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Krawalle für alle

Zu den Ereignissen vom 12. Dezember 2015

Statt dem geplanten „Sternmarsch auf Connewitz“ wurde es doch nur ein müder Spaziergang durch die Südvorstadt. Kein Wunder, denn neben Silvio Rösler mit seiner Offensive für Deutschland und Thügida hatte sich auch der notorische Christian Worch mit seiner Partei Die Rechte angemeldet – und der hat schließlich jahrelange Erfahrung, wie man mit solchen Aufmarschversuchen ordentlich scheitert. Am Ende waren es nur 135 bis 150 Hanseln, die ein paar hundert Meter durch die Südvorstadt latschten, von der Polizei großzügig mit Hamburger Gittern abgeschirmt.

Der Nazi-Aufmarsch selbst war somit nicht weiter beachtenswert. Die damit beabsichtigte Provokation gelang aber durchaus. So waren auch die lokalen Antifa-Sportgruppen an diesem Tag besonders sportlich unterwegs und mühten sich redlich, den guten schlechten Ruf zu verteidigen, den Connewitz sich im Lauf der Jahre erarbeitet hat. Der Krawall gestaltete sich dabei zwar ziemlich flächendeckend, aber eben darum auch wenig zielgenau. Brennende Mülltonnen ergeben zwar hübsche Pressefotos, nützen nur praktisch wenig, wenn sie mehr als einen Kilometer von der Aufmarschroute entfernt sind. Aber so macht mensch das eben, wenn man einerseits hübsch militant sein, sich aber andererseits nicht mit der Polizei ins Gehege kommen will…

Die Polizei ließ sich ihrerseits nicht lumpen und brachte an diesem Tag nicht nur vier Wasserwerfer, sondern auch jede Menge Tränengas zum Einsatz, was in der belebten Südvorstadt natürlich eine total dufte Idee war. So wurden an diesem Tag – mal mehr, mal weniger zielgenau – exakt 78 CS-Gas-Kartuschen verschossen. Ob die Polizei sich damit einen Eintrag im Guinessbuch der Rekorde sichern oder vielleicht auch nur ihre gammeligen Lagerbestände loswerden wollte (1), konnte noch nicht abschließend geklärt werden.

 

Keine Gewalt – sonst knallt´s!

Das Ausmaß an Gewaltbereitschaft (2), das da zu Tage trat, war natürlich schockierend – wobei die Beamten bekanntlich für so was bezahlt werden, also schon per Definition keinerlei „Gewalt“, sondern nur ihren Beruf ausüben. Umso empörter war die bürgerliche Öffentlichkeit über die Ausschreitungen der fiesen Autonomen.

Auch hier zeigte sich wieder das bekannte Fallgesetz des öffentlichen Diskurses: So wie ein fallender Gegenstand umso mehr an Geschwindigkeit gewinnt, je mehr er sich von seinem Ausgangspunkt entfernt, so drehten die Beteiligten der nachfolgenden „Debatte“ umso doller am Rad, je weniger sie von den Krawallen selbst direkt betroffen waren. Der Chef des Café Puschkin zum Beispiel war bei Ereignissen sehr nah dran gewesen (so wurden die Puschkin-Sitzbänke für Barrikadenbauversuche zweckentfremdet). Er äußerte sich in einem Facebook-Kommentar also ziemlich unaufgeregt und sarkastisch: „Wir danken der Stadt Leipzig und dem verantwortlichen Amt in Bautzen für den gestrigen Tag. Durch die Entscheidung eine Gruppe von Vollidioten mit der Androhung unser Stadtteil in Schutt und Asche legen zu wollen, ‚demonstrieren’ zu lassen, hatten wir einen tollen Tag. Ich wollte schon immer mal Wasserwerfer und Panzerwagen vorm Laden sehen, auch wusste ich bisher nicht wie Tränengas schmeckt.“

Umso aufgeregter waren dagegen viele Leser_innen des Leipziger Zentralorgans LVZ, die von dem Geschehen selbst nichts mitbekommen hatten und nun, aufgrund der nachfolgenden Berichterstattung, vermutlich meinten, von der Südvorstadt sei nach den Krawallen nur noch ein rauchender Krater zurückgeblieben. So wurde in einer LVZ-„Leserdebatte“ vom 18. Dezember 2015 gar nicht groß debattiert, vielmehr waren sich im Prinzip alle einig, ganz nach dem Motto: Schlimm, diese Kriminalität – die sollte man wirklich verbieten!

Ein Leserbriefschreiber machte z.B. folgenden glorreichen Vorschlag: „Woher stammt die Angst der Verantwortlichen, einen ‚Ausweis für Gewaltlosigkeit’ einzuführen, den jeder, der demonstrieren will, vorher zu unterschreiben hat? Tut er es nicht, verliert er so lange das Recht auf Demonstration, wie er diese Unterschrift verweigert.“ (3) Der gute Mann hat vermutlich noch nie an einer Demonstration teilgenommen – wer demonstriert, will ja immer irgendwas geändert haben, was schon mal mangelnde Staatstreue anzeigt und deswegen verdächtig ist. So kennt sich unser Leserbriefverfasser mit den Abläufen bei Demonstrationen wahrscheinlich nicht so aus und kann darum natürlich auch nicht wissen, dass dort bereits heute schon ein generelles Steineschmeißverbot herrscht. Und dass es Leute gibt, die sich trotzdem nicht dran halten, das dürfte für ihn schlicht unfassbar sein, denn: Wenn etwas verboten ist, dann darf man das doch nicht machen!

Ein anderer Leserbriefschreiber dekretierte: „Bürger, die den Staat bekämpfen, haben das Recht verwirkt, die Vorteile des Staates zu nutzen. Milde ist gegen derartige Bürger keinesfalls gerechtfertigt.“ Der Mann fühlte sich durch die begangenen Rechtsverletzungen offenbar so dolle in seinem Empfinden verletzt, dass er den Rechtsstaat sofort über den Haufen werfen wollte. Das wirft dann aber allerlei verzwickte Fragen auf: Haben „derartige Bürger“ nun auch das Recht auf eine ordentliche Beweisaufnahme und ein Gerichtsverfahren verloren? Falls ja: Wie entscheidet man dann, wer zu den „Derartigen“ dazugehört? Frei nach Lust und Laune? Und nach welchen Rechtsgrundsätzen soll man die Leute überhaupt noch verurteilen, wenn sie doch alle Rechte „verwirkt“ haben? Hoffen wir mal, dass Polizei und Staatsanwaltschaft auf solche Sonderwünsche aus der Bevölkerung keine Rücksicht nehmen…

Empört war offenbar auch der Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung: „Diese Gewalt von Anarchisten und sogenannten Autonomen ist schockierend. Hier waren Kriminelle am Werk, die vor nichts zurückschrecken. Das ist offener Straßenterror“, äußerte er sich in einer Pressemitteilung (4). Wahrscheinlich weiß Burkhard Jung gar nicht genau, was „Anarchisten“ sind. Er hat aber im Lexikon nachgeguckt und konnte somit der LVZ nähere Auskunft geben: „Hier steht uns eine Gruppe gegenüber, die diesen Staat abschaffen will.“ (5) Gegen die müsse man mit rechtsstaatlichen Mitteln „mit aller Härte“ vorgehen.

Genau. Anarchisten wollen den Staat abschaffen – das ist aber eine ganz klar politische Zielsetzung, was Jungs gleichzeitig geäußerter Meinung, man hätte es mit schlichten Kriminellen zu tun, sehr deutlich widerspricht. Ansonsten mag die Einschätzung des OBMs richtig sein oder nicht – in jedem Fall sind die möglicherweise gehegten langfristigen Ziele mancher Beteiligter kein geeigneter Maßstab, um das Geschehen zu beurteilen. Der 12.12. war eben kein Auftakt zur Weltrevolution, sondern nur der erfolglose Versuch, eine zahlenmäßig unbedeutende Nazidemo zu verhindern. So wurden zwar diverse Mülltonnen sowie einiges anderes kaputtgemacht, der Fortbestand des deutschen Staates war an diesem Nachmittag aber zu keiner Sekunde ernsthaft bedroht – falls doch, müssten wir auch über das Mülltonnenanzünden noch mal neu diskutieren.

 

Der kleine Aufstand zwischendurch

Nun überschätzt aber nicht nur der Oberbürgermeister die Randalierer, sondern scheinbar auch die Randalierer sich selbst. Diesen Eindruck erweckte jedenfalls ein Text, der u.a. bei Indymedia verbreitet wurde und mit „Insurrektionalistische Linke / Undogmatische Gruppen“ unterzeichnet war. (6) Die anonymen Verfasser_innen freuten sich, weil an diesem Tag soviel an Zeug kaputtgegangen war: „Wir gratulieren zu den Angriffen auf die Sparkasse und den Rewe am Connewitzer Kreuz, auf das großflächige Zerklimpern der Bundesbank, den etlichen zerschepperten Werbetafeln, den vielen in Brand gesteckten Mülltonnen, die zu Barrikadenzwecken auf die Straße gezogen wurden, zu dem Zerstören der LVB-Haltestellen, der Sabotage der Eisenbahnschienen, zu jedem einzelnen Reifen, der auf die Straße gezogen und in Brand gesteckt wurde, zu jeder eingedellten Bullenkarre“… Und so weiter. Wie man sieht, wurde an diesem Tag eine ganze Latte an unterdrückerischen Einrichtungen zerschlagen.

Es folgte ein bissel Manöverkritik, die inhaltlich aber auch nicht weiter bemerkenswert war: „Wir bekommen es nicht hin, richtig gute Barrikaden zu bauen, und wir bekommen es auch nicht hin, den Bullen so richtig zuzusetzen.“ Ähnlich tiefschürfend die folgende Bemerkung: „Was uns aufgefallen ist: Es scheint so eine gewisse Scheu davor zu geben, sich eine Hassi anzuziehen. Aber gerade für das Gesicht ist sie das A und O der Vermummung. Mütze und Schlauchtuch sind nichts dagegen.“ Das wirft immerhin spannende Fragen auf. Zum Beispiel die Frage, an welchen Körperteilen man sich denn sonst noch mit einer Hasskappe vermummen könnte, wenn man sie zur Abwechslung mal nicht „gerade für das Gesicht“ benutzen will – am Knie vielleicht?

Aber lassen wir die blöden Witze. Denn im Anschluss wird es richtig ernst und grimmig, wenn sich die Verfasser_innen von der unsolidarischen Linken distanzieren, die „sich immer und immer wieder distanziert“. Denn merke: „Wer die Möglichkeit zum Krawall abgibt, hat seine Untertänigkeit bereits bewiesen. Von ihm/ihr ist kein Widerstand mehr zu erwarten. Ihr steht auf der Seite der Herrschenden und bettelt um ein Stückchen Macht. Ihr und wir gehören nicht zusammen. Ihr müsst nicht mitmachen und könnt einfach eure Aktionen machen, wir hindern euch nicht und distanzieren uns nicht, aber wenn ihr nicht solidarisch seid, sondern euch distanziert, dann gehört ihr zur SPD, den Grünen und zur Linkspartei. Bitte lasst uns in Ruhe.“

Man merkt, diese aufständischen Linken sind zwar nach außen hart, aber innen doch ganz weich. Wenn andere Linke sie kritisieren, dann kümmert das unsere Flugblattschreiber_innen einerseits überhaupt nicht, aber insgeheim fühlen sie sich doch davon verletzt. Da schreibt mensch sich schnell in Rage und textet flugs eine Menge Unsinn zusammen.

