Bundesregierung verweigert EU-Ausländer_innen die Sozialleistungen
Bundeskanzlerin Merkel hat das Ziel der deutschen Krisenpolitik schon vor längerer Zeit benannt: „Es geht darum, dass es Deutschland gelingt, aus der Krise stärker hervorzugehen, als es hineingegangen ist“. Da gibt es immer was zu tun. Nachdem die Bundesregierung in den letzten Monaten immer neue Sparprogramme durchgesetzt und damit die Lebensbedingungen für viele Menschen in Europa beträchtlich verschlechtert hat, sorgt sie sich derzeit, die frisch Verarmten könnten nun massenhaft nach Deutschland einwandern und das hiesige Sozialsystem belasten.
Dieser vermeintlichen Gefahr will sie jetzt entgegensteuern. So werden die Hartz-IV-Anträge von in Deutschland lebenden EU-Bürger_innen momentan fast durchweg abgelehnt, bislang gewährte Sozialleistungen werden den Betroffenen verweigert. Besonders betroffen sind – passend zur gegenwärtigen medialen Stimmungsmache – vor allem Zuwanderer_innen aus den krisengebeutelten PIIGS-Staaten wie Italien, Griechenland oder Spanien.
Vorbeugende Vorbehalte
Die deutschen Jobcenter handeln dabei nicht aus eigener Initiative. Sie folgen vielmehr einer entsprechenden Geschäftsanweisung, die das Arbeitsministerium am 23. Februar 2012 der Bundesagentur für Arbeit erteilte. Die Anweisung kam so unvermittelt, dass man im ersten Moment sogar bei der Arbeitsagentur selbst verwundert war: Es gebe eigentlich keinen Handlungsbedarf, hieß es in einer offiziellen Stellungsnahme der Bundesagentur für Arbeit. Es handele sich wohl um eine rein vorbeugende Maßnahme von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen.
Wo deutsche Krisen- und Sparpolitik, die auf den Ämtern übliche Gängelei von Hartz-IV-Empfänger_innen und ein latenter Rassismus zusammentreffen, da kommt natürlich nichts Gutes heraus. Die Vorbeugemaßnahme hat für die Betroffenen drastische Auswirkungen. Ihnen werden damit Sozialleistungen verweigert, auf die sie nicht nur zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen sind, sondern die ihnen auch zustehen.
Als angebliche Rechtsgrundlage für diese Maßnahme dient der so genannte Leistungsausschluss, der in §7, SGB II geregelt ist. Dort heißt es, „Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen“ seien von den Leistungen ausgenommen.
Juristisch ist das alles andere als wasserdicht: Diese Klausel kann aus mehreren Gründen nicht auf in Deutschland lebende EU-Ausländer_innen angewendet werden.
So verstößt die Leistungsverweigerung u.a. gegen das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA), das 1953 geschlossen wurde und an dem mittlerweile 18 Staaten beteiligt sind (*). Mit der Unterzeichnung dieses Abkommens verpflichtete sich die Bundesregierung, in Deutschland lebenden Bürger_innen der anderen Vertragsstaaten die gleichen sozialen Rechte und Leistungen wie den deutschen Staatsbürger_innen zu gewähren. Umgekehrt haben auch deutsche Staatsbürger_innen, die sich in einem der anderen Vertragsstaaten niederlassen, dort Anspruch auf Sozialleistungen.
Die Verweigerung der Leistungen ist also rechtswidrig – aufgrund des EFA-Vertrags haben die meisten der in Deutschland lebenden EU-Bürger_innen einen legitimen Anspruch auf Unterstützung. Die einzige Einschränkung bestand jahrzehntelang in einer dreimonatigen Sperrfrist für neu zugezogene EU-Ausländer_innen. Aber auch dieser für die ersten drei Monate des Aufenthalts geltende „Leistungsausschluss“ für Bürger_innen der EFA-Vertragsstaaten ist rechtswidrig, wie das Bundessozialgericht in einem Urteil vom Oktober 2010 entschied.
Aber man kann´s ja trotzdem mal probieren… So erklärte die Bundesregierung am 19. Dezember 2011 einen so genannten „Vorbehalt“ gegen das Fürsorgeabkommen, um EU-Bürger_innen von den Sozialleistungen ausschließen zu können.
