Das Ende der Barbarei

Am 8. Mai jährt sich der Tag der Befreiung vorn Nationalsozialismus

Zum 58. Mal jährt sich nun die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht vor den alliierten Streitkräften, die Befreiung vieler Menschen vom nationalsozialistischen Terror. Dieser offizielle Schlusspunkt des Hitler-Regimes sollte ein Tag des Feiern sein und ein Tag des Nachdenkens darüber wie und wodurch eine solche Barbarei entstehen konnte und welchen Charakter diese Barbarei trug.

Das Unfassbare war geschehen, ein rational arbeitendes Vernichtungsprogramm, das seinen Unterpfand in jahrhundertelang staatlich gepflegten deutschen Tugenden und tradierten Mythen hatte, wurde geplant und durchgeführt. Tugenden wie Disziplin, Ordnung, und Fleiß, der Wahn schaffender Arbeit kontra raffendem Kapital und die richtigen rassebiologischen Merkmale, sollten Deutsche über alles erheben. Mittels germanischer und antiker Mythen wurden die Idealvorstellungen der nationalsozialistischen Elite in romantische Rituale getaucht. Deutsche Tugenden, Brutalität und Romantik führten zum SS-Staat. Das Ziel war nach Eugen Kogon, Häftling des Konzentrationslagers Buchenwald, ein aristokratisches Staatswesen, nach dem Muster der hellenischen Stadtstaaten zu etablieren. So schilderte im Spätherbst 1937 ein SS-Führer der Ordensburg Vogelsang: „5 bis 10 von 100 der Bevölkerung, ihre beste Auslese, sollen herrschen, der Rest hat zu arbeiten und zu gehorchen. Die Auslese der neuen Führungsschicht vollzieht die SS […] durch die Junkerschulen und die Ordensburgen […]; negativ durch die Ausmerzung aller rassenbiologisch minderwertigen Elemente und die radikale Beseitigung jeder unverbesserlicher politischen Gegnerschaft […]“ (1). Mitternächtliche SS-Fahnenjunkerweihen, die Himmler an den (vermeintlichen) Gebeinen Heinrich I. abhielt und der Besuch eines Konzentrationslagers am nächsten Tag gehörten zusammen. „Von der Symbolik des Sonnenrades führte der Hakenkreuzweg geradlinig zu den glühenden Öfen von Auschwitz.“ (Eugen Kogon) Das erhellt auch die Verbindung zwischen Weimar und Buchenwald – Kultur und Barbarei, den einen Tag wandelt der SS-Sturmführer auf den Spuren Goethes, den anderen stößt er Häftlinge in die Fäkaliengrube. Bei der Abholzung des Ettersbergs wurde kulturbewusst die bekannte „Goethe-Eiche“ bewahrt und zum Hohn der Inhaftierten als Lagermittelpunkt gewählt

Das Irrationale wurde rational durchgeplant und führte zu unermesslichem Leid in den Konzentrationslagern (KL). Menschenunwürdige Lebensumstände, Hinrichtungen, seelische und körperliche Folter, die Liste der Bestialitäten ließe sich fortführen. Für Millionen Menschen, politische Häftlinge, Homosexuelle, Sinti und Roma, Juden, polnische Partisanen, russische Kriegsgefangene, Gefangene aus anderen eroberten Ländern, Bibelforscher, Kriminelle und „Asoziale“, wurden die KL zum Friedhof. 6 Millionen Juden wurden dort in die systematische Massenvernichtung geführt, ein Verbrechen, zu dem es in der Menschheitsgeschichte bisher keinen Vergleich gibt, man spricht auch von der Singularität von Auschwitz.

Doch das NS-System konnte sich nicht ewig halten, mit dem Sieg der Roten Armee in Stalingrad kam die Kriegswende, alsbald gewannen die Alliierten sowohl an der West- wie auch an der Ostfront die Oberhand. Am 6. April nahm die Rote Armee mit einem Zangengriff Berlin ins Visier. In zähen und verlustreichen Kämpfen gelang es ihr in das Stadtzentrum vorzudringen. Am gleichen Tag, den 30. April 1945, als Rotarmisten auf der Spitze des Reichstags die Rote Fahne hissten, beging Adolf Hitler in seinem Bunker Selbstmord. Großadmiral Dönitz übernahm die Führung, beabsichtigte eine Teilkapitulation gegenüber den Westmächten und wollte den Kampf gegen die Rote Armee noch fortsetzen, um möglichst viele „deutsche Menschen vor der Vernichtung durch den vordringenden bolschewistischen Feind zu retten“. Er hoffte zudem auf ein Bündnis mit den Westmächten gegen die Sowjetunion. Vergebens, auch wenn es gelang noch große Truppenverbände in den Raum der westlichen Alliierten zu überführen.