Erstens kommen eventuelle Distanzierungen ja immer erst hinterher, wenn der eigentliche Krawall schon vorbei ist. Es ist also schlicht dummes Gejammer, dass man selbst keine Aktionen mehr machen könnte, wenn andere Leute sich nachträglich davon distanzieren. Zweitens geht es den Verfasser_innen auch gar nicht um die bloße „Möglichkeit zum Krawall“, weil sie die Möglichkeit, dass ein Krawall in manchen Momenten auch mal nicht sinnvoll sein könnte, gar nicht in Betracht ziehen. Die Frage lautet für sie nicht etwa: „Krawall oder nicht?“, sondern nur noch: „Wickeltuch oder Hasskappe?“ Krawall gilt ihnen in jedem Fall als das richtige, weil angeblich wirkungsvollste Mittel. Wer den Krawall im konkreten Moment für sinnlos hält oder einfach persönlich keine Lust hat, sich mit der Polizei zu kloppen (bzw. sich von dieser verkloppen zu lassen), hat eben nicht kapiert, was die richtige revolutionäre Strategie ist und damit dann direkt seine „Untertänigkeit“ bewiesen. Im Gegenzug stellt jede kaputte Schaufensterscheibe einen Auftakt zum kommenden Aufstand dar.

Distanzieren muss man sich davon tatsächlich nicht, weil einerseits für die jeweiligen Aktionen ohnehin nur diejenigen verantwortlich sind, die daran teilnehmen, und andererseits, weil der moralisch erhobene Zeigefinger auch nur ein schlechter Ersatz für inhaltliche Kritik ist (7). Wenn es das Hauptziel der Verfasser_innen ist, „den Bullen so richtig zuzusetzen“, kann man ihnen dabei nur Glück und gute Besserung wünschen. Um alles Weitere kümmern sich Polizei und Staatsanwaltschaft dann schon im Rahmen ihrer Berufsausübung, womit bei allem Krawall doch alles in der hübsch gewohnten Ordnung bleibt.

Überhaupt lässt sich darüber streiten, ob die üblichen Krawalltaktiken nun wirklich dermaßen wirkungsvoll sind – wie sich beobachten lässt, sind die Beteiligten die meiste Zeit über mit Weglaufen beschäftigt. Vollends sinnlos ist es, den „Aufstand“ als rein taktisches Problem zu behandeln, wie die Verfasser_innen es tun. Ein wirklicher Aufstand müsste schon etwas mehr bewirken als kaputte Mülltonnen und Fensterscheiben, nämlich grundsätzlich neue, auch längerfristig veränderte zwischenmenschliche Beziehungen herstellen. Das ist durch exemplarische Kleingruppen-Action nicht zu leisten. Auch der vermehrte Einsatz von Hasskappen wird da wenig weiterhelfen.

justus

 

(1) www.lvz.de/Specials/Themenspecials/Legida-und-Proteste/Legida/Bei-Dezember-Krawallen-in-Leipzig-wurde-abgelaufenes-Reizgas-eingesetzt

(2) vgl. demobeobachtung.noblogs.org/post/2015/12/13/pressemitteilung-der-demonstrationsbeobachtung-leipzig-zum-12-12-2015/

(3) dokumentiert unter linksunten.indymedia.org/de/node/162684

(4) www.leipzig.de/news/news/oberbuergermeister-burkhard-jung-zu-den-ausschreitungen-am-12-dezember-2015-in-leipzig/ (5) siehe www.lvz.de/Leipzig/Lokales/Krawalle-in-Leipzig-Jeder-wusste-was-kommt

(6) linksunten.indymedia.org/de/node/167216

(7) Kritik und allgemeine Solidarität schließen sich natürlich nicht aus, bzw. würde unsolidarische Kritik noch mal ganz anders ausschauen. So würde ich z.B. Neonazis nicht ausgerechnet für ihre taktischen Fehler kritisieren – davon können die gern so viele machen, wie sie wollen.

Die Redaktion … läuft

sich die Hacken wund

auf der Suche nach der richtigen Füllung für die neue, 55. Ausgabe vom Feierabend!, die dieses Mal von einigen neuen Autoren gefüttert wurde. Wir sind schon gespannt, wie die Themen der aktuellen Gazette bei unseren LeserInnen ankommen werden, aber fest steht, dass die Feierabend!-Redaktion einen langen Atem hat und immer noch Feuer spuckt!

balu

 

im Hamsterrad

Sicher passt der Vergleich nicht ganz – Hamster fahren bekanntlich voll darauf ab, im Laufrad rumzulaufen. Einen Menschen kann das aber wirklich mürbe machen, immer in Bewegung zu sein, ohne von der Stelle zu kommen, wie es die Lohnarbeit mit sich bringt. Seit einigen Monaten gehe auch ich nun einer geregelten Beschäftigung nach. Im Call Center, was sicher nicht das Geilste von der Welt, aber immerhin ganz okay ist. Die Kolleg_innen sind großteils sympathisch, die Kund_innen meist nett und die Tätigkeit halbwegs sinnvoll. Kann man machen, wenn man muss.

Aber natürlich ist Arbeit ein gesellschaftliches Zwangsverhältnis, egal, wie nett der Zwang sich auch gestaltet. Ein Hamsterrad eben, bei dem man die eigene Lebenszeit an irgendwelche Kapitalist_innen verkauft, um das Geld zu verdienen, das einem dann von anderen Kapitalist_innen wieder weggenommen wird. Arbeiten, um Geld zu kriegen, um sich Nahrung, Wohnung, Kleidung usw. kaufen zu können, die man braucht, um weiter arbeiten zu können. Und generell nervt es natürlich, dass dabei viel zu wenig Zeit für einen selber… Verdammt, ich muss Schluss machen. Arbeiten gehen.

justus

 

amoralischen amok

mit pantinen aus panzergarn. ri ra rutsch, wer fährt mit der schwäbschen eisenbahn? nicht die redaktion, sie läuft ins abseitige, ins gebüsch, nein halt, doch nur über die plastegrüne wiese zur autobahnraststätte, wo die fliessbandbabies ihr trauriges bodypainting herzeigen. fi fa futsch, wer flüstert dir ins ohr, dieses land hier sei es nicht, damit du es nicht vergisst? die redaktion, na klar! in diesem sinne, pfui spinne auf das kältere dytshland, läuft bei dir ehrenamt im untergrundverband? amokamoröse grüsze vom laktoseintoleranten vulkan der ferne!

sam

durch den Wald

Oder besser gesagt: Will eigentlich gern regelmäßig durch den Wald laufen, kommt aber dann irgendwie doch nie dazu. Es gibt einfach zu viele Gründe, die eine_n dann doch davon abhalten. Hitze, Kälte, falsche Tageszeit, Müdigkeit, Mathehausaufgaben (die man dann doch nie macht) usw. Dabei scheint das „Laufen“ an sich für viele Menschen eine sehr bedeutende Rolle im Leben zu spielen. „Wie läuft‘s?“ ist oft das erste, wonach sich Menschen bei mir erkundigen, wenn sie mir begegnen. Beliebt sind außerdem das etwas weniger sportliche „Wie geht‘s?“ oder auch „Was geht?“ für Leute, die noch nicht genau wissen, wer oder was sich da eigentlich fortbewegen soll. Ich sage dann oft einfach „gut“ (was es bedeutet, gut zu laufen oder zu gehen, ist nicht offensichtlich. Mir sei aber der Verweis auf Monty Python‘s „Ministry of silly walks“ erlaubt) oder, ebenso kryptisch wie die Frage, „`s läuft“, manchmal auch „geht so“.

Na gut, ich gebe zu, die meisten Menschen erkundigen sich nicht nach der Art, wie ich physisch meine Position im dreidimensionalen Raum verändere, sondern nach meinem Befinden. Wie aber die Fragestellung nahelegt, ist dieses in unserer Gesellschaft sehr stark mit einem persönlichen Fortkommen verbunden. Denn nur wer sich beständig weiter entwickelt, immer lernt und nicht müde wird, sich an der Karriereleiter immer höher zu hangeln, hat die Chance (und in der bürgerlichen Ideologie überhaupt das Recht) auf ein gutes Leben. Wer nicht kräftig strampelt, verliert das Gleichgewicht und fällt auf die Nase. Und wer unten liegt, darf kein schönes Leben haben. Wenn sie_er‘s doch hat, ist sie_er faul, ein Schmarotzer_in oder eine linke Zecke.

An dieser Stelle kommt auch wieder der Zusammenhang zur echten, sportlichen Fortbewegung, zum Laufen zustande. Körperliche Fitness, welche durch den Sport erreicht werden soll, kann nämlich wunderbar in mehr Arbeit umgesetzt werden. Menschen, die nicht für ihre Gesundheit sorgen, leisten weniger und beanspruchen evtl. noch Geld von der Krankenkasse, sind also ebenfalls „Parasiten“. In dieser Ideologie wird der eigene Körper letztendlich der freien Entscheidung des Individuums entzogen und dem gesellschaftlichen Interesse unterstellt. Er wird zum „Corpus Delicti“.

Da ich diese bürgerlichen Wertvorstellungen ziemlich scheiße finde und ich beim Nachdenken über all das sowieso jede Lust auf Fortbewegung, und zwar sowohl im physischen, wie auch im gesellschaftlich-bürgerlichen Sinne, verloren habe, bleib ich heute lieber sowohl auf meinem physischen, als auch auf meinem sinnbildlichen kapitalismuskritischen Sofa liegen und genieße den Stillstand.

trk

Leser_innenbrief FA! #55

Sagt mal, Feierabend! – geht‘s noch? Was sollte das denn?

Vorsichtig formuliert, ist der Inhalt eures Kommentars aus der Ausgabe 54 bestenfalls „kontrovers“, aus meiner Sicht leider wenig „libertär“. Daher wunderte ich mich sehr, dass ihr nicht wenigstens ein „Pro-Contra“-Thema draus gemacht habt… Zwei Junkies, die beim Klauen erwischt wurden, sind nicht dem Staat überantwortet worden, sondern es wurde das Naheliegendste durchgezogen: Das Diebesgut wurde ihnen abgenommen und es wurde vor Ihnen gewarnt (auf Mailinglisten, also einem relativ begrenzten Szene-Rahmen, nicht durch wildes Plakatieren oder Ähnliches). Das als „bürgerlich“ zu beschimpfen ist einfach nur absurd! Weder wird wirklich argumentiert, warum die bemängelte Aktion der „Selbstjustiz“ nun „Unrecht“ war, noch macht der Autor die Wertmaßstäbe für seine eigene Moral klar. Die ergriffenen Maßnahmen werden verurteilt ohne eine Alternative zu beschreiben – oder soll es etwa emanzipatorisch sein, die Polizei zu rufen? Falls das behauptet werden sollte, dann soll der Autor doch bitte mal ´nen Artikel schreiben warum das bürgerliche Rechtssystem (dem er die zwei Junkies gerne übereignet hätte) eigentlich eine anarchistische Form des Umgangs mit Konflikten darstellt! Ich war wirklich geschockt, denn der Text trieft vor einer bürgerlichen Moral – in der die Schuldigen ihrer gerechten Strafe durch die neutrale Polizei zugeführt werden sollten – und verurteilt den Versuch, mit einer schwierigen Situation selbst umzugehen, der (wie „primitiv“ und unperfekt er auch immer sein mag) eigentlich solidarische Kritik und Anerkennung verdient hätte. Ganz nach dem Motto „fragend schreiten wir voran“… Ich hoffe, Ihr findet eine der beteiligten Personen, die eine Gegendarstellung schreibt…

konne

 

Hey konne,

schön, dass du den Kommentar als kontrovers empfindest. Kontroversen sind ja prinzipiell eine feine Sache, und fragend Voranschreiten klappt eben auch nur, wenn man nicht bloß rhetorische Fragen stellt, wie „soll es etwa emanzipatorisch sein, die Polizei zu rufen?“

Diese Fragestellung geht nämlich an der Sache großzügig vorbei. Was Leute tun und was sie bleiben lassen, sind zwei verschiedene Dinge. Wenn du das Handeln von Leuten beurteilen willst, musst du dir auch dieses selbst mal anschauen. Ist ja schön und gut, dass die beteiligten Wagenplätzler_innen nicht die Polizei gerufen haben – aber was haben sie denn stattdessen getan?

