Der Vertrauensbruch

Ein Lehrstück in parlamentarischer Demokratie

Vor einigen Wochen unternahm der Bundesrat den ersten Versuch das Einwanderungsgesetz nach langer Debatte letztlich zu verabschieden. Es war im voraus abzusehen, dass die entscheidende Stimme jene Brandenburgs sein würde, denn dort schieden sich die Geister, da die Regierung Brandenburgs aus einer Koalition von CDU und SPD besteht, welche je gegensätzliche Auffassungen vertreten. In der entscheidenden Bundesratssitzung nun wertete “Wowibär” als Bundesratspräsident das Votum Brandenburgs als Zustimmung zum Gesetzesvorschlag, was auf heftige Kritik seitens des Koalitionspartners (Schönbohm, CDU) stieß und deutlich machte, dass die Koalition (wohl eher Zweckehe als Liebesheirat) sich im Vorfeld nicht hatte einigen können.

Nun folgte der vorher geplante demonstrative Protestauszug der CDU aus der Bundesratssitzung. Die verbliebenen Abgeordneten wußten nicht so recht “was nun” und begannen darüber zu streiten, ob das Verhalten der SPD, der CDU und eigentlich aller korrekt sei. Sie entschlossen sich, Experten zu befragen und erneut zu tagen. Die ”öffentliche Meinung“ zeigte sich schwer empört ob eines solch unverantwortlichen Verhaltens der Politiker, ”Vertrauensbruch!“ und ”unverantwortliches Handeln!“ hieß es da.

Die Frage, die bleibt, ist: War es dies tatsächlich, oder können wir hier nicht “real existierende Demokratie” in Reinform studieren?

Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, was mensch unter ”Politik“ versteht. Meint mensch mit ”Politik“ die Arbeit der parlamentarischen hauptamtlichen Repräsentanten in unserer real existierenden Demokratie, erscheint ”Politik“ als eigenes Problemfeld neben vielen anderen. So gesehen ist Politik ein Bereich, der eigene ”Spielregeln“ hat und sich von anderen Bereichen klar trennen lässt. Die damit verbundene Aufteilung von Lebensbereichen (z.B. Kultur/Gesellschaft/Politik/Soziales/Ausländer/ Umwelt/ Wirtschaft) ist eminent wichtig für das Bestehen des Kapitalismus als Herrschaftsform. Denn nur indem alles separat von einander behandelt wird, können Widersprüche im System kanalisiert und unsichtbar gemacht werden.

Ein derartiger Widerspruch ist bspw. bei in Lohn und Brot stehenden Menschen zu beobachten. Als VerkäuferIn im Supermarkt sagt mensch für alles und jedes mechanisch ”Dankeschön“, ”Schönen Tag noch“ etc. Sobald allerdings Feierabend ist, versteht mensch sich als ”Kunde König“ und möchte mit dem Entgegenkommen behandelt werden, dass ihm schließlich ”zusteht“.

Hier zeigt sich das funktionale Rollenverhalten im Alltag: vom Bediensteten zum ”Kunde König“ trennt uns nur ein Anstecker. Gleichzeitig wird so eine Art Schizophrenie begünstigt. (Siehe dazu S. 12 in diesem Heft)

Hinzu kommt eine sich ausbreitende Individualisierung. Nicht genug, dass wir in ”Funktionen“ agieren, wir sind auch für unser Geschick, das eigene Humankapital gut anzulegen, allein verantwortlich und haftbar. Ein weiterer Aspekt ist, dass parlamentarische Demokratie eigentlich undemokratisch ist, da von einigen über viele andere entschieden wird. (Wenn mensch den Repräsentanten nicht telepathische Fähigkeiten zusprechen will.)

Begreift mensch ”Politik“ in einer weiter gefassten Bedeutung, außerhalb des engen parlamentarischen Rahmens als die Organisierung des Zusammenlebens der Menschen betreffend, ist Moral durchaus integraler Teil der Politik. Denn hier fällt die Aufteilung des gesellschaftlichen Lebens in einzelne Funktionen weg. Das Ziel von Politik kann dann nicht pures Stellvertretertum und Konkurrenz sein, sondern die Verbesserung der Lebensumstände unter Mitwirkung der Betroffenen. Das heißt: alle machen gemeinsame Anstrengungen, die dann auch allen zugute kommen. Innerhalb dieses Politikbegriffes ist es nicht möglich, die Formalia konsequent von den Inhalten zu trennen, wie es bspw. in oben erwähnter Debatte geschah, dass die Einhaltung der Regeln die inhaltliche Debatte dominierte. Zusammengefasst heißt das: es gab keinen Vertrauensbruch, da Parlamentarismus nicht auf solidarischen Verhalten basiert, sondern (besonders vor der Wahl) auch Machtkampf ist. Trotz alledem kann mensch davon ausgehen, dass auch die Parlamentarier wissen, dass sie “unter sich” sind und auch nach diesem ”Eklat“ noch gemeinsam Kaffee trinken werden.

Was mensch nicht vergessen sollte: die real existierende Demokratie in der wir leben, ist weit davon entfernt direkte Demokratie zu sein, und will es auch gar nicht sein. Die parlamentarische Demokratie ist schlicht Verfahrens bzw. Gesetzesherrschaft. Das, worüber sich die “öffentliche Meinung” an dem ”Polit-Theater“ empörte ist nicht, dass mensch veralbert wird, sondern dass die Damen und Herren Repräsentanten sich nicht an die Regeln gehalten haben. So ist dieser Vorfall eine eindrucksvolle Demonstration davon, dass PolitikerInnen sich um die postulierten Regeln nicht im mindesten scheren. Der Regelbruch als Inszenierung, die das Interesse der Öffentlichkeit fesseln soll. Immerhin Regeln, die uns als sakrosankt präsentiert werden, die bei Strafe des Untergangs “unserer Gesellschaft” nicht angetastet werden dürfen … so stellt es sich auf der Bühne dar, was im Backstage passiert, das ist “nicht von Interesse”.

lotte b.

Wahl

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