichtbaren LE-Sticker-Vandals Sladge&Konjack durchaus auch Fliesen zu bewundern sind und auch Dinge wie Guerilla-Knitting, Styropormotive und anderes im Stadtbild vorkommen.

Modell des Stickerdiskurses als Meinungsstreit

Zurück zum ‚Stickerdiskurs‘: Im Prinzip gibt es zwei modellhafte Kontexte, in denen sich Aufkleber platzieren lassen. Und das im jeweils ‚öffentlichen‘ und ‚halböffentlichen Raum‘ – der private wird hier ignoriert. Mit ‚halböffentlicher Raum‘ sind hier vor allem Kneipen etc. gemeint, deren Sanitärästhetik den subkulturellen Touch häufig aus der Stickerpräsenz bezieht.

Im ersten modellhaften Fall werden Aufkleber in einer bislang aufkleberfreien Umgebung platziert, wie etwa einer von den LSB/JCDecaux-Leuten frischgeputzten Haltestelle oder einem relativ jungfräulichen Verkehrsschild. Das ist dann gewissermaßen der Ausgangspunkt für eine diskursive Auseinandersetzung, indem sich andere Leute zur Präsenz dieses Aufklebers verhalten (müssen).

Zum zweiten kann ein Sticker in genau einer solchen Reaktion in Bezug zu einzelnen oder mehreren bereits angebrachten Aufklebern platziert werden. Er kann dann entweder unterstützend wirken oder als Kontra-Statement dienen. Der erste Fall ist eher theoretischer Natur, wenn auch nicht soo selten. Schließlich ist die mit dem Sticker transportierte Botschaft ja an dieser Stelle bereits präsent. Und auch das Kontra-Statement wird eher direkt auf dem gegnerischen Aufkleber angebracht als daneben. In bester Erinnerung sind da die prototypischen freundlichen Aufkleber mit dem Cartoonmännchen und seiner Sprechblase ‚Ich überdecke einen blöden Nazi-Aufkleber‘. Oder eben doch daneben und der andere Aufkleber wird abgerissen bzw. anderweitig unkenntlich gemacht. Es ist natürlich auch denkbar, dass z. B. politische Sticker einfach von sich gestört fühlenden Bürgern mit Kontrollbedürfnis abgerissen werden, ohne dass die Sticker-Botschaft überhaupt wahrgenommen wird. Ein Beispiel aus dem Meinungsstreit mit Stickern im öffentlichen Raum findet ihr in untenstehendem Kasten, der den politischen Diskurs mit Aufklebern in Merseburg beschreibt. Wie auch immer das im konkreten Fall aussehen mag: Aufkleber dienen der eigenen Meinungsäußerung und damit auch der Auseinandersetzung mit gegnerischen Meinungsäußerungen.

Klingt banal und ist es auch. Deswegen sind Sticker ja auch ein urbanes Massenphänomen. Aber da Banalitäten immer trivial und damit wahr sind, bieten sie auch einen sicheren Ausgangspunkt zum weiteren Nachdenken und Beobachten: Wann sind wo wie viele Sticker präsent? Diese Fakten sagen immerhin etwas zum Stand des lokalen Meinungsaustauschs im öffentlichen Raum. Wie präzise und aussagekräftig diese Fakten sind, sei mal dahingestellt: schließlich ist ja auch denkbar, dass vergleichsweise wenig Leute relativ viele Sticker in einem bestimmten Gebiet über einen längeren Zeitraum immer wieder anbringen. Damit ist dann aber auch klar, dass bei vorausgesetzter Präsenz der Sticker zumindest die Gegenfraktion entweder nicht existiert, ignorant ist oder schlicht zu faul, sich den Stress des Abpulens zu machen. Das sind alles potentiell relevante Schlüsse auf die jeweilige Situation im Meinungsaustausch der verschiedenen Szenen vor Ort. So sind zum Beispiel als Sonderfall die einzeln verblichen noch auffindbaren ‚Fence-Off‘-Sticker im Leipziger Westen (und wahrscheinlich auch anderswo in der Stadt) eine schöne Reminiszenz an den Widerstand gegen die Nazi-Präsenz in der Odermannstraße. Hier befand sich von 2008 bis September 2014 ein sogenanntes NPD-Bürgerbüro, gegen das seinerzeit u. a. mit den ‚Fence-Off‘-Stickern agitiert wurde. Das letztendliche Verschwinden des Nazizentrums aus Lindenau hat sicher viele Ursachen, aber zumindest haben Sticker die Verbreitung des Widerstandes optisch unterstützt.