Naheliegend wäre es gewesen, die beiden Junkies mit der Ansage „Haut ab und kommt nicht wieder“ nach Hause zu schicken – umso mehr, weil die beiden wohl gar nicht beim Klauen erwischt wurden, sondern bloß vermutet wurde, das sie klauen wollten. Aber so geht das eben bei der Selbstjustiz: Gerade die Grundsätze, die an der bürgerlichen Rechtssprechung sinnvoll sind, werden meist als erste fallengelassen – etwa die Unschuldsvermutung.

Dann auf bloßen Verdacht hin eine selbstorganisierte Hausdurchsuchung zu veranstalten und zur Beschlagnahmung vermeintlichen Diebesguts zu schreiten, ist auch nicht gerade ein Musterbeispiel für „emanzipatorisches“, nicht mal für pragmatisches Verhalten. Und nebenbei erwähnt, wird eine Denunziation auch nicht besser, wenn sie „nur“ im halböffentlichen Rahmen einer Mailingliste läuft (dort dann allerdings mit allem Drum und Dran, inklusive Fotos und Angabe der Wohnadresse).

Viel mehr als das Bestreben, die eigene subkulturelle Nische mit allen nötigen oder auch unnötigen Mitteln zu verteidigen, ist darin nicht zu erkennen. Es fragt sich, wofür du den Beteiligten hier „Anerkennung“ zollen willst. Weil sie sich in dieser ja doch arg „schwierigen Situation“ so wacker geschlagen haben?

Im Übrigen scheinst du den Kommentar recht persönlich genommen zu haben, zumindest lässt dein Tonfall das vermuten. Auch da fragt sich, woher das kommt – man muss ja nicht zwanghaft mit allem einverstanden sein, was Leute so machen, nur weil diese zufällig im selben Milieu rumhängen wie man selbst. Könnte es vielleicht sein, dass du dich von der Kritik in deiner Identität betroffen fühlst? Deine Frage „soll es etwa emanzipatorisch sein, die Polizei zu rufen?“ weist haargenau in diese Richtung. Viel mehr als die Aussage „in unseren Kreisen macht man das nicht!“ steckt in dem Satz leider nicht drin. Und das ist nun mal kein Argument, sondern nur eine Beschwörung der eigenen Identität.

In dieser Hinsicht ist dein Leserbrief ähnlich symptomatisch wie die Aktion selbst. Es ist natürlich ärgerlich, wenn man feststellen muss, dass sich die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft nicht einfach aussperren lassen – wenn man das plötzlich bemerkt, kann man schon mal überreagieren, sei es nun verbal oder handgreiflich. Wobei es immerhin schön ist, dass du dich mit dem Thema mindestens ein paar Minuten lang beschäftigt hast, wie dein Brief zeigt. An der Stelle könntest du ansetzen und deine Position noch mal überdenken.

In diesem Sinne…

justus

P.S.: Der Kommentarschreiber shy hatte keinen Bock, dem Leserbrief etwas zu erwidern. Ich weise darauf hin, dass es sich bei meiner Antwort um eine individuelle Äußerung handelt, die nicht notwendig der Meinung der FA!-Gesamtredaktion entspricht.

Ein Dings für Deutschland

Für Deutschland kann gar nicht oft genug demonstriert werden, gerade jetzt, wo es von bärtigen Barbaren überrollt zu werden droht. Das dachte sich wohl auch Silvio Rösler. Nachdem er Mitte Juni 2015 mehr oder weniger freiwillig aus dem LEGIDA-Organisatorenkreis ausgestiegen war, trommelte Rösler einige seiner alten Kumpels aus der Leipziger Hooliganszene zusammen, um künftig sein eigenes Ding zu machen. „Offensive für Deutschland“ nennt sich das Baby, das zwar noch gewisse Artikulationsschwierigkeiten hat, aber immerhin schon laufen kann.

Freilich kam die Offensive schon beim ersten Aufmarsch-Versuch am 26. September ins Stolpern. Nur etwa 350 Nasen fanden sich auf dem Augustusplatz ein, was deutlich zu wenig war, um den fiesen Gutmenschen etwas entgegenzusetzen. Eine antirassistische Demonstration, die vom Rabet aus in die Innenstadt zog, brachte etwa 700 Menschen auf die Straße, insgesamt stellten sich wohl gut 2000 Leute den Faschos entgegen. Deren Marschroute war von der Polizei zwar weiträumig mit Hamburger Gittern umbaut worden, was aber nicht verhinderte, dass einige eher sportlich motivierte Antifas vor dem Neuen Rathaus den Aufmarsch und die Polizei mit Steinen und ähnlichen Wurfgegenständen angriffen. Dabei wurden wohl auch unbeteiligte Gegendemonstrant_innen verletzt*, was tatsächlich mies ist – bei solchen Aktionen sollte mensch besser auf den Sicherheitsabstand achten.

Am 17. Oktober marschierte die „Offensive“ – deutlich geschrumpft auf eine geschätzte Personenzahl von 150 – dann in Grünau auf, wohl in der Hoffnung, in solchen eher abgelegenen Stadtteilen etwas mehr reißen zu können. Das Kalkül ging nicht ganz auf: Durch eine Sitzblockade konnte die Route der Faschos deutlich verkürzt werden. Die Polizei hatte zwar einen Wasserwerfer dabei, aber offenbar keine Lust zu gewaltsamen Maßnahmen. Nach einigem Hin und Her zwischen Plattenbauten wurden die Rösler-Hooligans durch das Allee Center evakuiert.

Damit ist Spuk nun nicht beendet. Am 24.10. folgte z.B. noch ein Aufmarsch in Markleeberg, aber da waren nur noch 50 Kameraden dabei – der Rest musste wohl die wundgelatschten Füße schonen. Zahlenmäßig geht es also in die richtige Richtung, nämlich zügig dem Nullpunkt entgegen. Weiter so!

[justus]

* die nachfolgende linke Debatte kann mensch u.a. bei Indymedia nachlesen: linksunten.indymedia.org/de/node/154205

Vom Denken in schwierigen Zeiten

Über Johannes Agnolis „Die Subversive Theorie“

Ein kluger Mensch – ich glaube, es war Christian Riechers – hat den Marxismus mal als eine „Theorie der Niederlage“ bezeichnet. Der Gedankengang dahinter ist so schlicht wie einleuchtend: In einer revolutionären Situation, wenn die Leute massenhaft revolutionär handeln, ergibt sich das entsprechende revolutionäre Denken von selbst. Schwieriger sind die Flauten zwischen solchen Zeiten, die oft mehrere Jahrzehnte dauern, wo zwar die Verhältnisse genauso elend sind, wie sie es den größten Teil der Menschheitsgeschichte über waren, aber jeder Widerstand fast aussichtslos erscheint – und gerade dann braucht es die Theorie, wenn mensch sich von der schlechten Realität nicht vollends blöd machen lassen will.

In diesem Sinne verstand auch Johannes Agnoli seine „Subversive Theorie“, oder, um die Sache mal aufzudröseln, die Aufgabe der Subversion wie der Theorie – als Gegenmittel für schlechte und Vorarbeit für bessere Zeiten. Oder, in seinen eigenen Worten, gerade dann, wenn „die Revolution gezwungen ist zu überwintern, [ist] ein Impuls zu Subversion notwendig […], sei es, um die soziale Spannung, oder sei es, um die Hoffnung auf eine radikale Änderung aufrechtzuerhalten.“ Die entsprechenden Gedankengänge entwickelte Agnoli in einer Vorlesungsreihe, die im Oktober 1989 begann – also in schöner Parallelität zu den weltgeschichtlichen Ereignissen, in denen der östliche „real existierende Sozialismus“ sein keineswegs bedauerliches Ende fand.

Nun ist die „Subversion“ als Begriff in den letzten Jahrzehnten schon arg geschunden und überdehnt worden – wenn irgendwer sich irgendwo ein irgendwie revoluzzerhaft-widerständiges Ansehen geben will, dann muss fast immer die arme Vokabel „subversiv“ dafür herhalten. Agnoli benutzte den Begriff allerdings anders, im präzisen, hergebrachten Sinne: „subvertere, das Unterste nach oben kehren, umstülpen“, also ganz im Sinne des von Marx formulierten kategorischen Imperativs, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ Das ist nicht neu, aber die Klassengesellschaft ist ja auch eine jahrtausendealte abgeranzte Scheiße – solange uns dermaßen alte Probleme belästigen, bleiben die alten Forderungen aktuell.

Freilich ist die Klassengesellschaft von den sozialen Klassenkämpfen, von „oben“ wie von „unten“, stetig neu geprägt und verändert worden. So gibt es logischerweise auch nicht die Subversion, die eine Subversion schlechthin als irgendwie außergeschichtliche Größe, sondern vielmehr viele Formen der Subversion – und diese versuchte Agnoli in seinen Vorlesungen, durch die (europäische) Geschichte hinweg zu verfolgen und nachvollziehbar zu machen. Ein einigermaßen ambitioniertes Unterfangen, das aber in seiner Durchführung keineswegs so trocken ausfällt, wie mensch vielleicht befürchten könnte. Dafür sorgen nicht nur Agnolis Humor und seine lockere Vortragsweise. Vielmehr zeigt er in seiner Untersuchung immer wieder auf, dass die Konflikte „von früher“ auch heute noch nicht erledigt sind, und verdeutlicht, wie weit wir uns heute noch in den Fluchtlinien vergangener Klassenkämpfe bewegen.

Dabei ist der gespannte Bogen denkbar groß: Von Eva angefangen (wobei Adam eher schlecht wegkommt), geht es weiter über die griechische Sophistik, die Auseinandersetzungen zwischen Plebs und Patriziern im alten Rom, die millenaristischen Sekten des Mittelalters bis in die Neuzeit hinein, zu den Levellers und Diggers der englischen Revolution und zu den französischen Enzyklopädisten. Agnoli widmet sich also nicht nur den Bewegungen „an der Basis“, sondern macht – fast im Vorübergehen – deutlich, welche gesellschaftlichen Konflikte sich hinter vielen philosophischen und theologischen Debatten der Vergangenheit verbargen. Auch die Geschichte der Religion ist eben eine Geschichte von Klassenkämpfen, und die Geschichte der Philosophie sowieso.

