Mira und Mordechai

zu Eurem 70. Todestag

Unsicher wendet Mordechai seinen Blick ihr zu. Miras Augen antworten ihm. Und die Unsicherheit verlässt die beiden. Sie sehen wieder geradeaus zu Schlomo und machen einen gemeinsamen Schritt nach vorne. „Wir beide übernehmen das“, sagt Mira, während Mordechai mit kräftigem Druck nach ihrer Hand greift. „Wir werden ihnen an der Hauptstraße entgegen treten. Wenn wir genug Verwirrung erzeugen können, gelingt es den anderen vielleicht zu entkommen.“

Eben hatte Schlomo der Gruppe die bittere Lage erklärt. Etwa dreißig junge Menschen hatten sich versammelt, nachdem die HaShomer Boten durch die Häuser geschickt hatte, die zum Kampf aufrufen sollten. Mira, Mordechai, Schlomo und einige Freunde hatten sich schon lange darauf vorbereitet. Sie wussten seit Wochen, dass die „Liquidation“ kurz bevor stand, und hatten bei den Versammlungen der HaShomer beschlossen, nicht einfach aufzugeben.

Als ich Eure Geschichte zum ersten Mal gehört habe, hat sie mich überwältigt. Ich weiß nicht, Mordechai, ob ich Deinen Mut gehabt hätte. Ich habe meine Geliebte gefragt, ob sie so wie Du, Mira, meine Hand genommen hätte und mit mir vorgetreten wäre. Es wäre unehrlich gewesen, einfach „Ja“ zu sagen. Sie hat mir die Wahrheit gesagt. Die Wahrheit ist, dass wir, so sehr wir mit Euch fühlen, uns der Antwort doch niemals sicher sein können.

Sog nischt kejnmol as du gejst dem letstn weg,

wen himlen blajene farschteln bloje teg,

kumen wet noch undser ojsgebenkte schoh,

‘s wet a pojk ton undser trot – mir sejnen do!

„Danke, Mira, danke, Mordechai. Elisabeth wird auch dabei sein, genau wie Samuel. Sie sind gerade noch beim Treffen der Jüdischen Kampforganisation und werden später am Abend zu uns stoßen. Ich werde mit den beiden die rechte Seite der Stra­ße übernehmen. Die Gruppe von Tosia wird sich auf die Häuser links verteilen und den Bereich in Richtung ‚Umschlagplatz‘ abdecken. Alle anderen sind dafür zuständig, so viele wie möglich von der Zivilbevölkerung zu evakuieren. Wir haben Kontakte hinter der Mauer, die euch durch die Kanalisation helfen sollen.“

Schlomo öffnet die Kiste hinter sich und nimmt zwei Metalldosen heraus, an denen ein öliger Faden hängt. Er drückt sie Mordechai in die Hand, dann gibt er auch Mira zwei der Sprengsätze. „Seid vorsichtig damit! Die Leute in der Fabrik haben versucht, besseres Material zu bekommen, aber das war alles, was möglich war. Vermeidet starke Erschütterungen und lagert sie weit weg vom Feuer!“ Mira und Mordechai wickeln die Granaten vorsichtig in Tücher ein und verstauen sie in ihren Rucksäcken. „Wir werden morgen noch mehr davon erhalten. Wenn wir dann noch hier sind.“ „Lasst uns zum Abschied ein Lied singen, so wie früher, wenn wir zusammen auf Fahrt waren.“, schlägt Mordechai vor. „Das Lied, das Hirsh geschrieben hat“ bestärkt ihn Schlomo.

Eure Geschichte lässt mich für einen Moment fühlen, was der Verstand nicht fassen kann. Die Einzigartigkeit der industriellen Vernichtung von Millionen Menschen, von der wir wissen, aber die doch unser Verstehen übersteigt. Das Paradox, dass jeder Vergleich unmöglich ist, und wir doch ständig unsere Realität daran messen wollen – und müssen, damit nichts Vergleichbares je wieder passieren kann!

‘S wet di morgn-sun bagildn unds dem hajnt,

der schwarze nechtn wet farschwindn mitn fajnt,

nor ob farsajmen wet di sun un der kajor,

wi a parol sol gejn dos lid fun dor tsu dor.

Mira und Mordechai stehen hinter den Gauben von Haus Nummer 62. Von hier hat man freien Blick auf die Hauptstraße. Noch ist es dunkel unten auf der Straße, aber das Morgengrauen beginnt, Dächer und Himmel voneinander zu trennen. Bis hierhin, mitten in der Stadt, riecht es ein wenig nach Frühling. Mordechai erinnert sich, dass erst vor drei Wochen der Schnee weggeschmolzen ist, endlich, und wie ihm das wärmere Wetter Kraft und neuen Mut gegeben hat. Er glaubt, freudiges Kindergeschrei zu hören, doch auf der Straße ist es völlig ruhig. Als er die Augen schließt, sieht er zwei Kinder spielen. Seine Kinder, und Miras Kinder. Er öffnet die Augen wieder und dreht den Kopf nach rechts, verschwommen sieht er Mira. „Warum weinst du?“, fragt sie. „Ich habe gerade an Salomé und Efraim gedacht. Und dass wir sie nie haben werden.“ Für einen langen Augenblick schließen sie sich in die Arme. In einem der Hinterhöfe singt eine Nachtigall, während es langsam hell wird.