Thematische Einteilung von Aufklebern

Vom Stickerdiskurs zum Versuch einer thematischen Klassifizierung: Neben den eindeutig politisch motivierten Stickern vor allem von links (Antifa, Refugees Welcome, Linksjugend etc.) existieren vielfältige weitere Formen, wie etwa ‚sportlich‘ motivierte, wobei eine trennscharfe Abgrenzung häufig nicht möglich ist. Überspitzt formuliert: Wo hört z. B. der Ausdruck der Unterstützung des FC Lok auf und wo beginnt rechtsradikale Propaganda? Besonders am Beispiel des Fußballs vermischen sich die Motivationen. (Ein seit einiger Zeit besonders kontrovers diskutiertes Beispiel seht ihr im zweiten Kasten.) So intendiert ein Sticker der BSG Chemie neben dem Support des Vereins auch immer ein politisches Statement gegen rechts – unabhängig davon, ob das dem einzelnen Betrachter/Anbringer des Stickers bewusst ist oder nicht. Oder ob der zufällige Betrachter das erkennt. Deutlicher ist das beim Fußballverein ‚Roter Stern Leipzig‘, wo häufig auch eindeutige politische Statements auf den Aufklebern zu finden sind. Als weiteres Beispiel aus dem Bereich Sport wäre etwa noch der Support des Handballvereins DHFK zu nennen.

Abgesehen davon gibt es viele Formen eher ‚ästhetisch-motivierter‘ Stickertypen, die vermutlich vor allem der ‚unpolitischen‘ Graffitiszene entspringen (LE-Sticker Vandals). Hinzu kommen noch Sonderfälle wie etwa die derzeit präsenten Mandala-Sticker der Lina-Leute, die ich persönlich einer verhipsterten Eso-Richtung zuordnen würde. Und dann gibt es natürlich noch die bereits erwähnten Sticker, die nur Reklame sind. Aber die beiden letztgenannten sind derzeit eher Randphänomene. Prototypisch unterscheiden lassen sich daher: a) politisch, b) sportlich und c) ästhetisch motivierter Sticker. Überschneidungen sind gängige Praxis und die systemische Ausnahme sind Sticker des Guerilla-Marketings.

Aufkleber sind Medium und Spiegelbild eines Meinungsaustauschs. Dabei kann es um Politik, Sport, Musik, künstlerische Freiheit oder einfach darum gehen, die neusten Sneaker im hippsten Store anzupreisen. Dieses Spiegelbild ist häufig unpräzise oder verzerrt – aber dennoch ein konkretes Abbild der gegensätzlichen Meinungsfraktionen in einem begrenzten urbanen Raum. Und außerdem macht es zumindest mir persönlich ein bisschen – zugegeben pubertären – Spaß, immer wieder an selbstplatzierten Stickern vorbeizulaufen. Optische Präsenz ist ein wichtiges Mittel in jedem Meinungsstreit. Also überlegt euch beim nächsten Besuch in einer von euch präferierten Lokalität, die auch Sticker zum Mitnehmen rumliegen hat, ob ihr nicht ein paar von denen mitnehmt und platziert. Und im besten Fall eine Spende dafür da lasst. Falls ihr eigene Beobachtungen zum Thema Aufkleber im öffentlichen Raum oder insbesondere Kritik zu den bisherigen Ausführungen beizusteuern habt, fühlt euch frei, die Feierabendredaktion damit zu behelligen. Die freut sich darüber!

[wasja]

 

* LSB = Leipziger Service Betriebe – u.a. zuständig für die Instandhaltung von Haltestellen; JCDecaux = in Leipzig marktführende Firma für Stadtmöblierung, baut/vermietet u.a. Haltestellen und Werbeflächen.

 

Exkurs 1: Sticker-Diskurs am Beispiel Merseburg

Ein etwas breiteres und rein politisches Beispiel für Manifestationen des Stickerdiskurses begegnete mir bei einem (touristisch motivierten) Besuch der Stadt Merseburg (Nähe von Halle, knapp 35.000 Einwohner). Im Stadtbild der Innenstadt finden sich erfreulicherweise ausschließlich Aufkleber politisch linker Gruppierungen (Antifa, Refugees Welcome, Anti-Homophobie-Gruppe), die zur guten Hälfte auch intakt sind. Eine beträchtliche Anzahl (vorsichtige Schätzung nach zwei Stunden Spaziergang durch die Stadt mit offenen Augen: 30-40%) der Sticker wurden beschädigt. Derartige Beobachtungen müssen naturgemäß extrem unpräzise bleiben, zumal einem nicht klar sein kann, wie viele Sticker komplett entfernt wurden und daher gar nicht mehr sichtbar sind. Außerdem lassen sich erkennbare Rückstände meist nicht mehr ihrer ursprünglichen diskursiven Stoßrichtung nach identifizieren. An einigen Stellen waren jedoch überklebte/stark beschädigte Nazisticker (gewohnte rechte Propaganda: ‚Überfremdung stoppen – Heimat schützen‘ inkl. der schwarzen Autonome-Nationalisten-Fahne) erkennbar. Auch in anderer Form ist rechte Meinungsäußerung sichtbar – so zum Beispiel in Gestalt von Eddingschriftzügen, wenn auch nicht übermäßig frequent. Fazit für die derzeitig Situation in Merseburg: linke Gruppierungen sind im Stickerdiskurs derzeit dominant. Es gibt vermutlich deutlich weniger Nazis, die sich dazu am Diskurs eher destruktiv als durch optische Präsenz durch eigene Aufkleber beteiligen.