Nun sind die ausgeteilten Denkanstöße zu zahlreich, als dass sich hier im Einzelnen auf sie eingehen ließe. Als Anregung zum kritischen Gebrauch des eigenen Hirns – als Mittel also, um sich den herrschenden Verhältnisse gegenüber wenigstens ein Stück gedankliche Freiheit zu erarbeiten – taugt diese „Subversive Theorie“ jedenfalls allemal sehr gut. In der Provinz Deutschland wird es wohl noch etwas länger dauern, bis sich wieder eine revolutionäre Situation ergibt. In der Zwischenzeit lohnt es sich, dieses Buch zu lesen.

[justus]

 

Johannes Agnoli: „Die Subversive Theorie. ‚Die Sache selbst’ und ihre Geschichte“, Schmetterling Verlag 2014, 266 Seiten

Auf sie mit Idyll!

Gutgemeintes gegen LEGIDA

„Leipzig, du stolze Stadt!“ – so titelte die Bild-Zeitung, nachdem am Vortag, dem 12. Januar 2014, die erste LEGIDA-Demonstration über die Bühne gegangen war. Die Punktauswertung schien tatsächlich ziemlich eindeutig zu sein: Während sich auf der einen Seite rund 3000 „patriotische Europäer“ versammelt hatten, stellten sich ihnen etwa 30.000 Gegendemonstrant_innen in den Weg. „Für Toleranz, mit buntem, kreativem und vor allem friedlichem Protest – man kennt das ja. Die offene Gesellschaft wurde vorerst erfolgreich gegen ihre Feinde verteidigt.

Freiheitlich-demokratisches Liedgut

Allerdings wirken die demokratischen Abgrenzungsrituale einigermaßen befremdlich, wenn man ihnen aus der Nähe ausgesetzt ist. So geschah es an diesem Abend auch mir, als ich versuchte, mich eben mal geschmeidig durch die Menge zu schlängeln, die den Waldplatz verstopfte. Stattdessen fand ich mich minutenlang in der Menschenmasse eingekeilt und konnte mich nicht dagegen wehren, als plötzlich Sebastian Krumbiegel die nahegelegene Bühne betrat und ohne Umschweife ein Loblied auf die Toleranz anstimmte (1).

Die persönliche Integrität von Herrn Krumbiegel will ich hier nicht in Frage stellen – der Mann engagiert sich schon seit Dekaden „gegen rechts“, meint es also offensichtlich ernst und ehrlich. Aber trotzdem, und auch obwohl das Lied ziemlich kurz war, schaffte Krumbiegel es doch, erstaunlich viel Unsinn hineinzupacken. Das fing schon bei den ersten beiden Zeilen an: „Kein Mensch hat Lust auf Ärger / kein Mensch ist illegal“. Die erste ist eine Tatsachenfeststellung, die binsenhafter kaum sein könnte – klar, kein Mensch hat Lust auf Ärger. Dass kein Mensch illegal ist, ist dagegen bei weitem nicht so klar. Tatsächlich klassifiziert das demokratische Staatswesen alle naselang Menschen als „illegal“, wenn sie sich unerwünscht auf seinem Territorium aufhalten. In seinem ursprünglichen Kontext dient der Satz „Kein Mensch ist illegal“ auch genau dazu, dies als Tatsache zu benennen und zu skandalisieren – während in der Krumbiegel-Version nur noch die Aussage übrigbleibt: „Alles in Ordnung.“

Aber gut, es ist eh schon schwierig genug, es so hinzukriegen, dass sich am Ende alles reimt – wahrscheinlich wollte der Künstler beim Texten nur auf den Kehrreim hinaus, der da lautete: „Mal so von Mensch zu Mensch / Wir sind doch international.“ Mit „wir“ waren offenbar a) das weltoffene Leipzig, und b) der weltoffene Sebastian Krumbiegel gemeint. So berichtete Krumbiegel im Rest des Songs auch hauptsächlich von seinem Dasein als Tourist, wo er überall schon war (New York, Tokio) oder eben noch nicht war (in Rio, „aber das mach ich auch noch klar“). Gute Absicht hin oder her – es ist schon ziemlich doof oder dreist, sich mit Illegalisierten oder Geflüchteten zu vergleichen, weil man selber auch schon mal im Ausland war. Und auch die LEGIDA-Demonstrant_innen dürften sich kaum von ihrer Abneigung gegen bestimmte Menschengruppen abbringen lassen, nur weil Sebastian Krumbiegel so gern verreist. Im Ausland waren sie sicher auch schon mal – das hält im Zweifelsfall niemanden davon ab, rassistische Vorurteile zu hegen oder auf die eigene Nation stolz zu sein.

Das ficht Herrn Krumbiegel freilich nicht an. In seiner Perspektive „so von Mensch zu Mensch“ tauchen kompliziertere soziale Verhältnisse (wie z.B. das Verhältnis von Mensch und Staat) gar nicht erst auf. Was dann noch an Problemen übrig bleibt, sind letztlich nur Fragen der persönlichen Einstellung, die sich mit etwas gutem Zureden schon behandeln lassen: Seid tolerant, seid nett zueinander. Das klappt zwar nicht, aber darauf kommt es auch nicht an. Letztlich soll das „Courage zeigen“, „Farbe bekennen gegen rechts“ usw. ohnehin nur die eigene Identität bestärken: „Wir“ sind international, also weltoffen und tolerant und gute Demokrat_innen, während die anderen eben engstirnig, intolerant und undemokratisch sind.

Wer ist das Volk?

Mit so einer Identität kann man sich natürlich wohlfühlen. Man könnte sich aber auch fragen, wie denn „die anderen“, in diesem Fall also die LEGIDA-Demonstrant_innen, zu ihren Ansichten kommen. Und bevor man sich daran macht, den Status quo gegen all die unsympathischen „Auswüchse“ zu verteidigen, die er selbst mit schöner Regelmäßigkeit hervorbringt, könnte man sich auch über diesen mal ein paar Gedanken machen. Die „offene Gesellschaft“, das soll­ten wir nicht ver­gessen, ist auch eine Klassengesellschaft, die sich im Alltag (z.B. auf dem Arbeitsamt) nicht immer so nett ausnimmt wie auf lauschigen Demonstrationen für Toleranz.

Dreist gesagt ließe sich ja auch der Rassismus als Klassenfrage bestimmen: Bestimmte Merkmale, wie z.B. die Hautfarbe, werden als Begründung benutzt, um bestimmten Menschengruppen eine bestimmte Position in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zuzuweisen – es ist z.B. kein Zufall, dass Thilo Sarrazin gegen Hartz-IV-Empfänger_innen genauso hetzt wie gegen „Kopftuchmädchen“ und angeblich dumme Einwanderer aus dem arabischen Raum.

So thematisieren die LEGIDA-Demonstrant_innen – zumindest indirekt – immer auch ihre eigene Stellung in der Gesellschaft, wenn sie bestimmte Menschengruppen verteufeln und abwerten. Das Ziel ist es, die Nation und die eigene Position in dieser gegen eine vermeintliche Bedrohung von außen, also Werteverfall, unkontrollierte Einwanderung, islamische „Unterwanderung“ der Gesellschaft etc. pp. zu verteidigen. Wobei die Bewegung in der Tat vor allem für jene attraktiv zu sein scheint, die noch eine Position zu verteidigen haben: An den ersten LEGIDA-Demonstrationen beteiligten sich auffällig viele gut gekleidete Bürgerinnen und Bürger aus der Altersgruppe von vierzig an aufwärts – Menschen „aus der Mitte der Gesellschaft“ (2).

Das sorgte in den letzten Monaten für viel Verwirrung, weil sich eben auch die Gegner_innen von PEGIDA/LEGIDA als „Mitte der Gesellschaft“ fühlten und in Szene setzten. So gestaltete sich die ganze „Debatte“ hübsch spiegelbildlich. Zum Beispiel bezeichnete Justizminister Heiko Maas die PEGIDA-Demonstrant_innen als „Schande für Deutschland“ (3), was bei diesen wiederum für helle Empörung sorgte – den Vorwurf, sie seien nicht ordentlich nationalistisch, wollten sie nicht auf sich sitzen lassen. Politiker_innen und sonstige Prominente wiesen darauf hin, dass eine geregelte Einfuhr von „nützlichen“ Ausländern doch gut für den Standort sei (4) – während die PEGIDA-Demonstrant_innen schlicht abstritten, dass „die Ausländer“ irgendwelche besonderen Fähigkeiten mitbrächten, so wie ein älterer Demonstrant in Dresden es beispielhaft formulierte: „Das sind alles junge Kerle … Sie wollen mir doch nicht weismachen, dass das hochqualifizierte Fachkräfte sind!“ (5)

Und letztlich passt auch Sebastian Krumbiegel in dieses Szenario hinein: Während er ein imaginäres Deutschland verteidigt, wo „kein Mensch illegal“ ist und es auch sonst keine nennenswerten Probleme gibt, wollen die PEGIDA-Demonstrant_innen ein starkes, souveränes Deutschland, wo es nicht zu viele Ausländer, aber dafür schöne „christliche“ Weihnachtsmärkte gibt, wo erzgebirgische Holzschnitzkunst und sonstige Folklore gepflegt wird und alle fleißig den „Faust“ oder die „Buddenbrooks“ lesen. Die Bedrohung kommt in beiden Fällen von außen – von islamischen Barbarenhorden oder von einigen Ewiggestrigen, die es immer noch nicht gelernt haben, zu allen Menschen nett zu sein.Man muss den Vergleich natürlich nicht überstrapazieren. Wenn man Lust hat, kann man auch darüber streiten, welche Vorstellung von Deutschland man nun sympathischer findet – imaginär sind sie alle beide.

justus

(1) www.youtube.com/watch?v=bZZx0EPnBOA

(2) so mein subjektiver Eindruck, der von einer Studie der TU Dresden bestätigt wird: vgl. http://tu-dresden.de/aktuelles/newsarchiv/2015/1/pegida_pk

(3) www.spiegel.de/politik/deutschland/pegida-heiko-maas-nennt-proteste-schande-fuer-deutschland-a-1008452.html

(4) z.B. in der Bild-Zeitung: www.bild.de/politik/inland/pegida/promis-sagen-nein-zu-pegida-39208948.bild.html

(5) zu finden hier www.youtube.com/watch?v=Bl0KPaLPL7g ab Minute 8:30.

 

Kein Gott, kein Herr

Für einen nicht-religiösen Anarchismus

Sicher, Anarchismus ist ein Nischenthema, und „christlicher Anarchismus“ noch viel mehr – eine Nische in der Nische sozusagen. Das Folgende dürfte also für Außenstehende ein wenig wie eine Auseinandersetzung zwischen „judäischer Volksfront“ und „Volksfront von Judäa“ anmuten. Aber in Zeiten, wo wir einerseits von selbsternannten Verteidiger_innen des christlichen Abendlandes genervt werden und andererseits islamistische Attentäter wegen „blasphemischer“ Karikaturen Mordanschläge begehen, ist es nicht verkehrt, sich ein paar Gedanken zum Thema Religion zu machen. Und manche Debatten müssen eben auch mal etwas länger geführt werden. Das ist allemal besser, als sie gleich in einem großen Bottich aus Toleranz und Pluralismus zu ersäufen.