Am 25.4. begegneten sich an der Elbe sowjetische und US-amerikanische Truppen, am 2.5. kapitulierte Berlin, am 7.5. die deutsche Wehrmacht in Reims. In der Nacht vorn 8. auf den 9. Mai wurde in Berlin-Karlhorst offiziell die Kapitulation der deutschen Wehrmacht besiegelt (2).Dieser Tag ging als „Tag der Befreiung“ in die Geschichte ein. Dieser Terminus ist nicht allgemein beliebt. Noch 1975 verweigerte sich die Mehrheit des deutschen Bundestags einer Veranstaltung am 8.Mai mit der Begründung, dass dieser Tag in der DDR als „Tag der Befreiung“ gefeiert wurde. Gedenkveranstaltungen wurden auf andere Tage gelegt. Von der Rechten wird der Tag oftmals als „Tag der Niederlage“ umgedeutet und die „eigenen“ Opfer beschworen und hervorgehoben. Auch von linker Seite wird diese Begrifflichkeit kritisiert: man wollte nicht mit einer feiertagswütigen Volksgemeinschaft feiern, die die Befreiung aller Deutschen, ohne Unterscheidung von Opfern und Tätern, propagiert und zunehmend die deutschen Kriegsopfer in den Vordergrund schiebt Wenn mensch sich die Debatten zu dem Thema anschaut, dann fällt auf, dass die Bombardierung Dresdens öfters beklagt wird als die rauchenden Schlöte Auschwitzs.

Markstein dieser gleichsetzenden Entwicklung war der 8.Mai 1985, als Helmut Kohl mit Ronald Reagan nach dem Besuch der Gedenkstätte Bergen-Belsen den SS-Friedhof in Bitburg besuchte. In Berlin wurde die „Straße der Befreiung“ umbenannt, die Gedenkstätte Seelow verlor ihren Beinamen „Gedenkstätte der Befreiung“. (3)

In dieselbe Kerbe der Normalisierung schlägt die SPD, die am 8.Mai 2002 eine Diskussion mit Martin Walser und Gerhard Schröder (4) über „Nation, Patriotismus, demokratische Kultur in Deutschland 2002“ veranstaltete. Ausgerechnet die Befreiung von Millionen von Menschen vom deutschen Sensenmann wurde hier für ein neu erwachtes sich geläutert gebendes Deutschland instrumentalisiert, dass wieder eine Nation unter vielen sein und in der Weltgeschichte mitspielen will. Die Normalisierung des deutschen Selbstverständnisses geht einher mit der. Militarisierung der Außenpolitik. Auschwitz, die deutsche Vernichtungsmaschine, wird zu den Akten gelegt, man hat schließlich daraus gelernt und konnte bereits mit diesen Lehren im Kosovo den ersten Angriffskrieg (5) führen. Und die rot-grüne Bundesregierung ist fleißig dabei, die Bundeswehr zu einer weltweiten Interventionsarmee umzubauen.

Die Rolle des Faschismus als Krisenbewältigungsstrategie sollte nicht unterschätzt werden, er entspringt der kapitalistischen Produktionsweise und ist eine mögliche politische Form ihrer Verwaltung. Solange es Kapitalismus gibt, gibt es auch die Möglichkeit im Krisenfall, wenn die Demokratie den Prozess der Verwertung und permanenten Gewinnmaximierung nicht mehr adäquat verwalten kann, faschistische Lösungsansätze zu suchen. Es stellt sich die Frage, inwieweit faschistoide Anknüpfungspunkte in unserer Gesellschaft bereits gegeben sind. Ein Beispiel für den Zusammenhang von bürgerlicher Demokratie und Faschismus sind die Arbeitswahn-Ideologie und die Hetze gegen „Sozialschmarotzer“ und Arbeitslose. In der derzeitigen Krise wird häufig der Sündenbock in denen gesehen, die nicht arbeiten wollen und der Gesellschaft parasitär das Geld wegnähmen. Während hier „nur“ Maßnahmen wie Arbeitszwang und Leistungskürzungen stattfinden, war der Nationalsozialismus konsequenter, da wurde das „arbeitsscheue Gesindel“ ins KZ gebracht. Eine Folge der Krise ist oft die Suche nach einem Sündenbock, dies können Arbeitslose, Ausländer oder andere Minderheitengruppen sein. Spezifisch für den Nationalsozialismus war der eliminatorische Antisemitismus, der in den Juden die Verursacher kapitalistischer Krisenhaftigkeit, d.h. konkret des Elends dieser Zeit, ausgemacht hatte. Dies mündete in Pogrome und nach Jahrhunderten von Antijudaismus und Antisemitismus im christlichen Abendland in die Massenvernichtung des „jüdischen Volkes“, dass als „parasitär“ von „normalen Völkern“ abgegrenzt wurde. Dabei spielte es keine Rolle, dass das Judentum eine Religion ist und schwerlich als Volk konstruiert werden kann. (6)