Exkurs 2: Kritik an RB in Stickerform

Exemplarisch nachvollziehen lässt sich der Stickerdiskurs in seinen vielen Facetten am Beispiel des Umgangs mit dem Fußballverein Red Bull Leipzig. Mittlerweile existiert ein beachtliches Spektrum von Pro-RB-Stickern, vor allem von Fanclubs bzw. -gruppierungen. (Ich habe allerdings noch nie einen DIY-Aufkleber oder Vergleichbares aus diesem Lager gesehen.) Zumindest im Westen von Leipzig halten sich diese Sticker im öffentlichen Raum nicht lang. Derzeit weniger häufig sichtbar sind professionell gefertigte Anti-RB-Sticker. Am häufigsten sieht man noch den ‚Nein-zu-RB-Aufkleber‘. In Halle hingegen fiel mir bei meinem letzten Besuch im Juli diesen Jahres die massive Präsenz von professionell gefertigten Anti-RB-Stickern auf, die sich in ihren Motiven stark von den in Leipzig sichtbaren unterschieden.

Besonders das Logo einer Anti-RB-Facebookgruppe erlangte jedoch (auch in Stickerform) einiges an Aufmerksamkeit, als Herr Schöler als Redakteur des mittlerweile eingestellten Stadtteilmagazins ‚Dreiviertel‘ hier ‚strukturellen Antisemitismus‘ zu identifizieren suchte (http://3viertel.de/Inhalte-Artikel-491). In seinem Artikel kritisiert Schöler, wohl nicht ganz zu Unrecht, die Gestaltung des Logos. Diese stellt eine Parodie auf das RB-Wappen dar: die beiden symmetrischen Stiere sind durch Ratten ersetzt, welche sich an eine Euromünze klammern (s. Bild). Ja, Ratten sind eine antisemitisch vorbelastete Metapher, die insbesondere in Verbindung mit dem negativen Bezug auf Geld die Interpretation des ‚Finanzjudentums‘ heraufbeschwören kann. Andererseits legt aber auch die marketingtaugliche Namenskonstruktion des Vereins ‚Rasenball‘ die Verballhornung zu ‚Rattenball‘ relativ nahe. Dass Kapitalismuskritik auch von Antisemiten argumentativ genutzt wird – geschenkt. Aber die Kritik an einem Marketinginstrument wie RB Leipzig mit unreflektierter Kapitalismuskritik gleichzusetzen und simultan mit ‚strukturellem Antisemitismus‘ zu betiteln, erscheint dann doch ziemlich abstrus. Was genau Herr Schöler mit seinem Artikel auch immer bezwecken wollte – man kann durchaus kritisch gegen den Verein RB Leipzig eingestellt sein und dies auch mit dessen astronomischem Etat begründen, ohne Antisemit zu sein. Dann sollte man aber auch konsequenterweise den gesamten Profifußball mit seinem unrealistischen und unverhältnismäßigem Finanzgebahren in diese Kritik einschließen.

Eine Auswertung der Repression rund um die Proteste gegen LEGIDA in Leipzig

Seit Herbst 2014 veranstaltete das islamfeindliche und rassistische PEGIDA-Bündnis „Spaziergänge“ in Dresden. Mit dem Jahreswechsel 2014/15 sprangen auch Leipziger Rassist*innen auf den Zug auf und haben seit dem 12. Januar 2015 ein knappes Dutzend Demonstrationen in Leipzig durchgeführt.

Im Rahmen der Gegenproteste zu diesen anfangs wöchentlich stattfindenden LEGIDA-Aufmärschen hat die Einrichtung von Kontrollbereichen immens zugenommen: So wurden wiederholt weiträumige Bereiche um die Routen von LEGIDA und der Gegenproteste zum Kontrollbereich erklärt. Begründet sahen die Cops diese Maßnahmen dadurch, dass nur so „Auseinandersetzungen zwischen gewaltbereiten Personen“ zu verhindern seien, da „insbesondere im Internet von der linken Szene zu Blockaden gegen die Versammlung von LEGIDA aufgerufen wurde“ (Kleine Anfrage im Sächsischen Landtag; Drs.-Nr. 6/802). Durch den tatsächlichen Verlauf der Protestkundgebungen sahen die Cops ihre Prognose bestätigt und hielten daher daran fest.

Die Schaffung von Kontrollbereichen bietet rechtliche Grundlage für haufenweise Identitätsfeststellungen und Durchsuchungen potentieller Teilnehmender. Dadurch können sich die Cops mit geringem Aufwand einen weiten Überblick verschaffen, welche Menschen gewillt sind, an den Gegenprotesten teilzunehmen. So wurden nicht nur die Daten von Beschuldigten im Rahmen von Ermittlungsverfahren erfasst, sondern aufgrund der breiten Gegenproteste auch von studentischen und zivilgesellschaftlichen Gruppen. Beispielsweise wurden am 12.01.2015 ein Prozent aller Teilnehmenden auf ihre Identität kontrolliert (Kleine Anfrage im Sächsischen Landtag; Drs.-Nr. 6/693) – das waren namentlich 258 Personen.