Gerade, wenn über Religion diskutiert wird – wie in der Feierabend!-Redaktion beim Thema „christlicher Anarchismus“ (vgl. FA! #51 und #52) –, kommen häufig solche Forderungen nach Toleranz dabei heraus: „Man muss doch über alles reden können, oder?“ Gegen wechselseitige Verständigung ist natürlich nichts einzuwenden, allerdings führen solche „Man muss doch…“-Aussagen meist zielgenau dahin, dass gar nicht mehr geredet wird. Vielmehr wird vom ursprünglichen Thema auf eine Meta-Ebene abgewichen: Statt sich über das diskutierte Thema zu verständigen, verständigt man sich dann darüber, dass man sich ja über alles verständigen kann. Vor lauter Toleranz wird die Debatte beendet, bevor sie begonnen hat.

Wie gesagt, gerade wenn es um Religion geht, passiert das öfter. Über „Gott“ lässt sich eben nicht sinnvoll debattieren, weil dieser – unabhängig davon, ob er nun existiert oder nicht – jedenfalls nicht als Fakt existiert, der sich überprüfen ließe und zwischenmenschlicher Verständigung zugänglich wäre. Aus genau diesem Grund versacken Debatten über Religion so leicht in wohlmeinendem Relativismus, nach dem Motto: Weil wir alle die „letzte Wahrheit“ ohnehin nicht kennen, sollten wir tolerant sein und z.B. religiösen Überzeugungen nicht allzu vehement widersprechen. Wobei das Argument hinkt, denn der Anspruch, sinnvolle Aussagen über irgendeine „letzte“ oder „absolute Wahrheit“ machen zu können, wird ja ziemlich einseitig, eben von Seiten der Religion, erhoben. Und wenn tatsächlich „wir alle“ die letzte Wahrheit nicht kennen, ist klar, welche Seite falsch liegt – nämlich die, die etwas anderes behauptet.

Demgegenüber werde ich im Folgenden versuchen, möglichst einseitig zu argumentieren – da ich nur eine einzelne Person bin, kann ich ohnehin nicht „pluralistisch“ sein. Ich bemühe mich dabei, meinen Standpunkt möglichst schlüssig und präzise darzulegen, damit alle anderen mich möglichst präzise kritisieren können, wenn sie das für nötig halten.

Christlicher Anarchismus – gibt’s das überhaupt?

Ich will an dieser Stelle die allgemeinen Vorüberlegungen beenden und mich dem eigentlichen Thema zuwenden. Eine naheliegende Frage zuerst: Wenn der Anarchismus tatsächlich „eine politische Haltung jenseits von jedem Dogmatismus“ ist, wie verträgt er sich dann mit Religion, die ja auf Dogmen, also Glaubenssätze, nicht verzichten kann? Überhaupt nicht, könnte man sagen. Wobei das Argument natürlich schwach ist: Dass man „jenseits von jedem Dogmatismus“ stünde, behaupten so ziemlich alle politischen Vereine von sich – auch die CDU ist total „undogmatisch“ und „fern von jeder Ideologie“.

Ich will die Frage also etwas anders akzentuieren: Wenn der Anarchismus vor allem ein politische Haltung ist, kann es dann so etwas wie einen religiösen Anarchismus überhaupt geben? Oder nochmal anders gefragt, denn der Gedanke ist sicher nicht unmittelbar eingängig: Gehen die beiden Elemente, die da in dem Begriffspaar des „christlichen Anarchismus“ scheinbar flüssig und widerspruchsfrei aneinander gekoppelt werden, wirklich so sauber inein­ander über, wie es die Sprache suggeriert? Und wenn nicht: Wie stellt sich die Beziehung von Christentum und Anarchismus dann dar, in welchem Verhältnis stehen diese beiden Elemente zueinander?

Polemisch ließe sich sagen: Es gibt natürlich Christ_innen, die in politischer Hinsicht eine anarchistische Position vertreten (und diese eben christlich „begründen“). Das ergibt dann anarchistische Christ_innen, aber noch lange keinen „christlichen Anarchismus“. Die Verbindung ist eben ziemlich einseitig: Auch für religiöse Menschen ist es unvermeidbar, dass sie sich irgendwie zur Welt und zur sie umgebenden Gesellschaft verhalten, also eine politische Position einnehmen, die dann unter Umständen anarchistisch ist. Nur gibt es umgekehrt keinen Grund, eine politische Position wie den Anarchismus religiös zu begründen – außer, mensch ist eben zufällig religiös.

Ich will das anhand eines Beispiels erläutern, dass immer wieder gern bemüht wird, um aus der Bibel heraus eine antikapitalistische Haltung zu „begründen“ – ich meine das bekannte Zitat: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein reicher Mann ins Himmelreich kommt.“ Das läuft zunächst mal auf ein reines Autoritätsargument hinaus: Seht hier, auch Jesus hat gesagt, dass Reichtum schlecht ist! – wobei dann der Name „Jesus“ als Begründung für die Sinnhaftigkeit der Aussage „Reichtum ist schlecht“ herhalten soll. Bei der CSU mag das ja als Argument durchgehen. Anarchist_innen sollten solchen Quatsch lieber unterlassen, weil es eben auch generell Quatsch ist: Die Aussage muss schon für sich selbst sinnvoll und schlüssig begründet sein, sonst hilft auch Jesus nicht weiter. Das gilt bei anderen Autoritäten natürlich genauso. Eine Behauptung von Kropotkin, Marx oder dem Dalai Lama ist auch nur eine Behauptung.

Zweitens: Mal angenommen, dass die Aussage faktisch richtig sei und der liebe Gott tatsächlich ein moralisches Vorurteil gegen reiche Leute hegt – hat das dann für unsere diesseitige, menschliche Existenz irgendeine Bedeutung? Die Frage, ob Bill Gates oder Josef Ackermann in den Himmel kommen, stellt sich ja ohnehin erst, wenn sie tot sind, und da hat sich das Problem ihres Reichtums bereits erledigt. Es mag vielleicht einer ominösen göttlichen „Gerechtigkeit“ dienlich sein, wenn Gates und Ackermann zu ewiger Verdammnis verurteilt würden. Aus menschlicher Sicht macht es keinen Unterschied – der Herrgott könnte sich dieses sinnlose Nachtreten also auch sparen.

Aber wir bewegen uns hier im Bereich der Spekulation, und eine solche spekulative Letztbegründung braucht es gar nicht, um den Kapitalismus kritisieren zu können. Die naheliegendste, nicht religiöse, sondern politische Begründung reicht vollkommen aus: Kapitalismus ist schlecht, weil er auf uns schlechte Auswirkungen hat, weil er uns das Leben in der Welt unnötig schwer macht. Weil er uns von den materiellen Gütern ausschließt, die wir zum Leben brauchen bzw. sie uns nur gegen Bezahlung zugänglich macht. Weil er uns zu sinnloser Arbeit zwingt, uns wertvolle Zeit und Kraft raubt usw. Wenn wir unter den Verhältnissen leiden, dann brauchen wir keine übergeordnete moralische Instanz, die uns ein „Recht“ darauf verleiht, diesen Zustand als unangenehm zu empfinden.

Die Frage nach „dem Wesen“

Für einen Anarchismus, der sich in Prinzipienerklärungen und moralischen Postulaten erschöpft, mag natürlich auch die Bibel eine brauchbare Fundgrube bieten. Die Frage ist aber, ob das irgendeinen Erkenntnisgewinn bringt. So mag, wie Sebastian Kalicha schreibt (1), „in den Evangelien eine ablehnende Grundhaltung gegen materiellen Reichtum, gegen Reiche an sich und die Ungerechtigkeit, die dies hervorbringt“ vorherrschen – über den Kapitalismus ist damit noch nichts gesagt, den gab es vor 2000 Jahren auch noch gar nicht.

Und wie kommt mensch denn überhaupt dazu, die Bibel „kapitalismuskritisch“ oder „anarchistisch“ zu interpretieren? Muss mensch dafür nicht vorab schon ein wenig Kapitalismus- und Staatskritik geübt haben? Die Bibel lässt sich ja offensichtlich ganz verschieden interpretieren, wenn sowohl „christliche Anarchist_innen“ als auch solche konservativen bis faschistoiden Vereine wie Opus Dei oder die Pius-Bruderschaft, sowohl Pazifist_innen als auch George W. Bush jeweils passende „Begründungen“ daraus ziehen können. Natürlich kann man sich jeweils die Rosinen aus dem Text herauspicken, also die Bibelstellen, welche die eigenen Überzeugungen zu unterstützen scheinen – aber welche Textstellen das sind, hängt allemal von den eigenen Überzeugungen ab.

Wir berühren hier die heikle Frage nach dem „Wesen“ des Christentums, mit der offenbar auch viele Anarchist_innen so ihre Schwierigkeiten haben. So z.B. in der Sonderausgabe der Direkten Aktion, die dem Schwerpunktthema „Religion“ gewidmet war. In einer Art Einleitungstext schrieb dort ein DA-Autor: „Es stellt sich aus progressiver Warte also die Frage, ob Religion wirklich etwas per se Schlechtes ist. Sicher: würde man diese Frage anhand von ultraorthodoxen FundamentalistInnen beantworten, so wäre die Antwort ziemlich eindeutig. Doch ist das wirklich ein beispielhafter Ausdruck von Religion oder nur ein Zerrbild oder ein Spiegel der Gesellschaft? Es ist nicht nur schwer, ein so komplexes Thema einzufangen und zu beurteilen, es ist schier unmöglich. Die vielen Verknüpfungen mit linker Geschichte machen die Suche nach dem Wesen der Religion nicht einfacher und eine Positionierung dazu erst recht nicht. Religion ist autoritär und befreiend, offen und verschlossen. Neben dem individuellen Glauben sind die Werte entscheidend, die transportiert werden, und die die Religion zu mehr werden lassen als rituelles Beten.“ (2)

Dazu wäre Einiges zu bemerken. Zunächst mal kritisiert Religionskritik nicht einzelne religiöse Menschen (auch wenn diese das anders empfinden mögen, sofern sie die Religion als Teil ihrer „Identität“ begreifen). Die Sache ist auch gar nicht so kompliziert: In konservativen Milieus herrscht sicher auch eine konservative, rigide Vorstellung von Religion vor. Demgegenüber haben sympathischere Menschen dann auch sympathischere Vorstellungen von Gott oder von der Religion – das spricht dann für die jeweiligen Menschen, aber nicht für Gott oder die Religion.

Zweitens ist die Frage nach „dem Wesen der Religion“ falsch gestellt – „das Christentum als solches“ ist eine Abstraktion, die sich in der Realität genauso wenig auffinden lässt wie z.B. „das Säugetier schlechthin“. Damit will ich natürlich Christ_innen nicht ihre Menschlichkeit absprechen. Ich wähle nur ein absichtlich banales Beispiel, um die verschiedenen logischen Ebenen zu unterscheiden, die der Autor im oben zitierten Text recht umstandslos durcheinanderwirft. In der Realität lassen sich natürlich haufenweise Säugetiere finden (Hunde, Katzen, Schabrackentapire usw.), aber „das Säugetier“ ist nur die abstrakte Oberkategorie, unter die alle diese Tiere sortiert werden, weil sie bestimmte Merkmale miteinander teilen. In ähnlicher Weise ist auch „das Christentum“, „der Islam“ nur eine Abstraktion, eine Oberkategorie, die aufgrund bestimmter gemeinsamer Merkmale (Glaubenssätze, Rituale usw.) gebildet wird. „Das Christentum“ wird sich real nicht finden lassen, sondern immer nur „dieses Christentum“, das Christentum in bestimmten, historisch und sozial geformten Ausprägungen.