Es gilt also Relativierungen des Nationalsozialismus, geschichtsrevisionistische Tendenzen, antisemitische Reflexe, die Militarisierung deutscher Außenpolitik und natürlich das Treiben der Nadelstreifen- wie Straßen-Rechten nicht tatenlos hinzunehmen. Antikapitalistische Kritik und das Anstreben einer selbstorganisierten Gesellschaft reichen nicht aus. Wer die Emanzipation (7) der Menschen unterstützen will, muss möglichen Formen der Barbarei (8) entgegentreten.

kater francis murr

Eugen Kogon: „Der SS-Staat Das System der deutschen Konzentrationslager“
ISBN 3-453-02978 Heyne-Verlag
(1) Aus Eugen Kogon, „Der SS-Staat“, S.42
(2) www.documentarchi v.de/ns/1945/kapitulation.html
(3) www.ruhr-uni-bochum.de/bsz/512/512mai8.html
(4) auf www.bgaa.net (Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus) finden sich Gegenpositionen zu dieser Veranstaltung
(5) Werte Friedensfreunde: OHNE UN-Mandat; tja nicht nur der „Öl-Junkie“ Bush kann das, auch die „Marionette der Windkraft-Industrie“ Fischer…
(6) viele Texte auf www.antisemitismus.net/antisemitismus/theorie/texte-01.htm; Lektüre-Tip: Moishe Postone „Antisemitismus und Nationalsozialismus“
(7) Selbstbefreiung
(8) Dazu gehören auch religiöse Fundamentalismen, deren stärkste heutzutage der Islamische Fundamentalismus ist. Würden islamistische Gruppen ihre Gesellschaftsvorstellungen, die als einzige Alternative zum kapitalistischen System gedacht werden, durchsetzen, ließe sich meines Erachtens durchaus von einem Faschismus sprechen; für Hintergrundinformationen siehe auch das Dossier in der Jungle World 52/2002 „Wir sind die Moslems von morgen“ über die junge Generation islamistischer Eliten in Deutschland www.nadir.org/nadir/periodika/jungle_world/_2002/52/29a.htm

Exkurs: Leipzig – Warten auf die Befreiung

Die ungarische Jüdin Judith Magyar Isaacson überlebte Auschwitz-Birkenau. Sie wurde bei der Selektion zur Zwangsarbeit in das Buchenwald-Außenlager Hessisch Lichtenau gebracht. In einem der letzten Transporte der SS kam sie Anfang April nach Leipzig.

Die nächsten zweieinhalb Tage verbrachten wir weder als Gefangene noch in Freiheit. Die Deutschen waren geflohen und die Amerikaner noch nicht da. Die Blockälteste ließ uns nach oben gehen, wo wir-in einem kleinen Küchenschrank köstliche Konserven fanden, die früher der SS vorbehalten waren: Schweinebraten, Gänseleberpastete und Sardinen. Wir dachten, es könne vielleicht die letzte Möglichkeit sein, sich satt zu essen und verschlangen gierig all die schönen Sachen. Kein Wunder, dass wir die halbe Nacht damit zubrachten, sie oben und unten wieder herauszulassen.

Die Freiheit kam am dritten Tag, nicht in Gestalt einer siegreichen Armee mit Trommeln und Generalen, wie wir es uns erträumt hatten, sondern in Gestalt eines staubbedeckten amerikanischen Fernmelders. Wir stürmten sofort hinaus, als er auf der Straße auftauchte, eine winzige uniformierte Gestalt auf einem Motorrad. Die polnischen Mädchen zogen ihn vom Sitz und küssten ihn ab, doch wir standen dabei und konnten es kaum fassen. „Nun mal langsam Mädels“, protestierte er mit errötetem Gesicht. „Tausende von anderen werden morgen hier einfallen. Entschuldigt mich bitte, ich muss ein paar Telefonkabel verlegen.“ Im nächsten Moment verschwand er wie eine Traumgestalt. Am folgenden Tag, dem 20. April 1945, wurden wir offiziell befreit, doch wir waren noch immer zu benommen, um es vollständig glauben zu können. Die deutschen Soldaten waren geflohen, die Zivilisten versteckten sich. Die Hauptverkehrsstraßen waren allesamt in der Hand von motorisierten amerikanischen Soldaten, die Zigaretten und Schokoladenriegel in die Massen befreiter Sklaven schleuderten, die in einem Gewirr aus verschiedenen Sprachen jubelten und sangen. Ganz Europa schien vertreten. „Wie beim Turmbau zu Babel!“, sagte Magda kopfschüttelnd. „Ich kann´s kaum glauben.“

aus einer Zeitung zum Tag der Befreiung, die 1995 in Göttingen herausgegeben wurde: www.gwdg.de/-gwgoe/extrablatt/

In den Mai

Schreibe einen Kommentar