Doch auch während der Gegenproteste kam und kommt es wiederholt zu polizeilichen Übergriffen, welche die Teilnahme an Aktionen einschränkt oder gar verunmöglicht und auf die Teilnehmenden abschreckend und kriminalisierend wirkt. So gibt es zum Einen, trotz fehlender Gefahrenlage, eine dauernde videographische Erfassung des gesamten Demonstrationsgeschehens durch Einsatzwägen, Handkameras und Helikopter, welche sich einseitig auf die Geschehnisse der Gegenproteste beschränkt. Weiter wird Teilen der Aktivist*innen regelmäßig die Teilnahme an den angemeldeten Protesten durch weiträumige Absperrung der Zugänge oder Platzverweise unmöglich gemacht. Platzverweise werden aber nicht nur im Vorfeld der Versammlungen oder bei angeblichen Gefahrenlagen erteilt, sondern auch gegenüber Zeug*innen von polizeilichen Maßnahmen, da diese für die Cops zumeist unerwünscht sind.

Schon beim ersten LEGIDA-Marsch am 12. Januar, dem mehrere zehntausend Demonstrant*innen entgegentraten, gab es nahe des Mückenschlösschens im Norden von Leipzig einen Blockadeversuch. Gegen mindestens 60 Betroffene wurde im Zuge dessen wegen einer angeblich unerlaubten Ansammlung ein Verfahren eingeleitet. Mehrere Beschuldigte haben in diesem Ordnungswidrigkeitenverfahren mittlerweile Bußgeldbescheide in Höhe von jeweils etwa 130 € bekommen.

In den folgenden Wochen häufen sich die Berichte von polizeilicher Gewalt: So befanden sich Betroffene von Strafverfolgungsmaßnahmen, beispielsweise unter dem Vorwurf des Landfriedensbruchs, bis zu sechs Stunden in polizeilichem Gewahrsam ohne einem*einer Richter*in vorgeführt worden zu sein, obwohl dies obligatorisch ist. Auch wurden Personen bei der Räumung von Sitzblockaden oder bei Festnahmen beleidigt, ins Gesicht geschlagen, sodass sie zu Boden gingen, aber auch Würgen und die Anwendung von Schmerzgriffen kamen wiederholt vor.

Das gewaltsame Vorgehen der Cops steigerte sich fortlaufend. So erlitt eine Person Berichten zufolge nach der Auseinandersetzung mit diesen ein Schädelhirntrauma, mindestens eine weitere Person musste nach Auseinandersetzungen für mehrere Tage ins Krankenhaus. Bis jetzt erreichte das Vorgehen der Cops seinen Höhepunkt, als Blockaden mit Pfefferspray und durch den Einsatz von Pferden „geräumt“ und Aktivist*innen geschlagen wurden, sodass sie anschließend ärztlich behandelt werden mussten. Andere Personen berichten von Angriffen durch Nazis und dem gleichzeitigen Nichteingreifen der Cops vor Ort. Wiederholt wurden einigen Teilnehmer*innen zudem von LEGIDA-Anhänger*innen und Cops eine Anzeige wegen Körperverletzung angedroht.

Darüber hinaus gab es verschiedene Kessel mit mehreren Dutzend Betroffenen, bei denen Platzverweise ausgesprochen und ED-Behandlungen durchgeführt wurden. Den Aktivist*innen wird hier teilweise Landfriedensbruch vorgeworfen.
Im Rahmen von LEGIDA sind manche der Beschuldigungen von den Cops an Absurdität aber auch kaum mehr zu übertreffen: so gab es ein Verfahren wegen eines ACAB-Schildes, diese Abkürzung stand in diesem Zusammenhang für „All Coulors are beautiful“. Der Vorwurf hier: Beleidigung. Auch wurden uns am Rosenmontag polizeiliche Maßnahmen wegen Faschingsschminke gemeldet, hier lautete der Vorwurf Vermummung. Weiter wurde der Vorwurf der Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole mehrfach angeführt, wenn Teilnehmende ihre Ablehnung gegenüber LEGIDA beispielsweise in Form von durchgestrichenen Hakenkreuzen kundtaten. Mehrere Personen wurden zudem mit der Begründung kontrolliert und durchsucht, weil sie einer Gruppe, die eine Woche vorher Steine geworfen haben soll, ähnlich sähen. Dies wurde insbesondere an der schwarzen Kleidung festgemacht.

Bei vielen der hier dargelegten Verfahren gibt es bisher noch keine Ergebnisse, da die Ereignisse noch nicht so lange zurückliegen. Der EA und die Rote Hilfe Leipzig rechnen insgesamt jedoch bisher mit mehreren hundert Strafverfahren.
Sofern ihr von diesen Repressionen betroffen seid, lasst euch nicht abschrecken, denn genau das wollen die Repressionsorgane damit erreichen. Für alle anderen gilt: Solidarisiert euch mit den Betroffenen! Antirepression kostet Geld: veranstaltet Solipartys oder spendet Geld auf das Sonderkonto der Roten Hilfe Leipzig!