In diesem Sinne ist es dann auch unsinnig zu sagen, der Islamismus habe mit „dem Islam“ nichts zu tun, oder umgekehrt: der Islam als solcher sei gewalttätig. Der Islam „als solcher“ ist weder gewalttätig noch friedfertig – nur die Gläubigen verhalten sich, je nachdem, gewalttätig oder friedfertig. Eine abstrakte Kategorie ist als solche gar nicht in der Lage, sich irgendwie zu „verhalten“.

An diesen ersten logischen Fehler schließt sich unmittelbar ein zweiter an, nämlich der, Christ_innen immer nur als solche zu betrachten, als ob sie eben nur Christ_innen wären und nicht auch z.B. Lohnarbeiter_innen in einer Fabrik, Teil einer Familie, alleinerziehend, jung oder alt, arm, reich, oder was es eben sonst noch an Merkmalen geben kann. Auch wenn wir die Religion grundsätzlich als Irrtum betrachten (wie gesagt, ich bemühe mich, möglichst einseitig zu argumentieren), wäre immer noch zu fragen, welche Rolle dieser Irrtum für die einzelnen Menschen spielt. Ein „christlicher“ Unternehmer und ein „christlicher“ Lohnarbeiter haben vielleicht bestimmte Glaubenssätze gemeinsam, so wie sie auch ganz allgemein das Menschsein gemeinsam haben. Für die Frage, wie sie sich z.B. bei einem Streik positionieren, spielt das keine Rolle – es sagt nichts über „das Wesen des Christentums“, wenn ein christlicher Lohnarbeiter streikt.

Ein langer Umweg und ein kurzes Fazit

Auch der Autor des oben zitierten Artikels verfällt, obwohl er der Religion eher kritisch gegenüber steht, letztlich dem gleichen Irrtum wie die Gläubigen selbst: Diese neigen natürlich dazu, so ziemlich alle ihre Handlungen religiös zu begründen. Das heißt aber nicht notwendig, dass sie tatsächlich aus religiösen Gründen handeln.

Wobei die religiöse Letztbegründung im besten Falle überhaupt nichts begründet – so wie im folgenden Zitat, das einem Artikel in der Graswurzelrevolution (3) entnommen ist: Der Verfasser lehnt dabei als „christlicher Anarchist“ zunächst mal die Anschauung ab, Gott sei eine übergeordnete, fremde Autorität. Nach seinen Worten ist Gott „kein fremdes Subjekt, das mich von außen bestimmen will“, vielmehr wolle er „das Gute für seine Schöpfung“: „Das ist ein Kriterium, an dem sich nach christlichem Selbstverständnis alles menschliche Verhalten und alle denkbaren staatlichen, kirchlichen, religiösen und sonstige Vorschriften messen lassen müssen. Und dies lässt die Frage inhaltlich offen, was das Gute für die Schöpfung – nämlich für mich, die anderen Menschen und die Natur – sei. Und dass diese Frage offen bleibt, ist gut so, ermöglicht doch genau das die Freiheit, sich immer wieder neu der Wirklichkeit zu stellen und so immer wieder neu sein Verhalten zu bestimmen. Diese Freiheit ist zutiefst antiideologisch und antihierarchisch.“

Da haben wir wieder etwas gelernt: Christ_innen sind also für „das Gute“. Das haben sie allerdings mit dem gesamten Rest der Menschheit gemeinsam, wenn man mal von der verschwindend kleinen Minderheit der orthodoxen Satanisten absieht. Wobei dem Autor das Gute selbst offenbar noch nicht gut genug erscheint. Jedenfalls braucht er noch eine zusätzliche Rechtfertigung dafür, dass er das Gute für gut hält – nämlich „Gott“. Weil dieser „das Gute für seine Schöpfung“ will, findet auch der Verfasser das Gute gut. Nach dieser komplizierten ideologischen Übung können wir dann „zutiefst unideologisch“ selber schauen, was gut für uns ist.

Viel Erkenntnisgewinn kommt bei dem ganzen Vorgang also nicht heraus: Der Autor endet mit großem Umweg an genau dem Punkt, wo man anfangen könnte, eine sinnvolle Debatte zu führen – zum Beispiel darüber, was für uns gut ist und warum es gut ist, was für politische Ziele sich daraus ableiten und welche Möglichkeiten wir haben, um diese zu erreichen. „Gott“ hilft uns in dieser Beziehung nicht weiter, und in diesem Sinne ist auch ein „christlicher Anarchismus“ schlicht überflüssig.

justus

 

(1) zitiert nach Sebastian Kalicha (Hg.), “Christlicher Anarchismus – Facetten einer libertären Strömung”, Verlag Graswurzelrevolution, Münster 2014, S. 33.

(2) https://www.direkteaktion.org/218/bad-religion

(3) zitiert nach Sebastian Kalicha, “Christlicher Anarchismus”, a.A.o., S. 80.

Rezension: Gai Dáo #44

Seit gut drei Jahren erscheint nun schon die Gai Dáo, die Zeitschrift der Föderation deutschsprachiger AnarchistInnen, und zwar mit schöner Regelmäßigkeit monatlich. Da könnten wir von der FA!-Redaktion fast neidisch werden, auch wenn´s natürlich albern wäre – Zeitschriftenmachen ist schließlich kein Wettbewerb. Aber es nötigt schon Respekt ab, weil die Gai Dáo sich zugleich auf inhaltlich konsequent hohem Niveau bewegt.

Schön auch, dass in der Zeitschrift viel Platz für Debatten und Polemiken ist (das ist in der hiesigen anarchistischen Szene ja sonst eher unüblich). So wird hier ein Artikel über Waldbesetzungen aus dem vorigen Heft für seine überbordende Naturromantik kritisiert – nicht zu unrecht, wie es scheint. Und auch über „christlichen Anarchismus“ wird diskutiert (wie bei uns, siehe S. 33 hier im Heft). Der Buchautor Sebastian Kalicha antwortet hier auf eine Kritik aus der letzten Ausgabe, wobei dann freilich eher technische Details und weniger die tiefgreifenden philosophischen Fragen geklärt werden.

Was gibt es noch? Ein paar Rezensionen natürlich, ein Nachbericht zum diesjährigen Erich-Mühsam-Gedenktag in Ludwigsburg sowie ein Statement kurdischer Anarchist_innen zur derzeitigen Krise im Irak.

Des weiteren wird das Projekt „Gepflegte Stümperei“ vorgestellt, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, klassische anarchistische Texte als Hörbücher zu vertonen. In dem Text „Das staatliche Strafen“ wird die bürgerliche Rechtsordnung kritisiert, die natürlich – oh Wunder! – keineswegs neutral, sondern mit Herrschafts- und Verwertungsinteressen untrennbar verbunden ist. Last but not least findet sich hier der dritte Teil einer Artikelreihe über „Wanderarbeiter und italienische Anarchisten im Osmanischen Reich (1870-1912)“.

Viel Stoff zum Lesen und drüber Nachdenken also… Unter http://fda-ifa.org/category/gai-dao/ können übrigens alle bisherigen Ausgaben (kostenlos!) heruntergeladen werden. Es lohnt sich!

justus

Der lange Sommer der Autonomie (Teil 6)

Operaismus für Anfänger_innen

 

Im „Heißen Herbst“ von 1969 schien Italien kurz vor einer Revolution zu stehen. Eine Welle von wilden Streiks, deren Epizentrum die Fabriken des Autokonzerns FIAT in Turin waren, erschütterte die herrschende Ordnung. Dies habe ich im vorletzten Teil dieser Artikelreihe beschrieben. Im letzten Heft habe ich mich dann vor allem mit der feministischen Gruppe Lotta Femminista beschäftigt. Indem sie auch die „revolutionären“ linksradikalen Großorganisationen – wie z.B. Potere Operaio und Lotta Continua – einer systematischen Kritik aussetzten, spielten gerade die Feministinnen eine wichtige Vorreiterrolle bei der Entstehung der neuen neuen autonomen Bewegung der 1970er Jahre.

Mit eben dieser neuen Bewegung, der „Autonomia“, die 1977 erneut eine politische Krise von ungeahnten Ausmaßen hervorrufen sollte, werde ich mich nun im letzten Teil dieser Reihe befassen. Genauer gesagt, soll hier gezeigt werden, wie die operaistischen Theoretiker_innen versuchten, diesen neuen Zyklus von sozialen Kämpfen zu erfassen und verständlich zu machen. Einen ersten Eindruck davon, wie schwierig das war, mag diese Äußerung des operaistischen Historikers Sergio Bologna geben: „Die 1977er Bewegung […] war eine neue und interessante Bewegung, da sie erstens nicht wirklich Wurzeln in vorhergehenden Bewegungen hatte, oder falls sie sie hatte, auf eine vielschichtige Art und Weise. Sie hatten eindeutig eine andere soziale Basis, die sich von jener der Bewegungen von 1968 und 1973 unterschied. Ihre soziale Zusammensetzung basierte auf einer Jugend, die mit den politischen Eliten, inklusive den Eliten von 1968, also auch mit den Gruppen wie Lotta Continua und selbst der Autonomia Organizzata gebrochen hatte oder sie zurückwies. […] Sie brach völlig mit der Vision des Kommunismus, während letztlich auch der Operaismus von sich dachte, er sei der Vertreter des ‘wahren Kommunismus’. Die 77er Bewegung wollte absolut nicht der ‘echte Kommunismus’ sein.“ (1)

Die neue Bewegung bewegte sich also einerseits in den Fluchtlinien der Klassenkämpfe von 1969, aber zugleich taten sich neue Konfliktfelder auf und neue Akteure traten auf den Plan – die feministische Bewegung habe ich bereits erwähnt, hinzu kamen Jugendliche, Arbeitslose und prekär Beschäftigte, Hausbesetzer_innen usw. Auf die Frage, wie sich diese vielfältige Bewegung begrifflich erfassen ließe, fanden die operaistischen Theoretiker_innen recht unterschiedliche Antworten, wobei ich hier beispielhaft zwei davon behandeln will: den bereits erwähnten Sergio Bologna sowie Antonio Negri.

Beide teilten eine lange gemeinsame Geschichte (beide waren bei der Organisation Potere Operaio aktiv gewesen, Negri hatte dort zeitweilig den Posten des Generalsekretärs inne), entwickelten sich aber von da aus in sehr unterschiedliche Richtungen – polemisch gesagt, vertrat Bologna den „rationalen“ Flügel der operaistischen Bewegung, während Negri eher den „irrationalen“ verkörperte. Nach der Auflösung von Potere Operaio 1973 begründete Sergio Bologna die Zeitschrift Primo Maggio („Erster Mai“) mit. Im Folgenden beziehe ich mich vor allem auf seinen Text „Der Stamm der Maulwürfe“ (2), der im Frühjahr 1977 in Primo Maggio veröffentlicht wurde. Im Anschluss daran werde ich mich dann Negris Geschichtsphilosophie und dem von ihm entdeckten neuen Klassensubjekt des „gesellschaftlichen Arbeiters“ widmen.

 

Bezahlt wird nicht!

