Vom Denken in schwierigen Zeiten

Über Johannes Agnolis „Die Subversive Theorie“

Ein kluger Mensch – ich glaube, es war Christian Riechers – hat den Marxismus mal als eine „Theorie der Niederlage“ bezeichnet. Der Gedankengang dahinter ist so schlicht wie einleuchtend: In einer revolutionären Situation, wenn die Leute massenhaft revolutionär handeln, ergibt sich das entsprechende revolutionäre Denken von selbst. Schwieriger sind die Flauten zwischen solchen Zeiten, die oft mehrere Jahrzehnte dauern, wo zwar die Verhältnisse genauso elend sind, wie sie es den größten Teil der Menschheitsgeschichte über waren, aber jeder Widerstand fast aussichtslos erscheint – und gerade dann braucht es die Theorie, wenn mensch sich von der schlechten Realität nicht vollends blöd machen lassen will.

In diesem Sinne verstand auch Johannes Agnoli seine „Subversive Theorie“, oder, um die Sache mal aufzudröseln, die Aufgabe der Subversion wie der Theorie – als Gegenmittel für schlechte und Vorarbeit für bessere Zeiten. Oder, in seinen eigenen Worten, gerade dann, wenn „die Revolution gezwungen ist zu überwintern, [ist] ein Impuls zu Subversion notwendig […], sei es, um die soziale Spannung, oder sei es, um die Hoffnung auf eine radikale Änderung aufrechtzuerhalten.“ Die entsprechenden Gedankengänge entwickelte Agnoli in einer Vorlesungsreihe, die im Oktober 1989 begann – also in schöner Parallelität zu den weltgeschichtlichen Ereignissen, in denen der östliche „real existierende Sozialismus“ sein keineswegs bedauerliches Ende fand.

Nun ist die „Subversion“ als Begriff in den letzten Jahrzehnten schon arg geschunden und überdehnt worden – wenn irgendwer sich irgendwo ein irgendwie revoluzzerhaft-widerständiges Ansehen geben will, dann muss fast immer die arme Vokabel „subversiv“ dafür herhalten. Agnoli benutzte den Begriff allerdings anders, im präzisen, hergebrachten Sinne: „subvertere, das Unterste nach oben kehren, umstülpen“, also ganz im Sinne des von Marx formulierten kategorischen Imperativs, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ Das ist nicht neu, aber die Klassengesellschaft ist ja auch eine jahrtausendealte abgeranzte Scheiße – solange uns dermaßen alte Probleme belästigen, bleiben die alten Forderungen aktuell.

Freilich ist die Klassengesellschaft von den sozialen Klassenkämpfen, von „oben“ wie von „unten“, stetig neu geprägt und verändert worden. So gibt es logischerweise auch nicht die Subversion, die eine Subversion schlechthin als irgendwie außergeschichtliche Größe, sondern vielmehr viele Formen der Subversion – und diese versuchte Agnoli in seinen Vorlesungen, durch die (europäische) Geschichte hinweg zu verfolgen und nachvollziehbar zu machen. Ein einigermaßen ambitioniertes Unterfangen, das aber in seiner Durchführung keineswegs so trocken ausfällt, wie mensch vielleicht befürchten könnte. Dafür sorgen nicht nur Agnolis Humor und seine lockere Vortragsweise. Vielmehr zeigt er in seiner Untersuchung immer wieder auf, dass die Konflikte „von früher“ auch heute noch nicht erledigt sind, und verdeutlicht, wie weit wir uns heute noch in den Fluchtlinien vergangener Klassenkämpfe bewegen.

Dabei ist der gespannte Bogen denkbar groß: Von Eva angefangen (wobei Adam eher schlecht wegkommt), geht es weiter über die griechische Sophistik, die Auseinandersetzungen zwischen Plebs und Patriziern im alten Rom, die millenaristischen Sekten des Mittelalters bis in die Neuzeit hinein, zu den Levellers und Diggers der englischen Revolution und zu den französischen Enzyklopädisten. Agnoli widmet sich also nicht nur den Bewegungen „an der Basis“, sondern macht – fast im Vorübergehen – deutlich, welche gesellschaftlichen Konflikte sich hinter vielen philosophischen und theologischen Debatten der Vergangenheit verbargen. Auch die Geschichte der Religion ist eben eine Geschichte von Klassenkämpfen, und die Geschichte der Philosophie sowieso.

Nun sind die ausgeteilten Denkanstöße zu zahlreich, als dass sich hier im Einzelnen auf sie eingehen ließe. Als Anregung zum kritischen Gebrauch des eigenen Hirns – als Mittel also, um sich den herrschenden Verhältnisse gegenüber wenigstens ein Stück gedankliche Freiheit zu erarbeiten – taugt diese „Subversive Theorie“ jedenfalls allemal sehr gut. In der Provinz Deutschland wird es wohl noch etwas länger dauern, bis sich wieder eine revolutionäre Situation ergibt. In der Zwischenzeit lohnt es sich, dieses Buch zu lesen.

[justus]

 

Johannes Agnoli: „Die Subversive Theorie. ‚Die Sache selbst’ und ihre Geschichte“, Schmetterling Verlag 2014, 266 Seiten

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