[Ermittlungsausschuss Leipzig und Rote Hilfe Leipzig, 30. Juni 2015]

 

Sprechstunde: Jeden 1. Freitag im Monat, 17:30 – 18:30 (Linxxnet)

Spendenkonto: Rote Hilfe e.V. Leipzig
IBAN: DE88 4306 0967 4007 2383 05
BIC: GENODEM1GLS
Verwendungszweck: „Montag”

Ein ganz normaler Tag bei NoLegida

FALLSCHILDERUNG:

Die folgende Zusammenfassung einer betroffenen Person zeigt, wie Gegendemonstrant*innen im Umfeld von LEGIDA schikaniert und verunsichert werden sollen, um damit das Fernbleiben von Gegenprotesten zu erzielen:

Die betroffene Person (S.) wurde am Tag der LEGIDA-Demonstration Ende Januar 2015 von einem zivilen Tatbeobachter angeblich bei einer Straftat beobachtet. Im Folgenden soll S. deswegen über eine Stunde ununterbrochen von diesem und einem weiteren zivilen Tatbeobachter observiert worden sein. Nach etwa einer Stunde folgte eine Festnahme durch die Bundespolizei, welche die Person zunächst intensiv durchsuchte und während der gesamten Maßnahme filmte. Hierbei wurde ihr vorgeworfen, einen Autospiegel beschädigt zu haben. Fast alle mitgeführten Dinge wurden abgefilmt und beschlagnahmt, u.a. ein Handy und zwei Kameras samt Akku und Ladekabel, wogegen die betroffene Person noch vor Ort Widerspruch einlegte. Als S. in Geleit von über zehn Cops in eine Tiefgarage abgeführt wurde, verwehrte die Polizei eine*r Zeug*in, welche*r die Festnahme beobachten wollte, die Beobachtung. Sie*er konnte jedoch erkennen, dass S. zwischen mehreren Polizeiautos umringt von Cops stand und dort weiter abgefilmt und geblendet wurde. Dabei wurde S. aufgefordert in die Kamera zu schauen. Als S. erwiderte, dass das Licht blende, wurde der Kopf kurzerhand gewaltsam durch die Cops in Richtung der filmenden Kamera gedreht. Abermals wurde der*dem Zeug*in seitens der Polizei verbal und durch Abdrängen klar gemacht, dass Außenstehende unerwünscht seien. Die festgenommene Person wurde indes nach der PIN des beschlagnahmten Handys gefragt, worauf diese keine Angaben machte. Dabei wurde seitens der Cops auch untersagt, den Akku zu entfernen oder das Gerät auszuschalten. Eine Liste der beschlagnahmten Dinge, auf der ein Akku sowie ein Ladekabel fehlten, wurde der beschuldigten Person vorgelegt, um diese zu unterschrieben. Dies lehnte S. konsequenterweise ab.
Dieser Vorfall zeigt, dass kleinste Vorwürfe genutzt werden, um fast sämtliche Gegenstände einer Person zu beschlagnahmen, zu durchleuchten und möglicherweise auszuwerten. Erst nach mehreren Monaten ist mit der Rückgabe mancher Sachen zu rechnen. Weiter muss davon ausgegangen werden, dass zurückgegebene Sachen seitens der Polizei und des Staatsschutzes zur Aufzeichnung und Verfolgung manipuliert wurden. Daher raten wir vor allem bei technischen Geräten unbedingt von einer weiteren Nutzung ab.

[Rote Hilfe Leipzig]

15. Januar 2015: Braustraßenkessel

Aktuell verschicken die Cops Anhörungsbögen für das Strafverfahren wegen dem Braustraßenkessel vom 15.01.2015. Schickt die Anhörungsbögen nicht zurück! Auch der Bogen mit den Pflichtangaben muss NICHT! zurückgeschickt werden, da die Cops die Daten eh haben.

Nach unseren Erfahrungen werden Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruch oft eingestellt, weil den später vor Ort (d.h. hier: im Kessel) festgestellten Personen keine “Tathandlung” nachgewiesen werden kann.

Es kommt also darauf an, ob die Cops Anhaltspunkte dafür haben, dass ihr euch an den Ausschreitungen beteiligt habt. Wenn ihr nicht einfach abwarten wollt und euch das zutraut, findet ihr das durch eine Einsicht in die Ermittlungsakte heraus, die ihr auch selbst beantragen könnt (Muster am Ende des Artikels). Die Einsicht in die Akte steht euch zu und darf nicht verwehrt werden. Nehmt euch Papier und Stift mit, um die interessanten Sachen rauszuschreiben.

Achtung: Beim Termin der Akteneinsicht können die Cops versuchen, euch in Gespräche zu verwickeln, oder sonst wie an Aussagen von euch zu kommen. Macht von eurem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch! Ihr seid nur dort, um Einsicht in die Ermittlungsakte zu nehmen, sonst nichts. Es ist schon vorgekommen, dass nur aufgrund der eigenen Angaben Anklage erhoben wurde. Also redet nicht mit Cops oder Justiz! Es kann auch sein, dass ihr beim Lesen der Akte beobachtet werdet und eure Reaktionen von geschultem Personal registriert werden.

Wenn ihr Fragen rund um die Akteneinsicht habt, könnt ihr gerne zur Sprechstunde vorbeikommen.