 

Das italienische Kapital und der Staatsapparat sahen sich durch die Klassenkämpfe von 1969 bis 1973 unter Druck gesetzt. Während die sozialen Kämpfe „von unten“ weitergingen, versuchte man „von oben“ demgegenüber das System neu zu strukturieren und die allgemeine „Krise“ zu lösen. Soweit es die Politik betraf, liefen diese Versuche auf eine Neuordnung des Parteiensystems hinaus vor allem auf eine stetige Annäherung zwischen der PCI (der kommunistischen Partei) und der christdemokratischen Regierungspartei DC, die bis dahin alles getan hatte, um die Kommunisten von der Macht fernzuhalten. Vor allem der DC-Politiker Aldo Moro bemühte sich, diesen „historischen Kompromiss“ zustande zu bringen.

In ökonomischer Hinsicht machten sich ab 1974 die Folgen der sogenannten „Ölkrise“ auch in Italien bemerkbar. Das Kapital nutzte die Krisensituation in seiner Weise – so bot die Inflation eine Möglichkeit, über Preissteigerungen die von den Arbeiter_innen erkämpften Lohnzuwächse abzufangen (in manchen Industriezweigen hatten zuvor die Belegschaften mit ihren Streiks Lohnerhöhungen von 25% pro Jahr durchsetzen können). Zugleich betrieb die christdemokratische Regierung eine rigide Austeritätspolitik und erhöhte u.a. die Gebühren für Strom, Wasser und Telefongebühren.

Dies führte – zusammen mit den allgemein steigenden Lebenshaltungskosten – zu neuen Unruhen, einer landesweiten Bewegung, die sich neuer Aktionsformen bediente. Den Anfang machten dabei die Arbeiter_innen der FIAT-Werke in Turin. Nachdem zwei lokale Busgesellschaften beschlossen hatten, die Fahrpreise um 20 bzw. 50% zu erhöhen, kam es zum Protest, der auch von den Gewerkschaften unterstützt wurde. Die Zahlung der neuen Preise wurde kollektiv verweigert, stattdessen fuhr in jedem Bus ein Gewerkschaftsmitglied mit und kassierte von den Arbeiter_innen (gegen Quittung) die alten Fahrpreise ein – dieses Geld wurde dann gesammelt an die Busgesellschaften überwiesen. Nachdem sich auch die FIAT-Konzernleitung einschaltete und Druck ausübte, kehrten die Busgesellschaften zu den alten Preisen zurück (4).

Indem sie so auf das Mittel der „direkten Aktion“ setzten, zeigten die Gewerkschaften auch, dass sie aus den Erfahrungen des „Heißen Herbstes“ gelernt hatten. Der Protest in Turin erwies sich jedenfalls als beispielgebend: Ähnliche Praktiken der „eigenmächtigen Herabsetzung“ (autoriduzione) fand bald in vielen, vor allem norditalienischen Städten massenhafte Anwendung. Nicht nur wurden in Städten wie Rom, Mailand und Neapel tausende Häuser besetzt. Zugleich entwickelte sich eine breite Bewegung der Mieter_innen, welche die überhöhten Mieten zurückwiesen und eigenmächtig reduzierten.

Auch als Mittel, um sich gegen die Erhöhung der Strom- und Telefongebühren zu wehren, war die „eigenmächtige Herabsetzung“ sehr beliebt. In Rom wurden diese Kämpfe von Aktivisten der autonomen Szene unterstützt, von denen relativ viele bei den städtischen Elektrizitätswerken beschäftigt waren – wenn wegen der Zahlungsverweigerung irgendwo der Strom abgestellt worden war, kamen sie vorbei und setzten die Stromversorgung wieder in Gang. In denselben Zusammenhang gehörten auch der „proletarische Einkauf“, wie er im Oktober 1974 in Mailand erstmals praktiziert wurde, wo eine Gruppe von wütenden Hausfrauen einen Supermarkt stürmte und die Herausgabe von Waren zu reduzierten Preisen erzwang.

 

Die Rolle der kleinen Fabriken

 

Die wirtschaftliche Krise trug aber noch in anderer Weise dazu bei, dass sich das Terrain der Kämpfe verlagerte. So wurden einerseits eine ganze Reihe von Fabriken geschlossen oder zeitweise stillgelegt. Zugleich schossen Unmengen an kleinen „Klitschen“-Betrieben aus dem Boden. Das Textilunternehmen Benetton war dabei besonders innovativ, indem er gleich seine gesamte Produktion an solche formell unabhängige Kleinunternehmen übertrug – wobei freilich der „Mutterkonzern“ nach wie vor eine sehr direkte Kontrolle z.B. über die Arbeitsgeschwindigkeit an den Fließbändern ausübte.

Während diese Klitschenbetriebe zunehmend das Bild der italienischen Wirtschaft bestimmten, änderte sich zugleich die Zusammensetzung der Arbeiterschaft. So waren in diesem Sektor überproportional viele Minderjährige und Jugendliche beschäftigt, ebenso sehr viele weibliche Arbeitskräfte. Die wenigsten von diesen war gewerkschaftlich organisiert – überhaupt ließen sich viele gewerkschaftliche Methoden, die in der Großfabrik wunderbar funktionierten, in den Kleinbetrieben kaum anwenden.

Diese Umstrukturierung der Produktion und die Umschichtung der Arbeiterschaft stellte aber keineswegs nur eine „von oben“, von Seiten des Kapitals betriebene Strategie dar. Für viele proletarische Jugendliche war die selbstgewählte Prekarität und die zeitweilige, immer wieder unterbrochene Beschäftigung in Teil-, Saison- oder Schwarzarbeit auch ein Mittel, sich gewisse Freiheiten zu sichern – eine Festanstellung in der Fabrik stellte schließlich kaum eine wünschenswerte Perspektive dar. Die autonome Szene in Bologna baute sogar eine Art selbstorganisierte Arbeitsvermittlung auf. Die Arbeitssuchenden der Region wurden in einer Liste erfasst, und dann die Stadtverwaltung (die damals von der kommunistischen Partei gestellt wurde) dahingehend unter Druck gesetzt, dass sie entsprechende Jobs vergab. Arbeit in der Fabrik oder auf dem Bau wurde von den Autonomen dabei prinzipiell verweigert. Zeitweise waren um die 5.000 Personen in dieser Liste organisiert. (5)

Sergio Bologna sah in den kleinen Fabriken ein mögliches Terrain, von dem ausgehend sich eine neue Klassenbewegung entwickeln könnte. Während die Belegschaften der Großbetriebe sich eher still hielten, um angesichts der vielbeschworenen Wirtschaftskrise ihre eigene Position nicht zu gefährden, schien bei den Arbeiter_innen der Klitschen eine größere Konfliktbereitschaft gegeben zu sein. Allerdings wies Bologna auch darauf hin, dass die Kleinbetriebe untereinander große Unterschiede aufwiesen: Unterschiede in der technischen Ausstattung, der Märkte, die jeweils beliefert wurden, des gewerkschaftlichen Organisationsgrades der Belegschaft, zwischen unausgebildeten und schlecht bezahlten Beschäftigten und solchen, die hochspezialisierte anspruchsvolle Tätigkeiten ausübten…

 

Negri und der „gesellschaftliche Arbeiter“

 

Um das Folgende verständlich zu machen, müssen wir uns noch einmal die operaistische Theoriegeschichte, und dort vor allem das Konzept der „Klassenzusammensetzung“ anschauen. Dieses Konzept hatten die Operaist_innen Anfang der 60er Jahre bei ihren „militanten Untersuchungen“ in den Fabriken von FIAT und OLIVETTI entwickelt (siehe FA! #47).

Auch damals befand sich die italienischen Industrie in einer Phase der Umstrukturierung: Durch zunehmende Automatisierung und Ausweitung der Fließbandarbeit wurde die ältere Generation der Facharbeiter unter Druck gesetzt – deren Fähigkeiten und Kenntnisse wurden durch die technische Entwicklung zunehmend überflüssig gemacht. Das brachte auch eine schwere Krise der Gewerkschaften mit sich, deren Mitglieder sich vorrangig aus der Facharbeiterschaft rekrutierten. Das bedeutete freilich nicht, dass nun völlige Ruhe herrschte: Vielmehr kam es um 1960 zu einer ganzen Reihe von wilden Streiks, wobei die Initiative gerade von den ungelernten und nicht gewerkschaftlich organisierten jüngeren Arbeiter_innen ausging. Diese „Massenarbeiter“ – meist junge Männer, die aus dem Süden des Landes in die Industrieregionen im Norden abgewandert waren – standen dann auch im Zentrum des „Heißen Herbstes“ von 1969.

Darauf aufbauend entwickelten die Operaist_innen den Begriff der „Klassenzusammensetzung“, um die Ereignisse analytisch zu fassen. Diesem Konzept zufolge gab es eine bestimmte „technische Zusammensetzung“ des Kapitals, die von oben her, durch eine neuen Organisation der Produktionsabläufe und Einführung neuer Technologie durchgesetzt wurde. Dieser entsprach jeweils auch eine bestimmte „politische Zusammensetzung“ der Arbeiterschaft, ein bestimmtes zentrales Arbeitersubjekt mit spezifischen Formen des widerständigen Verhaltens.Mit diesem Schema ließen sich die Klassenkämpfe der 1960er Jahre ziemlich gut analysieren.

Hier kommen wir zu Antonio Negri: Dieser verpasste dem Konzept einen recht eigenwilligen Dreh und interpretierte es im Sinne einer breit angelegten Geschichtsphilosophie, deren zentrale Annahmen schon Mitte der 60er von Mario Tronti formuliert worden waren (vgl. FA! #49). Für Tronti war „die kapitalistische Entwicklung den Arbeiterkämpfen untergeordnet, sie kommt nach ihnen“ (6). Die Arbeiter_innen waren demzufolge dem Kapital also immer einen Schritt voraus, und dieses konnte nur reagieren, indem es – mittels neuer Technologie und Umstrukturierung – seine Macht wieder herzustellen suchte.

Dieser Prozess lief für Tronti zwangsläufig auf die Revolution hinaus, denn: „Begriff der Revolution und Wirklichkeit der Arbeiterklasse sind […] identisch.“ (7) Die Arbeiter_innen hatten also schlicht keine andere Wahl.

Negri knüpfte daran an, und damit ließ sich die Frage, wie die veränderte Lage Mitte der 70er zu bewerten seien, mit einem einfachen Analogieschluss beantworten: Die Umstrukturierung der Produktion zeigte, dass da eine neue Klassenzusammensetzung am Entstehen war, und somit musste dabei auch eine neue zentrale Arbeiterfigur als revolutionäres Subjekt entstehen – der „gesellschaftliche Arbeiter“, wie Negri ihn nannte. Dieser hätte nicht nur das Erbe des alten „Massenarbeiters“ übernommen, sondern würde es vielmehr auf einem weitaus höheren Niveau fortführen: Die Klassenkämpfe seien nun eben nicht mehr auf die Fabrik beschränkt, sondern würden sich vielmehr über das gesamte gesellschaftliche Territorium ausbreiten. Somit müsse man „die Restrukturierung als Herausbildung eines immer breiteren vereinheitlichenden Potentials von Kämpfen verstehen“. (8) Diese Thesen formulierte Negri Mitte 1975 in seinem Text „Proletari e Stato“ („Proletarier und Staat“) aus.