Mordechai lenkt ab, will sich und ihr Mut machen. „Ich habe gehört, dass sie auch in anderen Städten Vorbereitungen getroffen haben. In Lemberg und Tschenstochau wollen sie sich uns anschließen. Sogar in die Lager haben sie Waffen geschmuggelt, es soll Kampfgruppen in Treblinka und Sobibor geben.“ „Ja, Mordechai, wir sind nicht alleine. Und wenn wir fallen, werden andere unsere Gewehre aufheben und weiterkämpfen.“

Versteht mich nicht falsch: Ich weiß, Ihr wart gewöhnliche Menschen wie wir. Was Ihr getan habt, war nichts Übermenschliches. Und doch war es außergewöhnlich. Im Angesicht der Vernichtung von Menschen durch Menschen ist nur noch außergewöhnliches Handeln menschlich.

Fun grinen palmen-land bis wajtn land fun schnej,

mir kumen on mit undser pejn, mit undser wej,

un wu gefaln is a schprits fun undser blut,

schprotsn wet dort undser gwure, undser mut.

Dann Motorengeräusch, Kommandos auf Deutsch. Ein Trupp Soldaten marschiert um die Ecke am Ende der Straße. „Durchsucht die Häuser und legt Feuer!“, hören die beiden den Anführer schreien. Haus für Haus kommen die Soldaten näher. Mira beobachtet die jungen Männer in ihren SS-Uniformen. „Werden jetzt auch wir zu Mördern?“, fragt sie, mehr zu sich selbst. Doch Mordechai hört es und flüstert zurück „Es gibt keine Unschuld mehr in diesen Zeiten, Mira. Sie kommen, um uns alle zu töten, alle unsere Leute, die sich noch hier verstecken.“ „Aber wir wollten unser freies Land auf Frieden und Gerechtigkeit aufbauen. Wie soll das möglich sein, wenn es um uns nur noch Unrecht und Sterben gibt?“, hört er Mira verzweifeln. „Jeder Tag, den wir sie zurückschlagen können, ist ein gewonnener Tag.“ Wieder läuft eine Träne über seine linke Wange. Er wischt sie aus dem Auge und zündet seine Kerze an. Mira prüft ihre Pistole und richtet sie auf das Gesicht des ersten jungen Deutschen in der Reihe. Noch immer singt die Nachtigall zwischen den Häusern. „Ist es die Nachtigall oder die Lerche?“, fragt Mordechai. Über seinen Scherz vergisst er für einen kleinen Augenblick die Wirklichkeit. Auch Mira lächelt.

Von rechts blitzt Schlomos Signal auf. „Es war die Lerche.“ Mira wird wieder ernst. Mordechai hält den Ölfaden an die Kerze und schleudert die Granate, Mira zieht den Abzug des alten Revolvers.

Vorsicht vor der Frage, ob und wann es gerechtfertigt ist, sich selbst schuldig zu machen! Sie zu stellen ist legitim und verständlich, immer wieder. Aber wir heute dürfen sie nicht einfach beantworten. Das sind wir Euch schuldig: Für uns ist diese Frage hypothetisch, für Euch war sie real. Es gibt keine eindeutige Antwort darauf, die wir uns heute geben könnten. Jeder Vergleich mit eurer Situation hinkt, denn er relativiert, was ihr erlebt habt – zu Erleben gezwungen wart.

Dos lid geschribn is mit blut un nischt mit blej,

‘s nit kejn lidl fun a fojgl ojf der fraj,

dos hot a folk tswischn falndike went

dos lid gesungen mit naganes* in die hent.

Sie sitzen in einer Ecke des Kellers zusammengekauert, schüt­­­zen ihre Köpfe mit den Händen vor den von der Decke herabfallenden Brocken. Über ihnen das Knattern von Ma­schi­­­nengewehren, Schreie, das Krachen von einstürzenden Decken, das Tosen der Flammen. Rauch und Staub wehen durch die Ritzen der Kellerluke. Mira greift nach Mordechais Hand und blickt ihn im Dunkeln an. „Ich liebe dich, Morde­chai.“ Er zieht sie zu sich. „Ich liebe dich, Mira.“ Dann erstickt der Rauch ihre Stimmen.

Hattet Ihr keine Angst, Mordechai? Bestimmt hattet Ihr Angst. Ihr seid Menschen geblieben selbst in einer Zeit der Unmenschlichkeit. Und doch über einfaches Mensch-Sein hinausgewachsen. Ich will nicht zulassen, dass man Euch vergisst. Und ich wünsche mir, dass Andere eines Tages Eure Kinder großziehen, die Ihr nie haben konntet.

Mira Fuchrer, geboren 1920, und Mordechai Anielewicz, geboren 1919 in Wyszków, erstickten möglicherweise so wie hunderte andere Bewohnerinnen und Bewohner des Warschauer Ghettos in ihren Kellerverstecken. Anderen Quellen zufolge nahmen sie sich vor ihrer sicheren Niederlage selbst das Leben. Bei der Räumung des Ghettos in den Frühlingstagen des Jahres 1943 wurde ein Haus nach dem anderen von der SS in Brand gesteckt. Als Mordechai, Mira und andere sich entschieden, einem völlig übermächtigen Feind im Kampf entgegenzutreten, waren sie kaum mehr als zwanzig Jahre alt, mehr als fünf Jahre jünger, als ich es heute bin.

Zum Warschauer Ghetto und dem dortigen Aufstand 1943 gibt es zahlreiche historische Quellen, eine ausführliche Literaturliste findet sich z.B. auf Wikipedia. Dieser Text wurde unter anderem von dem Buch „Der Aufstand“ von Dan Kurzman inspiriert. Ich habe mich beim Schreiben eng an die historisch belegten Ereignisse gehalten und lediglich Details hinzugefügt, um der Geschichte eine Form zu geben.

Beim zitierten Liedtext handelt es sich um eine lateinische Transkription des jiddischen „Partizaner Lid“ von Hirsh Glik.

*naganes = Russischer Begriff für Revolver

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