[Rote Hilfe Leipzig]

https://antirepression.noblogs.org/post/2015/08/13/braustrassenkessel-vom-15-januar-2015-2/

 

Musterantrag auf Erteilung der Einsicht in die Ermittlungsakte:

Anna Arthur Trotz

Revoluzzergasse 1

1312 Stadt

 

An: Polizeidirektion Leipzig / Dez. 5

Postfach 100661

04006 Leipzig

In dem Ermittlungsverfahren gegen mich – Vorgangsnummer: (steht im Anhörungsbogen oben rechts) – beantrage ich mir zunächst Akteneinsicht gemäß § 147 Abs. 7 StPO zu gewähren und bitte um Mitteilung wann und wo ich Einblick in meine Akten bekomme.

Bis dahin mache ich von meinem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch.

MfG

Anna Arthur Trotz (unterschreiben!)

Januar 2015 – ein Erfahrungsbericht aus Dresden

[Der Autor des folgenden Textes, Mohamed Okasha, ist Beauftragter für ausländische Studierende an der Universität Leipzig. In dieser Eigenschaft wurde er am 14. Januar 2015 von Sachsens Ministerpräsident Tillich zum Neujahresempfang unter dem Titel „Aus aller Welt – zu Hause in Sachsen“ ins Dresdner Albertinum eingeladen (http://www.medienservice.sachsen.de/medien/news/196257). Am 13. Januar 2015 geschah in Dresden der Mord an Khaled Bahray, einem Asylbewerber aus Eritrea. Durch die Fehlannahmen der Polizei, es handele sich um einen Todesfall ohne Fremdeinwirkung, begann die Spurensicherung viel zu spät. Der Fall verursachte internationale Resonanz und die Dresdner Polizei geriet unter starke Kritik. Im folgenden Beitrag gibt der Autor einen subjektiven Erfahrungsbericht im Klima dieser Ereignisse.]

Ein Asylbewerber wurde getötet… Ich gehöre nicht hierher:

Zurück aus Dresden… aus einer der schönsten Städte Deutschlands.. jedoch aber eines der schlimmsten Völker Deutschlands.. Ich habe eine Einladung vom Ministerpräsident von Sachsen bekommen, als Vertreter der ausländischen Studenten der Uni Leipzig. Ich war sehr glücklich und dachte, der Mann wollte wissen, was wir brauchen, oder wie können wir das Problem von Pegida überwinden, oder wie kann man den Integrationsprozess fördern, oder wie sieht es aus mit den Problemen der Flüchtlinge, ausgegangen davon, dass ich mich mit diesem Thema gut auskenne…

Zwei Szenen:

Die erste Szene: Durchaus schöne Halle, geschmückt, am Eingang stehen schöne Frauen mit Gläsern Wein, Saft und Wasser… Alles kostenlos.. Rechts gibt es ein offenes Buffet… Die Halle ist voll von sehr schicken Persönlichkeiten, Leiter von Parteien, VIPs … Eine Tafel mit dem Titel „Sachsen für alle Zuhause“ oder so, der Satz ist auf allen Sprachen geschrieben außer der Arabischen… mmm… nicht schlimm, kein Problem… .. Klassische Live Musik, eine Band aus zehn verschiedenen Nationalitäten.. eine Werbung, in der Schüler aus verschiedenen Nationalitäten zusammen basteln. Der Ministerpräsident bestätigt in seiner Rede, dass er sich für alle Bürger interessiert… Dann taucht eine Tanzgruppe auf, die schöne Bewegungen macht… Ich: Dafür bin ich aus Leipzig gekommen?? Ist das alles?!! Eine draußen rauchen ist besser…

Die zweite Szene:

Vor dem Haupteingang der Halle… Eine Gruppe von armen Menschen, nicht mir fremd, Asylbewerber.. Ich: „Warum demonstrieren sie?“ Ein schicker Mann: „eine Spontan-Demo, nicht gemeldet?“ „Aber wozu?“ „Ein Ausländer wurde gestern abend getötet?“… Ich gehe zu ihnen, ungefähr ein Hundert Asylbewerber,… eine alte Frau jammert… die Verwandte des Toten… ungefähr sieben Deutsche, die mitdemonstrieren, und eine Rede halten, aber auf Deutsch… die Asylbewerber verstehen nicht… einer fragt mich ob ich Arabisch sprechen kann.. ich übersetze die Rede, und ich verstehe nix, was ist los? was ist gestern passiert? wie wurde dieser Typ getötet?… Die Demonstranten wollen mit dem Ministerpräsident reden… ich gehe um ihn darum zu bitten, mit ihnen zu reden,… zufälligerweise finde ich die Integrationsministerin, eine alte nette Frau… sie redet mit ihnen und ich übersetze… Zum ersten Mal hier in Deutschland sehe ich diese Angst… sie können nicht einkaufen gehen, sie können nicht auf der Straße laufen… Ihre Heime werden täglich angegriffen… kein Sicherheitsdienst… die alte Frau hat kein Essen zuhause, da sie Angst hat, auszugehen um einzukaufen.. Die Leute spucken ihnen ins Gesicht… sie fühlen überhaupt keine Sicherheit… sie wollen weg von hier… sie wollen ihre Pässe wieder damit sie von hier weggehen können… sie sind geflohen um sicher zu leben… aber leider keine Sicherheit… sie wollen kein Geld, sie wollen nur Sicherheit…
Die Ministerpräsidentin spricht ihr Beileid aus, verspricht, sich mit den Betroffenen diese Woche zu treffen, um praktische Lösungen zu finden…

Ich gehe zurück zu meinem Treffen… eine völlig andere Welt, die nicht spürt, was draußen passiert… Geräusche der Gläser statt der Rufe… Lachen statt Weinen… Lächeln statt Tränen… Das ist nicht mein Platz… ich gehöre nicht hierher… ich packe meine Sachen ein und gehe zu den Demonstranten… zu meinen Leuten.