Sergio Bologna sprach stattdessen vom „zerstreuten Arbeiter“, was nicht nur weitaus vorsichtiger, sondern auch deutlich realistischer war. Realistischer deshalb, weil Diagnose und Prognose nun mal zwei verschiedene Sachen sind – zumal sich eine wirklich revolutionäre Situation nicht einfach so prognostizieren, also aus dem Ist-Zustand ableiten lässt.

Es ist also nicht verwunderlich, dass Negris Thesen auf Widerspruch stießen. So kritisierte Guido De Masi in einem Artikel, der 1977 in der Zeitschrift Primo Maggio erschien, dass Negri letztlich nur „widersprüchliche Bruchstücke sprachlich ver-eindeutigt“, also „die verschiedenen Kämpfe und gesellschaftlichen Situationen (die alle sehr interessant sind, gerade weil sie so verschieden voneinander sind)“ lediglich unter einem gemeinsamem Schlagwort zusammenfasse. Tatsächlich gäbe es kein neues Klassensubjekt, all diese Kämpfe hätten keinen engeren Zusammenhang: „Sie stellen keinen qualitativen Sprung in der Klassenzusammensetzung dar, sondern ihre Desintegration, Punkt und basta.“ (9)

Auch Sergio Bologna zeigte sich eher skeptisch, und wies auf die Widersprüche und Gegentendenzen hin, die bei Negri gar nicht auftauchten: „Es hat viele kleine (oder große) Schlachten gegeben, aber im Laufe dieser Schlachten hat sich die politische Zusammensetzung der Klasse in den Fabriken wesentlich verändert, und zwar mit Sicherheit nicht in die Richtung, die Negri andeutet. Es gibt keine Tendenz zu jener größeren Einheit, von der er redet, das Gegenteil ist der Fall. Der Graben ist tiefer geworden: nicht zwischen Fabrik und Gesellschaft, sondern innerhalb der Fabrik selbst, zwischen der Rechten und der Linken in der Arbeiterklasse. Alles in allem haben die Reformisten die Hegemonie über die Fabriken zurückgewonnen und versuchen, brutal und rücksichtslos die Klassenlinke zu enthaupten und aus der Fabrik zu vertreiben.“ (10)

 

This is not the end…

 

An dieser Stelle schalte ich mal den Zeitraffer ein – eine erschöpfende Geschichte der autonomen Bewegung der 70er Jahre ist auf diesem beschränkten Raum allemal nicht möglich. Das Jahr 1977 brachte, wie erwähnt, eine politische Krise mit sich, in der eine Revolution tatsächlich in greifbarer Nähe zu sein schien. Im Frühjahr des Jahres besetzten autonome Gruppen z.B. die komplette Altstadt von Bologna – der kommunistische Bürgermeister musste schließlich die Armee zur Hilfe rufen, die mit Panzern einrückte, um die Revolte unter Kontrolle zu bringen. Eine Welle von Universitätsbesetzungen, Demonstrationen und Straßenschlachten folgte.

Nachdem dann im Frühjahr 1978 der christdemokratische Politiker Aldo Moro von der Stadtguerilla-Gruppe Rote Brigaden entführt und schließlich ermordet worden war, nutzte der Staat die Möglichkeit, um auf breiter Front gegen die vermeintlichen „Rädelsführer“ der radikalen Linken vorzugehen. Am 7. April 1979 begannen massenhafte Razzien, bei denen neben vielen anderen auch Antonio Negri verhaftet wurde. Er saß vier Jahre lang im Gefängnis, ehe ihm die Flucht nach Frankreich gelang.

Sein weiterer Werdegang dürfte halbwegs bekannt sein: Spätestens mit seinem 1999 erschienenen Theorie-Bestseller „Empire“, den er zusammen mit Michael Hardt verfasste, brachte Negri es zu weltweiter Berühmtheit. Seinen Überzeugungen ist er dabei weitgehend treu geblieben, was sich ebenso positiv wie negativ bewerten lässt: Einerseits ist ist es schon phänomenal, wie Negri sich seit Jahrzehnten an jede neue Protestwelle, von der Öko-Bewegung bis zu Occupy anhängt. Andererseits hat seine Theorie sich auch kaum weiterentwickelt, sondern ist nur noch allgemeiner und ungenauer geworden – so ist die heute von ihm gefeierte „Multitude“ leicht als verwässerte Neuauflage des „gesellschaftlichen Arbeiters“ zu erkennen.

Das ist nicht weiter schlimm – der Negrische „(Post-)Operaismus“ ist im Feuilleton und in universitären Soziologie-Seminaren bestens aufgehoben. Ansonsten sollte man eher das Gegenteil von dem tun, was Negri zwar schmissig, aber wie üblich einigermaßen falsch, schon 1981 empfahl – nämlich großzügig zu vergessen: „Die Klassenzusammensetzung des heutigen metropolitanen Subjekts kennt keine Erinnerung, […] weil es befohlene Arbeit, dialektische Arbeit nicht will […], proletarische Erinnerungen sind nur Erinnerungen an vergangene Entfremdung […]. Die bestehenden Erinnerungen an 1968 und an die zehn Jahre danach sind heute nur noch die Erinnerungen des Totengräbers […] Die Jugendlichen von Zürich, die Proletarier von Neapel und die Arbeiter von Danzig brauchen keine Erinnerung, […] kommunistischer Übergang bedeutet die Abwesenheit der Erinnerung.“ (11) Das ist keine gute Idee. In der offiziellen Geschichtsschreibung werden die sozialen Kämpfe der Vergangenheit ohnehin allemal als erstes vergessen.

Und natürlich will ich hier Negri nicht das letzte Wort überlassen. Immerhin ist sein Werdegang symptomatisch. Der Operaismus war eben nie eine einheitliche Bewegung, und die Aktivist_innen schreckten oft davor zurück, aus ihren radikalen Ansätzen auch die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen: So führte ihre entschiedene Parteinahme für die Arbeiter_innen und deren Kämpfe von unten und gegen die Institutionen der offiziellen „Arbeiterbewegung“ für viele von ihnen (mit einigen Umwegen) dann doch wieder zur Parteipolitik zurück. Die Praxis der „militanten Untersuchung“ und die kleinteilige Analyse der Verhältnisse in den Fabriken, die sich daraus ergab, wurde zugunsten einer großspurigen Geschichtsphilosophie fallen gelassen.

Demgegenüber sollten die positiven Ansätze des Operaismus natürlich nicht vergessen werden – in den vorangegangenen Teilen dieser Artikelreihe habe ich dazu hoffentlich ein wenig beigetragen. Vor allem sollte man nicht vergessen, dass Staat und Kapital niemals die einzigen Subjekte der Geschichte waren und es auch heute nicht sind. Die Geschichte ist noch nicht zu Ende.

 

justus

 

(1) http://www.copyriot.com/unefarce/no5/autonomia.html

(2) englische Version unter http://libcom.org/library/tribe-of-moles-sergio-bologna

(3) Austerität: von lat. austeritas „Herbheit“, „Strenge“, bezeichnet eine staatliche Haushaltspolitik, die einen ausgeglichenen Staatshaushalt ohne Neuverschuldung anstrebt.

(4) vgl. www.trend.infopartisan.net/trd0513/t060513.html

(5) vgl. www.wildcat-www.de/thekla/08/t08akmu1.htm

(6) Mario Tronti, „Lenin in England“, zitiert nach Nanni Ballestrini/Primo Moroni: „Die goldene Horde – Arbeiterautonomie, Jugendrevolte und bewaffneter Kampf in Italien“, Assoziation A, Berlin 2002, S. 87

(7) zitiert nach Bodo Schulze: „Autonomia – Vom Neoleninismus zur Lebensphilosophie. Über den Verfall einer Revolutionstheorie“, in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, No. 10, 1989, S. 151 (online unter www.wildcat-www.de/material/m009schul.htm)

(8) zitiert nach Steve Wright: „Den Himmel stürmen. Eine Theoriegeschichte des Operaismus“, Assoziation A, 2005, S. 178.

(9) zitiert nach Roberto Battaggia: „Massenarbeiter und gesellschaftlicher Arbeiter – einige Bemerkungen über die neue Klassenzusammensetzung“, Wildcat-Zirkular Nr. 36/37, April 1997, online unter www.wildcat-www.de/zirkular/36/z36batta.htm

(10) zitiert nach Wright, a.A.o., S. 184.

(11) zitiert nach Wright, S. 188.

Es darf gewählt werden

Wahlkampfzeit ist Sloganzeit. Irgendeine Botschaft braucht es eben, damit die Gesichter der Kandidat_innen nicht so nackig in der Gegend rumhängen… Nur die CDU kann auf Inhalte verzichten – die setzt einfach auf die normative Macht des Faktischen und schreibt „Unser Ministerpräsident“ auf das Plakat, wo dann tatsächlich der Ministerpräsident zu sehen ist. CDU-Wähler_innen und andere autoritäre Charaktere mögen das vermutlich: „Ja, den Tillich kennen wir, der macht das schon so lange – den wählen wir wieder, oder?“

Ob die Linke da mithalten kann? Na gut, deren Spitzenkandidat Külow hat sich immerhin ein Jackett und ein frisches Hemd angezogen und zeigt sich „löwenstark für Leipzig“, indem er zähnefletschend ein Dingsbums zwischen seinen Händen biegt. Das passt dann prima zu den sonstigen Slogans der Partei („Industrietradition und Energiewende“, „Sächsisch und weltoffen“ etc. pp.), die ja auch eine ziemlich gelungene Synthese von Dings und Bums vorführen.

Die AfD versucht derweil, sich an die Schleußiger Öko-Muttis anzubiedern und plakatiert: „Kinder sind unser Kapital“. Den Versuch war es wert. Aber es lässt schon tief blicken, wenn da von allen irgendwie positiv besetzten Begriffen ausgerechnet der verkniffenste und unschönste („Kapital“) gewählt wird. Was soll uns das sagen? Vermutlich dieses: „Wir mögen keine Kinder, weil sie tendenziell unreinlich sind und beim Spielen immer Krach machen – immerhin können wir sie später mal ausbeuten!“

Die Bürgerrechtsbewegung Solidarität kommt dagegen traditionell eher bekloppt rüber und textet was von einer „neuen Seidenstraße“ und anderes wirres Zeug: „Wir Deutschen können den Weltkrieg verhindern!“ Aber immerhin hat die Partei Erfahrung, was das Verhindern von Kriegen angeht: Seit etwa 40 Jahren warnt sie nun schon vor einem unmittelbar bevorstehenden Weltkrieg, und – tadaa! – bisher ist noch keiner eingetreten.

Die Piratenpartei regt dagegen mit tiefgründigen Sinnsprüchen zum Nachdenken an: „Von Bildungsversprechen wird keiner klug“. Äh, ja. Das sieht man ja z.B. an der FDP… Wobei diese zumindest im Fach Heimatkunde aufgepasst hat: „Sachsen ist nicht Berlin!“ Hier in der Provinz kann man vielleicht noch was reißen… Klugerweise versuchen die Liberalen dabei gar nicht erst, mit eigenen Inhalten zu überzeugen, sondern spielen lieber über Bande: „Für schwarz-gelb FDP wählen.“ Ob da wirklich 5% der Wählerschaft drauf reinfallen? Zweifel sind da zweifellos erlaubt. Wenn dieses Heft hier erschienen ist, werden wir mehr wissen.

justus