Nun wären internationale Verträge reichlich überflüssig, wenn man nach der Unterzeichnung alle störenden Bestimmungen nach Belieben ignorieren könnte. Dementsprechend ist so ein Vorbehalt nur dann zulässig, wenn er im Voraus erklärt wurde – dann können die Vertragsstaaten bestimmte, noch nicht bestehende Verpflichtungen umgehen. Ein nachträglich erklärter Vorbehalt ist dagegen nur dann gültig, wenn dies als Möglichkeit im Vertrag selbst ausdrücklich festgelegt wurde.
Nun ließe sich der „Vorbehalt“ mit etwas gutem Willen als Teilkündigung des Abkommens auffassen. Eine solche wäre nach EFA-Artikel Nr. 24 durchaus möglich, es scheint aber fraglich, ob die Bundesregierung dies im Sinn hatte. Nicht nur hätte eine solche Kündigung europapolitisch unabsehbare Folgen – es wäre dann zu erwarten, dass auch die anderen Mitgliedsstaaten das Abkommen kündigen. Zudem hätte die Kündigung, um bis Mitte 2012 wirksam zu werden, spätestens zum 11. Dezember ausgesprochen werden müssen. Der am 19. Dezember erklärte Vorbehalt kam dafür also eine gute Woche zu spät.
Willkürliche Winkelzüge
Der „Leistungsausschluss“ für EU-Bürger_innen verstößt aber zusätzlich auch gegen Europäisches Gemeinschaftsrecht – genauer gesagt gegen die „Verordnung zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“, die im April 2004 von Europa-Rat und Europa-Parlament verabschiedet wurde und seit Mai 2010 in Kraft ist. EU-Bürger_innen, die in Deutschland Arbeit suchen, haben demnach einen Anspruch auf völlige Gleichbehandlung, auch was den Zugang zu Sozialleistungen anbelangt.
Auch der Bundesregierung war zweifellos bewusst, dass ihre Entscheidung rechtlich gesehen auf wackeligen Beinen steht. Das Kalkül könnte dennoch aufgehen, wenn die Betroffenen auf Widerspruch verzichten und lieber wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren, statt sich auf einen Rechtsstreit mit scheinbar unabsehbarem Ausgang einzulassen.
Dabei haben sie gute Chancen, auf juristischem Wege ihr Recht und ihr Geld zu bekommen. So erklärte das Sozialgericht Berlin in mehreren Fällen die Verweigerung der Leistungen für rechtswidrig. Auch die Klage eines griechischen Staatsbürgers beim Sozialgericht Leipzig war von Erfolg gekrönt.
Der Anwalt des Betroffenen, Dirk Feiertag, erläutert, welche juristischen Möglichkeiten es gibt: „In jedem Fall sollten die Betroffenen innerhalb eines Monats gegen den Ablehnungsbescheid Widerspruch einlegen, und wenn dieser Widerspruch abgelehnt wird, wie es leider zu erwarten ist, dann beim Sozialgericht Klage einreichen – auch das binnen Monatsfrist. Außerdem empfiehlt es sich, gleich bei Erhalt des Ablehnungsbescheides ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren beim Sozialgericht anzustrengen. Das ist wichtig, damit die Betroffenen schnellstmöglich ihr Geld bekommen. Über diesen einstweiligen Rechtsschutz kann das Jobcenter innerhalb weniger Wochen gezwungen werden, die streitigen SGB-II-Leistungen vorläufig weiter zu zahlen, so lange das Gerichtsverfahren läuft.“
Es wäre zu wünschen, dass möglichst viele der Betroffenen sich auf diesem Weg gegen die behördliche Willkür zur Wehr setzen. Denn umso eher werden die Jobcenter wohl wieder von ihrer derzeitigen Praxis abrücken. Und umso eher dürfte auch die Bundesregierung zum Umlenken bereit sein, die wohl ohnehin nur eine zeitlich begrenzte Willkürmaßnahme im Sinn hatte – einen kalkulierten Regelverstoß, um potentielle Leistungsempfänger_innen abzuschrecken und die staatlichen Kassen zu entlasten. Wenn der Standort Deutschland stärker aus der Krise herauskommen soll, als er hineingegangen ist, dann darf man eben auch vor unorthodoxen Mitteln nicht zurückschrecken.
(hans)
Weitere Infos unter:
www.fsn-recht.de
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(*) Namentlich sind das Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien und die Türkei.