[Mohamed Okasha]

Auf sie mit Idyll!

Gutgemeintes gegen LEGIDA

„Leipzig, du stolze Stadt!“ – so titelte die Bild-Zeitung, nachdem am Vortag, dem 12. Januar 2014, die erste LEGIDA-Demonstration über die Bühne gegangen war. Die Punktauswertung schien tatsächlich ziemlich eindeutig zu sein: Während sich auf der einen Seite rund 3000 „patriotische Europäer“ versammelt hatten, stellten sich ihnen etwa 30.000 Gegendemonstrant_innen in den Weg. „Für Toleranz, mit buntem, kreativem und vor allem friedlichem Protest – man kennt das ja. Die offene Gesellschaft wurde vorerst erfolgreich gegen ihre Feinde verteidigt.

Freiheitlich-demokratisches Liedgut

Allerdings wirken die demokratischen Abgrenzungsrituale einigermaßen befremdlich, wenn man ihnen aus der Nähe ausgesetzt ist. So geschah es an diesem Abend auch mir, als ich versuchte, mich eben mal geschmeidig durch die Menge zu schlängeln, die den Waldplatz verstopfte. Stattdessen fand ich mich minutenlang in der Menschenmasse eingekeilt und konnte mich nicht dagegen wehren, als plötzlich Sebastian Krumbiegel die nahegelegene Bühne betrat und ohne Umschweife ein Loblied auf die Toleranz anstimmte (1).

Die persönliche Integrität von Herrn Krumbiegel will ich hier nicht in Frage stellen – der Mann engagiert sich schon seit Dekaden „gegen rechts“, meint es also offensichtlich ernst und ehrlich. Aber trotzdem, und auch obwohl das Lied ziemlich kurz war, schaffte Krumbiegel es doch, erstaunlich viel Unsinn hineinzupacken. Das fing schon bei den ersten beiden Zeilen an: „Kein Mensch hat Lust auf Ärger / kein Mensch ist illegal“. Die erste ist eine Tatsachenfeststellung, die binsenhafter kaum sein könnte – klar, kein Mensch hat Lust auf Ärger. Dass kein Mensch illegal ist, ist dagegen bei weitem nicht so klar. Tatsächlich klassifiziert das demokratische Staatswesen alle naselang Menschen als „illegal“, wenn sie sich unerwünscht auf seinem Territorium aufhalten. In seinem ursprünglichen Kontext dient der Satz „Kein Mensch ist illegal“ auch genau dazu, dies als Tatsache zu benennen und zu skandalisieren – während in der Krumbiegel-Version nur noch die Aussage übrigbleibt: „Alles in Ordnung.“

Aber gut, es ist eh schon schwierig genug, es so hinzukriegen, dass sich am Ende alles reimt – wahrscheinlich wollte der Künstler beim Texten nur auf den Kehrreim hinaus, der da lautete: „Mal so von Mensch zu Mensch / Wir sind doch international.“ Mit „wir“ waren offenbar a) das weltoffene Leipzig, und b) der weltoffene Sebastian Krumbiegel gemeint. So berichtete Krumbiegel im Rest des Songs auch hauptsächlich von seinem Dasein als Tourist, wo er überall schon war (New York, Tokio) oder eben noch nicht war (in Rio, „aber das mach ich auch noch klar“). Gute Absicht hin oder her – es ist schon ziemlich doof oder dreist, sich mit Illegalisierten oder Geflüchteten zu vergleichen, weil man selber auch schon mal im Ausland war. Und auch die LEGIDA-Demonstrant_innen dürften sich kaum von ihrer Abneigung gegen bestimmte Menschengruppen abbringen lassen, nur weil Sebastian Krumbiegel so gern verreist. Im Ausland waren sie sicher auch schon mal – das hält im Zweifelsfall niemanden davon ab, rassistische Vorurteile zu hegen oder auf die eigene Nation stolz zu sein.

Das ficht Herrn Krumbiegel freilich nicht an. In seiner Perspektive „so von Mensch zu Mensch“ tauchen kompliziertere soziale Verhältnisse (wie z.B. das Verhältnis von Mensch und Staat) gar nicht erst auf. Was dann noch an Problemen übrig bleibt, sind letztlich nur Fragen der persönlichen Einstellung, die sich mit etwas gutem Zureden schon behandeln lassen: Seid tolerant, seid nett zueinander. Das klappt zwar nicht, aber darauf kommt es auch nicht an. Letztlich soll das „Courage zeigen“, „Farbe bekennen gegen rechts“ usw. ohnehin nur die eigene Identität bestärken: „Wir“ sind international, also weltoffen und tolerant und gute Demokrat_innen, während die anderen eben engstirnig, intolerant und undemokratisch sind.

Wer ist das Volk?

Mit so einer Identität kann man sich natürlich wohlfühlen. Man könnte sich aber auch fragen, wie denn „die anderen“, in diesem Fall also die LEGIDA-Demonstrant_innen, zu ihren Ansichten kommen. Und bevor man sich daran macht, den Status quo gegen all die unsympathischen „Auswüchse“ zu verteidigen, die er selbst mit schöner Regelmäßigkeit hervorbringt, könnte man sich auch über diesen mal ein paar Gedanken machen. Die „offene Gesellschaft“, das soll­ten wir nicht ver­gessen, ist auch eine Klassengesellschaft, die sich im Alltag (z.B. auf dem Arbeitsamt) nicht immer so nett ausnimmt wie auf lauschigen Demonstrationen für Toleranz.

Dreist gesagt ließe sich ja auch der Rassismus als Klassenfrage bestimmen: Bestimmte Merkmale, wie z.B. die Hautfarbe, werden als Begründung benutzt, um bestimmten Menschengruppen eine bestimmte Position in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zuzuweisen – es ist z.B. kein Zufall, dass Thilo Sarrazin gegen Hartz-IV-Empfänger_innen genauso hetzt wie gegen „Kopftuchmädchen“ und angeblich dumme Einwanderer aus dem arabischen Raum.

So thematisieren die LEGIDA-Demonstrant_innen – zumindest indirekt – immer auch ihre eigene Stellung in der Gesellschaft, wenn sie bestimmte Menschengruppen verteufeln und abwerten. Das Ziel ist es, die Nation und die eigene Position in dieser gegen eine vermeintliche Bedrohung von außen, also Werteverfall, unkontrollierte Einwanderung, islamische „Unterwanderung“ der Gesellschaft etc. pp. zu verteidigen. Wobei die Bewegung in der Tat vor allem für jene attraktiv zu sein scheint, die noch eine Position zu verteidigen haben: An den ersten LEGIDA-Demonstrationen beteiligten sich auffällig viele gut gekleidete Bürgerinnen und Bürger aus der Altersgruppe von vierzig an aufwärts – Menschen „aus der Mitte der Gesellschaft“ (2).

Das sorgte in den letzten Monaten für viel Verwirrung, weil sich eben auch die Gegner_innen von PEGIDA/LEGIDA als „Mitte der Gesellschaft“ fühlten und in Szene setzten. So gestaltete sich die ganze „Debatte“ hübsch spiegelbildlich. Zum Beispiel bezeichnete Justizminister Heiko Maas die PEGIDA-Demonstrant_innen als „Schande für Deutschland“ (3), was bei diesen wiederum für helle Empörung sorgte – den Vorwurf, sie seien nicht ordentlich nationalistisch, wollten sie nicht auf sich sitzen lassen. Politiker_innen und sonstige Prominente wiesen darauf hin, dass eine geregelte Einfuhr von „nützlichen“ Ausländern doch gut für den Standort sei (4) – während die PEGIDA-Demonstrant_innen schlicht abstritten, dass „die Ausländer“ irgendwelche besonderen Fähigkeiten mitbrächten, so wie ein älterer Demonstrant in Dresden es beispielhaft formulierte: „Das sind alles junge Kerle … Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass das hochqualifizierte Fachkräfte sind!“ (5)

Und letztlich passt auch Sebastian Krumbiegel in dieses Szenario hinein: Während er ein imaginäres Deutschland verteidigt, wo „kein Mensch illegal“ ist und es auch sonst keine nennenswerten Probleme gibt, wollen die PEGIDA-Demonstrant_innen ein starkes, souveränes Deutschland, wo es nicht zu viele Ausländer, aber dafür schöne „christliche“ Weihnachtsmärkte gibt, wo erzgebirgische Holzschnitzkunst und sonstige Folklore gepflegt wird und alle fleißig den „Faust“ oder die „Buddenbrooks“ lesen. Die Bedrohung kommt in beiden Fällen von außen – von islamischen Barbarenhorden oder von einigen Ewiggestrigen, die es immer noch nicht gelernt haben, zu allen Menschen nett zu sein.Man muss den Vergleich natürlich nicht überstrapazieren. Wenn man Lust hat, kann man auch darüber streiten, welche Vorstellung von Deutschland man nun sympathischer findet – imaginär sind sie alle beide.

justus

(1) www.youtube.com/watch?v=bZZx0EPnBOA

(2) so mein subjektiver Eindruck, der von einer Studie der TU Dresden bestätigt wird: vgl. http://tu-dresden.de/aktuelles/newsarchiv/2015/1/pegida_pk

(3) www.spiegel.de/politik/deutschland/pegida-heiko-maas-nennt-proteste-schande-fuer-deutschland-a-1008452.html

(4) z.B. in der Bild-Zeitung: www.bild.de/politik/inland/pegida/promis-sagen-nein-zu-pegida-39208948.bild.html

(5) zu finden hier www.youtube.com/watch?v=Bl0KPaLPL7g ab Minute 8:30.